Читать книгу Das Tagebuch der Jenna Blue - Julia Adrian - Страница 27

19

Оглавление

Unser Kräutergarten liegt brach. Anna hat ihn vernachlässigt. Der Borretsch wuchert in den Wegen und sein typisches Gurkenaroma streift meine Nase, kaum dass die Stängel unter meinen Sohlen knicken, ebenso der Duft der Melisse, die ich auf der Suche nach dem Klinker der Werkstatt streife. Ich folge mit den Fingerspitzen den Rillen im Gemäuer bis zur Tür. Es riecht vertraut, kaum dass ich sie aufstoße, nach altem Holz und Leim und längst vergangenen Tagen, bittersüß, fast schon faulig. Der Kompost für die Gartenabfälle liegt direkt unter dem Fenster, das sich als einziges öffnen lässt. Ich taste die Wand neben der Tür ab, suche den Lichtschalter, finde und drehe ihn.

Die Glühbirne flammt knisternd auf. Ihr Glas ist so verstaubt wie die grau gepuderten Gerätschaften über der Werkbank, die nur der Form halber erinnern, wozu sie einst taugten. Ich stoße gegen einen Tontopf, er kippt von der Bank, schlägt auf und zerschellt in tausend Teile. Ich lausche atemlos in die Hütte hinein, doch nichts regt sich. Kein Laut, kein Geräusch, kein Rascheln, kein Wispern. Dennoch wirkt die Stille weniger tief; als wäre etwas in ihr erwacht und ich nicht länger mutterseelenallein.

Nervös halte ich nach der Leiter Ausschau, deshalb bin ich hier. Ich brauche sie, um auf die Mauer und in den Garten zu klettern. Dort hinten, halb verdeckt von Kisten und Säcken, ragen die Sprossen auf. Ich schiebe mich zwischen den Türmen aus Tontöpfen hindurch, sorgsam darauf bedacht, keinen weiteren zu zerbrechen. Jeder Laut, so fürchte ich, könnte die Toten auferstehen lassen aus ihren modrigen Gräbern.

Modrig riecht es auch hier.

Ich greife nach dem Hebel des Fensters; er lässt nur widerwillig zu, dass ich die Scheibe aufdrücke und die Nacht hineinlasse. Die Hütte ächzt im Windzug, als würde sie frösteln. Ich schlinge die Arme um mich, den Blick fest auf die Leiter gerichtet. Sie war einst blau, im Dämmerlicht wirkt sie vergilbt wie eine Sepiafotografie, ebenso die von der Decke baumelnden Gießkannen. Ich ziehe den Kopf ein, um mich nicht zu stoßen, und entdecke dabei ein Weinfass unter einer steifen Plastikplane. Es ist, als würde ich nicht nur das Fass, sondern auch die Erinnerung daran freilegen.

Wir kauften es an einem warmen Frühlingstag, hievten es in den Kofferraum und klappten die Rückbank um, damit es hineinpasste; ich durfte vorn neben Papa sitzen, das Fenster bis zum Anschlag hinabgekurbelt und das Radio voll aufgedreht, während der Wind an meinen Haaren zog und die Sonne mit uns um die Wette strahlte.

Ich strecke die Hand aus und berühre das Holz – da flackert das Licht. Es ist nur ein kurzer Moment, den die Dunkelheit nach mir greift, doch mein Herz explodiert.

Ich bin nicht allein.

Wie gelähmt stehe ich da, überwältigt von dem Gefühl, dass da jemand ist. Bei mir. Dabei ist es unmöglich. Die Hütte ist winzig und Menschen sind groß. Vorsichtshalber spähe ich unter die Werkbank und die Plane, doch dort liegen nur weitere Kisten und ein bis zur Unkenntlichkeit verstaubter Koffer nebst Säcken voll Blumenerde.

Kein Mensch.

Kein Landstreicher.

Kein Einbrecher.

Kein Mörder.

Kein Psychopath.

Wer sollte sich auch in einem alten, muffigen Werkzeugschuppen verstecken?

Niemand, flüstere ich mir in Gedanken zu.

Es ist albern. Ich bin albern. Meine Angst ist irrational. Ich bin allein. Trotzdem schaudere ich, als der Windzug sich verstärkt und flüsternd um meine Schultern streicht. Die Tür im Blick schiebe ich mich rückwärts durch den Raum. Scarlett hätte ihre reinste Freude daran, mich so zu sehen. Paradoxerweise stärkt mich der Gedanke an sie. Er entflammt etwas in mir, das die Anspannung übertüncht.

Guter alter Zorn, mächtiger als Furcht.

Erneut flackert das Licht – und der Zorn erlischt wie das sepiagelbe Leuchten. Ich bin allein, da ist niemand, beruhige ich mich. Da rieche ich die Melisse. Kein Laut kommt über meine Lippen, als sich aus der Ahnung das Geräusch von Schritten schält. Ich halte die Luft an, als sich die Tür der Werkstatt verdunkelt – schwarz auf schwarz; ich sehe nichts, doch ich spüre die Anwesenheit des anderen mit jeder Faser meines Körpers. Ich weiß, er ist da.

Er oder sie oder Schlimmeres.

Es klickt, als der Lichtschalter betätigt wird; doch es bleibt dunkel. Die Zeit hat über den Draht gesiegt, wie sie auch mich zu besiegen droht. Ich stehe mucksmäuschenstill, die Tonscherben knirschen, die Folie knistert. Wer auch immer da ist, kommt auf mich zu; der Melissenduft verrät seine Nähe, er verrät – auch mich?

Meine Hände zittern so stark, dass ich sie balle.

Hört er das Knacken? Spürt er das Zucken?

Ein dumpfer Aufprall, ein tonloses Ächzen, die Gießkannen klirren. Er hat sich den Kopf gestoßen. Erneut die Folie, gefolgt von den Tonscherben, diesmal so laut, als spielte es keine Rolle, ob andere es hörten. Dann ist er fort, entweicht in die Nacht gleich einem lautlosen Seufzen. In Gedanken folge ich ihm durch den Borretsch und die Minze, vorbei an dem Steinhügel und durch die Pforte zwischen den Holundersträuchern, raus auf die sumpfige Wiese.

Fünf Schritte, sieben, dann zehn.

Ich ringe um Atem, verschlucke mich just am Staub und stürze auf die Knie. Wer zur Hölle war das?

Papa hat in den letzten Jahren kaum den Hof betreten und Anna fürchtet die Dunkelheit, weshalb sie stets eine Taschenlampe bei sich trägt. Doch wenn es weder Papa noch Anna war, wer dann? Scarlett ist fort, niemand sonst hat Zutritt zu unserem Grundstück.

Ein Landstreicher? Gibt es die hier überhaupt?

Ich kauere am Boden und lausche mit weit aufgerissenen Augen in die Nacht hinaus, auf Schritte im Kies oder das verräterische Quietschen der Pforte. Doch es bleibt still – für Minuten oder gar Stunden. Dunkelheit besitzt eine eigenwillige Zeit, Furcht hingegen kennt gar keine. Ich bin hellwach, aber unfähig zu fliehen. Ich spüre den Raum, die Töpfe und Kisten, die Nähe der Wände und Decke über mir. Ich schmecke den Staub und die aufgewühlte Erde. Ich glaube sogar, den Duft des Weines zu riechen. Bloß meinen Körper spüre ich nicht, als hätte er mich abgestoßen.

Als ich es endlich schaffe, die Fäuste zu lösen, kribbelt meine Haut vor Hochspannung. Ich stütze mich am Weinfass ab und stemme mich hoch. Ich brauche die Leiter. Ohne sie war alles vergebens. Der erste Stab, den ich ertaste, gehört zu einem Rechen, der zweite einem Spaten; dann finde ich Sprossen. Die Leiter misst keine zwei Meter, trotzdem streift sie die Gießkannen. Ich bleibe in der Plastikfolie hängen und stürze. Die Tontöpfe ergießen sich lawinenartig über mich. Überall sind Splitter, die Luft ist staubdick. Doch ich gebe nicht auf, kämpfe mich vorwärts.

Am Ende stehe ich schweißgebadet in der Melisse; meine Haut brennt, als wäre ich durch Berge aus Kämmen und Bürsten und Spiegelscherben gewatet. Die Leiter presse ich an mich wie einen teuer errungenen Schatz. Bis zur Mauer ist es nicht weit. Viel zu schnell steht die Leiter fest im Gestrüpp und ich auf der obersten Sprosse.

Der Moment der Wahrheit naht.

Traue ich mich hinüber?

Vertraue ich darauf, dass es keinen Fluch gibt?

Dass ich es überlebe?

Ich kralle mich in den Efeu und überwinde den letzten Abstand. Schon sitze ich auf der Krone, ein Bein auf jeder Seite. Bin ich bereit? Der Wind streicht durch die Holunderbüsche, ich kann sie nicht sehen, nur hören. Alles ist schwarz, der Garten der Villa genauso wie mein Zuhause. Einzig in der Küche brennt Licht. Anna sitzt mit einer Tasse Tee am Tisch und liest. Wie leicht es ist, in hell erleuchtete Fenster zu blicken, sicher verborgen im Mantel der Nacht. Ich frage mich, wie viele Menschen es mir gerade gleichtun und dieses Ziehen ganz tief in der Brust spüren, diese Sehnsucht nach etwas, das zum Greifen nah und doch in unerreichbarer Ferne liegt. Eine Scheibe und tausend Welten liegen dazwischen.

Anna trinkt einen Schluck.

Ich wende mich ab und ziehe das zweite Bein hinüber. Unter mir liegt der verbotene toxische Garten der Spukvilla. Nur einen Sprung entfernt. Kein Grund, kein Strauch ist zu erkennen. Ich greife mir ein Bündel Efeuranken und schiebe mich über den Rand. Der Efeu ächzt, meine Füße finden keinen Halt. Statt zu springen, wollte ich hinabklettern, jetzt hänge ich da wie ein nasser Sack. Zu allem Überfluss höre ich Stimmen. Innerhalb des Gartens. Sie nähern sich rasch.

»Du hast was gehört?«

»Alter! Verarschst du mich?«

»Zwei Mädchen, die über Selbstbefriedigung reden? Come on! Das ist so hart an den Haaren herbeigezogen, wie kann ich das glauben?«

»Wenn ich es doch sage! Ich bin die verkackte Mauer abgelaufen, um den Weg zu finden, da hab ich sie ganz deutlich gehört.«

»Wohl eher halluziniert.«

Ein Schlag erklingt, als würde einer dem anderen eine verpassen. Es sind männliche Stimmen, die genau unter mir zum Stillstand kommen. Ich erstarre zur Salzsäule – darin habe ich Übung – und lausche ihnen mit pochendem Herzen.

»Es war irgendwo hier.«

»Ich hör nix.«

»War es doch weiter hinten?«

»Oder eine Wahnvorstellung«, beharrt der eine, den ich in Gedanken den Zweifler nenne.

Der andere – der Lauscher – schnaubt: »Das hab ich dann auch halluziniert, hm?«

»Ein Buch?«

Mein Herz setzt aus.

»Es kam über die Mauer geflogen.«

Scheiße, scheiße, scheiße!

»Ohne Witz?«

»Alter!«

»Schon gut, schon gut. Was steht drin?«

Ich sterbe!

»Keine Ahnung. Ich hab nicht nachgesehen.«

Fieberhaft suche ich einen Ausweg. Ich schaffe es niemals zurück auf die Mauer, ich kann mich ja kaum noch halten. Lasse ich mich fallen, verrate ich meine Anwesenheit. Die Lage ist aussichtslos, bis –

»Da kommt wer«, warnt der Lauscher. Ich höre es auch. Jemand nähert sich. So viel Pech kann ein Mensch unmöglich haben. Ich verfluche Scarlett und mobilisiere meine letzten Kraftreserven. Nur noch ein wenig länger …

Da spüre ich eine Bewegung. Einer der beiden presst sich an die Mauer. Sein Arm streift mich, der Efeu gibt unter ihm nach. Er ist viel zu nah, wenn er sich nur ein wenig in meine Richtung dreht, stößt er wortwörtlich auf mich. Jetzt hält er den Atem an.

Das schwache Licht einer Laterne nähert sich, mit ihm schälen sich Umrisse aus dem Dunkel. Büsche, Blätter und das Gesicht des Mannes neben mir. Ich erkenne zweierlei. Erstens ist er etwa in meinem Alter und zweitens auf einer Höhe mit mir, was bedeutet, dass ich mich wenige Zentimeter über dem Boden an die Mauer klammere. Der Grund auf dieser Seite muss höher liegen, was prima wäre, wäre ich allein. So bleibt mir nichts anderes übrig, als weiter den Affen zu mimen, während der Laternenschein vorüberzieht.

Da dreht er den Kopf und erblickt mich; er zuckt nicht einmal zurück, wohingegen ich vor Schreck beinahe loslasse. Ein flüchtiges Blinzeln ist die einzige Reaktion auf mein panisches Zucken, als wäre es für ihn vollkommen normal, fremde Mädchen an Mauern hängen zu sehen.

»Du kannst loslassen«, lässt er mich wissen, kaum dass der Laternenschein verblasst. Es ist der Zweifler.

»Loslassen? Wovon redest du?« Der andere pirscht durchs Unterholz. »Alter, das war knapp! Nichts wie ab über die Mauer, bevor er zurückkommt.«

»Ich hab dein Mädchen gefunden.«

»Mein was?« Da entdeckt mich auch der Lauscher. Im Gegensatz zu seinem Freund springt er drei Schritte zurück. »Holy Shit! Kannst du mich nicht vorwarnen?«

»Hab ich doch.«

»Was macht sie da? Kann sie sprechen?«

»Wir sollten ihr von der Mauer helfen –«

Da lasse ich los und plumpse mitten hinein in üppig wuchernde Brennnesseln. Einer hilft mir hinaus, der andere hält mein Buch in den Händen. Ich will danach greifen, da hebt er es aus meiner Reichweite. Es ist der Lauscher.

»Das gehört mir«, lasse ich ihn wissen.

»Offensichtlich wolltest du es nicht mehr.«

»Es gehört mir!«, beharre ich.

»Da könnte ja jede kommen.«

»Still!«, warnt der Zweifler. »Er kommt zurück.«


Das Tagebuch der Jenna Blue

Подняться наверх