Читать книгу Das Zeichen seiner Liebe - Junia Swan - Страница 5

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PROLOG

Manchmal in ihren Träumen hörte Dorothy Stimmen, ohne zu verstehen, was sie sagten. Viel zu selten stahl sich ein Lied des Nachts in ihre Ohren und ließ ihr Herz höher schlagen. Doch wenn es geschah, fühlte es sich an, als würde sich der Himmel über ihr öffnen und wenn es verstummte, fiel es ihr unglaublich schwer, in ihre stille Realität zurückzukehren. Wenn sie erwachte, war es ihr als würde man eine Kerze ausblasen und sie nur mehr von Dunkelheit umgeben sein. Die Klänge verstummten, wenn sie die Augen aufschlug und wurden von der Dichte einer undurchdringlichen Stille verschluckt. Dafür, wie dies gelingen konnte, fand sie keine Erklärung, doch war sie sicher, dass es sich um einen bösen Geist handeln musste, der alle Geräusche von ihr fernhielt. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es eine weitere Welt gab, jene Welt der Melodien und Stimmen, an der alle anderen Menschen teilhatten, nur sie nicht.

Langsam setzte sich Dorothy auf und die Decke glitt auf ihre Hüften hinab und bauschte sich dort zu einem kleinen Hügel. Sie blinzelte, rieb sich die Augen und blickte zum Fenster. Regen ergoss sich in dicken Schnüren, wie sie annahm, aus dunkelgrauen, schweren Wolken. Es fröstelte sie, als sie ein Bein unter der Decke hervorschob und mit den Zehenspitzen den kalten Boden berührte. Sie wollte viel lieber liegenbleiben. Allerdings wäre es müßig, diesem Gedanken nachzuhängen, denn in wenigen Minuten würde Mary die Tür aufreißen und die Decke mit einem Ruck von ihrem Körper ziehen. Alle in diesem Haushalt gingen davon aus, dass dies die einzige Möglichkeit war, Dorothy zu wecken. Deswegen zog sie es vor, allein zu erwachen und die Dienerin, bereits in ihren Morgenmantel gehüllt, zu erwarten. Zitternd trat sie vor den Spiegel und sah sich forschend an. Seit sie denken konnte, versuchte sie den Mangel an ihrem Körper zu entdecken, der sie so anders machte. Doch sie konnte ihn einfach nicht finden! Es war zum Haareraufen! Nicht einmal ihre Ohren waren anders geformt als die ihrer Geschwister. Kein einziger Hinweis machte auf den kleinen Unterschied aufmerksam, der für sie jedoch alles bedeutete. Mit ihrer Unfähigkeit zu hören, hatte sie das Anrecht auf ein erfülltes Leben verloren. Traurigerweise konnte sie sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie es davor gewesen war. Bevor sie diese schrecklichen Ohrenschmerzen bekommen hatte, an denen sie beinahe gestorben wäre. Keine Erinnerung war ihr daran geblieben, sie war zu jung gewesen. Alles, was sie mit dieser anderen, heilen Welt verband, waren ihre Träume.

Ein Luftzug strich um ihren Körper und sie fuhr herum. Mary zog die Tür hinter sich zu und steuerte mit strengem Gesichtsausdruck auf sie zu. Dorothy schluckte schwer und zuckte nicht einmal zusammen, als die Frau grob nach ihr griff und sie zum nächsten Stuhl bugsierte.

Dorothy starrte ihren Hauslehrer entsetzt an, der sie mit strengem Blick musterte. Sie konnte nicht glauben, was er soeben gesagt hatte. Wenn man klar und deutlich mit ihr sprach, hatte sie keine Probleme damit, von den Lippen abzulesen, doch in diesem Augenblick glaubte sie, etwas falsch verstanden zu haben. Sie machte eine fragende Geste, was den Lehrer die Augenbrauen noch grimmiger zusammenziehen ließ.

„Wage es nicht mit deinen Händen zu sprechen! Einmal noch und ich binde sie dir auf den Rücken!“

Entsetzt ließ sie die Arme sinken und ballte die Hände zu Fäusten, die sie zwischen den Falten ihres Rockes versteckte. Zweifellos wollte er, dass sie sprach. Den Mund öffnete, um mit ihrer Zunge Worte zu formen, die sie nicht hören konnte und die so schwierig waren, dass es sie bis zur Erschöpfung anstrengte, diese herauszupressen. Die Reaktionen der ihr zuhörenden Personen ermutigten sie außer-dem nicht, sich dahingehend anzustrengen. Sie verzogen angeekelt die Gesichter, wandten sich ab oder baten sie, still zu sein. Deswegen setzte sie sich an das schmale Pult und schrieb auf einen Block: „Wie bitte?“

Diesen reichte sie ihrem Lehrer, der ihre Frage kurz überflog und sich ihr wieder zuwandte.

„Dein Vater wünscht, dass du zu Weihnachten ein Lied vorträgst“, wiederholte er ungeduldig und Dorothys Schultern sackten nach unten. Ein Lied vortragen? Sie sollte ein Lied vortragen? Wie, um alles in der Welt, sollte das gehen? Fragend und ratlos erwiderte sie den Blick des Lehrers.

„Du wirst dich eben anstrengen müssen! Das ist nur eine Sache des Wollens! Wenn du dich sträubst, werde ich deine Zunge mit der Zange zurechtbiegen!“

Erschrocken presste Dorothy beide Hände über ihren Mund. Mit der Zange! Sie hasste diese Zangen und den festen Griff der Hände des Lehrers, mit denen er ihre Kiefer auseinanderzwang, um ihr die richtige Stellung der Zunge zu demonstrieren. Jedes Mal meinte sie daran zu ersticken. Allein bei dieser Vorstellung, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. Auch wenn sie es wollte, wie sollte sie jemals singen? Wie einen klaren Ton über die Lippen bringen?

Der Lehrer beugte sich näher zu ihr und hielt ihren Blick gefangen.

„Bis du aufhörst, dich zu widersetzen.“

Er richtete sich wieder gerade auf und deutete Dorothy, sich zu erheben. Mit zitternden Knien stand sie auf und stützte sich mit den Händen an dem Tisch ab. Er fühlte sich kalt unter ihren schmalen Fingern an.

„Du kennst den Text“, erinnerte er sie gnadenlos. „Und jetzt singe ihn!“

Aber sie wusste doch nicht wie! Doch es half nichts, irgendwie musste sie es schaffen! Sie öffnete den Mund und sprudelte Laute in den Raum, um ihren Lehrer zufriedenzustellen, dessen Gesicht zunehmend einer steinernen Maske glich. Mit einer herrischen Geste befahl er ihr, innezuhalten.

„Das wird nichts. Ich denke, wir nehmen die Zange.“

Dorothys Augen schossen zur Tür in der Hoffnung, ihm entkommen zu können, aber er griff nach ihrem Arm, als hätte er ihre Gedanken erraten. Sie schrie, als er sie hinter sich zu einem Stuhl, an dessen Armlehnen Lederriemen befestigt waren, zerrte und wehrte sich mit Leibeskräften. Doch er war stärker. Wenige Augenblicke später hatte er sie bewegungsunfähig gemacht, ihren Mund bereits gewaltsam geöffnet, mit einem Eisengestell fixiert, um mit der verhassten Zange in ihn einzudringen.

Verzweifelt schloss Dorothy die Augen, darum bemüht, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken und die Marter über sich ergehen zu lassen.

Am Nachmittag des gleichen Tages hatte sie ein kleines Kleiderbündel geschnürt, bereit, ihren lang gehegten Plan zur Flucht in die Tat umzusetzen. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wohin sie fliehen sollte, doch diese Ungewissheit zog sie einem Leben auf dem Anwesen ihrer Eltern vor. Nicht einen Tag länger wollte sie hier bleiben: an einem Ort, an dem sie nicht willkommen war und man sie ständig schikanierte. Dorothy atmete tief durch, als sie sich durch den Hinterausgang ins Freie schlich. Ein letztes Mal blickte sie sich um, dann rannte sie auf den eine halbe Meile entfernten Wald zu. Niemals mehr wollte sie hierher zurückkehren! Lieber würde sie sterben, als noch einmal einen Fuß in ihr Elternhaus zu setzen!

Das Zeichen seiner Liebe

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