Читать книгу Das Zeichen seiner Liebe - Junia Swan - Страница 7

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2. KAPITEL

Als Beaufort bemerkte, dass Dorothys Zimmer leer war, fluchte er leise. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie hatte entkommen können. Er steckte seinen Kopf zur Tür hinaus und fragte die davor stehenden Wachen, ob sie ihren Platz verlassen hätten. Nein. Nachdenklich schloss er die Tür und ging zum Fenster, öffnete es und rief leise in den Hof hinunter, ob jemand der dort postierten Männer, das Mädchen gesehen hätte. Auch hier kam die Antwort, ohne zu zögern. Nein, die Kleine hätte man nicht übersehen. Nachdem er das Fenster geschlossen hatte, bückte er sich, um unter dem Bett nachzusehen. Auch da war sie nicht, nur einige dicke Wollmäuse hatten sich bei einem Bettpfosten gesammelt und wirkten, als würden sie sich dort erschrocken zusammenkauern.

Nachdenklich richtete sich Beaufort auf. Dorothy musste hier sein! Es hatte keine Möglichkeit für sie gegeben, das Zimmer zu verlassen. Wobei, vielleicht hatte sie sich mit den Dienerinnen hinausgeschlichen? Mit einem Fluch auf den Lippen spannte er sich an. Wie hatte er diese Option nur übersehen und sie aus den Augen lassen können? Wie es den Anschein erweckte, war sie schlauer, als er angenommen hatte.

Gerade als er aus dem Raum stürzen wollte, fiel sein Blick auf das ungemachte Bett, auf dem sein Jackett lag und er hielt mitten in der Bewegung inne. Das war merkwürdig. Wenn sie sich in die Decke eingewickelt davongemacht hätte, wäre es aufgefallen.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen setzte er sich auf die Matratze und dachte angestrengt nach. Dabei streiften seine Augen den breiten Holzschrank an der gegenüberliegenden Wand. Als hätte das Möbel ihn gerufen, hörte er auch ein schwaches Klopfen, als wäre etwas gegen die Innenwand gestoßen. Erleichtert teilten sich seine Lippen zu einem Lächeln. Dieses Mädchen war überaus gewitzt. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte das Zimmer verlassen und dann hätte sie … Er konnte kaum fassen, dass sie zu einem solchen Plan fähig war!

Auf leisen Sohlen schlich er sich zum Schrank und öffnete die Türen. Ein schlaffer Arm, der wohl gegen die Tür gelehnt geruht hatte, glitt nun über den Korpus heraus, um bewegungslos hängenzubleiben. Beauforts Blick folgte seinem Verlauf, bis er unter der Decke verschwand. Einige rötlichblonde Haarsträhnen quollen ebenfalls unter der Decke hervor. Langsam ging er in die Hocke, beugte sich zu ihr und zog den wärmenden Überwurf vorsichtig von ihrem Kopf. Sie lag wie eine Kugel zusammengerollt, eine Wange ruhte auf ihrer Hand, der Mund war leicht geöffnet und das Gesicht von einem rosigen Hauch überzogen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie anders sie nun, gewaschen, wirkte, und vor allen Dingen, wie jung. Zu jung, um seine Frau zu werden?

Ohne sie aus den Augen zu lassen, zog er seine Hand zurück, noch immer versunken in ihre Betrachtung. Trotzdem. Er straffte die Schultern. Es führte kein Weg daran vorbei, sie zu heiraten, wenn er nicht alles verlieren wollte, was ihm eigentlich zustand. Nun, dann würde sie eben seine Frau werden. Aber es müssten erst noch ein paar Jahre vergehen, bis sie ihm einen Erben schenken konnte. Es war zwar sicherlich nicht das, was er sich wünschte, aber immerhin wirkte es wie ein erträglicher Kompromiss.

Beaufort richtete sich ein wenig auf und schob seine Arme unter ihren Körper. Sie zuckte zusammen und riss erschrocken die Augen auf, als er sie anhob. Sofort begann sie sich zu wehren.

„Pscht“, murmelte er beruhigend. „Ich lege dich nur in dein Bett.“

Dorothy blinzelte verschlafen, doch dann stieß sie ihm mit der flachen Hand gegen die Brust. Er ignorierte ihren Protest und bettete sie auf die Matratze. Fürsorglich zupfte er die Decke, welche fast vollständig von ihrem Körper gerutscht war, zurecht, dann richtete er sich auf. Dorothy blieb jedoch nicht liegen, sondern kämpfte sich in die Höhe. Tränen traten ihr in die Augen, als ihr bewusst wurde, dass ihr Plan misslungen war. Enttäuscht begann sie zu weinen, ihr Gesicht hinter ihren Händen verbergend.

Nachdem Beaufort eine Weile abgewogen hatte, wie er am besten reagieren sollte, ließ er sich neben ihr nieder, zog ihre Hände von ihrem Gesicht fort und wartete darauf, dass sie ihn ansah. Als sie sich endlich ein wenig beruhigt hatte, erwiderte sie seinen Blick.

„So schlimm ist es nicht!“, erklärte er ruhig.

Da begann sie wild mit den Händen zu gestikulieren und seine Miene verdüsterte sich. Doch sie gab nicht auf, stieß ihn an, als er sich abwenden wollte. Griff sich mit einer Hand an die Kehle und tat, als würde sie sterben. Er verstand überhaupt nicht, was sie da machte. Offensichtlich war es nun um den letzten Rest ihres Verstandes geschehen, wenn sie denn überhaupt einen hatte.

„Hör auf!“, befahl er streng, doch sie schüttelte den Kopf, deutete fieberhaft zum Fenster.

„Bättä!“, stammelte sie auf diese merkwürdige Art, doch er verstand.

„Was willst du?“

Da legte sie eine Hand an ihr Kreuz und tat, als wäre sie sehr alt und gekrümmt.

„Du sprichst von der Alten?“, hinterfragte er entnervt und sie nickte wie von Sinnen, sprang aus dem Bett, griff nach seinem Arm und wollte ihn mit sich ziehen.

„Schluss!“, fuhr er sie an und sie zuckte zurück, als hätte er sie gestoßen. „Ich habe bereits gesagt, dass die Alte bleibt, wo sie ist!“

Dorothy schüttelte verzweifelt den Kopf und trat direkt vor ihn. Beaufort legte den Kopf in den Nacken, um den Blickkontakt nicht zu verlieren. Da beugte sie sich ein wenig tiefer, sodass ihre Gesichter einander beinahe berührten, während sie eine Hand an seine Wange hob und sanft darauf legte. Beschwörend hielt sie seiner Musterung stand.

„Bättä!“, wiederholte sie und es hörte sich an, als würde sie flüstern.

Dann deutete sie auf sich, machte mit den Fingern vor seinen Augen ein Zeichen, als würde sie gehen und zeigte dann auf ihn. Sie zog ihre Hand zurück, griff nach der seinen und tat, als würde sie ihm einen Ring anstecken. Er verstand, was sie ihm sagen wollte und war sekundenlang verblüfft.

„Du denkst, es bräuchte deine Zustimmung zu unserer Hochzeit?“, hinterfragte er ungläubig und sie nickte mit einem Lächeln.

„Nein, du irrst dich. Du bist nicht in der Lage zu verhandeln.“

Ihre Gesichtszüge erstarrten und sie machte einen Schritt zurück. Noch bevor er ahnen konnte, was sie vor-hatte, sank sie vor ihm auf die Knie und beugte den Kopf.

„Bättä! Stä-bän.“

„Was stä-bän?“, wiederholte er ungeduldig und da sie nicht reagierte, beugte er sich vor, griff nach ihrem Kinn und hob es an. „Was soll das heißen? Stä-bän?“

Wieder griff sie sich an die Kehle.

„Ach so, sterben.“ Gereizt schüttelte er den Kopf. „Nein, die Alte wird nicht sterben. Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat? Sie ist nur ein wenig krank. Sie hat sich bald erholt!“

Doch Dorothy schüttelte störrisch den Kopf.

„Stä-bän“, blieb sie dabei und es klang merkwürdiger-weise endgültig.

Das Flehen ihrer Augen berührte etwas in ihm und er konnte sich des Mitleids nicht entziehen.

„Du wirst nicht davonlaufen, wenn ich sie holen lasse?“

Ein Hoffnungsschimmer blitzte in ihren Augen auf und sie nickte nachdrücklich. Lange musterte er sie sinnend. Schließlich hob er eine Hand und berührte mit den Finger-spitzen ihre sanft gerundete Wange. Da senkte sie die Augenlider und verweigerte ihm die Sicht darauf, was sie empfand – schloss ihn aus ihrer Welt aus. Deswegen tippte er sie vorsichtig am Kinn an und sie kehrte widerwillig mit ihrem Blick zu ihm zurück.

„Wirst du mir eine folgsame Ehefrau sein?“

Wieder nickte sie.

„Weißt du überhaupt, was das bedeutet?“

Verneinend schüttelte sie den Kopf.

„Das habe ich mir gedacht“, meinte er seufzend und entfernte seine Hand von ihr.

Er erhob sich, umfasste sie an den Schultern und zog sie auf die Beine. Nun musste sie ihren Kopf in den Nacken legen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

„Ich verlange, dass du normal mit mir sprichst und nie wieder mit deinen Händen fuchtelst, wie du es gerade getan hast.“

Seine Worte drangen schmerzhaft in ihr Herz. Mit seiner Forderung nahm er ihr jegliche Möglichkeit, sich ihm mitzuteilen. Konnte er das denn nicht verstehen? Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Dann nickte sie unglücklich.

„Auch erwarte ich, dass du es lernst, normal zu sprechen.“

Die Verzweiflung in ihr wuchs. Wie sollte sie das jemals bewerkstelligen? Wie sollte sie etwas erlernen, wofür ihr die Grundlagen fehlten?

Egal, sie würde ihm jedes Versprechen geben, wenn sie damit Susans Leben rettete!

„Ja“, krächzte sie und eine Gänsehaut überzog Beauforts Arme.

„Nicht so. Ich will diese Misslaute nicht hören. Wenn du es nicht anders kannst, dann flüstere gefälligst!“

Folgsam legte sie eine Hand auf ihren Kehlkopf und versuchte sich daran zu erinnern, wie es sich anfühlte, wenn sie flüsterte.

„Ja“, hauchte sie und er nickte zustimmend.

„Geht doch“, meinte er zufrieden. „Also, sind wir uns einig?“

„Ja.“

„Gut. Ich werde die Alte holen lassen.“

„Danke!“, formten ihre Lippen, doch nicht einmal ein Flüstern stahl sich aus ihrem Mund.

„Hast du Hunger?“

Dorothy nickte und Beaufort wandte sich ab, um an einem Klingelzug zu ziehen und kurze Zeit später bei einem Diener Essen aufs Zimmer zu bestellen.

Es war lange her, dass Dorothy das letzte Mal mit Messer und Gabel gegessen hatte und wenn sie ehrlich war, fand sie es bei weitem praktischer und zielführender die Finger zu benutzen. Deswegen ignorierte sie das Besteck, nahm eine kleine Menge Reis zwischen die Finger und tunkte diese in die Sauce. Ihre komplette Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, schnell zu essen, weshalb ihr entging, dass Beaufort vor Entsetzen die Gabel aus der Hand fiel, welche mit einem Klirren auf dem Teller zu liegen kam. Sekundenlang starrte er sie an, als würde er sie das erste Mal sehen, dann beugte er sich vor und legte eine Hand über ihren Unterarm. Schmatzend sah sie auf, ihre Augen funkelten vor Freude über diese Köstlichkeiten auf ihrem Teller. Im nächsten Moment konzentrierte sie sich jedoch wieder auf ihr Essen. Mit Schaudern konnte er beobachten, wie sie das komplette Fleischstück aufnahm und davon abbiss, nicht, ohne ein wenig daran zu zerren. Diese Geste erinnerte ihn an seine Jagdhunde, wenn sie sich über frische Schweineohren aus der Küche hermachten. Fest drückte er Dorothys Arm, was sie ihr Antlitz wieder anheben ließ. Dabei versuchte sie mit den Schneidezähnen einen Fettrand zu zertrennen. Es sah wirklich entsetzlich aus! Fürwahr fühlte es sich an, als säße er mit einer Wilden am Tisch. Genau genommen war sie das auch. Ihr lieblicher Anblick hatte ihn offensichtlich abgelenkt.

„Lege das Fleisch sofort auf den Teller und nimm das Besteck!“

Er sah sie dermaßen streng an, dass ihr vor Schreck das Essen aus den Fingern glitt und auf den Teller fiel. Natürlich spritzte die Sauce in alle Richtungen und er bemerkte einen Fleck in Höhe ihrer Brust. Na, wunderbar!

Mehrmals atmete er tief durch, bis er sich wieder in der Lage fühlte, ruhig zu sprechen. Gerade, als er ansetzen wollte mit seiner Rüge fortzufahren, griff sie nach dem Tischtuch und wischte die Hände daran ab. Ohne ihn weiter zu beachten, nahm sie Messer und Gabel in ihre Fäuste, was sehr ungehobelt wirkte und begann das Fleisch hektisch zu bearbeiten. Dabei rutschte das Essen bedrohlich von einer Seite auf die andere und schob sogar einige Reiskörner über den Tellerrand. Ein frustrierter Laut löste sich von ihren Lippen. Ungeduldig legte sie das Besteck ab und wollte gerade wieder mit den Händen nach dem Essen greifen, was er jedoch zu verhindern wusste, indem er ihren Teller in letzter Sekunde zu sich zog.

Überrascht, mit großen Augen, suchte sie erneut seinen Blick. Hungrig leckte sie sich über die Lippen. Grund-gütiger!

Irgendwann konnte sie seine finstere Miene nicht länger ertragen und deutete auf den Teller.

„Bättä!“, stieß sie hervor, was ihn erneut zusammenzucken ließ.

„Du sollst flüstern!“, erinnerte er sie mahnend.

Sogleich legte sie eine (schmutzige!) Hand an ihre Kehle und er musste sich mit aller Gewalt zurückhalten, um nicht aufzuspringen und sie vom Tisch zu scheuchen.

„Bättä“, wiederholte sie flüsternd.

„Iss ordentlich! Oder hat man es dir nicht beigebracht?“

Mehrmals blinzelte sie.

„Vereiung!“, murmelte sie angestrengt und er war kurz davor, sich die Ohren zuzuhalten.

Würde er diese Laute eines Kleinkindes für den Rest seines Lebens hören müssen! Das war keine sonderlich erfreuliche Zukunftsprognose, musste er sich eingestehen und seufzte unter dieser Bürde.

Murrend nahm sie das Besteck wieder in die Hände und machte eine auffordernde Geste. Da erhob er sich und trat neben sie. Mit sanfter Gewalt löste er das Messer aus ihrer Faust und zeigte ihr, wie sie es halten musste. Das gleiche machte er mit der Gabel. Mit zusammengekniffenen Augen musterte Dorothy diese Haltung und erinnerte sich daran, vor langer Zeit auf diese Weise gegessen zu haben. Eifrig begann sie auf dem Tischtuch zu üben und hinterließ dabei Saucespuren auf dem strahlendweißen Leinen. Eilig, damit sie nicht noch mehr Unheil anrichten konnte, kehrte er an seinen Platz zurück und schob ihr den Teller hin. Auch, wenn sie sich nun mit der rechten Haltung ihrem Essen widmete, war die Art, wie sie damit verfuhr, weit davon entfernt, manierlich zu sein. Deswegen senkte er den Blick und weigerte sich, noch einmal zu ihr hinüberzusehen. Wie er sich nun schweren Herzens eingestehen musste, war es bei weitem nicht damit getan, Dorothy auf das Gut seines Vaters zu bringen. Sie musste Jahre der Unterweisung in den rechten Umgangsformen der Etikette nachholen. Himmel, ihm blieb auch nichts erspart! Er würde ein Kind heiraten!

Plötzlich bemerkte er, dass es auf der anderen Seite des Tisches still geworden war und er hob entgegen seines Vorsatzes den Kopf, sah Dorothy an. Sie linste zu ihm, die Hände im Schoß gefaltet und mit dem Gesichtsausdruck eines unschuldigen Engels. Geduldig wartete sie darauf, dass er etwas zu ihr sagte.

„Ja?“, fragte er misstrauisch.

„Mäh!“, bat sie mit einem freundlichen Lächeln.

„Wie bitte?“

Mit einer Serviette tupfte er sich den Mund ab, während er sie eindringlich musterte.

„No mäh!“

Beaufort legte die Serviette neben seinen Teller und presste die Kiefer so fest aufeinander, dass seine Wangenmuskeln zuckten.

„Sprich ordentlich! Ich verstehe kein Wort!“

„Nooo määääähhhhh, bättääää!“, wiederholte sie ungeduldig, hob die Hände und sah ihn fragend an.

Widerwillig nickte er und sie deutete auf die Platte mit weiterem Essen und dann auf ihren Teller.

„Du willst mehr?“

„Ja, meaah!“

Sie hatte die Bewegungen seiner Lippen genau beobachtet und versuchte nun seine Worte korrekt nachzuahmen. Er beugte sich vor, griff nach dem Vorlegebesteck und gab ihr auf den Teller.

Als Zeichen des Dankes nickte sie, griff nach dem Besteck, wobei sie es wieder in ihre Fäuste nahm und zu essen begann. Resigniert wandte er den Blick ab. Er war noch nicht einmal eine Stunde mit ihr im gleichen Raum und hatte ihr bereits gestattet, zu gestikulieren, laut zu sprechen und in einer unbeschreiblich schändlichen Weise zu essen. Wie würde das weitergehen? Er setzte alle Hoffnung auf Dorothys alten Lehrer, der, dem Himmel sei Dank, die Pocken überlebt hatte. Dieser Mann wusste sicherlich, was zu tun war, um Dorothy zu zivilisieren!

Beaufort selbst war der Appetit mittlerweile vergangen und er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, starrte auf das Tischtuch und vermied es, zu der jungen Frau zu blicken.

Nach einer Weile beugte sie sich vor und schwenkte eine Hand vor seinem Gesicht hin und her, weshalb er aufsah.

„Nahspeie bättä!“

Er blinzelte.

„Du sollst flüstern!“, erinnerte er sie ärgerlich. „Und deutlich sprechen! Ich verstehe kein Wort!“

Wieder hob sie fragend die Hände und er nickte mit einem schweren Seufzen. Da spielte sie, als würde sie mit spitzen Fingern etwas aus einer Schachtel nehmen und dieses zu ihrem Mund führen. Sie legte es bildlich auf ihre Zunge, schloss genüsslich die Augen, während sie etwas kaute und dabei ihren Oberkörper wohlig hin und her bewegte. Es war eine überaus anschauliche Darbietung und er verfolgte jede ihrer Bewegungen mit überraschter Aufmerksamkeit. Verwirrt stellte er fest, dass ihn nicht abstieß, was er sah, ganz im Gegenteil. Als sie die Augen öffnete und in ihrer Demonstration innehielt, wusste er, was sie ihm mitteilen wollte. Die Art, wie sie es gemacht hatte, war tausendmal bezaubernder gewesen, als diese schrecklichen Laute, die sie zwischen ihren Lippen hervorpresste.

„Du willst eine Praline!“, stellte er fest und sie nickte mit einem strahlenden Lächeln, hob eine Hand und zeigte ihm drei Finger.

„Drei Pralinen?“

Kichernd streckte sie auch den vierten und fünften Finger aus.

„Vier, fünf Pralinen?“, zählte er und sie hob die andere Hand.

„Zehn Pralinen? Du bist ziemlich gierig!“

Lässig zuckte sie mit den Achseln, nickte aber gleichzeitig. Weil er ihr diesen Wunsch nicht abschlagen wollte, erhob er sich und läutete erneut nach dem Diener.

Nicht lange und die gewünschte Nachspeise stand vor ihr auf einem Teller. So, wie sie es vorhin gemacht hatte, griff sie nach dem ersten Konfekt und legte es auf ihre Zunge, schloss die Augen und kaute genüsslich. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden, so liebreizend wirkte sie auf ihn und er fragte sich, ob Taubheit tatsächlich mit geistiger Behinderung einherging. Er konnte doch sehen, dass sie nicht dumm war. Oder bildete er sich alles nur ein, weil er darauf hoffte, sie wäre „normal“?

Nach der fünften Praline fixierte sie ihn und hob den Teller fragend in seine Richtung, doch er schüttelte den Kopf.

„Nein, vielen Dank“, sagte er rau und räusperte sich.

Seine Gedanken hatten eine Richtung eingeschlagen, die ihm nicht behagte. Ihr Körper war der einer jungen Frau und nicht mehr der eines Kindes. Die anmutigen Bewegungen, mit denen sie sich ihrer Nachspeise widmete, schlugen ihn in ihren Bann. Deswegen erhob er sich mit einem Ruck und ging mit hinter dem Rücken verschränkten Armen im Zimmer auf und ab, wartete darauf, dass sie endlich zu Ende gegessen hatte, während seine Gedanken kreisten. Wie war es möglich, dass sich Dorothy derart klar mittels Gesten mitteilen konnte, ohne eine Sprache zu sprechen? Dass Sprache die Grundlage des Denkens, ja, sogar die Basis der Zivilisation darstellte, war für ihn bisher ebenso unumstößlich gewiss gewesen, wie die Schlussfolgerung, dass ein Mensch, der nicht sprach, unfähig war zu denken. Demzufolge war es unmöglich, dass ein Mädchen wie Dorothy, das weder hören, sprechen, also folglich auch nicht denken konnte, einen eigenen Willen besaß. Oder war der Wille eher mit dem Instinkt eines Tieres gleichzusetzen? Nein.

Mit Schwung machte er auf dem Absatz eine Kehrtwende und schritt die wenigen Meter zurück, die er gerade gegangen war.

Als einer der ersten Mitglieder der Englischen Goethe-Gesellschaft, welche vor ein paar Jahren gegründet worden war, wusste er viel mehr über die Grundlagen der Sprache, als die meisten Bewohner Großbritanniens. Seit er ein Knabe war, hatte er sich für die Strukturen, ja, die Grammatik von Sprachen interessiert und hatte seine Muttersprache bis in die kleinsten Unregelmäßigkeiten enttarnt und aufgelistet: ear, earn, wear, tear. Als wäre das nicht genug hatte er sich eingehend mit der deutschen Sprache befasst und beherrschte diese so gut, dass er sogar Goethe im Original lesen und verstehen konnte. Wir werden, hoff ich, uns vertragen; denn dir die Grillen zu verjagen, bin ich als edler Junker hier … War es als göttlicher Hohn zu verstehen, dass er eine Frau heiraten musste, die niemals davon würde eine Ahnung haben können? Die keinen blassen Schimmer von einem wissenschaftlichen, intellektuellen Diskurs hatte? Nun ja, er übertrieb. Mit welcher Frau konnte man über derlei Dinge schon sprechen? Es war bewiesen, dass eine Konversation, die über die Oberflächlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens hinausgingen, das schwache Geschlecht unnötig überforderte und belastete. Deswegen galt es tunlichst zu vermeiden, das weibliche Gemüt mit derlei Auseinandersetzungen zu erschüttern.

Wie auch immer, mit Dorothy war es sogar unmöglich sich über das neueste Kleid Königin Victorias auszutauschen. Wie sollte sie jemals an seiner Seite einen Empfang geben? Hatte darüber schon einmal jemand nachgedacht? Sein Vater und er waren so sehr damit beschäftigt gewesen, seinen Rang in der Gesellschaft zu verbessern, dass sie darüber hinaus vergessen hatten, über das tägliche Leben eines Barons nachzudenken. Nun, es würde so sein, wie er es sich bereits ausgemalt hatte: Sobald Dorothy ihm einen Sohn geboren hätte, würde er sie auf einen Landsitz verbannen, wo es keinen störte, was sie machte. Unwillkürlich flog sein Blick zu ihr. Wie er erkennen konnte, war sie noch immer mit ihrer Pralinen-Zeremonie beschäftigt und wiegte ihren Oberkörper. Ein Glück, dass sie, bis auf eine, schon alle gegessen hatte!

Ihm war gelungen, was er bezweckt hatte – sie war abgelenkt. Wenn er sie jeden Tag mit Schokolade fütterte, hätte sie die alte Frau sicherlich bald vergessen. Denn, ehrlich gesagt, hatte er nicht vor, sein Versprechen zu halten und nach ihr zu schicken. Eine verwahrloste Frau in seinem Haushalt war eindeutig mehr als genug. Bis Dorothy dies herausgefunden hätte, wäre er längst mit ihr verheiratet. Zweifellos würde sie es dann nicht mehr wagen, vor ihm zu fliehen.

Er hörte, dass sie den Stuhl zurückschob und sich langsam erhob, darum wandte er sich ihr zu. Fragend musterte sie ihn.

„Ich werde eine Dienerin schicken, damit sie dir aus dem Kleid hilft. Du bist müde und solltest schlafen.“

„Ja“, flüsterte sie. „Und Suan?“

„Wie bitte?“

„Suan!“

„Was soll das sein?“

„Suan!“

Sie sagte es so nachdrücklich, dass er resigniert seine Hände hob und die Finger bewegte. Plötzlich teilte ein Lächeln ihre Lippen und kleine Grübchen bildeten sich auf ihren Wangen, während sich der Ausdruck ihrer Augen veränderte und ganz weich wurde. Unwillkürlich stockte ihm der Atem, so schön war sie in diesem Moment. Dankbar machte sie einen Schritt in seine Richtung und dann begann sie mit ihren Händen und Gesten zu erklären, was ihr am Herzen lag. Er konnte nicht alles verstehen, doch meinte er zu begreifen, dass es um die alte Frau ging. Verflucht! Und er hatte gedacht …

„Es wird ein paar Tage dauern, bis sie hier ist. So schnell geht das nicht“, erklärte er mit schlechtem Gewissen.

Zögernd kam sie noch näher, griff, bevor er sich ihr entziehen konnte, nach seiner Hand und hauchte einen Kuss auf seinen Handrücken. Ihr warmer Atem streifte über seine Haut und die Zartheit ihrer Berührung, beschleunigte seinen Herzschlag. Wie lange hatte er sich vorgenommen, sie nicht zu der Seinen zu machen? Zwei Jahre? Eines? Oder vielleicht doch nur ein paar Wochen? Sekundenlang verharrte sie so, dann richtete sie sich auf und musterte ihn voller Dankbarkeit. Schließlich hob sie eine Hand, legte sie auf ihre Lippen, um sie dann in einer fließenden Bewegung in seine Richtung zu führen.

„Danä!“

Diese schrecklichen Laute rissen ihn aus seiner Versunkenheit und er konnte ein Zusammenzucken nicht unterdrücken. Wann würde sie endlich lernen zu flüstern? Schnell machte Beaufort einen Schritt zurück.

„Schlaf gut!“, wünschte er, wandte sich um und verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen.

Mit einem warmen Gefühl im Herzen blickte Dorothy ihrem Entführer nach. Sie konnte nicht glauben, dass er ihr gestattet hatte, mit ihm in ihrer Sprache zu sprechen! Es fühlte sich an, als wäre ein Wunder geschehen! Sie würde ihn alle Gesten lehren, damit er sie mit jedem Tag besser verstand und irgendwann würde er dann ebenfalls auf diese Weise mit ihr kommunizieren! Glück ließ sie laut auflachen und sie drehte sich ein paar Mal im Kreis. Außerdem hatte er versprochen Susan zu holen! Wenn die alte Frau erst bei ihr wäre, hätte Dorothy eine Vertraute an ihrer Seite und würde sich nicht so verlassen und einsam in dem neuen Leben fühlen, in das man sie bald drängen würde. Aus-gelassen tanzte sie durch den Raum und stieß hart gegen die Tür, als diese geöffnet wurde.

„Ah!“, schrie sie und fuhr sich mit einer Hand an die Stirn, die sofort fürchterlich schmerzte.

„Verzeiht, Mylady“, stammelte das Dienstmädchen, doch Dorothy beachtete es nicht.

Schmerzenstränen bildeten sich in ihren Augen und verhinderten, dass sie die Lippen der anderen lesen konnte.

Die Dienerin griff nach ihrem Arm und führte sie zu einem Stuhl, auf den sie Dorothy drückte, dann eilte sie davon. Mit einem kühlen Tuch in ihren Händen kehrte sie eine Weile später zurück und hielt es an Dorothys Stirn. Diese nahm es ihr ab und die Dienerin öffnete das Kleid der jungen Lady. Dann zerrte sie den Rock empor, wobei Dorothy sie halbherzig unterstützte, indem sie sich kurz erhob, um sich sogleich wieder fallen zu lassen. Als die Dienerin Dorothy das Kleid über den Kopf zog, stieß sie ungeschickt gegen die pochende Beule.

„Ah!“, schrie Dorothy erneut aus voller Kehle.

„Pscht, Mylady! Bitte nicht so laut!“

Doch Dorothy stöhnte noch einmal allen Schmerz aus sich heraus und wehrte die Hände der Dienerin ab. In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und Beaufort stürmte herein.

„Was ist hier los? Das ganze Haus hört …“, er brach ab, als ihm bewusst wurde, dass Dorothy nur in einem durchsichtigen Unterkleid steckte und seine Anwesenheit vollkommen unpassend war. Dorothy, die noch immer mit geschlossenen Augen ein Tuch auf ihre Stirn presste, hatte noch nicht bemerkt, dass er hier war. Geistesgegenwärtig griff die Dienerin nach der Decke und wollte diese der jungen Frau über die Schulter legen, doch Dorothy stieß sie von sich und riss gleichzeitig die Augen auf. Als sie bemerkte, dass Beaufort nur wenige Meter neben ihr stand und sie wie unter Schock musterte, sprang sie wie von Sinnen auf, griff nach der Decke zu ihren Füßen, ließ aber gleichzeitig das Tuch fallen, in welchem sich ein dunkelroter Fleck ausgebreitet hatte.

„Mein Gott, sie blutet!“, stellte er fest und trat zu ihr, noch bevor sie sich in die Decke hatte einwickeln können.

Sanft hob er ihr Kinn und musterte die Verletzung.

„Wie ist das passiert?“, fragte er, bückte sich, hob das Tuch auf und begann sie vorsichtig abzutupfen.

„Die Lady ist gegen die Tür gerannt“, erklärte die Dienerin. „Ich weiß nicht einmal, wie sie das angestellt hat.“

Dorothys blickte ihn mit so viel Vertrauen an, dass ihm schwindlig wurde.

„Tua“, brachte sie über die Lippen.

Aufgrund der Erklärung der Dienerin, verstand er und nickte.

„Aber was hattest du hinter der Tür zu suchen?“

Noch einmal tupfte er sanft auf die Wunde, während er mit der anderen Hand ihr Kinn zwischen den Fingern fixierte. Seine Augen versanken in ihren und er ließ das Tuch sinken.

„Ih dansen“, erklärte sie unbefangen, doch er verstand sie nicht.

Er zog auch die andere Hand von ihr fort und wich etwas zurück. Da hob sie die Hände über ihren Kopf, streckte die Arme aus, die Finger in einer anmutigen Haltung, während die Decke über ihre Schultern zu Boden rutschte. Langsam und wiegend drehte sie sich vor ihm einmal um die eigene Achse. Mit offenem Mund starrte er sie fasziniert an und als sie ihn mit einem Lächeln anblickte, schluckte er schwer.

„Du solltest besser auf dich achtgeben“, riet er ihr, wandte sich um und stürzte aus dem Raum.

Doch es half nichts, das erregende Bild ihres Körpers hatte sich in seinen Gedanken festgesetzt. Bei jedem Zwinkern stand es wieder vor seinem inneren Auge. Wie lange, hatte er gesagt, würde er sich ihr nicht nähern? Zwei Monate? Einen? Oder vielleicht doch nur ein paar Tage?

Grundgütiger, er kannte sie noch nicht einmal einen ganzen Tag und doch fühlte es sich an, als hätte sie ihn in einem feinmaschigen Netz gefangen, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. Wie stellte sie das nur an? Wie konnte ein geistig zurückgebliebenes Wesen ihn derart in seinen Bann ziehen? Vielleicht war er selbst nicht mehr ganz bei Sinnen? Kein Wunder, der Tod seiner Verlobten und deren weiteren Familie konnte nicht spurlos an einem Mann vorübergehen. Allerdings musste er sich zerknirscht eingestehen, hatte er nicht mehr als ein aufrichtiges Bedauern in diesem Zusammenhang gespürt, keine große Trauer. Er hatte Sylvia gemocht, trotzdem hatte sie niemals sein Herz auf diese Weise berührt, wie Dorothy. Was sagte es über ihn aus, dass ihn der mögliche Verlust von Mitgift und Erbe mehr bekümmerte, als das Sterben einer ganzen Familie? Darüber wollte er nicht länger nachdenken. Ahnte er doch, dass nichts Gutes dabei herauskäme.

Er setzte sich in die Gaststube und ließ sich ein Bier bringen. Irgendwie musste er Dorothy immerhin aus dem Kopf bekommen!

Das Zeichen seiner Liebe

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