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4 »Uns eint das schöpferische Wort...« - Deutsche Wertarbeit aus Osnabrück

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»Uns eint das schöpferische Wort...« So stellt die Neue Osnabrücker Zeitung vom Martinstag 1972 die Literarische Gruppe Osnabrück vor. Gudula Budke ging es bei ihrer Initiative um drei Dinge: den Nachwuchs fördern, älteren Schriftstellern helfen und das literarische Leben in Osnabrück mobilisieren. Im Gegensatz zu den Künstlern des Osnabrücker BBK - Bund Bildender Künstler - ging es den damals 19-77 Jahre alten Schreiberinnen und Schreibern um Kritik, die Auseinandersetzungen mit ihren Arbeiten nicht scheuen. »Das Boot«, eine Herner Lyrikzeitschrift, bringt die ersten Texte vierteljährlich. Die mutige Auseinandersetzung nach Anerkenntnis unterschiedlicher literarischer Positionen führt die Creative writers zusammen. Die literarische Gattungsvielfalt reicht von konkreter Alltagslyrik als Verarbeitung des Äu-jour-Seins bis zur Vorbedingung der Zeitlosigkeit unter Verwendung antiker Versmaße und Strophenformen. Diese Spannung hat HRK von jeher fasziniert - und ausgehalten.

Und so kam es zur Ausschreibung der LGO, der »Literarischen Gruppe Osnabrück« in Zusammenarbeit mit der Neuen Osnabrücker Zeitung am 17.8.1974: Wer schreibt die besten Gedichte und Geschichten? Literarischer Wettbewerb für unentdeckte Talente.

Jeder Teilnehmer kann 3 Gedichte und 2 Kurzgeschichten in jeweils 3 Ausfertigungen einreichen. Maximalvorgaben: 16 Zeilen für Gedichte, anderthalb Seiten für die Geschichten. Von Heinz Rudolf Kunze kommen die Beiträge: morgens müde/Liebesgedicht und die Kurzgeschichten: Sie hatten das so ausgemacht/Ihre Arbeitshaltung und:

sturmtauben wollen eine bessere weit

sturmtauben wollen eine bessere weit

sturmtauben

wollen eine bessere weit

schwirren um die kirchtürme

schauen herunter

vor schreck bleiben ihnen

dieflügel stehen

sie

fallen

man sammelt sie unten auf

das ist ein geschäft geworden

in Spezialitätenrestaurants

finden wir sie wieder

knusprig zubereitet und

petersiliegarniert in sahnesoße

verlockend;

an geschmackvollen tafeln

aufpatronenhülsen gebettet:

der braten »revolution«

für eine weit die gar nicht besser sein kann.

Mit »morgens müde« sichert er sich die Teilnahme an seiner ersten öffentlichen Lesung am 13.12.1974 um 20 Uhr im Kulturgeschichtlichen Museum Osnabrück am Heger-Tor-Wall. Am Nikolaustag findet im Hinterhaus des Steinwerks in der Dielingerstr. 13 eine erste Probe in Verbindung mit dem Freundeskreis der Literaten statt.

Der Brief Budkes an den neuentdeckten Nachwuchsautor enthält den handschriftlichen Zusatz: »Außerdem ist Ihr Text »Sie hatten das so ausgemacht« zur Veröffentlichung in der NOZ gegen Honorar vorgesehen!«Die Juroren veröffentlichen dann am 7.12.1974 pünktlich die ausgezeichneten Preisträger in alphabetischer Reihenfolge: Gisela Breidenstein, Barbara Broy, Ingeborg Engelhardt-Bergner, Herbert Gottlieb, Heinz Rudolf Kunze und M. de Schulte zu Horst, wobei der eben 18 Jahre alt gewordene Kunze zusätzlich zu einer Lesung geladen wird.

Noch kurz vor seinem Abitur fängt der Schüler Kunze an, seine Fühler in Sachen Literatur weiter auszustrecken, weit über Osnabrück hinaus.

Im Mai 1974 nimmt ein Schreiben des NDR Bezug auf ein Schreiben von Vater Kunze vom 3.4. mit der Bitte: »Es wäre vielleicht richtig, wenn Ihr Sohn einiges von seinen Arbeiten ruhig einmal schicken würde... So aus der Ferne kann man doch nicht richtig urteilen oder raten.«Der Funke springt bei dem Primaner sofort über. Binnen 14 Tagen erhält das Funkhaus Material (Brief vom 29.5.1974):

Sehr geehrter Herr H.,

anbei die beiden Arbeiten, die ich Ihnen angekündigt habe. Die Mängel der äußeren Form bitte ich zu entschuldigen - Schulfreunde haben mir die Manuskripte abgeschrieben. Es handelt sich also um Laienarbeit.

Sicherlich ist es nicht üblich, daß ein Autor seine Arbeiten kommentiert. Doch mir erscheinen einige Ausführungen über meine Absichten unbedingt notwendig. Ich glaube, daß sie auch Ihnen einen besseren Einstieg in die Thematik vermitteln.

Der Kurzroman »Fragen an Erwin« entstand Anfang 1973. Damals war ich 16 Jahre alt. Ich fühlte mich durch verschiedene Dinge herausgefordert, ein Buch über meine Generation zu schreiben. Der letzte Anstoß war wohl Salingers »Fänger im Roggen«, den ich als so künstlich und falsch empfand, daß ich einen Versuch machte, ein authentischeres Buch über ein schwieriges Alter zu schreiben.

»impact« schrieb ich von Juni bis Dezemberl973. Die Passionsgeschichte ist auch dem Regisseur Stanley Kubrick gewidmet, dessen Film »Clockwork Orange« ich sah. Dieser Film machte mir Mut zum Ausgestalten von maßlosen Handlungen, von phantastischer Wirklichkeit.

Mit freundlichen Grüßen

Heinz Rudolf Kunze

Im Anhang dann die bisher unveröffentlichten Texte:

IMPACT - eine Passionsgeschichte

Behauptung: Ein Abenteuerbuch heute mit einer Bedeutung, die über pure action hinausgeht, ist möglich. Eine Odyssee heute ist möglich. Nur unterwerfen nicht die alten Götter den hilflos Umherirrenden. Einer kann stellvertretend für alle den fehlerhaften Weg der Menschen gehen. Die Konsequenz, am Schluß zumindest angedeutet: Wer den Mut hat, Schuld auf sich zu laden, kann die Menschen befreien. Nicht erlösen, sondern befreien. Ohne Kreuz.

Erster Teil: Außruch. Ein Wortgewitter, pathetisch und zynisch, chaotisch und elegisch. In Bilderhageln und Metapherclustern wird versucht, alles in unserer Welt auf Begriffe zu bringen. »Außruch« ist die verfahrene Geschichte der Menschheit, »Außruch« ist das Plasma, aus dem ARTUR hervorgeht, der allein ihm angelegten Erdinformationen durchspielt. Wellenförmig strebt »Außruch«, drängt den verschiedenen brutalen Brechungen entgegen, die in Form von Nachrichten- und Werbecodeteilchen alle vorher aufgebauten Gedankengänge atomisieren. Aus diesen entäußerten Wortwellen entsteht ARTUR - ein Monster aus dem Kondenswasser unserer Hirne.

Zweiter Teil: Erster Aufstieg und Fall. Arturs Geschichte beginnt. Ein Odysseus macht sich auf den Weg, schlüpft in die Masken unserer Zeit, trifft Figuren unseres Welttheaters. Ein Superstar lädt Schuld auf sich und flieht.

Dritter Teil: Zweiter Aufstieg und Fall. Artur erfährt mehr über das Geschlecht, für das er steht. Wechselnde Standorte, wechselnde Rollen, das zweite Stardasein - der spürbare Kontakt mit seinen vielen Nebenkörpern. Die Angst davor, daß hinter den Hüllen, die ersieht, nichts ist, wächst ins Unerträgliche - Kosmovision Kid verübt zum zweiten Mal Massenmord. Alles wiederholt sich.

Vierter Teil: Fluchtweg. Unschlüssiges Hin und Her des gescheiterten Brennpunktwesens. Selfmademan und Outlaw im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Flucht vor der eigenen Vergangenheit. Atemnot.

Fünfter Teil: Aufprall. (=«impact«) Das Monster gesteht. Erinnert sich. Wagt es endlich, stehenzubleiben. Stellt sich seiner Schuld, der es sich wohl bewußt ist.

Nur ein Wesen, das sich selbst schuldig gemacht hat an der Welt, darf sich anmaßen, die Welt zu befreien.

Impact ist die Geschichte einer Passion.

In ganz eigenwilliger Weise wird hier der Grundstein für die Relationen aller Art gelegt: Gott, Welt und Mensch sind ineinander verzahnt. Die Leiden Christi werden zur Leidenschaft des Menschen. Ein sündloser Messias, der als letztgültige und unüberbietbare Offenbarung schadlos aus dem Jenseits die chaotischen Zustände in der Welt und seinen Menschen bloß touchiert, ist Kunze fremd.

Unweit von diesem Dramenentwurf: Kunzes unveröffentlichter »Fragen an Erwin«- Roman, der hier ebenfalls nur holzschnittartig zur Darstellung kommt:

Sechs Möglichkeiten eines Vorworts zu einem Buch, das man gar nicht schreiben kann, sondern nur andeuten. Begriffsverwirrungen, in denen Sichallzusi-chere befragt und durcheinandergebracht werden. Ergebnis: unsere Begriffe sind im höchsten Maße unklar. Wir sind blind, unwissend, zu nichts zu gebrauchen. Und: Wir sind ungefährlich, weil unpolitisch, wir verlieren uns in überfeinerten, übersensiblen Wahrnehmungsfeldern. Wir wissen nicht, was wir wollen. Nicht etwa, daß wir zu wenig reflektieren: Im Gegenteil. Theoretisch sind wir schon viel weiter, kleine Rangers wie der COSMIC RANGER, in dessen Gestalt und Geschichte wir unsere Angst und Atemnot hineinprojizieren. Fragen an Erwin: Fragen an Ansgar, Jerome, Erwin, an ein unbequemes ICH, aus dem man schlüpfen möchte: Fragen und Anforderungen einer unbequemen Realität, mit der wir gutsituierten Mittelstandsanwärter um die siebzehn nicht allzu viel zu tun haben. Wir versagen.

Dieses Buch ist der Versuch, etwas Glaubwürdiges über die Fäulnis zu schreiben, die mich und die Altersgenossen befällt, die auf Studienplätze oder Inspektorenlaufbahnen warten.

Dann erfolgt drei Monate später aus der Abteilung Kultur eine qualifizierte Absage: Die gemeinnützige Anstalt des öffentlichen Rechts hat beide Textbücher in der Abteilung an eine freundliche Dame weitergegeben, die als

Redakteurin und Lektorin in einer Person die Texte vor allem auf ihre »Verwendbarkeit in unseren Programmen« hin liest - »und von dieser Seite her kann ich Ihnen leider nicht die geringste Hoffnung auf eine Veröffentlichung machen. Darüber hinaus muss ich aber sagen, dass ich von Ihren sprachlichen Möglichkeiten durchaus beeindruckt bin, die authentische Wirklichkeit aus einer sicheren Perspektive abbilden. Sie vermögen zu gliedern und zu raffen, ohne dadurch abstrakt zu schreiben, obwohl mir an manchen Stellen das unbedingte Verharren im Bereich des Sinnlichen ins Rechthaberische abzurutschen scheint (z.B. IMPACT, Seite 16).«Immerhin gibt die kundige Funkhaus-Redakteurin dann in weiser Voraussicht einen Rat, den HRK im März 1975 konsequent in die Tat umsetzen wird: »Es wäre gewiss das Beste für Sie, wenn Sie sich mit diesen Manuskripten einmal an einen Verlag wenden würden; denn dort kann und muss sozusagen professioneller lektoriert werden, als wir Rundfunkredakteure das neben unserer sonstigen ganz anderen Arbeit können.«

So kam es. Kunze hatte und hat immer viel mehr Texte in petto, als von ihm verlangt wurden. Das zeigt ein Blick in den Briefwechsel mit der Redaktion der renommierten Zeitschrift »Die Horen«, dem er eine weitere Liste mit Arbeiten einsendet:

rosa

ich sah heut abend rosa

sah rosa/rosah

ich glaub es war ein abendhimmel

überwelt/nein es war nur

ein häusermeer steinern starr

mitwelt/nein es war nur

ein löschblattfetzen im rinnstein, wie als verwässertes blut

geronnen - unterweit

mag es sein was es gewesen sein mag

weiß nicht/doch

auf jeden fall sah ich heut abend rosa

(deine lieben äugen?)

Rosa/ja!

rosah

In liebevollem Wortspiel zwischen träumender Unschuld und erregter Freiheit weitet sich die Pupille des Betrachters spannungsvoll auf eine Affirmation hin. Es dauert eine Weile, bis der Dichter in seinem inneren Monolog Ja sagt zu der oft als optische und semantische Täuschung wahrgenomme-nen Welt, dem eigentümlich farbenblind anmutenden Changieren zwischen einer Kitsch- und Lebensfarbe und dem Namen eines Gegenübers.

flügge-

ich bin ein mensch der

gerahmte portraits von sich selbst

über den köpf hält,

skeptisch drunterdurchluchst und fragt:

wie findest du mich

ich habe mich befreit

bin nicht mehr länger abhängig

meine Verdauungsstörungen haben sich gelegt

ich habe mir ein zimmer gemietet

und meine eltern angeschrien

ich gehe täglich hin, mein zimmer besuchen,

schaue hinein, nicke zufrieden, schließe die

tür wieder hinter mir ab. noch wohne ich nicht dort.

Wie ein Befreiungsschlag mutet die Lyrik des frühen Kunze an, immer mit der gehörigen Portion Selbstdistanz und Skepsis. Der Bruch in der Logik kommt oft in der letzten Zeile. Der kritische Selbstbezug zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk: »Man kann doch zu sich stehen wie man will.« DW 126

gesang über die mütter von gefallenen kriegern

sie haben hervorgebracht/es ereignet sich/niedergehauen

es hat berührt/tränennaß/es ist geschehen/unfaßbares /unheil

es ward ihnen nachricht/die hände in die gesichter gekrallt

es ist geschrei/in der luft

sie haben hervorgebracht/es starren die wunden

laufen/es ist totenruhig/auf die grabkreuze blicken

es ist unabänderlich/die äugen schließen/es zittern die lider

niedersinken/es schweigt das blutverkrustete schwert

nach gott fragen

Ein ebenfalls häufig wiederkehrendes Motiv mit ganz unterschiedlichen Akzentuierungen: der Krieg. Durchstreichungen, handschriftlich im Manuskript, als Zeichen häufiger Überarbeitung schon in jungen Jahren. Die

Folgen eines fatalistischen »es gibt, man hat« - die gnadenlose Maschinerie wird mit Bleibuchstaben auf das wehrlose Papier gehämmert.

Limits/ich- nein,/einer/- nein, irgendwer

Jemand/- nein/mancher/- nein,/man

Du/du auch/oder auch du/bist angesprochen

man sollte.../mancher.../jema.../irgendw.../ein.../i...

es sollte Mut bewiesen werden.

Ein tödliches Spiel: Verantwortungsdiffusion. Ihm kann man nur entgehen durch die klare Übernahme von persönlicher Verantwortung. Dazu gehört Mut. Und den schreibt Kunze nicht nur hier groß.

meine generation

schon gelingt es uns nicht mehr

einander länger als erschreckenskurz

auge in auge standzuhalten wenn wir etwas sagen wollen;

und kaum daß wir noch reden

wir öffnen unsre fressensluken

und speien multiwandelbare code-spots;

vom viel zu vielen durcheinander aufgeschnappten

sind memorierbar noch drei fetzen freud

und falsch zitierend decken wir mit seinen lust- und lasterworten

unsre mund- und tatenlose defensive

wir sind ein volk verrammelter mansarden

einpulk von pionieren wo schon andre waren

der bartansatz verbirgt das aufdielippebeißen;

einkotend sich und sein revier markierend

im kriegszustand mit glück - selbstunbefriedigung

sie sitzt uns jämmerlich: die uniform der einsamkeit;

das einzige was für uns noch gemeinsam gilt

ist jede menge schuft als hinterlassenschaft

und mancher wünschte wohl geleert zu werden

wie seine tonne von der müllabfuhr die heut noch funktioniert.

Geradezu exemplarisch führen die Variationen »schmerz 1-5« die poetischen Grundübungen an einem existenziell wichtigen Begriff vor:

schmerz 1

bis dahin wo die/blu-lmen enden

erfüllt der verwunsch/abgeprankt mein

schreireich/ich aufgefunden

blu-/tig zeitsam still

in frieden/rothauch der näßt

bis wo der blick mir bricht

Das Gedicht liest sich wie ein Blues auf Blumen und Blut nach einem schweren Verkehrsunfall, ehe das Verkehrsopfer vom Schreireich der Schmerzen über den Rothauch in das Weiß der Notfallaufnahme des Krankenhauses hinüberdämmert.

schmerz 2

sezierung was ich bin mitanfühlenmüssen und

wie abgeschämt die eigenschaften abgebogen

unausstehl

furch ertl

kleinl

widerl

oberflächl

unsachl

schmerzl

ich.

schmerz 3

ich sehe einen menschen weinen/und trinke ein bier

ich höre mehrere menschen hoffnungslos streiten/und trinke ein bier

ich rieche daß der tod vieler menschen in der luft liegt/und trinke ein bier

ich lese bei klarem verstand daß auch ich zum todeskampfzeitalter gehöre

und trinke ein bier

ich wußte schon immer ich wie und es steht mir vor augen

daß bier mich nur umbringt /und ich trinke ein bier

Die Abgestumpftheit gegenüber dem Leid des Nächsten liest sich wie eine hilflose Transaktion des suicidal man mit seiner immer dumpfer werdenden Wahrnehmung seiner Welt. Wie ein Spaziergang zwischen Palliativstation, Psychiatrie und Entziehungskur werden letzte Schmerzbetäubungen protokolliert:

schmerz 4

zeit druck/zwingt zur liebe/happenweise

besitzen die traurige frau/erregt/an liebestränen glauben

komm her du reizfleisch /fügsam schnurrt/die vernaschkatze

und

schmerz 5

das sonstloch:/

natürlich gibt’s/für uns/nur eins/was/(denn)/sonst?

so das wärstwohl!warsonst/(etwa)/noch was?

DEMUT'./sonst:/(---)

»Die für Ihr Alter erstaunliche Begabung ist offensichtlich« schreibt ihm die Redaktion »Die Horen« aus Hannover-Herrenhausen, die die Londoner Times immerhin als eine der gescheitesten und konsequentesten unter den Zeitschriften in Deutschland zu rühmen weiß. Er behält sich sogleich drei Gedichte zur Veröffentlichung zurück und weitere Zusammenarbeit vor. Sie entstammen dem Band Gedichte und Kurzgeschichten »1973/74« mit ca. 80 DIN-A4-Seiten (unveröffentlicht):

jeans

graublau verwaschen verwichstespotenzgewebe

der stoff auf den man sich verlassen kann

der stoff in dem man aussieht/wie

jeans sind ein gerücht/einer fängt an alle weit macht mit

eigentlich/gibt es wohl gar keine jeans (?)

alle kniekehlen sehen gleich aus

in jeans/und alle ärsche

und alle hodenballen/zieht die jeans aus leute

zieht sie aus/ihr wollt doch

keine uniformen oder

Es folgt:

morgens müde

heutefrühschicht

fünf uhr aufstehn aus den

federn kleine äugen knappe mahlzeit kauend radio

in den mantel wenig worte aus der haustür

grauer morgen nasse nebel rauf aufs fahrrad

kalte straßen matte lichter das fabriktor

massenschlucker wortlos umziehn in die hallen

ran ans fließband rhythmisch rucken stunden schleichen

auskeuchpausen stumme griffe steife hände tote blicke

taube ohren feierabend aus den hallen wortlos umziehn

massenspucker das fabriktor matte lichter kalte

straßen rauf aufs fahrrad nasse nebelgrauer abend

durch die haustür wenig worte aus dem mantel kauend

fernsehn warme mahlzeit kleine äugen in die federn

ich:du

ich:

du:

ab und anrede

hin und widerspruch

blamabel was wir faseln

der manchmalige wünsch nach nacktheit - ich:

nehme mich in den mund

spreche mich aus doch immer gerade dann

willst du nichts hören willst nichts sehen

zurrst deinen mantel fester keiner sieht mehr ein stück haut von dir

worte quälen sich

aus uns heraus ab und zuhälter

von sich spreizenden gemeinplätzen bin - ich:

bist

du:

»reich mir deinen mund zum kuß und ich:

beiß hinein weil ich hungrig bin«

»leg deinen körper erwartend nieder und ich:

wühle mich stumm in dein zittern«

ich: du: liebe von mal zu mal

Kunze schickt sich indessen trotz der Vorbereitungen auf das Abitur an, dem Jugendfunk des Norddeutschen Rundfunks in Hamburg seine Aufwartung zu machen.

Seinen Lebenslauf für die Anthologie gibt er so an:

HRKgeb. 30.11.56 Espelkamp/Mittwald. Aufgewachsen in Lengerich/West., Altepiccardie (Grafschaft Bentheim), Bad Grund (Harz) und Osnabrück, da der Vater, Lehrer, viel versetzt wurde. In Osnabrück Besuch des GSG [Graf-Stauffenberg-Gymnasium, Anm. d. Vf.] , Abitur im Frühjahr 75. Regelmäßiges Schreiben ab 1971, bis jetzt 3 Gedichtbände, Kurzprosa, 3 Romane, 2 Stücke, alles Versuche, die Probleme der eigenen Generation aus der authentischen Position der Gleichaltrigkeit zu formulieren.

Wie auch immer: In seinem letzten Schuljahr hagelt es ab März 1975 aus der Ameldungstr. 21 ein Bleigewitter an rund ein Dutzend Verlage und Redaktionen. Nun geht es um den Willen zur Veröffentlichung, Aufbruchs -stimmung. Half shy, half assertive - halb scheu, halb angriffslustig.

»Ich bin Abiturient und 18 Jahre alt. Diese Tatsache möchte ich weder als eine Art Entschuldigung für mangelnde Erfahrung noch als »Außtänger« verstanden wissen - jedenfalls schreibe ich und glaube, daß mein Alter die Formen und Inhalte meiner Arbeiten wesentlich bestimmt und darum am Anfang dieses Schreibens stehen muß.

Meinen ersten Roman schrieb ich mit 16. Ich hatte Salingers »Fänger im Roggen« gelesen und fand es entsetzlich, wie in diesem Buch ein Erwachsenersich in die Gedanken und die Sprache eines Jugendlichen hineinquält. Ich wußte, daß ich einigermaßen treffsicher formulieren kann. Ich machte mich daran, selbst ein Buch über die Probleme von Jugendlichen zu schreiben, authentisch und aus der Gleichaltrigkeit heraus: »Fragen an Erwin« liest sich sicher unerfahren und roh, unbehauen: Hinter seiner Absicht stehe ich aber auch jetzt noch, mit 18.

Nach diesem Roman entstanden weitere Arbeiten: Ein Gedichtband, der Versuch eines umfangreichen lyrischen Romans (den ich in seiner jetzigen Form als gescheitert betrachte, aber wiederaufgreifen möchte), auch zwei Stücke, ein weiterer Gedichtband und ein neuer Roman. Um den zweiten Gedichtband und den zweiten Roman geht es mir hier. Beide Arbeiten wollen - wie alle anderen - nicht mehr und nicht weniger als die Probleme des nunmehr 17- bzw. 18jährigen aufzeigen. (...)

Meine Sprache ist nicht oft betont »lyrisch«, glaube ich. Der Her-metismus liegt mir nicht. Meine Gedichte und Geschichten lesen sich meist offen, setzen keine große Metaphernkenntnis voraus. Ich möchte, daß sie auf viele Menschen wirken.

(...)

Hiermit frage ich bei Ihnen an, ob Interesse besteht, den oben beschriebenen Gedichtband und Roman von mir zugesandt zu bekommen, zu beurteilen und eventuell zu veröffentlichen.

HRK (Anm. d. Vf., Unterschrift in roter Tinte)

Was geht in dem jungen Mann vor? Selbstbewusst drängt ihn seine Berufung zum Schreiben nach außen, zu einer möglichst großen Leserschaft zunächst. Er weiß über sich, dass er keine Scheu vor der Sprache hat, im Gegenteil, er kennt seine Begabung für treffsichere Formulierungen. Er hat sehr wohl seine Peer Generation im Auge, also die Gleichaltrigen, möchte aber von vornherein weder ein postpubertäres Gewusel und Geschreibsel zu Papier bringen noch irgendwelche Gefühlsschwelgereien auslösen. Er will verstanden werden, und zwar von möglichst vielen. Authentizität ist sein Markenzeichen, auch wenn er in zahlreichen literarischen Rollenspielen in unterschiedlichen Perspektiven und Menschen je und je neu seine potenzielle Hörerschaft zu erreichen sucht. Der Primat der Literatur und damit der Vorrang des Wortes vor der Musik wirdden musikverwöhnten Kunze-Hörer zunächst verblüffen.

Wer nun sollten die potenziellen Geburtshelfer seiner avisierten Literaturkarriere sein? Hier nur ein Auszug aus der Liste der Verlage: Suhrkamp Verlag (Antwort innerhalb einer Woche, 17.3.1975) werden »Proben aus Ihrem umfangreichen Manuskript erbeten« und schon bald darauf erfolgt eine schmerzliche Absage. Dr. G. H. ist »recht angetan. Nur können wir zurzeit an eine mögliche Veröffentlichung nicht denken, da die Planung für die kommende Zeit uns keine Lücke mehr lässt. Wir können Ihnen also im Augenblick nur raten, weiter zu schreiben und mit Ihnen hoffen, dass aus diesem Anfang noch mehr werden wird.«- Enorm konstruktiv muss die Rückmeldung vom Verlag Kiepenheuer und Witsch gewirkt haben, die von Kunzes Lyrik ebf. sehr angetan ist. (14. und 25.3.1975) Bei seinen Prosastücken heißt es: »Schreiben kann man tatsächlich nur, wenn man sich selber ganz auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt hat. Erst dann kann man auch über andere schreiben, die man ja nur über sich selber verstehen kann... Sie stehen gleichsam vor der Tür, durch die Sie unbedingt hindurch müssen. Das heißt aber: Es muss etwas mit Ihnen passieren, wenn Sie ein wirklicher Autor werden sollen... Ein Tipp: Sie müssen ganz radikal vor allem mit sich selber umgehen. Das tut man allerdings nur, wenn man gar nicht anders kann. Ob Sie unter solchem Erfahrungsdruck stehen, weiß ich nicht.«

Unterdessen erscheint in den Osnabrücker Nachrichten eine Probe des Schaffens, genauer gesagt zwei:

Das wort liebe

ich habe es zu hause stets angetroffen

sie sei mir unaufhörlich angediehen

sagte man mir

ich habe es eines tages nicht mehr gemocht

so wie ich es kannte

und woanders gesucht

ich habe mich damit irreführen lassen

hereinlegen belügen einschläfern lassen

und wurde böse auf das wort

dann habe ich es bei dir gefunden

auf deinen Uppen ruhend

du sprachst es nicht du atmetest es

dir hab ich das wort geglaubt

Der junge Autor mit Brille, Schnauzbart und gescheiteltem Haar beabsichtigt folgerichtig ein Studium der Germanistik und beschreibt seine eigene Arbeit als »Versuche, die Probleme der eigenen Generation aus der authentischen Position der Gleichaltrigkeit zu formulieren«:

siebzehn

als ich dann auf einmal siebzehn war

sah ich in den spiegel

hörte tonbänder mit meiner stimme ab

und merkte mir nichts an

ich dachte über die vergangene zeit nach

die geleerten flaschen die gedanken

die umarmungen

und schwer bekam ich Ordnung hinein

doch dann sah ich auf das was ich niederschrieb

sah genauer hin

lächelte über meine zeilen

und verstand mich annähernd.

Die Grafschafter Nachrichten bringen »Das Protokoll«, eine minutiös erzählte Kurzgeschichte des Schülers Hegekötter, der irgendwie durch den Wind war, als er das Stundenprotokoll für den gestrengen Lehrer Dr. Mergelmann anfertigen soll. Was sich eingangs beinahe wie eine angstbesetzte Horrorvision vor einem Militärverhör anhört, entpuppt sich erst im Erzählverlauf als Schulgeschichte eines hypersensiblen, pflichtbewussten, voller Skrupel und Unsicherheiten steckenden Menschen. »Sie packen mich und knebeln mich und dann legen sie mich lebendig ins Grab.« - Die irrationale Angst des ersten Satzes wird von Kunze in einem akribisch geschilderten Denk- und Handlungsverlauf nachempfunden und in einem die tiefe Selbstverunsicherung des Schülers umwandelnden Umschwung zu einem besonderen Schluss gebracht. Die Zitterpartie endet ungewöhnlich: Der Schüler »flüsterte, daß er das Protokoll der gestrigen Sitzung nicht habe anfertigen können, und ob es nicht möglich sei, daß erstatt dessen die nächsten beiden fälligen Protokolle anfertige. Dr. Mergelmann lächelte versö[h]nlich, klopfte Hegekötter auf die Schulter und sagte, daß das in seinem Falle doch wirklich keine Rolle spiele. Hegekötter hielt die Luft an, um nicht Dr. Mergelmann ins Gesicht hinein aufzuatmen. Zusammen betraten sie die Klasse. (...)«

Zwischenzeitlich kommt es dann auch zur Ankündigung seiner ersten Rundfunksendung im Rahmen von »Junge Autoren im Gespräch«, in der NDR III in seinem Programm den 18-jährigen »Heinz Rudolf Kunze, der Mitglied der Literarischen Gruppe Osnabrück ist«. [NOZ 17.5.75]. M. S. vom NDR in Hamburg aus der Rothenbaumchaussee Hauptabteilung Wort/Jugendfunk findet ohnehin, »dass Ihre Texte mir auf Anhieb als sehr geeignet für eine künftige Sendung erschienen« [Brief vom 15.5.1975].

Noch ist Kunze ganz im Fahrwasser des Literaten, des Poeten, des Schriftstellers. Verräterisch der rot durchgestrichene Satz in einem Briefentwurf vom März des Aufbruchjahres 1975. Kunze meint von sich, seine Sprache sei nicht oft betont lyrisch, Hermetismus läge ihm nicht und dann: Sie haben zweifellos etwas vom Charakter eines Popsongtextes, stellenweise. Ich möchte, daß sie auf viele Menschen wirken.

Frühe Fragmente legen davon beredt Zeugnis ab, welche Sprache er zu sprechen sucht:

Schärfe deine Sprache

Ich habe alles Mögliche getan, dir zu entsprechen,

sagst du/und ich sehe im Schriftbild deiner Gedanken

die Lüge/in Wahrheit hast du nämlich nur

alles mögliche getan/

und manche Möglichkeit, es recht zu tun, noch ausgelassen

schärfe deine Sprache, schärfe dich

verwischen gilt nicht

ich kann in dir lesen -

Immer wieder setzt er in Beziehung, sich, den Leser und die Leserin, schafft gedankliche Spiel- und Denkräume. Einmal ganz persönlich, wie in:

(von gila und mir, zwölf uhr nachts:)

es gibt mehrere wahrheiten/mich

und dich/und uns

- das sind schon drei.

Die erste Hörerin des frühen Dichters ist seine spätere Frau Gisela Friederike, genannt Gila, geb. Hermann, aus Dortmund.

sie weiß ein wort/wenn sie es flüstert, falle ich

falle ich tief und weich/

und freue mich über den fall wenn ich schmelze

und freue mich über den schoß wo ich wieder zusammenlaufe

ihre äugen beschicken mich/mit einem warmen gesunden strahl

von ihren lippen fließt ein hauch/aus licht und zärtlichkeit.

In unbeschreiblich-beschreiblich gewordener Zärtlichkeit bleiben diese Worte in eigentümlichem Fluss, gerinnt die Liebe nicht, vermeidet das Klischee. Dagegen weiß Kunze sich schon früh abzugrenzen:

... besser zu lieben, eindringlicher.

doch ihnen fehlt/die zusatzdrüse mit dem saft

der ihnen eingibt was zu tun ist

wenn man sehnsucht hat/wenn sie sagt ich liebe dich

wenn man ein kind macht

sekrete sind so stumm/ohne zusatzdrüse seid ihr

nichts als armselige saftsäcke

Die Sprache der Liebe verlangt nach Schärfe. Gleichzeitig aber geht es um eine Sprache der Liebe mit Struktur. Die nüchterne Bestandsanalyse des Vorhandenen, die Macht des Faktischen, mit der wir so oft nicht zurechtkommen, darf mit der Schärfe des Wortes, ja muss in Klarheit und Wahrheit und Wachheit ans Licht gezogen werden. Es gilt, Verantwortung zu übernehmen - für seine Träume, für das Übernommene, für das Kommende und für die Gegenwart - Erbschaft der Zeit:

» ... der mir zeit meines lebens etwas vormachte

ist nun fast nachäffbar geworden

in seinen verzweifelten verbitterten besonderheiten

der mir mit offenen äugen einen träum als Wirklichkeit versprach

als meine spätere Wirklichkeit

die er zu bereiten helfe

ist angekettet ist kränklich geworden in seinem schrillen träum

der zu mir von familie sprach

und von zusammenhalt

ist oft nun bemüht die wärme undgeborgenheit zu sprengen

weil sie sein graues haar ansengt und ihn erstockt

ich sehe einen alten mann weinen

Deutlich ist zu spüren, wie ein junger Mann erwachsen geworden ist. Es kommt die Zeit, wo die Autoritäten zu wanken beginnen, die Demontage der Vorbilder dringlich wird, die Ablösung durch Schmerz und Verletzung die härenen Vorsätze der Väter und Mütter zum Sprachvollzug wird. Kunzes Antennen für den Jedermann sind stets ausgefahren und repräsentieren mögliche Situationen des Lebens als letzte Gelegenheit, die ein Dichter kraft seines Vorstellungsvermögens akribisch beschreiben, verallgemeinernd schildern oder überpointiert darstellen kann, ohne selbst diese Wirklichkeit »erlitten« zu haben.

Heinz Rudolf Kunze. Meine eigenen Wege

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