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2 Mutterwitz und Vaterland - Notizen aus Kindheit und Jugend

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4022 Tage und Nächte vergingenvon der Verlobung bis zur Hochzeit von Rudi und Gerda Kunze, geb. Lehmann, am 4.2.1956 in Lengerich/West-falen. Den Stoff für das Brautkleid hatte sie längst gekauft. Als der Bräutigam in der Nacht nach Friedland kam, nahm man Maß. Innerhalb von einer Woche war das Brautkleid fertig. Die Familiengeschichte von Heinz Rudolf Kunzes Eltern liest sich wie ein zeitgeschichtliches Märchen mit Happyend.

In Mutter Gerda Kunze begegnet dem Besucher heute in ihrer Seniorenresidenz eine aufgeschlossene und geistig sehr wendige Dame. Sie gehört zu den gründlichen, genauen Menschen. Ihr entgehen gerade die Kleinigkeiten nicht, wenn sie Rückschau hält auf ihr bewegtes Leben. Und so baut sie in unsere Begegnung auch die Möglichkeit zu einem längeren Telefonat mit dem jüngeren Bruder Rolf-Ulrich ein, der als Historiker wissen muss, wovon er spricht: von der Omnipräsenz der Geschichte in seiner Familie. Was Kunzes machen, machen sie gründlich. Deutsche Wertarbeit sozusagen. Und doch immer auch mit Skrupel.

Für das Werden und Entstehen ihres ersten Kindes jedenfalls erging es den Eltern beinahe wie in der Bibel.

Der angehende Dichter und Denker Heinz Rudolf Erich Arthur Kunze sagt und singt von sich selbst:

Vertriebener

(...)

Ich wurde geboren in einer Baracke

im Flüchtlingslager Espelkamp.

Ich wurde gezeugt an der Oder-Neiße-Grenze.

Ich hab nie kapiert, woher ich stamm.

Ich bin auch ein Vertriebener.

Ich will keine Revanche, nur Glück.

Ich bin auch ein Vertriebener.

Fester Wohnsitz Osnabrück.

Meine Mutter war so treu, daß mir schwindlig wird.

Mein Vater war bei der SS.

Ich heiße Heinz wie mein Onkel, der in Frankreich fiel,

und Rudolf wie Rudolf Heß.

Ich bin auch ein Vertriebener.

Schlesien war nie mein.

Ich bin auch ein Vertriebener.

Ich werd überall begraben sein. (Papierkrieg, 146)

Heinz trägt den Vornamen seines Onkels, der zwei Tage nach dem Attentat auf Hitler am 22.7.1944 fiel. Mit großer Wehmut erinnert sich Gerda Kunze an ihren Bruder. Noch im November 1943 traf der geliebte Bruder Heinz auf den künftigen Ehemann Rudi und teilte seiner Schwester mit: »Bin einverstanden, du kannst Rudi heiraten«. Ein Versprechen erbat sich der Bruder von der Schwester: »Gehe nicht an die Front!«Und sie wusste es, dass nach ihrem Abitur 1944 Reichsarbeitsdienst, Einsatz bei den Bauern, FLAK, Front und Rotes Kreuz auf sie warteten. Am 28.12.1944 folgte dann das Verlöbnis, das über elf Jahre Warten auf den Partner nach sich zog. Die Verlobten waren sich einig: Die Hochzeit sollte erst in besseren Jahren stattfinden.

Der Vater spielt bereits in den frühen Gedichten von Heinz Rudolf Kunze eine besondere Rolle. Mit Blick auf die deutsche Geschichte ist sich Kunze bewusst:

die Menschen am Wegesrand

könnten Vater oder Mutter sein

sie nehmen gerne überhand

haltet Abstand macht euch nicht zu klein

sie werden Märchen erzählen

von Schuld und Sühne

daß sie dort waren wohin ihr noch geht

ist sollt sie ausreden lassen

beim Wort sie nehmen

weil so viel Mögliches in Märchen steht (...).

Bei aller kritischen Sichtung mit Blick auf die soldatische Vergangenheit des eigenen Vaters überwiegt die Liebe des Sohnes, der um die biblische Weisheit Elijas am Horeb weiß: Er selbst ging eine Tagereise weit in die Wüste hinein. Dort setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich den Tod und sagte: Nun ist es genug, Herr. Nimm mein Leben; denn ich bin nicht besser als meine Väter.

Ich wollte meinem Vater noch die Rechnung präsentiern

ich habs vergessen

ich sollte meine Kinder in Gelobte Länder führn

ich habs vergessen...

(...)

Den Unterschied von Gut und Schlecht und wer den Krieg gewann

ich habs vergessen

wie spät es ist und wann genau mein Haarausfall begann

ich habs vergessen...

Aus den Augen aus dem Sinn

ach wie gut daß jeder weiß

daß ich kein Messias bin

planlos in die Glücksbanane beiß, konstatiert er in Vergessen

(Nicht daß ich wüßte, 171).

Und was geschah mit dem Vater tatsächlich? Januar 1945 Ostpreußen, anschließend russische Kriegsgefangenschaft. Der Vater von Heinz wurde im Januar 1956 als einer der letzten Heimkehrer heimgeführt mit Adenauers Hilfe. Bischof Heckei, der Vater der Kriegsgefangenen und Kirchenamts-außenleiter, setzte sich mit für Rudi Kunze ein. Der Verlobte kehrte also erst im Geburtsjahr des langersehnten ersten Kindes zu seiner Braut zurück. Als die Wehrpflicht bereits erneut Soldaten einzog, sollte Rudi Kunze auch wieder mit von Partie sein, z.B. in der FDJ oder so. Ohne Hass auf die Russen zu schüren, fragte er nur zurück: Soll ich nun vom Regen in die Traufe? - und zog die zivile Laufbahn als Lehrer vor.

Ein Wunsch und Glückwunsch des Sohnes:

...ein Wunsch des Sohnes:

Befreiter Kunze.

Ein Glückwunsch:

Rührung.

Weitermachen.(Heimatfront, 44)

Dass die Liebe des Sohnes zu Vater und Mutter immer wieder stärker ist als die Last der Vergangenheit, spürt der ausdauernde Kunzeleser für das Schicksal so vieler Kinder der Nachkriegsgeneration Deutschlands heraus. Trotzdem taucht er immer wieder zurück »in den brodelnden Urschlamm aus Geschichten und Geschichte, der sich ablagerte im Kindergehirn, seit Dschungelforscher sonntagmorgens im Bett des ausgebufften Abenteuererzählers dieses Koppelschloß trugen mit der knochenharten Totenkopfmaxime drauf, irgendwas wie: Entschlossenes Handeln ist oberstes Gebot, selbst wenn es falsch ist, sehr markig, sehr deutsch, sehr Nibelungenkrebs.«

»Der Krieg ist der Vater aller Dinge«, das wusste bereits der Grieche Hera-klit. Heinz Rudolf Kunze reicht es nicht zu sagen, »das Flugzeug auf deiner Stirn hat Sperma im Propeller das reicht nicht bei Gott das reicht nicht«, denn es ist des Fragens kein Ende.

»Es ist gut, subjektiv zu sein, aber es ist nicht gut, privat zu sein.«- Ein hoher Grad von Sensibilisierung und die Bereitschaft auch zur politischen Auseinandersetzung, das prägte ihn von Anfang an - kein Wunder also, dass Kunze Jahrzehnte später in einer Enquetekommission des Deutschen Bundestages für Kultur in Berlin landet...

Doch kehren wir noch einmal bei seiner Mutter ein und damit bei den Anfängen jener deutsch-deutschen Kindheit Kunzes, in der deutsche Geschichte und Geschichten omnipräsent sind. Küchenpsychologisch, meint der Bruder, sei die Erfahrung mit Wissen belastet, und jeder der beiden Kunzesöhne habe sich auf seine Weise freigeschwommen. Freigeschwommen von der Weltgeschichte eines Volkes mit einem Alleinstellungsmerk-mal, freigeschwommen von dem starken Vater und der gewiss ebenso starken Mutter.

Heinzens Lieblingsbild der Mutter zeigt eine hübsche junge Dame mit linksgescheiteltem dauergewelltem Haar und strengem Lächeln über kleinem Ausschnitt eines dunklen Jacketts mit einem aufmerksamen Kraushaardackel auf dem Schoß, aufgenommen als sie 19 Jahre alt war in einem Gubener Fotoatelier.

Gerda Kunze ist eine starke Frau. Ihr ausgesprochen offenes und zugleich bestimmtes Wesen schenkt ein Gegenüber für einen lebendigen Dialog. Ihr Gedächtnis ist verblüffend. Ihr beruflicher Traum war Kinderärztin gewesen. Ihr letzter Antrag für ein Studium in Halle wurde abgelehnt, weil sie nicht zur Bauernintelligenz zählte. Doch wie so oft hat der Krieg auch hier alle Pläne durcheinandergeworfen.

In der Tat befolgte sie beide Ratschläge des geliebten Bruders Heinz: Sie wartete geduldig auf ihren Ehemann, 4022 Tage und Nächte, und sie vermied Fronteinsätze. Sie hatte Angst vor der Einberufung zum Reichsarbeitsdienst. Drei Wochen nach der Uniformierung wurde sie sehr schnell krank. Das war das Glück für die ehemalige Oberschülerin des Gubener Lyceums und ließ sie der größten Gnade unter den Kommunisten teilhaftig werden: Nach einer Einweisung im Pestalozzi-Fröbel-Seminar in Berlin für Kinderkrippen empfand sie es als großes Geschenk, für über 1000 fremde

Kinder alles sein zu dürfen, nämlich Tagesmutter, sich denen zuwenden zu dürfen, die nichts sagen konnten, aber spüren sollten, dass sie jemand lieb hatte. Sie benannte ihren ersten Sohn nach ihrem geliebten Bruder.

Voller Achtung spricht Mutter Gerda von ihrem Elternhaus. Ihr Vater war ein hoch begabter Buchhalter, der es verstand, vielen Menschen zu einer Unterkunft zu verhelfen. Gerda Kunze erzählte von den Jahren, ehe der Krieg die Oder-Neiße-Grenzstadt endgültig teilte, berichtet schmerzlich von der dreimaligen Flucht in 1945. Im Januar vor den Russen, im Juni, ein Tag bevor die Neiße Grenze wurde, führte der Vater eine Kolonne zurück, am 16./17. November schließlich erneute Vertreibung, diesmal durch die Polen auf die Westseite der Heimatstadt.

Die Mutter bekam am 30.11.1956 endlich ihr Wunschkind. Nach all den Entbehrungen und all dem Wartenmüssen auf ihren Mann. Sie ist stolz auf ihren Jungen. Ein hübsches Kind in allen Phasen. Im Wesen ein zurückhaltender und leiser Mensch. Das sei bis heute so. Nichts habe ihn korrumpieren, nichts wirklich deformieren können. Seine innere Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit scheint ihm nach diesem Zeitalter der Extreme wohl in die Wiege gelegt worden zu sein. Überhaupt: Heinz und Ulli konnten nach Meinung der Mutter gar nicht anders werden. Als gelernte Säuglingsschwester und spätere Osnabrücker Grundschullehrerin sind wohl gut 1000 Kinder durch ihre geschulten Hände gegangen. Nun aber war die Zeit reif für die eigenen Kinder. Dafür hatte sie sogar in der Zeit der Kriegsgefangenschaft ihres Mannes ein Topangebot für eine leitende Stelle in einem der größten Säuglingsheime mit eigener Milchsammelstelle der ehemaligen DDR in Cottbus ausgeschlagen. Ihrem Chef teilte sie damals lapidar mit: Ich kann nicht, ich bin verlobt. Nun also Heinz als die große Belohnung für das geduldige Warten. Ein Geschenk des Himmels.

Heinz Rudolf war von klein auf sprachbegabt und kann, wenn er dies auch selbst nicht gerne hört, aber dann doch zugibt, druckreif sprechen. Dabei fehlte es nicht an Imposanz: Als er einmal mit dem Herrn Papa ausfuhr, begegnete ihnen eine vorbeifahrende Eisenbahn. Auf die Frage, wer denn da wohl vorüberfahren würde, antwortete der Junge keineswegs mit Eisenbahn, sondern verkündete gewichtig: Konrad Adenauer!

Im März 1960 saß er nachweislich das erste Mal mit am Klavier von Frau Dr. Steinmann und war als Dreijähriger ziemlich gewiss, er wolle nun auch ein eigenes.

Als Blondschopf mit Brille sehen wir ihn ein erstes Mal im Garten vor dem neuen Zuhause in Altepiccardie an der holländischen Grenze, wo

Vater seine Stelle seit April 1960 innehatte. Rudi Kunze übernahm die Klassen eins bis vier. Man wohnte oben in der Schule, was für den Lehrernachwuchs offenbar früh und entscheidend dazu beitrug, dass schulische Leistungen nur so von der Hand gingen. Überhaupt, eigentlich wurden in der Altepiccardie Grundsteine für so vieles an Begabung gelegt und frühkindliche Prägungen mitgegeben.

Hierhin gehören alle Anfänge vom ersten Gehen der eigenen Wege, dem Ausprobieren von Klarinette, Trompete, Klavier und Miniorgel und der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, hier finden sich Freunde und Freundinnen, in diese Zeit werden auch erste Grenzen ausgelotet, beim Schwimmen lernen, beim Fummeln, im Fußballeinmaleins und im Ausgelassensein bei der Dreiradrallye auf dem Ferredo-Flitzer.

Für Heinzens Sprachentwicklung freilich war die Verpackung des Fernsehapparates beinahe genauso folgenreich, denn aus dem wunderbar großen Verpackungskarton wurde mit Hilfe von Buntpapier eine erste Bühne für das Kasperletheater gebaut. Mit Hilfe eines Rezitationslehrers, dem Bruder der Großmutter, wurden »Max und Moritz« nicht nur gesprochen, sondern bald auch gesungen. Außerdem schickte sich der Vater an, mit dem Jungen lustvoll Theater aufzuführen.

Der Knirps schoss den Bock ab, als er seine erste Vorstellung als kleiner Pastor in der Piccardie abgab. Und das begab sich folgendermaßen: Eben jener Bruder der Immer-für-dich-da Oma pflegte mit frisch geputztem Auto am Sonntag zur Kirche zu fahren. Brav und artig, wie der Junge Heinz war, ging es im Sonntagsstaat mit. Als eines Tages wieder einmal das Auto bei der Kirche stand, stockt Heinzi beim Einsteigen. »Ich habe den lieben Gott betrogen«, konstatiert der Pimpf betroffen. - »Was hast du gemacht?«- »Ich habe 20 Pfennig zurückbehalten, weil ich noch mehr Eis für mich wollte.« - Es gab ja es jeden Sonntag ein Eis und da sollte der auffällige blonde Junge, der Sohn des Lehrers, der im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern Hochdeutsch sprach und Platt gar nicht recht verstand, ausgerechnet dieses Mustersöhnchen sollte nun also den lieben Gott und die Kirche samt Pastor übers Ohr gehauen haben? Was tun? Guter Rat war teuer. Besorgt fragt der Vater: »Sollen wir zwei Groschen einle-gen?« - »Nein«, wehrt der Junge entschieden ab, »ich esse nächsten Sonntag kein Eis ...«

Der tief eingebrannte Sinn für Gerechtigkeit ließ das früh erwachte Gewissen reagieren: Das kannst du deinem Vater nicht antun. Dieser freilich war von der Reaktion seines Filius so angetan, dass er das nächste Eis ausgab, weil die Anständigkeit und Artigkeit seines Jungen es sich verdient hatten.

Und die Musik?

Angefangen hat alles mit den Beatles. Die Platten-Oma Gertrud Lehmann, geb. Fischer, verhalf zum Durchbruch mit Sergeant Peppers Lonely Heart’s Club Band für damals ganze 11 DM. Mutter Kunze war bereits im Grundschuldienst in Osnabrück, als ihre damalige Rektorin sie fragte, ob sie denn die Beatles kenne. Gerda Kunze ließ sich das nicht zweimal sagen, ging mit ins Kino, sah sich den entsprechenden Film an und blies zum Großangriff auf die westliche Popkultur. War sie klassische Kultur mit einem regen Theaterleben durchaus gewohnt, galt es nun, sich Neuem nicht zu verschließen. Ganz kurz vor Weihnachten also - »Deine Mutter sagt die Wahrheit« - ging es in die Stadt, die erste Schallplatte wurde hübsch eingepackt, Großmutter gab das Geld.

Heinz war von seiner Karl-May-Lektüre aufgeschreckt und doch voller Begeisterung. Im Wohnzimmer stand der Weihnachtsbaum. Aber alle mussten zu ihm ins kleine Zimmer. Mutter wollte schließlich nicht zurückstehen und den Dialog mit ihrem Sohn führen können, und also begann die Periode der »Schreckgespenster-Platten«. Vater, Mutter, Großmutter mussten alle mit und mithören, alle mussten hören kommen.

Und dann, ja dann kam der zweite Streich: The Who, die große Liebe, die zweite Platte, erzählt die Mutter mit leuchtenden Augen: »Was mussten, was durften wir die immer wieder hören ... !«Die eigene Familie war das erste Auditorium. Später hatte er vom jüngeren Bruder, Jahrgang 1968, die Doppel-LP geschenkt bekommen, »eine ideale Musik beim Ausputzen des Weihnachtsbaumes«, sagt Gerda Kunze mit ihrem Mutterwitz.

Kunze früher einmal dazu selbst: »Meine 1. Platte bekam ich von Oma. Mit Sergeant Pepper’s Lonely Heart’s Club Band. Sie ermöglichte mir so den Königseinstieg in meine spätere Plattensammlung und hattedafür einen Teil ihrer Rente investiert«. Die zweite Platte war »Tommy« von The Who. Die dritte »Electric Ladyland« von Jimi Hendrix. Die vierte von Blind Faith und unter den ersten 100 war auf jeden Fall »Yes« mit »Beyond and before« dabei. Freilich auch Ian Anderson von Jethro Tull »Living in the Past« ...

Und die Literatur?

Ach ja, da ist ja noch die Geschichte mit Sir William Shakespeare, die Familie Kunze schon lange mit dem sprachsüchtigen Heinz verbindet. Von seinem Englischlehrer Arnemann weiß Ex-Schüler Kunze noch genau: Er verpasste ihm die erste Vier in seinem (schulischen) Leben. Und das in Englisch! Der Lehrer war ein sehr fordernder, strenger Pädagoge alter Schule,

dessen Unterricht Kunze oft als harten Drill empfunden hat. Zugleich prophezeite er seinem Schüler aber: Kunze, ich will Sie auf ne Eins kriegen, aus freiem Willen. Für einen Durchschnittsschüler zunächst keine echte Panne. Wohl aber für einen, der das Siegen zumindest mit Blick auf die Zeugnisnoten gewohnt war.

Hier nur so viel: Shakespeare sehe Sonette wurden auswendig gekonnt -und dennoch eine Vier! Eine entsprechende Spezialarbeit wurde zunächst nicht genehmigt. - »Und dann hat der Gockel alle Schüler gerufen«, sagt Kunze rückblickend mit einem verschmitzten Lächeln - und er landete bei einer Eins Plus. In seinem Gedächtnis hat der altmodisch-schleiferische Lehrer preußischen Einschlags einen ganz besonderen Platz.

Sein Physiklehrer Dr. Freimann riet: »Sie sind keiner von uns, Kunze! Sie sind kein Naturwissenschaftler. Werden Sie mal ruhig Geisteswissenschaftler«, riet er seinem Eleven Kunze. - Der Biologielehrer, an einer Universitätslaufbahn gescheitert, klagte den Schülern sein Leid auf hohem Niveau im Unterricht. Am Ende der Abizeit die Frage: »Kunze, was wollen Sie werden? Schriftsteller! Pss, ja, psychisch sind Sie ja nicht so ganz stabil.«

Übrigens: Seine schönste Eins bekam er von Lehrer Steinbrecher - einem seiner Deutschlehrer, von dem Kunze lernte, dass es einen Fehler gibt, den jeder Mensch begeht, der schreibt, wogegen man stets angehen muss; und was auch ihm nur teilweise gelingt. »Es ist immer ein Zeichen der Schwäche eines Autors, wenn er zu viele Adjektive verwendet. Und das macht aber so eine Lust, Dinge genauer zu beschreiben, und noch ein Adjektiv und noch eins dranzuhängen, um es noch genauer einzukreisen, und diese Lust muß man bekämpfen. Man sollte es immer versuchen, wenn man drei Adjektive verwendet, eins wegzulassen, und wenn man zwei verwendet, noch eins wegzulassen. Und das gelingt mir nicht immer, das ist eine meiner Schwächen. Das haben mir schon immer meine zumindest besseren Deutschlehrergesagt, und damit hatten sie bestimmt auch recht. Ich habe bei Herrn Steinbrecher vielleicht die schönste Eins meines Lebens bekommen. Der sagte: »Wissen Sie, Kunze, Sie haben das Thema völlig verfehlt, aber es ist leider trotzdem eine Eins. Nur eines muß ich Ihnen sagen« - und es war der einzige Lehrer, der mir das gesagt hat - »ich mag Ihren Stil ja nicht, aber er ist großartig!«

Nein, Heinz Rudolf Kunze war eigentlich kein Streber, machte aber ein sehr gutes Abitur, weil er bis auf Mathe alles konnte (»Das meiste fiel mir einfach zu«). Der damalige Direktor Dr. Georg Bernhard Scholz - ein einflussreicher, jahrzehntelanger Ratsherr der CDU in Osnabrück - hatte es sich nicht nehmen lassen, zu ihm ans Krankenbett zu kommen, um das Abiturzeugnis zu überbringen. Der Musterschüler war gerade erst von ei-ner Blinddarmoperation aus dem Krankenhaus zurückgekehrt und bekam hohen Besuch nach Hause. Diese enorme Geste erfüllte den SMVler und Dauer-Klassensprecher Kunze und seine Eltern mit Stolz ...

Seit seiner Osnabrücker Schulzeit kreuzen sich immer wieder die Wege auch mit einem anderen Gymnasiasten, den es später in die Juristerei und dann in die große Politik trieb, den amtierenden Ministerpräsidenten von Niedersachsen, Christian Wulff. Dieser beschreibt das aus seiner Sicht heute so:

»Bei jeder Begegnung mit Heinz Rudolf Kunze, bei jedem Austausch, jedem Kontakt, jedem Telefonat, war immer ganz große Hochachtung für das, was der andere in seinem Metier tut. Diese persönliche Zuneigung zu Heinz Rudolf Kunze hat sich bei mir in meinen Schulzeiten entwickelt. Er war älter, erging auf ein anderes Gymnasium, auf das Graf-Stauffenberg-Gymnasium, ich auf das Ernst-Moritz-Amdt-Gynmasium in Osnabrück. Beides waren quasi Reformgymnasien, neue Gymnasien, nicht mit so einer ganz großen Tradition wie traditionsreiche Gymnasien, etwa das Carolinum, das älteste oder Zweitälteste Gymnasium in Deutschland, wie Aachen, zur Zeit Karls des Großen gegründet, auf die wir beide aber nicht gegangen sind. Wir sind auf diese Reformgymnasien gegangen, die dafür ein freieres, liberales, politisch auch umkämpfteres Klima hatten ... Aber es waren beides Gymnasien, wo auch Politik eine Rolle spielte, wo sich politisch engagiert wurde. Ich habe heute für mich die Erklärung, dass das Interesse an Heinz Rudolf Kunze mit einem enormen Interesse an der nationalsozialistischen Vergangenheit zu tun hat, am jüdischen Leben in Osnabrück, mit der Synagoge, mit Dokumentationen, welche Häuser, welche Firmen gehörten Juden usw. Ich habe erst sehr viel später erfahren, dass Heinz Rudolf Kunze dieses Thema genauso bewegt hat. Vorher habe ich nur die Lieder gehört, die Texte über Nürnberg, über die monströse Architektur. Das war das, was mich am meisten an einem deutschen Liedermacher in jungen Jahren angesprochen hat. Da bemerkte ich eine ganz starke Individualität, eine ganz starke Persönlichkeit bei Heinz Rudolf, der sich da wirklich selber abarbeitete und sich Gewissheit verschaffte. Ich glaube, darin liegt eine große Parallele zwischen Heinz Rudolf Kunze und mir, dass wir auf der Suche waren, und dass wir uns damit beschäftigt haben, dass wir historisch interessiert waren, zurückzuschauen und zu fragen, was kann man für die Zukunft lernen? Und ich bin in die CDU gegangen und habe mich engagiert, und er ist in die SPD gegangen oder SPD-Aktivist geworden. Das spielt aber nicht so die Rolle, das hat auch persönlich nie die Rolle gespielt...«

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Was aus der Schulzeit auf jeden Fall blieb und das spätere Germanistik-und Philosophiestudium mitprägte, war eine unverbrüchliche Liebe zu Sir William Shakespeare. Bei seiner überaus erfolgreichen Musicalversion des »Sommernachtstraums« hatte er nicht nur seine Mutter als großen Fan ...

Eine Mischung von Schriftsteller Peter Handke und Musiker Pete Towns-hend in einer Person - das wäre es gewesen, die Formel seines Lebens - eine Art roter Faden oder Lebenslinie. Und das geteilt mit den gemeinsamen Freunden. Eine größere Freude konnte es damals nicht geben.

Heinz Rudolf Kunze. Meine eigenen Wege

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