Читать книгу Heinz Rudolf Kunze. Meine eigenen Wege - karl-heinz barthelmes - Страница 13

6 »promotion« statt Promotion? - »Viel Studieren macht den Leib müde« (Prediger Salomo)

Оглавление

Um ein Haar wäre alles »glatt« gegangen - und Heinz Rudolf Kunze hätte die Oberlehrerlaufbahn eingeschlagen, vielleicht mit Fortsetzung einer Universitätsprofessur. Beinahe - aber dann stellten sich Begegnungen ein, taten sich Möglichkeiten im frühen Erwachsenenalter auf, die aus dem angehenden Lehrer oder werdenden Hochschullehrer den Künstler Heinz Rudolf Kunze gebären sollten. Doch früh zeigte sich: Es galt, die bisherige Welt der Eltern und den Platz, den er einnahm, zu verlassen.

Liebe Eltern: Ich habe getan, was ich konnte, verdammen dürft Ihr mich nicht.

(Nicht daß ich wüsste, 169)

Zum anderen liegt es in seiner zugleich abwägenden, von Nachdenken und Vernunft geleiteten Denkart, dass er existenzoffen an sein Leben herangeht. Er baut an seiner Identität einerseits ganz vorläufig, experimentell und sozusagen auf Bewährung, andererseits ist er perfektionistisch veranlagt und mit einem hohen Sicherheitsbedürfnis ausgestattet, um den nächsten praktischen Schritt auf ebenso hohem Level anzugehen wie zuvor.

Mit seiner Frau Gila ist er sich einig: Gemeinsam werden wir es angehen. Und so liegt es auf der Hand, dass beide sehr genau und aufmerksam waren, als es darum ging, den Schwerpunkt vom schulischen und universitären Lernen, vom Katheder zum show business, der Welt der promotions und promoters, zu verschieben.

Seiner zweiten Verpflichtung, die zeitlich nicht selten mit der ersten Aufgabe kollidiert, kommt Kunze erstaunlich angepasst und unspektakulär nach; eine stabile Lebensstruktur aufzubauen. Kunze ist Ehemann und liebevoller Familienvater und integriert so sein Privatleben, ohne nach außen davon viel Aufhebens zu machen.

Seine äußere Erscheinung verdankt sich seiner Ausstrahlung von innen. Seinem äußeren Erscheinungsbild das Etikett »unsexy« aufzudrücken, entspringt aber einer platten Auffassung männlicher Schönheit, wie man sie auch einem Paul Simon oder Randy Newman nachsagen könnte. Kunzes Körpersprache verzichtet auf vordergründige »Anmache«. Selbst ein Udo Lindenberg kommt einher wie eine Karikatur seiner selbst und doch zeigt sich gerade in einer spröde wirkenden Mimik und Gestik, welcher Vulkan unter den vielen Masken eines Künstlers stecken kann. Vielleicht hat Kunze eine Menge von Woody Allen, der mit seiner mittelgroßen Statur und dem schwarzen Brillengestell vor allem über seinen Blick und seine Mimik den Abstand zu den durchschnittlichen Schönlingen schafft.

Eine fast intime Nähe zwischen Männern, die nicht schwul sind, ist ihm aber durchaus nicht fremd. Wie sich Fußballer in die Arme fallen können, so gibt er Signale der Nähe, ein Kuss auf die Stirn, ein Streichen durchs Haar, was Ausdruck von Nähe und Zuwendung bedeutet, positive Körperlichkeit. Und so ist er gerade im unmittelbaren Gespräch, der persönlichen Begegnung zu unendlich vielen Gesten der Zuwendung fähig. Drückt verbal und nonverbal aus, dass er sein Gegenüber mit Leib und Seele wahrnimmt. Wenn ihn sein ernstlich nachdenkliches Gesicht überkommt, kann auch die Finsternis ansteckend sein. Ein Sonnengesicht dauerhaft zu tragen, das wäre für Kunze zugleich eine Lüge gegen das Leben.

Von einem zarten, hohen Ton - wie bei »Bleib hier, bleib mir ganz nah, zeig mir, wie tief die Sonne steht« - bis zu einem aggressiven Stakkato in einem Lied wie »Die Peitschen« verfügt Kunze über eine außergewöhnliche Bandbreite an klingenden Zuwendungen. Von einem groben und energischen Ton wie in »packt sie und zerhackt sie« bis zu einem tändelnd-tänzerischen »Wo soll ich hin mit meinem leeren Glas« bis zu einem stimmgewaltigen »Aller Herren Länder« ist ihm eine Vielfalt an Ausdrucksformen möglich, die eben nicht immer auf die gleiche Weise versucht, das Ohr des Hörers zu erreichen. Kunze liebt auch hier die Vielfalt. Er spielt mit seiner Stimme wie mit seinen Instrumenten. Wenn es darauf ankommt, auch in einem gesprochenen Dialog, wo er zwei verschiedene Stimmen perfekt in einen Dialog treten lässt...

Die Begegnungen mit Mick Franke und Robert Jaroslawski hatten Kunze bestärkt, auf dem Pfad von Dichtung und Musik entschieden weiterzugehen. Das 3. Würzburger Pop-Nachwuchs-Festival der Deutschen Phono-Akademie e.V. vom 8.-10. November 1980 im Stadttheater Würzburg jedoch zeitigte in Folge die Trendwende vom Primat des gesprochenen Wortes zum gesungenen Wort.

Was war passiert? 2754 junge Künstler oder solche, die es werden wollten, bewarben sich um ein Stipendium, einen Preis, oder ganz einfach, Bekanntheit zu erlangen. Bill Ramsey, der statt Thomas Gottschalk moderierte, hatte 24 Gewinner von 580 teilnehmenden Gruppen sowie 157 Solisten mit seiner Jury ausfindig zu machen und auszuzeichnen. Die Jury bestand u.a. aus Joana, Peter Herbolzheimer, Albert Mangelsdorff, Christian Bruhn, dem Pop-Papst Michael Kunze und Peter Maffay. In den Kategorien Jazz - Folk, Lied, Song - Rock galt es beckmessernd oder wie beim Sängerstreit einst auf der Wartburg Auswahl zu treffen. Kunze hat den Wettbewerb und die Konkurrenz nie wirklich gescheut, trat mit Bestandsaufnahme und Balkonfrühstück furchtlos an.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung konstatiert später Kunzes bissigsatirische Texte in »sauberer (noch?) nicht unverwechselbarer Diktion«. Als Erste registriert die Westdeutsche Allgemeine Zeitung aus dem Medi-enmuntermacherland BRD: Kunze war der Erste, auf den sich die Schall-plattenproduzenten stürzten ...

Zu Hause angekommen, steigt ihm die Angelegenheit zwar nicht in den Kopf, wohl aber in Leib und Seele. In seiner Lesung »Neun Semester« beschreibt er »federnd genaue Psychogramme« (Margret Lejeune) und hält eine erste Zwischenbilanz zum vielen Studieren, die offensichtlich dem Prediger Salomo/Kohelet aus der Bibel Recht zu geben scheint: Viel Studieren macht den Leib müde...

Der Kontrakt mit WEA-Music-Chef Siegfried E. Loch und Musikverleger Alfred K. Schacht macht ihn zum »Star aus der Provinz«, wie ihn die Zeitschrift PETRA tituliert.

Klaus Schneider erkennt in Kunze äußerlich den Heinz Rühmann der 30er-Jahre als Gerichtsvollzieher wieder. Neben dem verborgenen schauspielerischen Talent wird Kunze Musikalität attestiert: Klavierunterricht mit 10, Gitarre und Mundharmonika später mehr »aus Daffke« (lt. Berliner Wörterbuch: aus Trotz, Dreistigkeit, ohne besonderen Grund).

Der Mann mit dem Lächeln sieht den Gefahren der Haifischbranche gelassen entgegen, ist ein Professor mit Paradiesvögeln und will eine neue Existenz ausprobieren. Dazu gehören, laut Altmeister Klaus Doldinger, neben dem Exklusivvertrag, den Kunze mit der Hamburger Plattenfirma WEA für drei Jahre für 3-5 LPs in der Tasche hat, spielen, erobern, tingeln, und ein zweites Standbein - und das hat Kunze als angehender Studienrat. Doch Kunze will dem Rad in die Speichen fassen, Künstler werden, nicht Studienrat:

»Nicht, daß ich diesen Beruf hassen würde. Ich bin ja ein Kleinbürger aus der durchschnittlichsten Stadt Deutschlands, wie ein Statistiker errechnet hat. Aber ich will eine neue Existenzform ausprobieren - als Künstler«

Rudy Holzhauer, der Hamburger Musikverleger, der jahrelang eng mit Alfred K. Schacht zusammenarbeitete, erinnert sich bei einem Gespräch in seinem Büro an der Alster, dass sich das Geschäftsführer-Signing aus Sicht der Plattenbosse Schacht und Loch keineswegs selbstverständlich entwickelt habe. Holzhauer kannte Mick Franke vor Kunze über »Thomas Kargermann von »Falckenstein«, wir hatten mit Tontechniker Ulli Schmidt das andere Projekt; aus dieser Zeit kannte ich Mick Franke, und Mick hatte mit Heinz in Würzburg an dem Nachwuchsding mitgemacht. Da hat er offensichtlich richtig abgeräumt. Da rief Mick Franke an: Die wollen alle was von uns. Okay - wir machen was zusammen. Dann kam er mit Heinz und die haben dann fast nur mit Alfred gesprochen. Da hatte ich mit A&R, was eigentlich meine Aufgabe gewesen wäre, schon kaum was zu tun. Das war eine Sache, die Schacht selbst durchgezogen hat.«

So wurde eine Demoversion im Studio in der Herbert-Weichmann-Straße, dem heutigen Sitz der Schacht Musikverlage, die Schachts Sohn Benjamin übernommen hat, aufgenommen. Die Straße hieß vormals Keller Adolfstraße und ist dann sinnigerweise nach einem Bürgermeister dieser Gegend umbenannt worden. Jedenfalls vergaßen die Meister Schacht und Loch über dem neuen Zauberlehrling zurückliegende Differenzen derart, dass Kunze zu keinem Zeitpunkt davon etwas gemerkt hätte und er mit beiden gleichermaßen achtungsvoll umgehen konnte ...

Noch aber war er angesagt: der Doktor der Philosophie, Thema: Benedikt Baruch Spinoza. Die Lebensdevise des Kindes von Maranen, also zwangskonvertierter Juden, vor über 300 Jahren formuliert, kann Kunze als Netz unter seine Künstlerkarriere ausspannen: »Nachdem mich die Erfahrung gelehrt hatte, daß alles, was im gewöhnlichen Leben einem so oft begegnet, eitel und flüchtig ist, beschloß ich zu erforschen, ob es ein wahrhaft Gutes gäbe!« - oder, um es noch einmal in Dichters Wort von andrem Ort zu sagen:

Protest

Als der Philosoph Spinoza erfuhr,

daß eine aufgehetzte holländische Meute

die von ihm geschätzten Gebrüder de Witt,

diese für die fast aussichtslose Lage

im Krieg gegen die Franzosen verantwortlich machend,

auf offener Straße in Fetzen gerissen hatte,

wollte er, der sonst so Mäßige,

nachts das Haus verlassen,

um nahe der Mordstelle ein Papier anzunageln:

ULTIMI BARBAROR UM!

Ein Freund, besorgt

um den der Menge verhaßten Denker,

hinderte ihn daran.

Nicht daß ich wüßte, 165

Das Hamburger Abendblatt zitiert Kunze als bitterbösen Oberbuchhalter. Absolut kreditwürdig. Vor der großen Karriere wolle er noch promovieren. Heinz Rudolf Kunzes Romanze ist auf der Rückseite der überaus erfolgreichen Single-Auskoppelung »Für nichts und wieder nichts« - Zeichen einer neuen Zeit:

Erzählt dir einer

er sei verliebt

daß sie ihm Glückglück

er dito gibt -

besser wär’s, Du glaubst ihm nur

den Preis des Fleischgerichts

FÜR NICHTS UND WIEDER NICHTS UND WIEDER NICHTS

FÜR NICHTS UND WIEDER NICHTS UND WIEDER NICHTS

(...)

Ich hätte gern noch

doch ist’s schon spät

herausgefunden, was

in Atomsprengköpfen vor sich geht

wenn wir schlafen, flüstern sie

den Endreim unsres gemeinsamen Gedichts:

FÜR NICHTS UND WIEDER NICHTS UND WIEDER NICHTS

FÜR NICHTS UND WIEDER NICHTS UND WIEDER NICHTS

Die Schallplatte WEA 58314 liegt dann laut Hamburger Abendpost mit Anhieb auf Platz 2 der Nationalen Bestenliste - gleich hinter »Unverkäuflich« des Münchner Liedermachers Peter Ludwig auf Jupiter/Teldec und vor »Alles ist gut« von DAF auf Virgin/Ariola.

Auf die Frage nach dem Preis seines Weges weiß Kunze wie auf fast alles auch in der Hamburger Morgenpost sofort eine Antwort: »Noch hat mich das jedenfalls nicht beschädigt. Wenns mir irgendwann mal nicht mehr passen sollte, gehe ich einfach ins bürgerliche Leben zurück.«Der sensible Wolf im Schafspelz sieht sich weniger als Liedermacher im Stil von Stefan Sulke oder Franz Josef Degenhardt, mag auch nicht den Kult um kammermusikalische Erweiterung der Akustikgitarre. Dann also eher - auch wenn das Wort gerne überstrapaziert wurde - der »Niedermacher« der 80er-Jahre.

Doch Form gibt es bei Kunze nicht ohne Inhalt und umgekehrt. Den dümmlichen Etikettenklebern gehen bei ihm die »Blepperle« aus, da hilft selbst die Variante »Biedermacher« nicht weiter. Schubladendenken greift bei Kunze kaum. Entschieden hilfreicher ist da schon der Blick in die Texte und Töne selbst, mit denen Kunze die Leute empfindlicher machen, sie aufrauen will, damit sie in Zukunft genauer hinsehen.

So gesehen bleibt: der »singende Philosoph«. Ihm geht es ähnlich wie dem auf der ersten LP zitierten rumänischen Philosophen Emile Michel Cioran (1911-1995), dem Papst der intellektuellen Anarchisten, der jahrelang an Schlaflosigkeit litt und ein lebensbejahender Künstler der Verneinung war. Spielen Zerfall, Verfall und Zufall für Cioran eine besondere Rolle, so ist er in seiner ästhetischen Theorie stark vom Erleben geprägt. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich Kunze dem im Grundsatz anschließt, was etwa auch durch die Einfühlungslehre Theodor Lipps oder das epochemachende Werk von Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung, 1907, durchaus als Einfühlungsästhetik umschreiben lässt: »Ästhetisch genießen heißt mich selbst in einen von mir verschiedenen sinnlichen Gegenstand genießen, mich in ihn einzufühlen.« Die ungezählten von Kunze selbst gegebenen Interviews machen dies deutlich. Er weiß, was er gerade tut, beziehungsweise wohin er unterwegs ist.

Die Kunst ist für Kunze primär kein politisches Engagement - er meint, dass Kunst sich selbst engagiert. Das lässt Ärger vorprogrammiert sein oder macht ihn zum Außenseiter. Er ist weniger ein Pop-Idol, eher ein Vorbild, zum Beispiel für Zivilcourage. Musik und Text bilden eine Einheit im Blick auf Form und Inhalt.

Wir leben alle im Erdgeschoß

Gott hat gewettet

mit dem Teufel

gewettet um nichts

einfach so

Wir leben alle im Erdgeschoß

wir fliegen/wir fliegen

mitten ins Schwarze

Die Knarre/

Gott hatte gedacht, seine Knarre

sei nicht/geladen

Wir leben alle im Erdgeschoß

Wir leben alle im Erdgeschoß

Da hat sich Gott/bereit erklärt

zum Russischen Roulette

mit dem Teufel

Beinahe wie beim biblischen Hiob hat Gott mit dem Teufel eine Wette abgeschlossen. Anders als in der biblischen Erzählung ist bei Kunze der Ausgang ungewiss:

Es knackt/im Gebälk vom Erdgeschoß

es geht das Gerücht/der Teufel wolle...

uns kündigen

In Baden-Baden weiß das Badische Tageblatt bald von einer neuen Ausdrucksplattform Kunzes zu berichten: Neben der Langspielplatte entdeckt Kunze beim Südwestfunk neu den Äther, um an ein breiteres Publikum heranzukommen. Er moderiert im Norden mit Peter Urban den »Club«. Im Süden öffnen sich mit »Lieder und Leute« und dem »Studiobrettl« Türen. Im Sender Freies Berlin lockt gar die Rolle des Moderators.

Dann kommt das definitive Trendwende-Interview mit der Neuen Osna-brücker Zeitung im August 1981: »Bevor ich meinen Doktor in der Tasche habe, werde ich mit meiner Frau Gila auch in der kleinen Dachwohnung in Osnabrück hausen.«Aber schon hier macht sich die Energie der Veränderung spürbar Raum, die größeren Chancen als Musiker sähe er, wenn sie nach Hamburg zögen. Nach Hause zurückgekehrt, fallen immer deutlichere Töne in Richtung Künstlerkarriere. Aber auch hier regiert der Kopfmensch Kunze nüchtern: drei plus zwei Jahre Option; hat das Projekt die Größe, dass man eine Existenz darauf führen kann, dann ja, sonst nicht. Wenn es keinen Sinn macht, dann muß man eben die psychische Kraft haben, da wieder auszusteigen.

Ralph Quinke entlockt für den »STERN« Kunzes Bekenntnis zu Randy New-man und die Distanzierung des »Niedermachers« aus Dingsda von Leuten wie Degenhardt, Wecker oder Biermann. Mit Flippies konnte die »Krähe unter den Paradiesvögeln« nichts anfangen, nicht sich einklinken in Jargon und Lebensweise, die sich in Übungsräumen herumdrückten, um ein paar Biere zu trinken und die Freundin hinter die Bühne zu schleusen. Aus der Einsamkeit des Langstrecken-Musikers wird die des Strebers gemacht.

Als eine erste Wirkung einer größeren Zuschauermenge nennt Kunze:

Das ist ein süchtig machendes Gefühl, dann einfach loszulegen, weil man auf eine so intensive Art plötzlich gefordert ist. Du weißt genau, es gibt für dich nur zwei Möglichkeiten. Entweder du machst alles richtig, oder du versingst dich schon in der ersten Strophe, brichst ab, gehst weinend von der Bühne und nimmst nie wieder ein Instrument in die Hand.

Zur Arbeit als Moderator bemerkt er:

Ich suche an jeder Erfahrung so lange herumzudoktern, bis ich den Eindruck habe, daß durch das eigene Herzblut etwas Allgemeines durchschimmert. Ich hoffe, daß ich es rechtzeitig merke, wenn ich nur noch über meine eigenen Schweißsocken schreibe.

Beim Texten und Musikmachen klaut er ganz schamlos, will sich aber nicht in Resignation suhlen, weder Morbidität noch Brüchigkeit Vorspielen, schon gar keinen Migräneschmäh wie die Wiener Liedermacher. Ebenso nerven ihn Lieder, wo es einer besser weiß und am Ende den Zeigefinger erhebt:

Da finde ich besser, man hält dem Schrecken länger stand; man guckt möglichst lange hin. So lange, wie der Schmerz noch auszuhalten ist.

In Hamburg hält das Stadtmagazin OXMOX dafür, dass der Vergleich Bob Dylan - Kunze nicht hinkt. Anspieltipp ist der Ohrwurm-Reggae Wo soll ich hin mit meinem leeren Glas - Auffüllen! - lautet der einzig richtige Rat:

Ich hoffe Ihr fühlt euch wohl

ein Wäschekorb Kartoffelchips und fünfundzwanzig Flaschen Wein

vor’m Klo hängt ein Einsatzplan

ich fühl mich nicht, ich lasse euch

von Zeit zu Zeit mit Eurem Glück allein Bei mir

wird’s ohne mich

erst schön

vergib mir Karin es war nur Spaß

Indessen beschreibt die Fachzeitschrift Stereo Kunze als sensiblen, verwundbaren Poeten, der seineAngst nach draußen ruft, uns in die Ohren drückt. Er packt die Angst beim Schopf; das einzige Mittel, sie zu bewältigen, ist, sie zu publizieren.

Seine eigene Bestandsaufnahme fällt trübe aus. Was soll die Zukunft ohne Hoffnung? Noch habe ich mich an nichts gewöhnt, singt er, und trotzdem: 1984 ist nicht mehr weit.

Mit 23 kann das Leben heute schon gelaufen sein: Arbeitsplatz - Kneipe - Bett, eingelullt, feist, faul und bequem. Dieser Entwicklung will sich Kunze entgegenstellen. Aufmucken, Leute! - Meinung haben! - Stellung beziehen! - das ist sein Rezept. Zum Agitator wird er nie, hierfür ist er zu sehr Poet, auch zu sehr Freund der Menschen.

Am Jahresende erhält er den Berliner Wecker-Preis. Der gelungene Erstling macht den Weg frei für die Goldenen Achtziger. Reine Nervensache war nur der Anfang einer Dekade im Aufwind der richtigen Entscheidung Kunzes für die Kunst statt für die Wissenschaft.

Von nun an geht es auf Tourneen ...

[no image in epub file]

Heinz Rudolf Kunze. Meine eigenen Wege

Подняться наверх