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5 Vom Wortklempner zum music man - Who is »The Who«?

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Im Anfang war bei Kunze das Wort. Und das Wort war bei Kunze.

Das gehörte, gesprochene, gefühlte, nicht gesagte, geschriebene, verkündigte und - das gesungene Wort.

Der Gang des Lyrikers Kunze an die Öffentlichkeit lässt sich nicht aufhalten. Noch in dem ereignisreichen Jahr von Kunzes Reifeprüfung veröffentlicht Ulrich Klein in PRAXIS DEUTSCH 11/75 Lyrische Texte. Unterrichtsmodell Sekundarstufe II.: »Textvariationen zum Thema »Müllplatz«. In den Gedichten Müll 1, Müll 2, Müll 3, Müll 4 variiert der Wortklempner Kunze am Beispiel Konsum und Abfallproduktion geschickt an für ihn damals schon höchst brisanter Problematik. Z.B. Müll 1:

s

s c u

sc h t a

ch u t bl

s hutta la

schuttablad v

huttablade e

schuttabladenve r

chuttabladenver bot n

schuttabladenverb ote v

schuttabladenverboten e b

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Im wohl ersten abgedruckten Interview antwortet Kunze auf die Frage, warum er schreibe:

Ich schreibe für mich selbst, erst in zweiter Linie für andere. Ich möchte mit dem Schreiben ein wenig »aufrauhen«, damit die Welt nicht zu selbstverständlich wird (...) Ich schreibe auch Kurzgeschichten, die skurrile Alltagsmomente einfangen. Ich gehe aus von einem skurrilen Moment und möchte dann Entwürfe von der Welt setzen, wie sie sein sollte. Ich habe da zum Beispiel eine Kurzgeschichte, in der es darum geht, daß ein Lokalpolitiker, bedingt durch

ein Telephongespräch mit Ausgeflippten, plötzlich sein Mandat niederlegt. Ich schreibe auch Lyrik, auch hier wieder Jugendprobleme, Liebesgedichte oder auch mehr gesellschaftskritische Motive, auf Jugendliche bezogen.

Wie er schreibt?

Ein Wort läßt mich nicht in Ruhe, ein Gedanke, eine Redensart. Das ist der Initiationspunkt. Ich stelle nicht mehrere Fassungen des Gleichen her. Ich arbeite mit Bleistift an einer Fassung, langsam. Bei Änderungen wird radiert, das bezieht sich aber nur auf einzelne Redewendungen, ich ändere nicht häufig. Wenn die Arbeit am Text ins Stocken kommt, lege ich ihn in die Ecke. Nach einer gewissen Zeit, in der mir der Text keine Ruhe läßt, wird weitergearbeitet.

Welchen Leser er sich wünscht, kann der Jungliterat präzisieren:

Er sollte so alt wie ich sein. Vertraut mit den Problemen, weltoffen, clever. Oder wenn es ein Erwachsener ist, dann mit der Mentalität, die man sich von einem Lehrer wünscht, nämlich die Bereitschaft, auf Probleme der Jugendlichen einzugehen. Elitäre Haltung ist von mir nicht beabsichtigt. Der Leser tritt mit mir in einen Kommunikationsprozeß. Beim Lesen kontrolliert er meine Schreibhandlungen, so wie ich mich bemühe, seine Welt zu treffen, die ja auch die meine ist. Ich kann allerdings nicht in einer Gruppe schreiben. Einen Rest von Individualismus möchte ich bewahrt wissen.

Lange vor BSE-Skandal, Butterberg und Nahrungsmittelskandalen wittert der Schulabgänger, woher der Wind der Konsumgesellschaft weht. Pointiert die für den Oberstufenunterricht verwandte Variante Müll 4:

große ereignisse

sind für mr. Konsum

nur große aneignisse

und die

werfen ihre schatten nicht voraus

sondern hinter sich

zu haufen auf: schuttschatten

nichts sind alle maulwürfe

gegen einen mr. Konsum.

Der Verzicht auf überflüssige Worte begegnet immer wieder. Beim Blick über die Schulter des Germanistik- und Philosophiestudenten in die Schreibwerkstatt fällt auf, dass er durch geschickte Weglassung Klischees vermeidet, Spannung zwischen den unendlich vielen Bildern aufrechtzuer-halten vermag. Plattitüden und flache Anspielungen unterhalb der Gürtellinie bleiben nicht ohne Möglichkeit einer Reaktion für das Publikum.

Die unterirdischen Gänge, die die Literarische Gruppe Osnabrück gegraben hat, finden ihren Weg ins Freie: Nach fünf Jahren Untergrundarbeit gründet man im Oktober 1975 einen Verein, gibt eine Anthologie heraus: »Osnabrücker Autoren - Lyrik und Prosa« [hg. V. Gudula Budke, Verlag Wilfried Th. Sieber, Bünde] wird erst im Kulturgeschichtlichen Museum vorgestellt. Kunze ist hierbei mit Es gehört schärfer gedacht, Supernova, An-tagonie und Schärfe deine Sprache dabei.

Nun aber mehren sich die Anzeichen für eine neue Ausdrucksplattform. Kunze selbst gleitet vernehmlich in einen anderen Aggregatzustand, vielleicht mehr sogar noch seine Worte und entstehenden Werke. Zum geschriebenen und gesprochenen Wort gesellt sich mehr und mehr der Anspruch des Dichters, seine kristallinen Texte zu verflüssigen. Musik und Dichtung kreuzen sich erstmals in seinem Brief vom 7.12.1975 an den Bayerischen Rundfunk in München signifikant:

Betr.: Meldung zur Teilnahme an der Sendung »Alles oder nichts«.

Hiermit bewerbe ich mich um die Teilnahme an der Sendung »Alles oder nichts« zum Thema: Die Rockszene der letzten 10 Jahre. Ich meine dieses Thema zeitlich so eng eingrenzen zu können, weil sich in diesem Zeitraum musikalisch so viel ereignet hat, daß es durchaus eines profunden Wissens bedarf, um von sich sagen zu können, daß man sich auskennt.

Dieses Wissen erwarb ich mir durch das Studium englischer und deutscher Musikzeitschriften, regelmäßigen Konzertbesuch, eigene musikalische Praxis (Organist in einer Amateur-Jazz-Rock-Gruppe) sowie durch eigene Kompositionen und Texte. Im Sommer 1974 lernte ich in England die (inzwischen aufgelöste) Bluesrockband »Groundhogs« persönlich kennen. Im ausführlichen Gespräch bestätigten mir die Musiker meine Sachkenntnis.

(...)

Mit freundlichen Grüßen H.R.K.

Auch in politischer Hinsicht kommt es bereits im ersten Studiensemester zu folgenreichen Anfängen bzw. einer Kreuzung mit seinem souveränen Sprachgebrauch:

Kunzes kleiner Ratgeber für den Fall, daß Ihnen ein Protestler mit einem Packen Flugblätter beim Einkaufsbummel in die Quere kommt

1. Wenn möglich, eine andere Straße nehmen, die auch zum Ziel führt.

2. Wenn das nicht möglich, entweder das Vorgehabte aufgeben oder wie

folgt:

a. Bei Annäherung der Protestlers bücken und an den Schnürsenkeln herumhantieren. (Ist aber riskant, da der Protestler möglicherweise abwartet, bis sie fertig sind. Sie wissen ja: Diese Leute vernachlässigen ihr Studium, um andere Mitbürger zu belästigen.)

b. Bei Annäherung eines Protestlers schnell ein Geschäft betreten und ab-warten, bis der Protestler verschwunden ist. Der Geschäftsmann hat Verständnis für sie.

c. Bei Ansprache durch einen Protestler so lange Taubheit vorschützen (auch nicht die Geste des hingehaltenen Flugblatts verstehend), bis sich der Protestler resignierend dem nächsten Passanten zuwendet.

d. Bei Ansprache durch einen Protestler wissend dreinschauen und sagen: »Ich weiß Bescheid, Genosse.«Nach diesen Worten aber zu Hause unverzüglich den Mund spülen.

e. Für den Souveränen: Protestler mit aller Gewalt eins in die Schnauze schlagen und behaupten, daß er angefangen habe. Es finden sich mit absoluter Sicherheit Zeugen, die das bestätigen.

3. AUF KEINEN FALL IN EINE DISKUSSION EINLASSEN. Sie dürfen sich nicht aufregen. Sie dürfen nicht durcheinandergeraten.

Anmerkung: Diese kleine Studie ist als ein Versuch zu betrachten. Der Verfasser ist sich des provisorischen Charakters seiner Arbeit bewußt. Für weitere, ergänzende Anregungen wäre er ausgesprochen dankbar. Die Methoden der Infiltrierer werden immer raffinierter. Demgemäß müssen auch wir immer raffinierter werden. Wir: Das sind bisher noch wenige. Einige wenige, die es in sich haben. Kommen Sie doch zu uns. Passiv versteht sich. Mehr wollen wir ja gar nicht von Ihnen. Bequem, nicht wahr? Sie brauchen die Zukunft nicht mitzugestalten. Das machen wir für Sie.

»Kurz Schluß« des Fachschaftsrates Elektrotechnik. [Nummer 4. Februar 1976, S. 2]

Während an der Universität sich die Vereinigten Deutschen Studentenschaften für die Abschaffung des Numerus clausus, für die Einstellung aller Lehrer, gegen Regelstudienzeit und verschärften Konkurrenzdruck, gegen Berufsverbot, für verbesserte Drittmittelkontrolle und für die Abschaffung der Vetorechte der Hochschullehrer einsetzen, setzt Kunze andere Akzente:

Rar sind die Fische

So viele

Angeln mit Ausrufezeichen

Als Haken

Und Schimpfen:

Die Lösungen beißen heuer nicht.

Sie sollten einmal

Fragezeichen ausprobieren [15.1.1976]

In krass leuchtendem Orange zeigt Kunze seine erste Synthese von Literatur und Musik mit einem Dokument erster echter Männerfreundschaft an:

Literarische Gruppe Osnabrück in Verbindung mit dem Kulturamt Osnabrück

Dichtung und Musik

Heinz Rudolf Kunze: »mücken und elefanten« (lyrik und lieder)

Michael Franke: »Alte deutsche Lieder« (Deutsche Folklore)

Gitarren, Banjos, Mundharmonikas, Tonbänder etc. im Kulturgeschichtlichen Museum Osnabrück am Mittwoch, 18.2.1976, 20 Uhr Eintritt 2 DM, Schüler und Studenten: 1 DM.

Die Presse reagiert mit »Wohlgespitzte Pfeile« [NOZ 20.2.76]: »Hatte Michael Frank(e) eben den Zauber alter deutscher Lieder heraufbeschworen, so riss Heinz-Rudolf Kunze mit aggressiven Texten die Hörer jäh in die Gegenwart.«- »Recht unbequem gibt sich Heinz-Rudolf Kunze. Seine Aggressivität, die sich bisweilen bis zur Obszönität steigert, und sein scharfer Verstand machen vor nichts Halt. Texte und Songs zur Gitarre, wohlgespitzten Pfeilen gleich, richten sich mit ungeheurer Treffsicherheit gegen Spießbürgerlichkeit, Kriege, Konsumdenken und Klassenkampf Kunzes Texten, von Lichteffekten begleitet, sind sowohl die Attribute sozialkritisch, politisch als auch revolutionär und surrealistisch zuzuordnen. In ein bestimmtes Schema pressen kann man den 19-Jährigen mit Sicherheit nicht.«

Es beginnt die Zeit der verzweifelnden Einordnungsversuche des jungen Künstlers, die ihn bis auf den heutigen Tag zu verfolgen scheinen. Die Lesung, die eine »Singung« (Thiele) war, charakterisieren Kunze als wortgewandten Gitarrenspieler oder gitarrenkundigen Wortspieler [21. 9.1976] »19 Jahre jung, Student der Germanistik und Philosophie in Osnabrück... Er selbst möchte als »Störfaktor« gesehen werden. Leise, fast unauffällig, jedoch gut nuanciert ist sein Vortrag. Er zwingt den Zuhörer zur Konzentration auf seine Worte, die einen umso nachhaltigeren Eindruck hinterlassen. Seine Thematik ist der Mensch allgemein. Sozialkritisches Engagement blitzt hier und da durch.«

Heinz Rudolf Kunze hat nun die Sicherheit für seinen ersten Solo-Auftritt gewonnen, stattfindend in der Lagerhalle Am Heger - Tor Rolandsmauer »Heinz Rudolf Kunze. Lyrik & Gitarre« am 2.1.1977. Schon einen Monat (s. Zitat) zeigt er stolz der Osnabrücker Presse an:

Am Mittwoch, dem 23. Februar 1977, um 20.00 Uhr findet im Kulturgeschichtlichen Museum am Heger-Tor ein Lyrik- und Liederabend unter dem Titel »Kopfschmerzen« statt. Der Autor und Interpret, Heinz Rudolf Kunze, Mitglied der literarischen Gruppe Osnabrück, erhielt durch einen literarischen Wettbewerb der NOZ Gelegenheit zur Veröffentlichung seiner Arbeiten. Danach folgten u.a. Auftritte in Köln, an der Universität Münster und eine Rundfunksendung im NDR. Dem jugendlichen Publikum werden die Abende vor vollem Haus im Museum und in der Lagerhalle gewiß in Erinnerung sein.

Der Sprung zum Achtungserfolg ist geschafft. Der Name ist immer schon Programm.

Er geht seine eigenen Wege. Manchmal auch mit Partnern. »Goethe über dem Abgrund« realisiert mit seinem technischen Mitspieler Matthias Wes-ting. Die Presse rätselt: »Warum nur Negatives?«Kunze sagte, dass er sich nur so äußern könne, Glücksgefühle auszudrücken sei ihm nicht notwendig. Der Eindruck vom Autor ist der eines sehr begabten Menschen, dessen Sprach- und rhythmisches Gefühl sich überströmend äußert. Brokdorf und Kapitalismus, falscher Sozialismus und Giftgas, bürgerlicher Mief und Dortmund-Nord sind Themen, die er mit geballter Leidenschaft darstellt.

Der Sommer geht neben dem Studium einher mit Kontakten zum Musikwettbewerb »Folk im Sender - FIS« beim Westdeutschen Rundfunk in Köln. Nun bekommen die Texte immer häufiger Beine gemacht durch die Töne. Kunze bietet eine erste tracking list in einer Art Heimwerker-Play-backverfahren an, bei der er alle Instrumente selbst gespielt hat und ein Freund die Technik betreut hat:

1. Die Außenseiter (2 Egitarren, Bass, Bongos),

2. Der Morgenstern (Epiano, Orgel, Bass, Klavier, Perc.),

3. Dortmund-Nord (Gitarre, Harmonika, Orgel, Xylophon, Mandoline, Geige, effects),

4. Eines Tages (Gitarre, Epiano, Bongos, Bass, Perc.),

5. Das ist ja wie im Film (Gitarre, Egitarre, Orgel, Harmonika),

6. Klarschiff zum Tauchen (Gitarre, Epiano, Orgel, effects),

7. Leviathan (Gitarre, E-gitarre, Klavier, Bass, Bongos),

8. Das erste Lied von Herrn Daumen (Gitarre, effects),

9. Folgen Sie mir weiter (Klavier, Orgel, Bass). [Brief 10.6.78].

Von richtungsweisender Bedeutung ist die Begegnung mit dem Kommilitonen und Mitstudienstiftler Robert Jaroslawski. Der Physiker, Jg. 1955, der gelegentlich Gitarre spielt, inspiriert Kunze gleich drei Abende hintereinander zu Auftritten im Schwarzen Café in der Kantstr. 148, jener Ikone der alternativen, subversiven 68er-Szene, in dem man noch heute rund um die Uhr frühstücken kann: Kunze & Jaroslawski. Klartext. Lyrik & Lieder. Bereits im Mai sind die beiden gemeinsam in Osnabrück unterwegs, zunächst als: Provinzriesen machen Musik läutet die neue Ära ein im »offene kunsthandwerkerhaus«, Große Gildewart 14 (»Live im o.k. 14«), anschließend im Ledenhof, sodann im Dominikanerkloster am Rißmüllerplatz. Nebenbei auch Kunzes erste dienstliche Berührung mit der GEMA Oldenburg.

Es gehört zum Elefantengedächtnis Kunzes, dass ausgerechnet der Hausierer beim Projekt Litfasssäulen-Plakatgedichte gut abschneidet: eine »Poesie der Verblüffung«, die gelingt:

Ich öffne -

okay, ist gelaufen, sagt sein Gesicht, schon

ehe er anfängt zu sprechen,

er liefert die buckelnden Wörter ans Messer,

strafgefangen, Praktikum,

selbstverdientes Studium, ich kaufe ihm

nichts ab, das Stichwort,

mein Türrahmentrippeln hört auf,

nein danke, ich möchte das

erklären, er kauft mir

nichts ab, wir sind gut

versorgt, das weiß er, während ich

rede und rede, klingelt er schon

an der Nachbartür

[vgl. Nicht daß ich wüßte, 108]

Mit Tom Kannmachers Folk-Konzert während der Ausstellung der irischen Drucker in der Dominikanerkirche hinterlässt Kunze bereits erste Spuren in den Werken anderer Künstler. Tom Kannmacher, der »Vater« eines Kinderfamilienhauses in Wermelskirchen und Freund Mick Frankes, kann zwar nicht auf dem Seil tanzen. Sonst aber übertrifft der laut Kunze extrem alternative Öko mit kauzigem Vollbart und liebe Kerl die mittelalterlichen Musikanten deutlich. Er hat selbst eine neue Art von Leier entwickelt, ein Mittelding von Tanzleier und Konzertleier mit mancherlei neuen spieltechnischen Möglichkeiten. Dieses Instrument setzt er nun für eigene Kompositionen ein, die nach lyrischen Gedichten von Heinz Rudolf Kunze entstanden sind.

Die Jahresausstellung des Bundes Bildender Künstler für Niedersachsen (BBK), Gruppe Osnabrück, bringt im Herbst eine neue Ausdrucksplattform für das Multitalent Kunze: die Verbindung des Wortes mit der Kunst: »Hervorzuheben wäre Martin Kester, der sechs Zeichnungen mit Gedichten von Heinz Rudolf Kunze (Literarische Gruppe Osnabrück) zeigt, künstlerisch wertvolle Blätter, in denen Grafik und Gedicht sich in einer einzigartigen Symbiose vereinen« (Gudula Budke; Bestandsaufnahme: 21 u.a.).

Kurz vor Kunzes Gang zum Standesamt in Osnabrück am 28.12.1979 erscheint eine zweite Osnabrücker Anthologie mit Beiträgen der Literarischen Gruppe unter dem Titel »Schreibfreiheit« mit »ironisch sarkastischer Selbstbespiegelung«. Es ist ein früher, älterer Text Kunzes, der in einer Art Vision eines jungen Studenten so etwas wie eine vorweggenommene Mid-life-Crisis als Enttäuschungsprophylaxe artikuliert:

Bestandsaufnahme

Es gab mal Zeiten, wo die Brüste unsrer Mädchen

noch kein Geheimnis waren, kein Privatbesitz,

wir wußten alles voneinander, nicht wie heute,

wo man vereinzelt auf der Dauerdame schwitzt;

wenn wir uns jetzt mal treffen, spielen wir Verstecken.

Gefall’ne Würfel sind ein idealer Schutz.

Wir brauchen stundenlang verschwiegene Toiletten

zur Atemübung und zum Spiel mit etwas Schmutz.

Es spielen immer öfter Gruppen, die wir mögen,

in unsrer vollgefreßnen, geisteskranken Stadt.

Doch wir verzichten auf den Anblick unsrer Helden,

weil uns Enttäuschung unverhofft verbittert hat:

sind sie denn wirklich schon so abgrundtief gesunken,

daß sie es nötig haben, hier zu konzertier'n?

Wir hören zimmerlaut die unschlagbaren Platten.

Wir trinken schweigsam unser zimmerlaues Bier

Wir sind jetzt mündig und wir haben nichts zu sagen.

Wir wählen selbstverständlich weiter S.P.D.

Wir haben keinen Grund, uns wirklich zu beklagen. (...)

So kritisch solche Worte gegenüber allem Alltagstrott klingen mögen, einem klaren Ja-Wort zu einem konventionell geschlossenen Ehebündnis zwischen Heinz Rudolf und seiner Frau Gisela Hermann in der Osnabrü-cker »Waage« steht nichts mehr im Wege. Und seine alten Schulkameraden Reinhardt Frense und Jürgen Schnare sind seine Trauzeugen. Diese Frau sollte durch alle Höhen und Tiefen auf seinen Wegen und Umwegen das sein, was er 2003 nach dem Zenit seiner Tourneekarriere »Rückenwind« nennt und in »Dabei sein ist alles« auf der Live-Doppelscheibe besingt:

»Ich weiß viel zu selten was ich an dir hab/ich habe dein Vertrauen/ich bin mit dir auf gleicher Augenhöhe/und was ich seh gefällt mir/am besten auf der Welt so weit ich sehe/du strahlst es aus wie Sieger/so ein Leuchten macht die Sorgen blind/weiter bringt mich keiner/ du mein Rückenwind ich kenn keinen ändern Menschen/der so sichersteht wie du in Raum und Zeitlich bin dein Hauptgewinner/ich hab mit dir das Hoffnungslos gezogen/ Wir pokern mit dem Dritten Mann/er kennt unser Blatt/wir wissen welchen letzten Trumpf/er im Ärmel hat erspielt nicht falsch/er spielt auf Zeit/wir halten mit/wir sind bereit/ich habe dein Vertrauen...«

Heinz Rudolf Kunze. Meine eigenen Wege

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