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Eine Freundschaft für immer

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Mist. Ich sprang schnell hinunter und versteckte mich zwischen den Heuballen.

Frieda kicherte.

»Glaubst du, dein Papa hat uns gesehen?«

Die Ballen hatten uns in ihrer Mitte verschluckt, trotzdem saßen wir geduckt auf dem Boden.

»Ich glaub nicht, sonst hätte er uns verjagt!«

Meine Freundin rümpfte die Nase.

Ihre langen blonden Locken, die ihr Steißbein kitzelten, drehten sich nach allen Seiten.

»Warum dürfen wir hier nicht spielen?«

»Hm, die können irgendwie kaputtgehen, und dann werden sie von innen nass, wenn es mal regnet, glaub ich.«

Sie zog eine Schnute. Heuhalme hingen ihr im Haar.

»Sollen wir lieber woanders spielen?«, fragte Frieda mit leiser Stimme.

Ich nickte.

Mit hängenden Schultern suchten wir uns einen Weg nach draußen. Auf der großen Fenne standen die Pferde und fraßen sich gemütlich durch den Tag. Sie reizten mich wenig. Anka war nicht mehr die Jüngste, weswegen sie beim Reiten gern über die eigenen Hufe stolperte. Jedes Mal, wenn ich auf ihrem Rücken saß, zuckte mein ganzer Körper zusammen und ließ mich aufschreien. Eine wackelige Angelegenheit – nichts für mich. Meine Leidenschaft gehörte den Kühen und Schafen.

Unsere kurzen Beine, die bis zu den Kniekehlen in bunten Gummistiefeln steckten, huschten über das Hofgelände, auf der Suche nach neuen Abenteuern. Die Geheimnisse von Heuboden, Scheunen und Misthaufen versprachen zwei kleinen Mädchen im Vorschulalter Gänsehaut, Gelächter und Herzrasen. Der kleine Stall, angrenzend zur Weide, lockte mit seiner Überdachung und den Anhängern, die darunter standen. Dieser Stall hatte einiges zu bieten, vor allem im Winter, wenn die Eiszapfen, groß wie meine Eltern, wie Schwerter bis zum Boden ragten.

»Guck mal, wir können uns im Anhänger verstecken!«

Friedas Mund stand so weit offen, dass eine Libelle hineingepasst hätte.

»Aber der ist ganz schön hoch … Da stoßen wir uns beim Reinspringen bestimmt den Kopf!«

»Nein, das geht, das habe ich schon mal gemacht!«

Meine Füße rutschten beim Rennen in den Stiefeln.

»Komm schon, das macht Spaß!«

Meine Freundin folgte mir.

Der grüne Anhänger hatte einen Plattfuß. Ich griff nach den Seitenstangen, kletterte auf die Gummirollen und hangelte mich über den Rand hinüber. Dann ließ ich mich jauchzend fallen.

Watsch.

Frieda kletterte mit ihrer hummeligen Figur den gleichen Weg hinterher und spähte über den Rand. Ihre Augen wurden immer größer.

»Ihhh, was ist denn das?«

Ich wälzte mich genüsslich und kicherte.

»Das ist Schrot, das fressen die Kühe!«

»Das sieht aus wie gammelige Flips, da will ich nicht rein!«

Ich warf ihr ein paar Körner ins Gesicht und lachte auf, bis ich mich verschluckte.

Sie holte einmal tief Luft und rutschte mit dem Kopf voran ins Tierfutter. Kaum hatte sie bemerkt, dass nichts an ihr kleben blieb, grub sie sich auch schon wie ein Häschen in sein Loch hinein. Wir tollten mit den wildesten Vorstellungen von Schrotkonfetti bis zu Schrottürmen durch den Anhänger, doch dann verstummte das Kichern meiner Freundin.

»Kerin, ich glaube, mir steckt was in der Unterhose!«

Ich nahm zwei Hände der kleinen Vollwertflips und schmiss sie gegen das Dach.

»Na und? Ich habe das auch überall!«

Mit quietschenden Tönen ließen wir Schrot regnen, bis wir außer Puste waren. Erschöpft stiegen wir aus dem Anhänger. Tierfutter rieselte aus unseren Klamotten.

»Zieh mal an meinem Stiefel, ich krieg den nicht aus!«, sagte ich zu Frieda und hielt mich am Anhänger fest. Sie zog mit aller Kraft, sodass ich hintenüber fiel.

Mein Kopf knallte gegen den Stahl.

Meine Freundin krümmte sich vor Lachen, während ich mir die Stelle rieb. Typisch, dachte ich, und ihre Zahnlücke blitzte auf.

Wir saßen auf dem Boden, leerten unsere Stiefel und sangen lustige Reimlieder, während wir mit Stöcken in die Erde malten.

Meine Freundin sang vor, ich trällerte nach, bis der Schmerz vergessen war.

Wiste, Wiste.

Gummela, gummela, gummela, wiste.

Gummela, gummela, gummela, wiste.

Oh nonononona wiste,

Oh nonononona wiste …

Woher dieses Reimlied für Kinder stammte, konnte keiner von uns sagen. Es war weder Sölring noch Dänisch, es war einfach nur Quatsch.

»Hast du auch so Lust auf Eis?«

Frieda sprang auf. Jede weitere Frage war unnötig. Wir sattelten unsere Fahrräder, schwangen uns in die Pedale und radelten durch Klein-Morsum. Nahe dem Golfplatz befand sich die Fränkische Weinstube, ein Familienbetrieb mit leckerem Kuchen und freundlichen Besitzern. Wir parkten die Räder am Hintereingang der Gastwirtschaft – sie kannten uns schon.

»Na, möchtet ihr wieder Eis haben?«

Unsere Bäckchen glänzten.

»Grünes Wassereis mit Schokohut, bitte!«

Mit einem Zwinkern bekamen wir die kühle Leckerei in die Hand gedrückt. Die Pennys kullerten uns aus den Taschen, und mit winkender Hand radelten wir schleckend Richtung Morsum-Kliff.

Unser Haar wehte mit dem Wind, die Sonne strahlte. Die Sommer waren warm, die Sandwege zum Kliff staubten unter unseren Rädern. Die Sandkuhle – Klein Afrika – breitete sich vor uns aus. Wir lösten die Füße und versanken in butterweichem Sand. Schnaufend schoben wir die Räder hindurch.

Dieser Ort brachte mich oft ins Schwitzen. Kurze Beine, kurzes Vergnügen. Sobald der Sand den Horizont küsste, wenn ich mit meinen Eltern hindurchspazierte, jammerte ich in allen Tönen, die ein kleines Mädchen zu bieten hatte. Es war für mich die Wüste der Insel. Sandkörner, wohin das Auge reichte, und spärlich gewachsenes Dünengras auf fünf Büschel verteilt. Dass sie sich nie lösten und wie in einem mittelmäßigen Westernfilm mit Hintergrundgepfeife über den Boden wehten, während wir einsam und verlassen den Weg auf der Suche nach Leben und Wasser bestiegen, war ein Wunder.

»Komm, wir legen die Fahrräder weg und suchen unseren Schatz!«, pfiff Frieda.

Ab hier fing das Abenteuer an. Das war unser Zuhause. Zugegeben, von Dünenschutz hatten wir damals wenig gehört. Für uns gab es nichts Spannenderes, als die Räder zu verstecken, die Dünen hochzusteigen und zu erkunden, was sich dahinter verbarg. Zwischen dem Heidekraut fanden wir neue Sandkuhlen, in denen wir spielten. Schätze wie Muscheln und Steine vergruben wir unter großen Sandhaufen, wie auch die zahlreichen Eisstiele, die wir vor unseren Eltern versteckten, um sie später doch nicht wiederzufinden. Ein heimlicher Irrgarten für kleine Kinder. Oft fuhren wir unten den schmalen Weg nahe dem Wasser, bis hin zur Steilküste, um dort herumzuklettern und nach Geheimnissen der Erde zu graben.

Dass ich meiner Freundin wegen des roten Gesteins von einem Vulkanausbruch erzählte, war keine böse Absicht. Ich hatte zuvor etwas darüber gelesen oder gesehen, und mir kam der Zusammenhang schlüssig vor. Meine Fantasie war grenzenlos. Dass dieser Ort nicht nur voller Magie war, sondern auch in seiner europaweiten Einzigartigkeit glänzte, darüber klärte mich später mein Vater auf. Die in der Eiszeit aufgebrochenen Erdschichten repräsentieren eine geologische Zeitspanne von sieben bis zehn Millionen Jahren Erdgeschichte, hautnah zum Anfassen.

Wir wateten durch den feinen Sand und sahen auf das Wattenmeer. Es war Ebbe. Die Vögel pickten nach kleinem Getier, und einige Wolken spiegelten sich mitsamt dem blauen Himmel in den restlichen Salzwasserpfützen, die die Flut vergessen hatte. Wir jagten durch den Sand und beobachteten die Vögel. Wir sprangen von kleinen Felsen und versuchten, unsere Namen in das Gestein zu ritzen.

Irgendwann ließ sich Frieda in den Sand plumpsen.

»Ich habe keine Lust mehr, wollen wir nach Hause?«, fragte sie. Ihre Augen waren matt.

»Ja, ich habe auch keine Lust mehr, mir ist viel zu warm!«

Wir griffen unsere treuen Blechstuten und rasten Richtung Hof. Kurgäste, auf dem Weg zur Nösse, dem östlichsten Ortsteil Morsums, wo der Zug das erste Mal Sylter Boden berührte, kamen uns entgegen. Neben uns schnaufte der Zug auf den letzten Kilometern, die er noch vor sich hatte. An der Brücke trennte sich unsere Wege, zumindest bis zum nächsten Morgen.


Es war eine Zeit, in der die Eltern ihre Kinder sorglos vor den Türen spielen ließen. Die Dörfer sprudelten vor Kindergelächter, bis die Tränen flossen, weil ein Fahrradsturz die Freude kreuzte. Die Straßen waren mit Kreide bemalt, winzige Flohmarktstände mit Selbstgebasteltem sprossen in Morsum im Sommer aus den Einfahrten wie heute die von fröhlichen Hausfrauen eingekochte Marmelade in den Schaukästen am Straßenrand.

Die Strände, die Deiche, das Wattenmeer und die Felder boten ausreichend Spielraum für Fantasie und Fröhlichkeit. Löwenzahnblüten wurden von den Müttern zu Gelee eingekocht, die Blätter für die Kaninchen gepflückt und die Stängel von Kinderhänden verarbeitet. Wenn wir mit den Blumen auf der Wiese vor unserem Haus saßen, Suppen aus ihnen kochten, weil die Stiele sich, in Streifen gezogen, lockig im Wasser kräuselten, dann waren wir eins mit unserem Tag. Nudelsuppe à la Natur. Manches Mal pflückten wir kunterbunte Wildblumensträuße für unsere Eltern oder verarbeiteten sie zu romantischen Kränzen, mit denen wir unsere Köpfe schmückten.

Wenn die Raupen sich in den Blättern der Heckenrosen versteckten, bis wir ihnen auf die Schliche kamen, dann waren wir für eine Ewigkeit beschäftigt. Aus den Rosenblättern pressten wir Parfüm, doch die schönsten trockneten wir in unseren Büchern. Die Stachel piksten uns in die Hände, doch wir ließen nicht von ihnen ab. Wir sammelten Hagebutten, legten sie in einer fein gezogenen Linie über die Straße, versteckten uns hinter einem der Friesenwälle meiner Verwandtschaft und lachten, wenn die Autos die Hagebutten plattfuhren. Zu Ostern ersetzten wir sie durch bunt gefärbte Eier.

Onkel Albert erzählte gern, wie sich zu seiner Schulzeit die Morsumer Kinder in Scharen zu Ostern am Eierberg – einem Sandweg, der ans Watt führt – trafen, um die Ostereier den Weg hinabrollen zu lassen. Ohne Wettstreit beömmelten sich die Kinderherzen vor Lachen, wenn die Eier auf dem Weg zerplatzten und die bunten Schalen an den Kieseln hängen blieben. Mit Aussicht auf List, umgeben von Sträuchern und mit Schlickgeruch in der Nase. Onkel Alberts Kindheit spielte sich, fernab von täglichem Fernsehen und sonstigen Unterhaltungsprogrammen, zusammen mit seinen Geschwistern und Freunden hauptsächlich vor der Tür ab. Zur Winterzeit fuhren sie auf dem Siel am Deich Schlittschuh, bauten sich im Wäldchen Verstecke und stellten lauter Unfug auf den Feldern und Ställen an. Die kleinen Lausbuben stichelten gegen ihre kichernden Schwestern, und Opa Gogge bemühte sich, den wilden Haufen wieder einzufangen. Mit mir als einzigem kleinen Küken der Familie hatten sie es schon einfacher.

Wenn es mich nach Abwechslung dürstete, besuchten meine Eltern mit mir den Tierpark, der Insulanern wie Gästen die Groschen für Zwieback aus den Taschen leierte. Bis heute hält er sich mit einer kleinen Auswahl an Tieren tapfer gegenüber dem utopischen Angebot in den Städten. Die Anlage ist gepflegt, und zwischen Tretbooten auf dem Teich, einem Spielplatz und der grünen Bepflanzung fühlen sich viele Tiere heimisch, wenn auch einige Exoten in unterschiedlichen Sprachen krähen oder vor sich hinschnauben.

Das kleine Aquarium in Westerland, das meine Augen als Kind zum Glänzen brachte, musste später einem Erlebnisbad weichen. Als Kind bewunderte ich die bunten Flossen seiner Bewohner, die, umgeben von Seetang und Wassergras, um die Wette schwammen. Die Seepferdchen rollten ihre Schwänze um die Grashalme und ließen sich im Wasser wiegen. Doch die wahre Attraktion waren die Seehunde, die durch das Becken schwammen. Heute bin ich dankbar, dass die kleinen Freunde nicht mehr auf engstem Raum zum Planschen verdonnert werden, doch als das Aquarium seine Türen für immer schloss, versetzte es mir einen Stich.

Willi, die Kegelrobbe im Hörnumer Hafen, hat es da heute deutlich besser. Der Vielfraß lässt sich des Tages von den Menschen mit Fisch füttern und tänzelt dabei seine Pirouetten durch das Hafenbecken. Willi, eigentlich eine Dame namens Wilhelmine, wie man herausfand, freundete sich einst mit Fischern an, gewöhnte sich an die Menschen und schlug ihr Lager im Hafen auf. Und als Willerina, die Kegelrobbenballerina, zieht sie nun ihre Runden durch die Nordsee und bringt Augen zum Leuchten. Frei von jeglichen Grenzen kommt sie immer wieder zurück ans Hafenbecken und lässt sich feiern. Der unumstrittene Star des Dorfes.

Inselluft mit Honigduft

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