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Ein Kälbchen und ein Lämmchen

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Wenn junge Amseln auf den Zäunen ihre Texte lernen, die Schneeglöckchen ihre Tüllkleider aufplustern und die Schneereste von den Reetdachhalmen tropfen, reibt sich Sylt nach dem Winterschlaf Sand und Salz aus den Augen. Altes Moos wird auf den Dächern sichtbar, die Gräser strecken sich nach Licht, und die Feriengäste klingeln an den Türen. Susi, die alte Schildkrötendame, streckt ihren Kopf durch das Laub und begrüßt Onkel Albert, der sie sehnsüchtig erwartet. Weiße Blüten springen aus den Knospen unseres Birnenbaums, der wie eine Königin über unseren Garten wacht.

Der Frühling holt tief Luft, bläst seinen Blütenduft weit über Sylt, und Liebe wird geboren.


Der Frühling 1988 duftete nach zartem Erwachen und neuem Leben. Onkel Albert und Tante Hella, einen Zaungruß von unserem Grundstück entfernt, kümmerten sich rührend um ihre Susi und mich. Albert, der Sammler und Bastler der Familie und ein Bruder meines Vaters, strahlte nordische Gelassenheit aus und sparte gerne mit Worten. Seine Frau hingegen – Tante Hella – plapperte gern und passte damit hervorragend zu ihren Schwägerinnen.

Die zwei Schwestern meines Vaters, Hanne und Irma, genossen Hellas Gesellschaft. Sie trafen sich regelmäßig, um bei einer Tasse Kaffee oder einem schwarzen Tee die wildesten Neuigkeiten auszutauschen. Und wenn es nichts gab, dann fanden sie genügend Themen, um ihren Wortverbrauchsdrang für einen ganzen Tag innerhalb von zwei Stunden zu befriedigen. Sie waren fleißig, in jeglicher Hinsicht. Zu Hause weckten sie die reiche Kost aus ihren Gärten ein, backten Kuchen für die Freunde und erfreuten sich an ihren Kindern und Enkelkindern. Wie die Männer packten die Damen des Hauses immer mit an. Ständig gab es etwas zu erledigen, und für keine Gartenarbeit, das Zerlegen der Tiere oder gar das Führen einer Gastwirtschaft waren sie sich zu schade. Sie hießen Feriengäste willkommen und schwangen zur Abreise Lappen und Besen. Mütterlich kümmerten sie sich um jedes Mitglied der Familie. Sie kochten in großen Töpfen, damit jeder satt wurde, und wenn ihnen jemand die Arbeit von den Schultern zu nehmen versuchte, verteidigten sie ihre Last. Ohne Last zu viel Rast – nichts, womit sie ihre Lebtage vergeuden wollten. In der Gesellschaft meiner Familie labte ich mich an den schönen Bauernhoferlebnissen, an den Momenten voller Magie, Herzpochen und Freudestrahlen.

Wie auch an jenem Frühlingstag. Die Schwalben drehten große Kreise über dem Kuhstall und tauchten im sachten Wind. Die Brise versuchte, unseren Schweiß zu trocknen. Die Kühe standen auf der angrenzenden Weide und lauerten zu uns hinüber. Wie bei einem Konzert drängten sich die Stärksten in die erste Reihe, ihre Hälse streckten sich, ihre Mäuler waren leer.

Oma Matche und Opa Gogge, wie immer in geblümtem Kittel und braunem Cord, zogen in unterschiedliche Richtungen an meinen Händen, doch ich zappelte, löste mich und quetschte meinen zarten Körper durch den Spalt der wuchtigen Rolltür, die in den Stall führte.

Die Kuh brüllte, als ich eintrat.

Meine Mutter stand neben einem Berg von Stroh, mein Vater kniete bei dem Tier. Blut verteilte sich auf dem kalten Beton.

»Kerin, komm wieder mit raus, das sollst du nicht sehen!«

Ich hörte nicht auf Opa. Schnell schlang ich beide Arme um das Bein meiner Mutter und klammerte mich fest.

Das Brüllen der Kuh wurde immer lauter. Ich grub meine Fingernägel in Mamas Jeans.

Sie bückte sich und gab mir Stroh in die Hände.

»Kerin, wenn das Kalb gleich da ist, dann machen wir es sauber, okay?«

Ich nickte.

Oma Matche versuchte mich mit Engelszungen zu überreden, ihr in die Küche zu folgen, doch ich konnte unsere Kuh nicht allein lassen. Das Blut floss, ihre Augen quollen hervor, und der Arm meines Vaters verschwand im Tier.

»Ich habe die Beine, wir müssen helfen, schnell!«

Mein Opa griff nach dem Geburtshelfer. Ein gruseliges Teil aus schwerem Eisen. Mein Vater packte die Schlaufe, sein Arm verschwand erneut in der Kuh, und er befestigte das Gerät mit einem geübten Griff. Dann presste das Ende des Geburtshelfers an das Hinterteil der unter den Wehen schreienden Kuh. Mein Vater drückte den Hebel immer wieder. Sein Gesicht war verzerrt, sein Kiefer hart. Seine Muskeln spannten sich, und alle hielten den Atem an. Es ratterte, die Kuh brüllte, und das Kälbchen guckte heraus. Schnell griff er es mit den Händen und ließ das reglose Geschöpf in das Stroh fallen.

Meine Mutter sprang herbei, nahm das frische Kalb und schüttelte es. Mein Vater erlöste es von Schleim und der Fruchtblase. Die Kuh schleckte erschöpft an seinem Kalb, doch es regte sich nicht.

Meine Eltern schoben es näher an sie heran. Entschlossen leckte sie weiter. Mein Herz pochte. Ich ballte meine Hände zusammen. Und dann zuckte der Neuankömmling, die Augen öffneten sich, und alle Anspannung löste sich im Stall.

Zittrig hob das Kälbchen den Kopf und streckte seiner Mutter die nasse Schnauze entgegen. Das Brüllen der anderen Kühe verstummte, als hätten sie gespürt, dass die Geburt vollzogen war.

Die Schwalben setzten sich draußen auf die Holzbalken des maroden Dachs und legten ihre Köpfe ins Gefieder. Ich nahm meine Handvoll Stroh und trat langsam an das kleine Kälbchen heran.

»Mama, darf ich jetzt helfen?«

»Ja, mach nur!«

Ich kniete mich in meiner Lieblingshose mit bunten Stickereien neben das Neugeborene und streichelte es. Die Mutter schleckte verliebt weiter, völlig unberührt von unserer Anwesenheit. Ihr Körper pochte, das Fell war feucht, aber Frieden kehrte in ihr ein. Mutterglück strahlte aus ihren Augen.

Mein Vater wischte sich die Stirn mit seinem sauberen Arm, ergriff das Geburtsgerät und brachte es aus dem Stall. Ich meinte zu hören, wie er den anderen Kühen zurief, dass alles in Ordnung sei.

Ich zog mich etwas zurück und setzte mich auf einen der Strohballen.

»Ich gucke zu, wie es gleich aufsteht, ja?«

Meine Mutter lächelte, schnappte mich, setzte sich ebenfalls und platzierte mich auf ihrem Schoß.

»Ja, wir gucken gemeinsam!«

Das war nichts für die Nerven meiner Großeltern. Schnaufend zogen sie sich zurück. Oma Matche schlurfte, schimpfend darüber, dass ich diesem Anblick ausgesetzt worden war, in ihre Waschküche. Opa Gogge verstummte auf dem Hofgelände.

Ich saß wie verzaubert da und beobachtete das kleine Wesen dabei, wie es sich reckte und vorsichtig auf die Beine stellte. Innerhalb kürzester Zeit setzte es einen Huf vor den anderen.

Mein Vater wischte das Blut und den Erguss der Geburt mit Heu auf und brachte alles zusammen mit der Schubkarre weg.

Die Lachfalten meiner Mutter wurden tiefer, und ihre Stimme hell und klar.

»Ist das nicht schön? Sie haben es beide gut überstanden!«

Ich legte mich in ihren Arm.

Ein paar Schwalben flogen hinein und setzten sich auf die Stahlträger an der Decke.

Das war meine Welt gewesen, zwischen duftenden Kühen, durstigen Melkhähnen und dem Ausmisten des Stalls. Der lange Korridor, die Futtertränken an den Seiten, die versteckte Tür am Rand waren für mich unendliche Erlebnisse. Ich habe auf einem kleinen viereckigen Strohballen frische, noch warme Milch aus dem Euter getrunken, bin den Tritten der Rinder ausgewichen und habe zugeguckt, wie der Boden sauber geschrubbt wurde. Die Schwalben bauten ihre Nester und brachten uns das Glück, so sagte man zumindest.

Wildes Geplapper ertönte auf dem Hof. Bierflaschen ploppten, das Kalb war geboren. Die Menschen versammelten sich. Während ich ins Bett stieg, um von diesem Erlebnis zu träumen, ließ mein Vater seine Kehle vom goldenen Hopfen kühlen und den Tag ausklingen. Die Nacht war mild, und der nächste Tag wartete bereits auf mich.


»Mama, kommt Schnuck Schnuck mit ans Wasser?«

»Ja, das darf sie. Wenn sie das möchte.«

Ich sah aus dem Küchenfenster. Schnuck Schnuck, eines unserer Flaschenlämmer, blökte zwischen Blumenbeet und Friesenwall, und Jule sprang um es herum.

Es schnurrte neben mir.

»Darf Danny auch mit?«, rief ich in die Stube.

»Ich glaube nicht, Küke. Katzen mögen kein Wasser! Und schrei nicht so!«

Unsere Wohnung ähnelte einer Puppenstube, in der es nur ein Schlafzimmer gab. Mein Kinderzimmer. Die hölzernen Möbel im Wohnzimmer standen fest auf dem Parkett und trennten die Schlummerecke meiner Eltern vom Wohnraum. Die dunkelbraune Couch lud zum Lümmeln ein. Das Spinnenrad meiner Mutter stand unbenutzt neben der Tür, und Jule hatte ihren Platz im Flur.

Zum Duschen mussten wir in die Badewanne unter der Dachschräge steigen, zum Glück war keiner von uns sonderlich groß. Der Esstisch passte gerade in die Küche und reichte für uns drei. Da das Haus völlig ohne Isolierung war, fand der Wind Einzug durch die Spalten und ließ unsere Türen selbst bei geschlossenen Fenstern knarren. Wenn meine Großeltern Besuch bekamen, hörten wir das Geschnacke von unten. Es war nicht das größte Heim, doch der Hof bot genügend Platz für Spiel und Freude, Fest und Trank.

Danny saß zu meinen Füßen. Seine treuen Augen musterten mich aufmerksam, und er schmiegte sich an mein Bein. Sein weiches Fell streichelte meine Haut.

»Na, mein kleiner Freund, du bist der Beste, stimmt’s?«

Ich setzte mich zu ihm auf die Terrakottafliesen und legte meine Wange an seinen Kopf. Sein Schnurren wurde immer lauter. Für einen Kater seines Alters viel zu alt und bedächtig. Er war erst einige Wochen bei uns, nachdem meine Mutter ihn aus dem Tierheim gerettet hatte. Sein Fell sei voller Flöhe gewesen, hatte sie erzählt.

Ich lief durch den Flur, zog meine Sandalen an und zupfte an der kurzen Hose.

»Ist das Wasser denn jetzt da?«

»Ja, wir haben Flut. Wir sollten Anka holen, und dann geht’s los!«

Ich öffnete die Tür und donnerte die Steintreppe hinab. Gurke missachtete mich, aber Jule und Schnuck Schnuck sprangen wie zwei aufgescheuchte Ponys umher.

»Mamaaa!«, rief ich nach oben. »Jule läuft genauso wie Schnuck Schnuck. Ich glaube, sie denkt, sie sei ein Lamm!«

Mamas Dauerwelle wehte im Wind, und sie lachte.

»Ja, Kerin, das ist mir auch schon aufgefallen.«

Jule bellte laut, als hätte sie uns verstanden.

Hinter dem Haus stand Anka am Zaun und spitzte die Ohren, als sie uns sah. Danny schlich über den sandigen Kiesweg und biss in ein paar Grashalme. Seine weiße Brust glänzte unter dem Tigermantel. Schnuck Schnuck blökte, als das Pferd auf ihn zutrat, es war ihm einfach zu groß.

Meine Mutter nahm die Stute ans Halfter und öffnete den Zaun. Ankas Hufe hinterließen Spuren auf dem Weg. Ich summte freudig hinter den Großen her. Mit Hund, Pferd, Lamm und Katze nahmen wir die ganze Straße ein. Zum Glück war sie nicht stark befahren. Auf halber Strecke hatte Danny keine Lust mehr und machte, trotz meiner intensiven Überredungsversuche, kehrt. Der Rest der Mannschaft blieb zusammen. Wir liefen den Sandweg ans Kliff hinab, das Wasser waberte leicht über dem Meeresgrund, und ich zog meine Sandalen aus. Anka warf die Mähne nach hinten, trippelte mit den Hufen und ließ das Wasser ihre Beine umschmeicheln.

Im Gegensatz zu mir standen Schnuck Schnuck und Jule bis zum Hals im Meer und riefen nach meiner Mutter. Die Muscheln, die sich am Saum des Wattenmeeres sammelten, bildeten eine schmale Kette aus kleinen Schätzen, die es zu entdecken galt – perfekt für mich. Während meine Mutter das lauwarme Wasser genoss, saß ich mit Schnuck Schnucks Geblöke im Ohr zwischen den Meeresgeschenken. Etwas Schilf wehte leicht im Windzug, und die Holzstelzen, auf denen ich zu gern balancierte, waren überschwemmt. Kein Mensch war zu sehen. Insekten schwirrten um meinen Kopf. Die Wanderdüne in List leuchtete von Weitem, und das Lachen meiner Mutter strahlte heller als das Sonnenlicht.

Schnuck Schnuck und Jule sahen nach einer Weile ein, dass das Blöken und Bellen nach meiner Mutter nichts brachte. Wir trafen uns an der Wasserkante, und ich summte ihnen Lieder vor, bis wir alle wieder vereint waren. Ankas nasses Fell glänzte im Licht. Meine Mutter streichelte das Pferd und klopfte ihm den Hals.

»Zu Hause bekommst du einen Apfel, versprochen!«

»Und was ist mit uns?«, fragte ich.

»Du natürlich auch.«

Jule setzte sich mit schrägem Kopf und klimpernden Augen neben das Lamm. Ich streichelte ihr den Kopf.

»Und die beiden, Mama?«

»Die bekommen etwas anderes, leer ausgehen wird keiner.«

Die Hündin sprang auf und lief vor uns her. Die Sonne zwinkerte mir zu. Ich hüpfte mit Schnuck Schnuck um die Wette, auf das nächste Abenteuer wartend.

Es war ein Platz, an dem Frieden herrschte, wenn auch nicht für immer. Nicht für mich. Denn wenn der Wind sich auftürmte, das Wasser zum Toben brachte, dann verschlang das dunkle Meer bei Nacht meinen Schlaf. Und wenn die Natur brach und kreischend ihre Macht ausübte, klammerte ich mich an meine Eltern und hoffte, uns würde nie etwas geschehen.


Heute ist der kleine Strandabschnitt auf der Wattseite Morsums verschwunden. Das Land hat gewuchert und sich seinen Platz erkämpft. Gras, Schilf und Sträucher wuchsen und nahmen die Landzunge für sich ein. Wer seine Füße ins kühle Nass tauchen möchte, der muss Richtung Steilküste wandern.

Sylts Konturen waren im Umschwung, wie die Landwirtschaft und das Dorfleben.

Damals, als unser Hof auf jedes Tier zur Kost angewiesen war und mein Vater noch als kleiner Junge durch die Ställe streunerte, da wurde härter gearbeitet denn je, um die sechs Kindermäuler zu ernähren. Was zur damaligen Zeit in Familienbetrieben erreicht werden konnte, wurde inzwischen längst von großen Unternehmen von den Klippen gestoßen.

Als die geschlachteten Rindsteile auf dem Küchentisch meiner Großmutter lagen und die Frauen ihre Beile schwangen, um alles zu portionieren und einzufrieren, standen die Männer auf den Feldern und stapelten die Heuballen.

Selbst als ich klein war, wurde der Küchentisch noch zum Zerteilen genutzt. Meine Mutter und ich mittendrin. Das Schlachten gehörte für mich dazu. Wenn die Tiere in die Anhänger getrieben wurden, ich mit zittriger Stimme fragte, ob es wieder so weit sei, und mein Vater stumm nickte, dann hieß es für mich Abschied nehmen. Sie hatten ein gutes Leben gehabt – das pflegten wir zu sagen.

Während meine Familie das Fleisch mitsamt den Knochen zerkleinerte, leistete ich ihr singend Gesellschaft. Ich lauschte dem Geschnatter meiner Tanten, legte die Beutel in die Truhe und spielte auf dem Dielenboden. Doch wenn Oma Matche die frisch gefangenen Fische auf ihrer Wachstischdecke aufreihte, beobachtete ich jeden Handgriff mit Argusaugen. Dass ich mich einst von den abgeschnittenen Schwanzflossen nicht lösen konnte und sie unter lautem Gequengel verteidigte, bis mir Oma ein Glas mit Wasser und Schraubverschluss reichte, war keine meiner besten Ideen. Ein paar Tage später entwickelte sich ein so bestialischer Gestank, dass mir fast die Pflaumensuppe wieder hochkam. Dieser herbe Verlust hätte meinen Tag endgültig vermiest. Ich war verrückt nach Omas Backobstsuppe, angedickt und lieblich süß, doch das Beste waren die Pflaumen, deren Fruchtfleisch die Kerne fest umschloss. Trällernd, mit schwingenden Beinen und blonden Zöpfen, spuckte ich die Kerne jedes Mal aufs Neue in Opas Teller, der unberührt weiter seinem Drang nach Nahrung folgte. Und ich lachte, bis mir die Suppe aus den Mundwinkeln tropfte.

Opa Gogge war für mich ein wahrer Bilderbuch-Opa. Er führte mich an der Hand zum Kindergartenbus, ließ sich von mir durch die Ställe treiben, erlaubte mir jeden Blödsinn und knabberte den Knorpel von allen Knochen, die wir ihm auf den Teller legten. Er roch nach seiner Pfeife, die ständig in seinem Mundwinkel hing. Durch die Hornbrille wirkten seine Augen größer als alles andere in seinem Gesicht.

Und Oma Matche war eine Bilderbuch-Oma. Eine typische Hausfrau, etwas zu besorgt, aber liebevoll.

Als ich das erste Mal zum Übernachtungsbesuch bei ihnen anklopfte, war mir schon etwas mulmig zumute, aber Oma schüttelte die Decken und Kissen auf und legte mich behutsam in die wolkige Mitte. Ich erinnere mich noch gut an diese Nacht.

»Kerin, soll ich dir ein Gutenachtlied singen?«, fragte sie mich.

Meine müden Augen weiteten sich für einen Moment.

»Ja, Oma! Gern.«

Gespannt lauschte ich ihrer Stimme, als sie den Text von Guten Abend, Gute Nacht leise vor sich her trällerte. Ich schloss die Augen und folgte den Worten – das Lied kannte ich nicht.

»Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt, schlüpft unter die Deck. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt …«

Ich riss meine Augen auf. War das ihr Ernst?

»Wenn Gott will, Oma? Kann er das einfach so entscheiden?«

Oma Matche stockte. Ihre Pupillen weiteten sich. Ihre Augenbrauen wirkten, als wollten sie ihren Haaransatz küssen.

»Wie meinst du das, Kerin?«

Ich setzte mich auf.

»Du hast gesungen, dass Gott mich morgen nur weckt, wenn er das will! Bin ich sonst tot?«

Ohne je über den Text nachgedacht zu haben, wurde ihr in dem Moment klar, was er für mich kleines Menschenkind offenbar bedeutete.

»Kerin, das ist nur ein Lied, das singt man so. Gott möchte immer, dass alle wach werden!«

Dieser Gott schien mir nicht ganz geheuer, und was für eine Frechheit obendrein, das einfach so zu entscheiden.

»Ich schlafe nie wieder!«, erklärte ich mit verschränkten Armen.

Ich war drauf und dran, aus dem Bett zu springen, doch meine Großmutter beruhigte mich mit sanften Worten und bestach mich mit ein paar Geschichten.

Die Märchen kannte ich schon, doch an diesem Abend schienen sie mir grausamer. Dornröschen brachte das Fass zum überlaufen.

Erst als Oma Matche neben mir lag und es dunkel wurde, beschloss ich, zumindest ihr zuliebe, die Ruhe zu bewahren. Doch als ihr Atem schläfrig gegen meine Stirn wehte, lag ich unter der Decke und fragte mich, ob ich es bis morgen schaffen würde. Es muss eine stürmische Nacht gewesen sein, das Ende einer sorglosen Kindheit.

Dass Oma mir zum nächsten Biikebrennen den Floh ins Ohr setzte, meine Jacke sei schnell entflammbar, machte es nicht besser.

Inselluft mit Honigduft

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