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c) Religionsgeschichtliche Stadien und Reaktionsmuster auf religiösen Wandel

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Bei der Analyse religionsgeschichtlicher Wandlungsprozesse lassen sich typische Stadien und Phasen des Religionswandels feststellen, die in ähnlicher Weise in verschiedenen religiösen Traditionen zu finden sind. Entsprechende Beobachtungen können wir dort vornehmen, wo wir über Quellen verfügen, die religionsgeschichtliche Entwicklungen über einen längeren Zeitraum hinweg dokumentieren. Das ist vornehmlich bei Schriftreligionen der Fall. Günter Lanczkowski hat vorgeschlagen, den Wandel der Stadien in Stiftung, Entfaltung, Stabilisierung und Untergang (58: 122ff.) einzuteilen. An diesem Entwurf ist u.a. kritisiert worden, dass er sich zu sehr am Modell des individuellen Lebens orientiere und entsprechenden Vorstellungen über Religionen als „Organismen“ verpflichtet sei. Doch im Grundsatz hat sich seine Einteilung bewährt.

Entstehung und Entfaltung

Als erstes Stadium lässt sich die Entstehung und Entfaltung einer Religion feststellen. Sie ist oft mit der Aktivität eines Stifters verbunden – Mohammed und Jesus, der Buddha oder Bahâ’u’llâh. Das muss aber nicht immer der Fall sein. Insofern ist die Rede von einer „Stiftung“ missverständlich. In einigen Fällen könnte man bestenfalls von „verborgenen Stiftern“ sprechen, wie etwa im Falle des Hinduismus.

Religionen entstehen allerdings nicht in einem Vakuum, sondern knüpfen stets an Vorhandenem an: das Christentum am Judentum; der Islam an Judentum, Christentum und altarabischen Religionen; der Buddhismus an den altindischen Religionen usw. Ein anderer Aspekt kommt hinzu: Üblicherweise wird zwischen der Entstehung von neuen Religionen und religionsgeschichtlichen Innovationen, also radikalen Neuerungen innerhalb einer religiösen Tradition, unterschieden. Doch diese Unterscheidung ist nicht immer unmittelbar einsichtig. Oft löst sich erst im Laufe der historischen Entwicklung eine Religion aus einer bestehenden religiösen Tradition. Das war häufig gar nicht beabsichtigt. Weder Jesus noch Mohammed noch Joseph Smith, auf den die Mormonen zurückgehen, waren mit dem Programm angetreten, eine neue Religion zu gründen. In manchen Fällen ist gar ungeklärt, inwieweit es sich um Innovationen innerhalb einer religiösen Tradition handelt oder um die Entstehung einer neuen Religion: Anhänger der Ahmadiyya-Bewegung sehen sich als gläubige Muslime, während die Mehrheit der muslimischen Gelehrten sie als Häretiker aus der islamischen Gemeinschaft ausschließt.

Doch ob wir es nun mit der Neuentstehung von Religionen oder mit radikalen Neuerungen innerhalb der Religionen zu tun haben: In beiden Fällen ist die Entstehungsphase von einer Dynamik gekennzeichnet, die mehr oder weniger alle Lebensbereiche umfasst und mit einer ausgeprägten Vielfalt religiöser Aktivitäten einhergeht. Das läuft nicht immer ohne Konflikte ab – denken wir nur an die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen urchristlichen Gruppierungen. Ein anderes Beispiel wäre die frühe Verkündigung Mohammeds, der eine radikale Kritik an den zeitgenössischen Verhältnissen formuliert und dessen Botschaft eine fruchtbare Eigendynamik erkennen lässt, die sich selbstbewusst vom religiösen common sense ihrer arabischen Umwelt absetzt. Entscheidend ist, dass sich in dieser ersten Phase noch nicht eine Richtung oder Schule gegen die anderen durchgesetzt hat und festlegt, was zu glauben, zu tun oder zu lehren ist. Religiöse Äußerungen im Stadium der Entstehung von Religionen bzw. der religiösen Innovation sind also dadurch gekennzeichnet, dass sie „ungeregelt“ verlaufen und ausgesprochen dynamisch sind.

Stabilisierung und Konsolidierung

Eine gegenläufige Tendenz setzt in der nun folgenden Phase ein. Das Stadium der Stabilisierung oder Konsolidierung ist dadurch charakterisiert, dass durch Ausgrenzung oder Kontrolle Erreichtes gesichert, Strittiges geregelt, Vielfalt begrenzt und Dynamik vermindert wird. Beispielsweise konnte die buddhistische Gemeinschaft nach und nach bestehende Unklarheiten ausräumen, nachdem man sich auf mehreren Konzilen nicht nur über den Textumfang der verbindlichen Lehrreden des Buddha, sondern auch über entsprechende Regelungen für das buddhistische Ordensleben verständigt hatte; die frühchristliche Kirche wiederum fand stabile Formen, nachdem ungefähr im 3. Jh. über den Inhalt des Bekenntnisses, die Bedeutung des (Bischofs-)Amtes und die Grenzen eines verbindlichen Kanons Übereinstimmung erzielt worden war; und wie der Koran dokumentiert, war die Konsolidierung des Islams einen guten Schritt vorangekommen, nachdem durch die Offenbarung der medinensischen Suren konkrete Grundsätze und Anordnungen vorlagen, die das Leben der muslimischen Gemeinschaft regelten. In diesem Stadium der Konsolidierung bilden die Religionen zumeist auch feste Strategien für den Umgang mit religiösem Pluralismus aus. Diese Strategien bleiben als Orientierungsmuster für das Verhältnis zu anderen Religionen oft über lange Zeit hin bestimmend.

der Untergang von Religionen

Die letzte Phase des religionsgeschichtlichen Wandels beschreibt den Untergang von Religionen. Religiöse Traditionen können sehr schnell und unerwartet von der Bildfläche verschwinden, aber auch einen langsamen Tod sterben. Manche überleben – allen Widernissen zum Trotz und entgegen aller Erwartung –, obwohl sie ganz an den Rand der (Religions-)Geschichte gedrängt sind. Da jedoch viele einzelne Traditionen in veränderter Form weiterleben, lässt sich nicht immer mit Sicherheit der genaue Zeitpunkt des endgültigen Untergangs einer Religion feststellen. Andererseits können jedoch auch einzelne Elemente innerhalb einer Religion an Lebenskraft verlieren und schließlich ganz verschwinden.

Beispiele

Einige Beispiele zur Illustration: Der Manichäismus, in gewisser Weise die erste große Weltreligion, verließ schon nach kurzer Zeit die Bühne der Religionsgeschichte; einzelne Elemente lebten aber mit ungebrochener Kraft weiter und fanden sogar in andere große Religionen wie Buddhismus und Christentum Eingang. Der auf alte iranische Wurzeln zurückgehende Parsismus existiert – wenngleich mit einer nur kleinen Anhängerschaft – bis heute; ähnlich wie im Falle der Religion der Yeziden gibt es sogar Anzeichen einer möglichen Neubelebung, da die Möglichkeit einer „virtuellen“ Präsenz durch die neuen elektronischen Medien den Nachteil ihrer numerischen Schwäche ein Stück weit kompensiert. Die alte indische Religion, selbst ein Konglomerat unterschiedlichster religiöser Traditionen, konnte die asketischen Protestbewegungen, zu denen der Buddhismus gehörte, zwar nicht in ihrer traditionellen Gestalt überleben, sie hat jedoch bedeutsame Bausteine für den Aufbau des Hinduismus bereitgestellt, der seinerseits den Buddhismus aus Indien weitgehend verdrängte. Die altbabylonische oder auch die altindische Religionsgeschichte bieten gute Beispiele dafür, wie Götter in der Hierarchie absteigen und aufsteigen, aber auch ganz verschwinden können: Der junge, dynamische Stadtgott von Babylon, Marduk, setzt sich an die Spitze der Götterversammlung, indem er andere Götter in sich aufgehen lässt, und drängt selbst Anu, den Nachfolger des sumerischen Himmelsgottes An, in den Hintergrund; im Hinduismus durchläuft Shiva, der sich aus dem altindischen Rudra-Shiva entwickelt hat, eine beispiellose Karriere und macht selbst Brahma, den Weltschöpfer, für die hinduistische Frömmigkeitspraxis recht bedeutungslos. Viele ethnische Religionen, insbesondere im subsaharischen Afrika, kennen den Glauben an einen Hochgott, der sich gewissermaßen vom Alltagsgeschäft zurückgezogen hat und auch keine Verehrung genießt. Dieses Phänomen des deus otiosus, des „ruhenden Gottes“, ist in der Religionsgeschichte weit verbreitet. Vieles deutet darauf hin, dass es sich um einen einst aktiven Gott handelt, der im Laufe der Zeit immer passiver wurde und schließlich in den Hintergrund trat. In einer nächsten Phase schwindet die Erinnerung an diesen Gott völlig – er „stirbt“.

Es gibt keine Formel dafür, wann und unter welchen Voraussetzungen Religionen untergehen. Sicherlich sind ethnische Religionen durch ihre enge Bindung an die kulturelle und politische Selbstbehauptung eines Volkes eher gefährdet als Religionen, die mehrere Kulturen und Völker übergreifen. Aber auch hier lässt sich leicht die Gegenprobe machen: Der gerade erwähnte Manichäismus, eine multikulturelle und transethnische Religion par excellence, hat nicht überlebt – wohl aber die an eine ethnische Gruppe gebundene israelitische Religion in Form des Judentums.

Die Frage, wie Religionen auf religiösen Wandel reagieren, stellt sich in allen Stadien – gleich, ob sie sich im Stadium der Entstehung und Entfaltung, der Stabilisierung oder des Untergangs befinden. Dabei ist der Umgang der Religionen mit religiösem Wandel selbst ein bedeutsamer Aspekt des religionsgeschichtlichen Wandels: Er kann dazu führen, dass sie sich weiter entfalten und ausbreiten – oder dass sie an den Rand gedrängt werden und untergehen. Dabei lässt sich allerdings nicht von vornherein berechnen, welche Strategie zu welchen Ergebnissen führt, da zu viele Faktoren den religiösen Wandel mitbestimmen.

Abwehr, Anerkennung oder modifizierte Übernahme als Reaktion auf Religionswandel

Selbstverständlich stellt sich schon in der Phase der Entstehung und Entfaltung einer Religion die Frage, wie sie sich gegenüber anderen Religionen und gegenüber ihrer eigenen dynamischen Vielfalt verhält. Dies kann in Abwehr, Übernahme oder Modifikation (12: 51) von Elementen der bereits vorhandenen religiösen Tradition geschehen. Ein gutes Beispiel hierfür bietet der Islam: Die christliche Trinitätslehre wird rundherum abgelehnt; Gestalten der jüdisch-christlichen Tradition wie Abraham, Mose, Elija, David, Jona usw. finden Aufnahme in den Koran; die zur Zeit Mohammeds im Umlauf befindlichen „orthodoxen“ Christologien werden zurückgewiesen und durch eine eigenständige koranische Christologie ersetzt, die Christus in eine lange Reihe von Propheten stellt und als herausragenden Gesandten anerkennt, ihn aber zum Zeugen gegen das christliche Verständnis der Gottessohnschaft werden lässt.

Genau genommen gibt es allerdings keine „wertneutrale“ Übernahme vorhandener Elemente, denn diese erhalten alleine schon dadurch eine neue Wertigkeit, dass sie in einen neuen Zusammenhang gestellt werden. Beispielsweise spielt die Gestalt Abrahams in allen drei „abrahamitischen“ Religionen – also Judentum, Christentum und Islam – eine herausragende Rolle, doch darf nicht übersehen werden, dass dies in je spezifischer Weise geschieht: Für Juden ist Abraham vornehmlich der Stammvater des jüdischen Volkes, Christen betrachten ihn in erster Linie als „Prototyp“ des Gottesgläubigen, in dessen geistiger Nachkommenschaft sie stehen, und Muslime sehen in ihm den Begründer des wahren Monotheismus, der „Ur-Religion“ des Islam.

Wenn sich Religionen als eigenständige religiöse Traditionen behaupten können, müssen sie sich der Frage stellen, wie sie ihr Verhältnis gegenüber anderen Religionen bestimmen – und zwar sowohl gegenüber der religiösen Tradition, der sie selbst entstammen, als auch gegenüber „fremden“ Religionen aus anderen historischen und religiösen Kontexten. Die Bandbreite der möglichen Reaktionen liegt hier zwischen Ablehnung und Anerkennung, findet sich oft aber in gestuften Mischformen: Der Islam etwa lehnt alle polytheistischen Religionen radikal ab – was ihn allerdings nicht davon abgehalten hat, im Laufe der Religionsgeschichte immer wieder einen modus vivendi auch mit den Anhängern dieser religiösen Traditionen zu suchen: Den „Leuten des Buches“ (ahl al-kitâb) hingegen – Besitzern von „Offenbarungsschriften“, also in erster Linie Juden und Christen – bringt er eine relative Toleranz entgegen; das Christentum war über Jahrhunderte bestrebt, sich von seiner Mutter-Religion, dem Judentum, abzusetzen, ist jedoch nach der Erfahrung des Völkermordes an den Juden im 20.Jh. zunehmend dazu übergegangen, seine eigenen jüdischen Wurzeln wieder zu entdecken und das Judentum selbst entsprechend zu würdigen und anzuerkennen; eine ethnische Religion wiederum verhält sich gegenüber einer anderen ethnischen Religion insofern „tolerant“, als diese für sie keinerlei Bedeutung hat, da sie an die andere ethnische Gruppe gebunden ist.

Zwei im Vorhergegangenen indirekt kurz angeschnittene Fragen sind für die religionsgeschichtliche Forschung immer wieder von Interesse gewesen und werden es auch künftig bleiben: Die eine beschäftigt sich dabei mehr mit dem Aspekt des geschichtlichen Werdens von Religionen durch Prozesse der Auswahl und Übernahme bzw. Modifikation im Kontext der Religionsgeschichte; die Diskussion hierüber wird vornehmlich unter dem Stichwort des „Synkretismus“ geführt. Die andere widmet sich dem Problem, wie Religionen ihr Verhältnis zu anderen bestimmen, welche Antworten sie also auf den religiösen Pluralismus geben; diesbezügliche Debatten sind mit Begriffen wie „Toleranz“, „interreligiöse Beziehungen“ etc. verbunden und gewinnen angesichts der zunehmenden Präsenz unterschiedlicher Religionen innerhalb eines geographischen Raumes – durch Neubildungen, Wanderungsbewegungen, „Mission“ usw. – immer mehr an Relevanz.

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