Читать книгу EXIT - Ende gut, Alles gut - Klaus Kamphausen - Страница 19

Von der Scham zur Sünde

Оглавление

Die Philosophie der Stoiker hatte zahlreiche Anhänger im antiken Rom.

Die Liste der Menschen, die sich selbst getötet haben und sich dabei auf die Stoa beriefen, war dementsprechend lang.

Der Verlust oder drohende Verlust von Ehre, Macht oder Freiheit waren häufige Motive in der politischen Oberschicht:

Cassius, einer der Hauptverschwörer gegen Caesar, ließ sich von seinem Sklaven umbringen.

Cato der Jüngere tötete sich mit dem Schwert, nachdem Caesar im Bürgerkrieg den Sieg davongetragen hatte.

Porcia, Gattin des Brutus und Tochter von Cato, beendete ihr Leben durch Selbsttötung, nachdem sie vom Tod ihres Gatten erfahren hatte.

Es könnte der Eindruck entstehen, dass im antiken Rom die Selbsttötung gesellschaftlich geduldet wurde, dass sie fast an der Tagesordnung war und in Einzelfällen gar ehrenhaft.

Aber wie häufig war die Selbsttötung in der Antike wirklich? Manche Wissenschaftler wie Anton van Hooff haben für die Antike eine Selbstmordquote von 0,02 pro 100.000 Menschen errechnet.24 Im Vergleich dazu lag die Selbstmordrate in Deutschland 2009 mit 11,7 pro 100.000 Einwohnern um ein Vielfaches höher.

Wirklich exakt beschreiben – weder Zahlen noch ein konkretes Bild – lässt sich die Selbsttötung in der Antike nur schwer. Die meisten Quellen zum Thema sind literarischer Natur: Schriften von Philosophen, Geschichtsschreibern oder Dichtern. Sie vermitteln eine Wertvorstellung, eine Ethik und Moral der Menschen im alten Griechenland und Rom und lassen nur indirekte Schlüsse auf das Bild der Gesellschaft zu.

Richtig ist, es gab im antiken Rom weder Gesetze noch religiöse Vorschriften, die die Selbsttötung ausdrücklich untersagten. Das römische Recht billigte allerdings keine Selbsttötung oder den Versuch der Selbsttötung, wenn diese mutwillig oder aus niedrigen Motiven passierten.

So konnte zum Beispiel ein Soldat, der versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, mit dem Tod bestraft werden. Bürger, die für schuldig befunden wurden, dass sie aus niederen Motiven und von eigener Hand aus dem Leben geschieden waren, wurden selbst nach erfolgreicher Selbsttötung enteignet. Sie verloren Ehren, Hab und Gut. Sklaven oder Bedienstete, die nicht versucht hatten, den Selbstmord ihres Herren zu verhindern, wurden ebenfalls mit dem Tod bestraft.

Ein Beispiel für letzteren Fall ist der Leibarzt von Kaiser Hadrian: Um der drohenden Todesstrafe zu entkommen und um seinen heiligen Eid nicht zu brechen, beging der Leibarzt von Kaiser Hadrian Selbstmord. Der Kaiser, der sich selbst töten wollte, hatte seinen Arzt zuvor um Hilfe für seine beabsichtigte Selbsttötung gebeten.

Wie ist diese Tat aus Sicht der heutigen Zeit zu verstehen?

Wie verdutzt wäre der Patient, der seinen Arzt um Sterbehilfe bittet, und dieser dann, weil er der Bitte seines Patienten nicht nachkommen kann, Selbstmord begeht?

Dieser Vergleich, diese Frage klingt am Anfang fast lächerlich. Aber sie soll zeigen, wie schwer es ist, die Antike mit dem Heute zu vergleichen, und natürlich umgekehrt, wie schwer es ist, aus dem Heute heraus das Denken und Handeln der Menschen in der Antike wirklich zu verstehen.

Vor der altrömischen Rechtsprechung und in den Augen der Gesellschaft entschuldbare Gründe für eine Selbsttötung waren:

Rache des Schwachen (exsecratio).

Demonstrative Selbsttötung (iactatio).

Selbsttötung unter Zwang (necessitas).

Lebensüberdruss (taedium vitae).

Plötzliche Geistesverwirrung (furor).

Nichtertragen eines körperlichen Leidens (impatientia dolores).

Ergebenheit (devotio).

Treue (des Untergebenen) (fides).

Trauer (dolor).

Verzweiflung (desperatio).

Schuldbewusstsein (mala conscientia).

Scham (pudor).

Eine genauere Beschreibung dieser Motive findet sich wiederum bei Anton van Hooff.25 Er hat diese Motive auch in akribischer Kleinstarbeit nach der Häufigkeit ihres Vorkommens unterteilt und kommt zu dem Schluss: „Es ist wohl kein Zufall, dass der Kategorie des ,shame‘ (Scham) der größte Anteil zukommt, während ,guilt‘ (Schuldbewusstsein) in der Form der mala conscientia die kleinste Motivkategorie darstellt. Es lassen sich leicht viele Beispiele (für das Motiv ,Scham‘) anführen, in denen Menschen ihre Ehre zu retten suchen. Es handelt sich dabei vor allem um Befehlshaber, die besiegt worden sind, Politiker, die ihren Sturz nicht verkraften können, und Frauen, die vergewaltigt worden sind.“ 26

Die Vergewaltigung der für ihre Schönheit und Tugend berühmten Lucretia und ihre anschließende Selbsttötung sind zu einem Mythos geworden. In der Literatur, in der Malerei und in der Musik wurde das Thema immer wieder neu aufgegriffen und verarbeitet.

Der römische Geschichtsschreiber Titus Livius berichtet, dass der Königssohn Sextus Tarquinius während der Abwesenheit von Lucretias Ehemann unter einem Vorwand in ihr Gemach eindrang, um sie zu vergewaltigen. Zuerst drohte er ihr mit dem Schwert. Doch sie blieb standhaft und erklärte, lieber sterben zu wollen, als ihrem Ehemann untreu zu werden. Daraufhin drohte er, ihren Leichnam neben den eines toten Sklaven zu legen und den anderen zu berichten, er habe sie beide töten müssen, weil er sie auf frischer Tat ertappt habe. Angesichts dieses drohenden Ehrverlustes ließ Lucretias die Vergewaltigung über sich ergehen. Am folgenden Tag rief sie ihren Mann und ihren Vater zu sich, berichtete ihnen, was geschehen war, und überzeugte sie von ihrer Unschuld. Dann stieß sie sich in ihrem Beisein den Dolch in die Brust und starb. Die Gewalttat löste einen Aufstand im Volk aus. Der letzte König von Rom wurde gestürzt. Die Schändung der Lucretia markiert den Beginn der römischen Republik.

Ob dieses Geschichte, die etwa auf das Jahr 510 v.Chr. datiert wird, sich wirklich zugetragen hat oder ins Reich der Dichtung und Sagen gehört – so wie es viele Historiker vermuten –, ist in diesem Kontext belanglos.

Lucretia galt im antiken Rom und gilt auch heute (wieder) als Vorbild der weiblichen Ehrhaftigkeit. Warum das Wort „wieder“ im letzten Satz in Klammern eingefügt ist, wird gleich klar. Das Motiv von Lucretias Selbsttötung war die Scham (über die verletzte Ehre), zumindest aus der Sicht der Menschen im antiken Rom.

Aber Ende des 4. Jahrhunderts n.Chr., Kaiser Konstantin der Große hatte gerade als erster römischer Kaiser das Christentum über die Götterwelt des Jupiters erhoben, lebte und wirkte der Theologe und Philosoph Aurelius Augustinus (354–430).

Der unerbittliche Kirchenmann beschäftigte sich in seinen Werken unter anderem auch mit den Themen Keuschheit und Selbsttötung und kam in diesem Zusammenhang auch auf Lucretia zu sprechen. Eine Frau – ob Sagengestalt oder Wirklichkeit –, deren Vorbildlichkeit an Tugend seit mehr als 900 Jahren hochgehalten wurde, die schon zur damaligen Zeit ein Mythos war, stürzte er vom Sockel und stieß sie in den Dreck.

Die Argumentation des „heiligen Kirchenvaters“, wie er heute noch genannt wird, lässt den Atem stocken. In seinem Werk „De civitate Dei“, „Vom Gottesstaat“, schrieb er:

„Sie (die Römer) rühmen freilich gar hoch ihre Lucretia, eine vornehme Römerin der alten Zeit. Als sich der Sohn des Königs Tarquinius ihres Leibes unter Vergewaltigung bemächtigte, seine Lust zu büßen, zeigte sie die Schandtat des verworfenen jungen Mannes ihrem Gemahl Collatinus und ihrem Verwandten Brutus an, zwei rühmlich bekannten und tapferen Männern, und nahm ihnen das Versprechen ab, sie zu rächen. Danach beging sie Selbstmord, da sie den Kummer über den an ihr verübten Frevel nicht ertragen konnte. Was ist dazu zu sagen? Soll man sie für eine Ehebrecherin oder für eine keusche Frau halten? Wer möchte sich mit dieser Frage den Kopf zerbrechen? Trefflich und der Wahrheit entsprechend hat jemand darauf das Wort geprägt: ‚Sonderbar, zwei waren es und nur einer hat den Ehebruch begangen.‘ Sehr schön und sehr wahr. Er sah bei der Vermischung der zwei Leiber auf die unreine Begierde des einen und den keuschen Sinn der andern und faßte nicht das ins Auge, was durch Vereinigung der Leiber geschah, sondern das, was in den ungleichen Seelen vor sich ging, und konnte so sagen: ‚Zwei waren es und nur einer hat den Ehebruch begangen.‘

Aber wie kommt es, daß die, die den Ehebruch nicht begangen hatte, eine schwerere Strafe davontrug? Der Wüstling wurde nämlich mitsamt seinem Vater verbannt, die Frau aber traf die härteste aller Strafen. Wenn Erleiden von Vergewaltigung keine Unkeuschheit, so ist Bestrafung einer keuschen Frau keine Gerechtigkeit. Euch rufe ich auf, römische Richter und Gesetze! Ihr wolltet ja unter Strafe bei vorfallenden Verbrechen nicht einmal den Übeltäter, bevor er verurteilt wäre, dem Tod überliefert wissen. Brächte man also dieses Verbrechen vor euer Gericht und bewiese man euch, daß hier ein Weib nicht nur ohne vorgängiges Urteil, sondern selbst ein keusches und schuldloses Weib zu Tode gebracht worden sei, würdet ihr den, der das getan, nicht mit gebührender Strenge strafen? Das hat Lucretia getan, ja, die vielgepriesene Lucretia hat die schuldlose, keusche, vergewaltigte Lucretia auch noch getötet. Fället das Urteil! Könnt ihr das nicht, weil die Schuldige nicht vor Gericht steht, warum rühmt ihr dann mit soviel Preisen die Mörderin einer schuldlosen und keuschen Frau? Und doch könnt ihr sie bei den Richtern der Unterwelt, wären sie auch von der Art, wie sie in den Liedern eurer Dichter besungen werden, durchaus nicht verteidigen, da sie unter denen ihren Platz hat. (…)

Oder ist sie vielleicht deshalb nicht in der Oberwelt, weil sie nicht frei von Schuld, sondern mit schlechtem Gewissen Selbstmord verübt hat? Wie wenn sie dem jungen Mann, der ja freilich gewalttätig über sie herfiel, auch durch eigene Lust gereizt zustimmte und sich darüber so heftige Vorwürfe machte, daß sie die Sünde durch den Tod sühnen zu sollen vermeinte? (…)

Die ganze Sache spitzt sich eben darauf zu: Entschuldigt man den Mord, so bestätigt man den Ehebruch; leugnet man den Ehebruch, so belastet man umso mehr den Mord; man findet überhaupt keinen Ausweg aus dem Dilemma: War sie ehebrecherisch, warum rühmt man sie? War sie keusch, warum tötete sie sich?“ 27

Noch einmal lesen. Dann tief Luft holen: In diesen und ähnlichen Schriften wurden die ethischen Werte der Antike auf dem Altar Gottes zerschlagen. Augustinus macht aus einer Selbsttötung aus Scham einen Selbstmord aus Schuldbewusstsein. Kurz gesagt und noch einmal wiederholt: Lucretia war nicht keusch und hat sich deswegen getötet. Sprich, sie hatte mit Lust und/oder mit ihrer Einwilligung den Akt der Vergewaltigung passieren lassen.

Die Sünde ist an die Stelle der Scham getreten.

Und an die Stelle des „willentlichen Todes“ des „mors voluntaria“ stellt Kirchenvater Augustinus unmissverständlich den Selbstmord:

„Allerdings nämlich ist (…) auch der Selbstmörder ein Mörder, und er lädt durch den Selbstmord umso größere Schuld auf sich, je weniger er schuld ist an der Ursache, die ihn zum Selbstmord treibt.“ 28

Wer heute das Wort Selbstmord benutzt, und mag es noch so gebräuchlich weil umgangssprachlich sein, der sei an die Worte des Augustinus erinnert:

„Allerdings ist (…) auch der Selbstmörder ein Mörder (…).“

Die Wertung, die mit diesem Wort einhergeht, ist für Täter-Opfer und die Hinterbliebenen gleichermaßen unerträglich. In diesem Zusammenhang wird die (zerstörerische) Macht der Sprache zu sehr unterschätzt.

EXIT - Ende gut, Alles gut

Подняться наверх