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Vergangene Zahlen Das antike Ägypten

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Wenn die Zahlen der Statistik zu der Frage nach dem Warum schweigen, was verraten die Zahlen der Zeitgeschichte?

Das Thema Selbsttötung durchzieht die Menschheitsgeschichte wie ein roter Faden. Ein Kardiogramm mit Ausschlägen nach oben und unten, je nach Zeit- und Kulturepoche.

Philosophen und Theologen, Juristen und Mediziner, Psychologen, Soziologen und Ethnologen haben aus ihrer Zeit und ihrer Perspektive die Selbsttötung diskutiert und beurteilt.

Sie haben die Selbsttötung bewertet, haben zu ihr aufgerufen, haben sie verteufelt, haben sie gepriesen, versucht zu verhindern, versucht zu erklären, zu richten.

Schriftsteller und Künstler haben sie immer wieder zum Thema gemacht: besungen, modelliert, gemalt, geschrieben, gedichtet.

Lang wie die Liste dieser Kommentatoren ist die der prominenten, bekannten, berühmten Täter-Opfer:3 von Kleopatra bis Hannelore Kohl, von Hannibal bis Hemingway.

Unabhängig von einer Bewertung ist die Selbsttötung offensichtlich und unbestreitbar Teil der menschlichen Natur und Kultur. Über alle Grenzen und alle Zeiten hinweg.

Der älteste überlieferte Text über die Selbsttötung stammt aus dem antiken Ägypten. Niedergeschrieben ist er auf einem Papyrus aus der Zeit um 1900 v.Chr. Der deutsche Ägyptologe Karl Richard Lepsius erwarb den Papyrus 1843 in Ägypten und veröffentlichte den Text 1859. Es ist das „Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele“. Die Seele wurde im alten Ägypten als der „Ba“ bezeichnet.

Der Mann, der des Lebens müde und verzweifelt ist, versucht seinen Ba, seine Seele, von seinem Vorhaben der Selbsttötung zu überzeugen. In mehreren Reden und Liedern beschreibt er seine Abscheu, seinen Ekel vor dem Leben, seine Sehnsucht nach dem Tod. Eines der Lieder lautet:

„Der Tod steht heute vor mir,

(wie) wenn ein Kranker gesund wird,

wie das Hinaustreten ins Freie nach dem Eingesperrtsein.

Der Tod steht heute vor mir

wie der Duft von Myrrhen,

wie das Sitzen unter einem Segel an einem windigen Tag.

Der Tod steht heute vor mir

wie der Duft von Lotusblumen,

wie das Sitzen am Ufer der Trunkenheit.

Der Tod steht heute vor mir

wie das Abziehen des Regens (oder: wie ein betretener Weg),

wie wenn ein Mann von einem Feldzug heimkehrt.

Der Tod steht heute vor mir,

wie wenn sich der Himmel enthüllt,

wie wenn ein Mensch die Lösung eines Rätsels findet.

Der Tod steht heute vor mir,

wie ein Mann sich danach sehnt, sein Heim wiederzusehen,

nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verbracht hat.“4

In mehreren Reden antwortet der Ba auf das Jammern und Wehklagen des Mannes und fordert ihn auf, das Leben wieder anzunehmen und zu genießen:

„Lasse das Wehklagen auf sich beruhen, dieser du, der zu mir gehört, mein Bruder. Lege auf das Feuerbecken und schließe Dich dem Lebenskampf – wie Du geschildert hast – an. Sei mir hier zugetan und stelle für dich den Westen5 zurück. Wünsche erst dann in den Westen zu gelangen, wenn sich Deine Glieder dem Boden zuneigen. Nach Deinem Ermatten werde ich mich niederlassen und wir werden eine Wohnstatt zusammen machen.“ 6

Selbst wenn dieser Text eine Dichtung war, zeigt er, dass auch im alten Ägypten die Selbsttötung ein Thema war, das weit über das Individuelle hinausging.

Eine moralische oder andere Art der Wertung der Selbsttötung lässt sich aus dem Text um 1.900 v.Chr. jedoch nicht herauslesen.

Fast 2.000 Jahre später, im Jahr 30 v.Chr., stirbt die letzte Pharaonin Ägyptens. Sie war eine der mächtigsten und schönsten Frauen der Weltgeschichte. Sie wurde als Göttin verehrt, als Hure beschimpft. Sie war Mutter von vier Kindern und Femme fatale. Geliebt und gehasst von den mächtigsten Männern ihrer Zeit. Gaius Julius Caesar und Marcus Antonius hatte sie verführt und für sich gewonnen. Octavian, der spätere Kaiser August, verfolgte sie als Feindin Roms und Rivalin seiner Macht. In Alexandria setzte er sie als Gefangene fest. Am Ende sah sie keinen anderen Ausweg, als sich selbst umzubringen. Sie lässt sich von einer Giftschlange beißen: Der Mythos „Kleopatra“ war geboren.

Neben ihrem Leben, das von den einen verteufelt, von den anderen verherrlicht wird, ist ihr Tod bis heute ungeklärt.

„Nach Plutarch und Cassius Dio soll die ägyptische Königin dem römischen Machthaber erfolgreich ihren angeblichen Lebenswillen vorgetäuscht und so eine weniger strenge Bewachung erreicht haben, die ihr die Ausführung ihres Selbstmordes ermöglichte. Sie nahm ein Bad und aß danach ein köstliches Mahl. Inzwischen brachte ein Bauer einen Korb, zeigte den Wachen, dass sein Inhalt nur aus Feigen bestand, und durfte ihn hineintragen. Nach dem Essen schickte Kleopatra einen dringenden Brief zu Octavian, schloss sich mit ihren vertrauten Zofen Iras und Charmion ein und beging mit ihnen Selbstmord. Als Octavian in ihrem Brief den Wunsch las, sie neben Antonius zu bestatten, wusste er Bescheid und schickte schnell Boten, die aber Kleopatra schon tot in königlichem Gewand auf einem goldenen Bett liegend fanden, während ihre beiden Zofen im Sterben lagen. Auch Psylli genannte Schlangenbeschwörer, die ihr das Gift aussaugen sollten, konnten sie nicht mehr erwecken.“ 7

Nicht nur die Autoren der Antike (Plutarch, Cassius Dio), auch die Historiker von heute verweisen zumindest die Selbsttötung der letzten Königin vom Nil durch einen Schlangenbiss ins Reich der Legenden. Warum Kleopatra ihr Leben bis zum letzten Atemzug in dieser Art inszenierte, lässt sich aus der Perspektive der damaligen Zeit so erklären:

„Augustus zeigte bei seinem Triumphzug in Rom im Jahr 29 v.Chr. ein Bild Kleopatras, das sie mit zwei Schlangen darstellte. Damit erkannte er die in der Antike vorherrschende Version – Tod durch den Biss einer Schlange („aspis“) – offiziell an. Der Terminus „aspis“ bezieht sich auf die ägyptische Uräusschlange. Sie hatte symbolischen Charakter als Zeichen pharaonischer Herrschaft: Sie bedrohte die Feinde des Königs und stellte den Herrscher gleichzeitig unter den Schutz des Sonnengottes Re, dem sie ein heiliges Tier war. Dementsprechend trug die ägyptische Königskrone das Bild eines Doppeluräus. Der Biss einer solchen Schlange hätte nach ägyptischer Vorstellung nicht dem Erlangen von Unsterblichkeit gedient – denn die Ptolemäer8 galten schon zu Lebzeiten als Götter –, sondern er wäre für Kleopatra ein würdiger Tod gewesen.“9

Wie unwahrscheinlich diese Art der Selbsttötung ist, machen folgende Argumente schnell deutlich:

„Gegen einen Schlangenbiss spricht allerdings, dass man kein solches Reptil in Kleopatras Gemach fand, dass es schwierig ist, drei Menschen (Kleopatra und ihre beiden Zofen) durch eine Schlange beißen zu lassen, sowie dass ein Kobrabiss durchaus nicht schmerzlos ist und erst nach Stunden oder Tagen zum Tod führen kann. Am wahrscheinlichsten erscheint, dass Kleopatra Gift einnahm oder es sich injizierte, dass aber ihre engsten Vertrauten, darunter wohl ihr Arzt Olympos, auf ihren Wunsch die Schlangenbissversion verbreiteten, weil diese von religiösen Ägyptern als würdevollster und Legenden Vorschub leistender Tod ihrer Königin gesehen würde.“ 10

Welche Motive haben Kleopatra bei ihrer letzten Tat geleitet?

Ihr Geliebter Marcus Antonius hatte sich wenige Tage zuvor mit dem eigenen Schwert umgebracht. War ihr Herz gebrochen?

Wollte sie der Schande entgehen, als Gefangene im Triumphzug durch Rom geführt zu werden?

Hatte sie den Kampf um die Macht verloren?

Eine Niederlage im Kampf um die Macht sollte in den kommenden 2.000 Jahren für viele Krieger, Herrscher und Despoten immer wieder Grund genug sein, sich selbst umzubringen.

Das Leben und der Tod der letzten Pharaonin Ägyptens fasziniert bis heute Historiker genauso wie Schriftsteller, Maler, Musiker und Regisseure. Kleopatra hat es geschafft, nicht nur für ihre Zeitgenossen, sondern bis in die Gegenwart hinein als Mythos weiterzuexistieren. Durch ihren selbstbestimmten Tod wurde sie am Ende unsterblich.

Das Thema der „Unsterblichkeit“, die verschiedenen Bedeutungsinhalte und sehr unterschiedlichen, konträren Verständnisarten werden an anderer Stelle dieses Buches ausgeführt werden.

Der römische Geschichtsschreiber Cassius Dio schließt seine Geschichte über Kleopatra mit den Worten: „Sie gewann die beiden größten Römer ihrer Zeit für sich und wegen des dritten nahm sie sich das Leben.“ 11

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