Читать книгу Stalin - Klaus Kellmann - Страница 6

Оглавление

[Menü]

Der Priesterzögling

Nicht nur der Vater, auch die Mutter schlug ihn. Körperliche Misshandlungen, Jähzorn und Gewalt müssen zu den ersten Wahrnehmungen im Leben jenes Menschen gehört haben, der sich später Stalin nannte. Um der Leibeigenschaft ihrer Vorfahren zu entfliehen und ihr Glück zu finden, waren seine Eltern, der Flickschuster Wissarion Dschugaschwili und die Wäscherin Jekaterina Geladse, vom Land in die Kleinstadt Gori, fünfzig Kilometer nordwestlich der georgischen Hauptstadt Tiflis, gezogen. Erst in Gori lernten sich die beiden kennen. Als Jekaterina Wissarion heiratete, war sie gerade 15 Jahre alt, ein ehrgeiziges Mädchen, das sogar lesen und schreiben konnte. Da die ersten beiden Söhne aus der Verbindung schon im Säuglingsalter starben, betrachtete Jekaterina den am 21. Dezember 1879 geborenen Josef Wissarionowitsch als Geschenk Gottes. Er blieb ein Einzelkind in einer Zeit und Gegend, in der fünf bis zehn Kinder pro Familie keine Seltenheit waren.1

Wissarion Dschugaschwili verstand sein Handwerk, er machte sich selbstständig und strebte nach oben. Als ab 1884 jedoch die Kundschaft ausblieb, fing er an zu trinken, die Familie zog in zehn Jahren neunmal um und 1890 zerbrach die Ehe. In diesem Jahr sah der junge, ständig kränkelnde Josef seinen Vater zum letzten Mal. Wissarion ging in die Schuhfabrik nach Tiflis, kehrte aber mehrfach nach Gori zurück, um bei seiner Frau verzweifelt und vergeblich um Wiederaufnahme zu bitten. Er verlor schließlich seine Arbeit, wurde zum Landstreicher, landete im Obdachlosenasyl und starb 1909 an Leberzirrhose.2

Für Jekaterina gab es nach der Trennung von ihrem Mann nur noch den kleinen Sosso, was auf Deutsch etwa so viel heißt wie „Seppl“. Eine Kinderkrankheit nach der anderen befiel den kleinen Josef alias Sosso: Masern, Scharlach und vor allem Pocken, die in seinem Gesicht lebenslang Narben hinterließen und ihm den ersten Spottnamen, „der Pockennarbige“, eintrugen. Mehrfach verunglückte er auf der Straße, er wurde von Karren überfahren, brach sich die Beine und holte sich eine Blutvergiftung durch offene Wunden, die den linken Arm derartig lähmte, dass der spätere Oberbefehlshaber der Roten Armee auf Dauer wehrdienstuntauglich blieb.

Mit acht Jahren war Sosso ein Straßenjunge, der immer noch nicht zur Schule ging. Erst als Jekaterina einen Priester dafür gewinnen konnte, ihm die russische Sprache beizubringen, waren die Voraussetzungen für seinen Eintritt in die „Pfarrschule“ von Gori geschaffen. Da war er zehn Jahre alt. Hier sah sich der schäbig gekleidete Junge nicht nur den Hänseleien der wohlhabenden Weinhändler- und Bauernsöhne ausgesetzt, sondern hier wurde er auch mit dem ersten großen, sein gesamtes Leben prägenden nationalen Gegensatz konfrontiert: dem sich (damals wie heute) bis zum offenen Hass steigernden Antagonismus zwischen Georgiern und Russen.

Georgien, bereits von Katharina der Großen unter ihren „Schutz“ gestellt, mithin unterworfen, war 1801 als regelrechte Provinz ins russische Reich eingegliedert worden. Serien von Aufständen über das gesamte Jahrhundert hinweg bildeten die Antwort der Kaukasier auf die rigorose Russifizierungspolitik in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Als Josef Dschugaschwili die Schule besuchte, war es noch keine 15 Jahre her, dass russische Lehrer in Georgien und im angrenzenden Tschetschenien regelrecht überfallen und durchgeprügelt, ja ganze Schulen in Brand gesetzt worden waren. Josef sprach zu Hause mit seiner Mutter georgisch, genauer: ossetisch. Auf dem Schulhof in Gori unterhielten sich seine Klassenkameraden in anderen kaukasischen Dialekten, auf Armenisch und hier und da auch auf Türkisch, denn die Nordgrenze des Osmanischen Reiches war nicht weit entfernt. Im Unterricht aber wurde nur eine Sprache gesprochen: das Russische.

Dschugaschwili war vom ersten Jahrgang an in jedem Fach Klassenbester, sang im Chor und las die Liturgie, dass seiner frommen Mutter, der Babuschka Keke, die Augen übergingen. Als sie so verarmte, dass sie das Schulgeld nicht mehr zahlen konnte, erhielt ihr Sohn wegen vorbildlicher Leistungen ein Stipendium. Der Russischlehrer und meistgehasste Mann der Anstalt hatte sich für ihn eingesetzt. Dass er 1894 in das theologische Seminar von Tiflis, der einzigen Hochschule weit und breit, überwechselte, war nur die Konsequenz aus dem Wandel vom Straßenjungen zum Bücherwurm. Im Seminar in Tiflis ging es zunächst wie gewohnt weiter. Gleich ob Russisch, Griechisch, Kirchenslawisch, Bibelkunde, Katechismus, Chorgesang, Kalligraphie, Geographie, Mathematik oder Betragen, überall lauteten die Noten „sehr gut“ oder „ausgezeichnet“. Und so waren es auch weniger die Fächer und deren Anforderungen, die den eifrigen Studiosus auf den Weg der Relegation brachten, sondern vielmehr das Leben im Seminar.

Die Tifliser Hochschule, die den Ruf genoss, eine der besten Bildungseinrichtungen in Georgien und dem gesamten Kaukasus zu sein, hatte mit einer weltlichen Universität damaligen oder heutigen Zuschnitts wenig gemein. Rituelle Gebete und nicht freie Lektüre beherrschten den Lehrbetrieb, die Anwesenheit im Gebäude war bis auf einen zweistündigen Ausgang Tag und Nacht vorgeschrieben, die Buchausleihe aus öffentlichen Bibliotheken verboten und jeweils zwanzig bis dreißig Seminaristen schliefen zusammengepfercht in einem Raum. Die Zöglinge standen unter der ständigen Kontrolle orthodox-obskurantischer Mönche, die vom Statthalter des Zaren im Kaukasus persönlich ernannt und Instrumente seiner Russifizierungspolitik waren. Dschugaschwili muss das Ganze als eine Mischung aus Kloster und Kaserne, wenn nicht sogar als eine Art Gefängnis empfunden haben. Immer wieder kam es zu Unmutsbekundungen gegenüber dem russisch geprägten Lehrkörper, die sich bis zur offenen Rebellion steigerten. 1886 war der Rektor des Seminars ermordet und der Täter öffentlich hingerichtet worden.

Es dauerte zwei Jahre, bis sich das Klima des unversöhnlichen Nationalitätengegensatzes und der generellen Auflehnung auch auf den Jungen aus Gori übertrug. 1896 entdeckte man bei einer der zahllosen Durchsuchungen, denen die Zöglinge ausgesetzt waren, ein Exemplar von Victor Hugos Abenteuerroman Die Sklaven der Seefahrt bei ihm, das er sich vermutlich auf einem heimlichen Stadtgang in der Leihbücherei besorgt hatte. Als der Rektor ihn daraufhin zur Strafe in die Zelle sperren ließ, begann der Wandel vom Primus zum Opponenten. Mehr als ein Dutzend Mal wurde er nun bei verbotener Lektüre erwischt, und schon vier Monate nach dem ersten Arrest erhält er die letzte Abmahnung vor seinem Hinauswurf. Die heimlichen Ausflüge in die Stadt, die er jetzt regelmäßig unternahm, formten von nun an die Überzeugung, dass die Probleme des Diesseits nicht von einem fernen Gott, sondern nur durch den Menschen selbst zu bewältigen seien.

Obwohl ihm die sozialen Missstände in Tiflis nicht verborgen blieben, war die nationale Konfrontation einstweilen noch vorrangig, ja sie führte zu geradezu naiv-schwärmerischer Heimattümelei. Er schrieb romantisch verklärte Gedichte, die er zunächst mit „Soselo“, dann aber mit „Koba“, seinem ersten Pseudonym, unterzeichnete. Dieses Wort, ursprünglich aus einem türkischen Dialekt stammend, ist einem alten georgischen Heldenroman entlehnt und heißt so viel wie „der Unbeugsame“. Das Elend der Arbeiter, das Koba bei jeder seiner verbotenen Exkursionen aus der verhassten Klosterkaserne mehr und mehr vor Augen hatte, ließ aus der emotionalen Träumerei jedoch schnell konkrete politische Agitation werden. Koba suchte und fand Kontakt zu Kreisen, in denen relegierte Studenten aus dem Seminar keine geringe Rolle spielen. Im August 1898 trat er in eine Gruppe ein, die sich zur Unterscheidung von zwei wesensverwandten sozialistischen Vorgängern „Dritter Stand“ nannte, und kurz darauf schloss er sich der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands an, der ersten reichsweiten Partei des Landes, die im März des Jahres 1898 in Minsk gegründet worden war.

Als frisch gebackener Parteiagitator erhielt er nun Schulungsaufgaben, die er in den überfüllten Wohnungen der Maurer, Eisenbahner, Tabakpflücker und Schuster von Tiflis – oft im dicksten Machorka-Qualm – konspirativ und gewissenhaft ausführte. Die meisten der bei diesen Treffen versammelten waren doppelt und dreimal so alt wie er und zudem Analphabeten, doch der 19-Jährige machte hier erstmals die Erfahrung, was es bedeutete, im Mittelpunkt zu stehen, mehr zu wissen als die anderen und das Wort zu führen. Nach diesen Sitzungen schlich er jedes Mal heimlich in das Seminar zurück, spielte dort den braven Studenten, betete und sang mit den Mönchen fromme Lieder. Das Leben in völlig unterschiedlichen Identitäten und Welten, es war ihm von Anfang an vertraut.

Schließlich aber flog die Doppelexistenz auf. In einem Rektoratsvermerk aus dieser Zeit heißt es: „Dschugaschwili ist im Allgemeinen respektlos und aufsässig gegen seine Vorgesetzten.“3 Und als er wieder einmal zu einer Prüfung nicht erschien, wurde er am 19. Mai 1899 wegen „politischer Verdächtigkeit“4 aus der Anstalt ausgestoßen.

Stalin

Подняться наверх