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Der Sozialdemokrat

Zur Mutter führte nach dem Ausschluss aus dem Seminar kein Weg mehr zurück, der Mann war fast zwanzig. So streunte er durch die Stadt, erteilte von Zeit zu Zeit den Kindern betuchter Eltern Nachhilfestunden und suchte nach Verdienstmöglichkeiten. Geregelte körperliche Arbeit, selbst wenn sie sich ihm bot, mied er, wenn es ging. Die Anstellung als kleiner Schreiber im Observatorium von Tiflis, die Koba schließlich fand, musste ihm deshalb sicherlich wie ein erster Schritt in die Freiheit vorgekommen sein. Er verdiente ein wenig Geld, hatte ein eigenes, dazu noch beheizbares Zimmer und konnte in Ruhe seinen Studien nachgehen, da die eigentliche Arbeit nur den geringsten Teil des Tages in Anspruch nahm.

Der Klosterzucht entronnen und nun endlich Herr seiner Schritte, intensivierte er den Kontakt zu seinen Gesinnungsgenossen so, dass er bereits um die Jahrhundertwende zu den führenden Agitatoren des „Dritten Standes“ und der Arbeiterpartei in Tiflis zählte. An den Schulungsabenden wurde begierig jede Zeile neu erschienener Literatur verschlungen, besonders wenn sie aus dem Ausland in das ‚verhasste Zarenreich‘ hineingeschmuggelt worden war. Die Druckerpressen für die Organe der russischen Untergrundbewegung standen in München, Genf und London, dem Zugriff der zaristischen Geheimpolizei Ochrana entzogen. Ende 1900 kam in Stuttgart das erste Heft einer neuen Zeitschrift heraus, deren Name das Fanal für das neue, andere Russland sein sollte. Sie nannte sich Iskra, was so viel heißt wie „Der Funke“, der das Feuer der Revolution entfachen sollte. Auf verschlungenen Pfaden gelangten einige Exemplare davon auch ins ferne Tiflis, und Dschugaschwili gehörte schon bald zu den erklärten „Iskra-Männern“, wie sie sich selbst nannten.

Koba kannte die Arbeiter gut genug, um zu erkennen, dass die Texte der ‚Kathedergelehrten‘ weit über den Horizont dieser einfachen Leute gingen, die sich da täglich abends bei ihm versammelten. Auch waren die dort artikulierten Ideen eines übernationalen Sozialismus deren eigentlichem, auf einen demokratischen georgischen Patriotismus ausgerichtetem Denken und Tun eher untergeordnet, ein Widerstreit, der sich gleichzeitig auch in Stalins alias Kobas Kopf abspielte. Deshalb wurde ihm schnell klar, dass etwas Eigenes, Lokales und Anschauliches hermusste. Das Ergebnis war eine illegal erscheinende Zeitschrift, deren Titel kaum weniger programmatisch klang als der des Iskra-Blattes. Das neue Organ trug den Namen Der Kampf. In seiner zweiten Ausgabe vom Dezember 1901 erschien ohne Autorenangabe ein Artikel unter der Überschrift Die Sozialdemokratische Partei Russlands und ihre nächsten Aufgaben. Er ist die journalistische Feuertaufe des werdenden Berufsrevolutionärs. Koba schreibt:

„Unter dem Joch des zaristischen Regimes stöhnt nicht nur die Arbeiterklasse. Die schwere Tatze der Selbstherrschaft würgt auch die unteren Klassen der Gesellschaft. Es stöhnen die durch ständigen Hunger physisch entstellten russischen Bauern. Es stöhnt der kleine Mann in der Stadt, es stöhnen die kleinen Angestellten der Staatsämter und Privatunternehmen, die kleine Beamtenschaft, überhaupt all jene zahlreichen kleinen Städter, deren Existenz ebenso wenig wie die der Arbeiterklasse gesichert ist und die Grund haben, mit ihrer gesellschaftlichen Stellung unzufrieden zu sein. Es stöhnt ein Teil der kleinen und sogar der mittleren Bourgeoisie, der sich mit der Knute und der Peitsche des Zaren nicht abfinden kann, besonders der gebildete Teil der Bourgeoisie (…). Es stöhnen die unterdrückten Nationen und Glaubensbekenntnisse in Russland, darunter die in ihren heiligen Gefühlen verletzten Polen, die von ihrem Heimatboden vertrieben werden, die Finnen, deren historisch erworbene Rechte und deren Freiheit die Selbstherrschaft frech zertreten hat. Es stöhnen die ständig verfolgten und geschmähten Juden, die sogar jener kläglichen Rechte beraubt sind, wie sie die übrigen russischen Untertanen genießen – des Rechtes, überall zu wohnen, in den Schulen zu lernen, des Rechtes, als Beamte zu dienen usw. Es stöhnen die Georgier, die Armenier und die anderen Nationen, die des Rechtes beraubt sind, ihre eigenen Schulen zu haben, in den Staatsämtern zu arbeiten, die gezwungen sind, sich jener schändlichen und knechtenden Politik der Russifizierung zu fügen, die die Selbstherrschaft mit solchem Eifer betreibt (…). [Ziel unseres Kampfes muss] eine großzügige demokratische Verfassung sein, die sowohl dem Arbeiter und dem niedergedrückten Bauern als auch dem Kapitalisten gleiche Rechte gewähren wird.“1

Der Text war ein flammender Appell für nationale, soziale und religiöse Grund- und Selbstbestimmungsrechte, so wie sie in dem soeben begonnenen Jahrhundert in den Verfassungen aller parlamentarischen Demokratien der westlichen Welt verankert werden sollten.

Umso erstaunlicher war die jähe Wendung, die sich in der weiteren Entwicklung des gerade einmal Zwanzigjährigen von nun an vollzog und die den Großteil des hier präsentierten Rechte- und Forderungskatalogs als bloße, pathetisch aufgeladene Taktik entlarvte. Schon in der Gruppe „Dritter Stand“ hatte Koba sich durch zusehends extremere Positionen immer mehr isoliert. Von der Tifliser Arbeiterpartei wurde er mit der Organisation der Maifeier des Jahres 1900 betraut, auf der er zum ersten Mal in seinem Leben vor vierhundert Menschen sprach. Aber da die Veranstaltung, um der Polizeipräsenz zu entgehen, an einem verschlafenen See vor den Toren der Stadt stattfand, blieb ihre Massenwirksamkeit begrenzt. Das sollte sich im folgenden Jahr ändern. Die örtliche Parteileitung fühlte sich stark genug, um die offene Auseinandersetzung zu suchen. In der Zeitung Der Kampf empfahl Koba Großdemonstrationen in Tiflis, um Neugierige anzulocken, die durch die zu erwartenden Peitschenhiebe der zarentreuen Kosaken auf die eigene Seite gebracht werden sollten.

Die Maifeier des Jahres 1901 sollte am Alexander-Park, mitten im Zentrum von Tiflis, stattfinden. Diese Pläne blieben der Polizei nicht verborgen und so folgte im März eine Durchsuchung von Kobas Zimmer. Einer geplanten Verhaftung entzog sich Koba durch Abwesenheit vom Arbeitsplatz. Der Weg zurück in den Dienst war damit aber unmöglich geworden.

Die kurze, nur 15 Monate währende Zeit legaler, normaler Beschäftigung war vorbei. Was folgte, war bis zum Entscheidungsjahr 1917 ein Leben im Untergrund mit immer neuen Decknamen, Schlafplätzen, Verhaftungen, Verbannungen und Fluchten, ohne eine Kopeke regelmäßigen und regulären Einkommens, immer angewiesen auf Betteleien und die Gaben von Gönnern und Genossen. Diese Jahre radikalisierten und prägten ihn.

Am Maitag 1901 versammelte sich die stattliche Anzahl von 2000 Arbeitern. Polizei und Kosaken waren ebenfalls zur Stelle. Fünfzig Personen wurden verhaftet. Dschugaschwili war nicht unter ihnen, was auf sein Geschick oder seine Fähigkeit schließen lässt, sich aus der Schusslinie zu nehmen. Unmut in den eigenen Reihen äußerte sich gegen ihn. Ihm wurde vorgeworfen, sich mehr den Führungsintrigen in den eigenen Reihen als dem Kampf gegen die zaristische Obrigkeit zu widmen. Als Ergebnis dieser Auseinandersetzungen schloss ihn Ende des Jahres ein provisorisches Parteigericht aus der lokalen Tifliser Organisation aus. Der Wanderer in Sachen Revolution packte seine Sachen und ging ins nahe Batum, das weit kleiner war, aber weit mehr soziale Brennpunkte aufwies als die georgische Metropole. Die riesigen, ergiebigen Ölfelder der 25.000-Einwohner-Stadt am Schwarzen Meer waren im Besitz eines Mannes, der mit seinem unermesslichen Reichtum bis heute als die Verkörperung des westlichen Kapitalismus gilt: Sie gehörten dem amerikanischen Baron Rothschild.

Der Neuankömmling stürzte sich in die Arbeit und führte nunmehr auch parteioffiziell den Namen „Koba“, jenes Alter Ego, das ihm schon zur träumerischen Doppelexistenz seiner Kindheit verholfen hatte. Das Pseudonym wurde nun für ihn vom zweiten zum eigentlichen Ich. Das ging so weit, dass er sich bis an sein Lebensende von den engsten Getreuen nur mit diesem Namen anreden ließ.

Die Raffineriearbeiter boten für ihn ein hervorragendes Agitationsfeld. Schon bald hieß es in einem vertraulichen Vermerk der örtlichen Polizeistation: „Infolge der Tätigkeit des Dschugaschwili bildeten sich in allen Fabriken Batums sozialdemokratische Organisationen.“2 Wieder stellte er eine Massendemonstration auf die Beine und wieder blieb seine Rolle im aktiven Kampf unklar. Am 9. März 1902 stürmten zweitausend Mann die Gefängnisbaracken der Stadt. Das kaukasische Schützenbataillon schoss in die Menge. 15 Menschen starben. Es ist nicht sicher, ob Koba bei der Erstürmung gewesen war, was abermals den Unmut in den eigenen Reihen weckte. Auch wenn unter den Genossen seine Rolle umstritten schien, galt er der Polizei als Rädelsführer. Am 5. April nahm man ihn fest und verurteilte ihn zu 18-monatiger Haft mit anschließender Verbannung nach Sibirien. Im November 1903 traf Koba in dem abgelegenen kleinen Ort Nowaja Uda in der Nähe von Irkutsk ein, aber schon am 5. Januar flüchtete er zu Fuß bei minus vierzig Grad durch das halbe Zarenreich. Im Februar war er wieder zurück in Tiflis.

Mit nunmehr Anfang zwanzig stand Stalin wieder einmal an einem Wendepunkt. Sein äußeres Erscheinungsbild war aufgrund der durchlittenen Krankheiten und seiner Körpergröße von 1,65 Meter nicht von natürlicher Autorität geprägt. Um seine Größe zu kaschieren, ließ er sich später von den eigenen Geheimdienstleuten Schuhe mit Plateausohlen besorgen und bei Militärparaden musste immer ein kleiner Holzhocker bereitgestellt werden. Die wuchtige, pechschwarze Mähne, der dicht gewachsene Schnauzer, die ebenso hellwachen wie hinterlistigen Augen konnten die ‚Mängel‘ in seiner äußeren Erscheinung freilich kaum korrigieren.

Entscheidender in dieser Phase aber waren die innere Unentschiedenheit und die geistige Leere. Wohin gehörte er eigentlich, ja, wer und was war er überhaupt? Familiäre Bindungen hatte er nicht – eine intakte Familie hatte er nie kennen gelernt. Die Frage der nationalen Zugehörigkeit gestaltete sich schwierig. Seine Muttersprache, das Georgische, das er akzentfrei sprach, hatte er schon vom neunten Lebensjahr an dem Russischen, das er nie so ganz richtig beherrscht haben soll, unterordnen müssen, wobei es aber um weit mehr ging als nur um linguistische Feinheiten. Der ganze Stolz der Georgier war es seit Jahrhunderten gewesen, dass sie keinerlei ethnische Verwandtschaft mit den Russen besaßen, sondern sich vielmehr wie eine vorgeschobene Insel Europas zwischen der slawischen und der osmanischen Welt verstanden. Welches war also seine nationale Identität?

Am schmerzlichsten indes musste ihn der dritte Mangel getroffen haben, nämlich ein Mensch ohne Stand und Klasse zu sein. Arbeiter so wie jene, für die er sich einsetzte und kämpfte, wollte er nicht sein; das Intermezzo als Angestellter hatte mit dem Rauswurf geendet, und Akademiker, so wie die Bürgersöhne, mit denen er später das neue, andere Russland gestalten würde, war er nicht geworden. Die Suche nach sich selbst, in einem Zustand sprachlicher, nationaler und sozialer Heimatlosigkeit, fand ihr Ziel in der Partei und der zu erkämpfenden Revolution.

Stalin

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