Читать книгу Das Leben. Mit dem hast du nicht gerechnet. - Lea Grossmann - Страница 5

Im Wartezimmer

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Wer kennt es nicht: Da geht man pünktlich zum Arzt und verbringt eine gefühlte Ewigkeit im Wartezimmer. Alicia ist genervt. Sie mag es nicht, zu warten. Die abgegriffenen Zeitschriften und Klatschblätter liest sie nicht gern. Sie ist nicht allein im Wartezimmer. Ein Mann ist demselben Schicksal ausgesetzt wie sie. Sie betrachtet ihn und beginnt, ihn zu analysieren und eine Geschichte um ihn herum zu spinnen.

Was dieser Mann wohl hat? Er scheint etwa fünfzig Jahre alt zu sein. Für sein Alter sieht er nicht schlecht aus. Ein paar graue Haare sind erkennbar und ein paar Lachfalten um seine Augen herum. Krank sieht er jedenfalls nicht aus. Wahrscheinlich ist er wegen seiner Erektionsstörungen hier. Er wollte ja ursprünglich nicht zum Arzt deswegen. Es ist ihm peinlich. Dennoch ist er hier. Seiner Ehefrau zuliebe. Sie sind seit zwanzig Jahren verheiratet und haben drei erwachsene Kinder, die bereits ihren eigenen Weg gehen. Bald werden sie zu zweit zu Hause sitzen und hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt sein.

Ein gut funktionierendes Sexualleben sollte Bestandteil dieser bisher harmonischen Ehe sein. Da sind sich seine Ehefrau und er einig. Es ist ja nicht so, dass sie noch wie früher jeden zweiten Tag miteinander intim werden. Das gehört der Vergangenheit hat. Qualität vor Quantität. Mittlerweile ist einmal im Monat Usanz. Jedenfalls war das so, bis die Erektionsstörungen vor gut einem Jahr bei ihm einsetzten.

Seine Ehefrau war sehr gekränkt über seine fehlende Standhaftigkeit und machte sich selbst für diesen Umstand verantwortlich. Er konnte noch so beteuern, dass er sie nach wie vor begehrte, was auch stimmt. Sie sah das natürlich anders und zog sich physisch und psychisch von ihm zurück. Mit dieser vertrackten Situation kam und kommt er sehr schlecht zurecht. Er fühlt sich wie ein halber Mann, was seiner Libido sehr zu schaffen macht. Jedes Mal, wenn er zu seiner Frau ins Bett schlüpft, fühlt er sich unter Druck gesetzt. Das laute Schweigen im Ehebett lastet schwer auf ihnen. Wenn er nicht etwas unternimmt, wird er sie verlieren, und das ist das Letzte, was er will. Er liebt sie. Als seine Frau ihn letzte Woche einmal mehr bat, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen, willigte er endlich ein. Das ist er ihr schuldig.

Nun sitzt er hier. Allein. Er ist sich sicher, dass es sich hier nicht um eine psychisch bedingte Erektionsstörung handelt. Er fühlt sich ausgeglichen, und Stress ist für ihn ein Fremdwort. Es muss sich einfach um eine organische Ursache handeln. Das weiss er. Das spürt er. Und dies beschert ihm eine Höllenangst, die ihm fast die Luft zum Atmen raubt. Über seine Ängste, die er schon eine Weile mit sich herumträgt, hat er mit seiner Ehefrau nicht gesprochen. Er weiss, dass sie ebenfalls Angst hat. Er sah es heute Morgen in ihren Augen, als er das Haus verliess. Sie müssen sich an die Hoffnung klammern, dass egal, was kommen wird, es schon gut gehen wird.

«Alicia Graber?»

Und schon sind dreissig Minuten Wartezeit im Nu verflogen. Gern wüsste Alicia, wie die Geschichte ihres Mitwartenden weitergegangen wäre.


Inspiration: Running Up That Hill von Placebo


Das Leben. Mit dem hast du nicht gerechnet.

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