Читать книгу Das Leben. Mit dem hast du nicht gerechnet. - Lea Grossmann - Страница 6

Am Fenster

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Der Regen prasselt ans Fenster und läuft in kleinen Bächen hinunter. Es ist, als hätte sie das Weinen delegiert. Sie ist erfüllt von einem Gemisch aus Leere und einem tief sitzenden Schmerz. Die Kakophonie des Verkehrs der frühen Morgenstunden bleibt draussen. Ein Vorteil von neuen Fenstern.

Eigentlich wäre sie um diese Zeit unterwegs zur Arbeit. Eigentlich. Sie kann sich aus der Starre nicht lösen. Jede Faser ihres Körpers verweigert ihren Dienst. Sie versucht, ihre wirren und zusammenhangslosen Gedanken zu sortieren. Was ihr nicht sehr gut gelingt.

Er ist weg. Einfach gegangen. Sie kann es nicht fassen, will es nicht wahrhaben. Noch vor wenigen Tagen lagen sie eng umschlungen im Bett und genossen die gegenseitigen Berührungen und die Wärme ihrer Körper. Was hätte sie nicht alles gegeben, um die Zeit zurückzudrehen zu diesem Morgen, als er einfach aus ihrem Leben verschwand. Sie stand bereits unter der Dusche, als er sich von ihr verabschiedete.

«Tschüss und bis heute Abend!», hat er gerufen.

Das waren die letzten Worte, die sie von ihm hörte, als er die Badezimmertüre hinter sich zuzog. Dann verschwand er aus dem Haus und aus ihrem Leben. Einem Leben, das sie schon seit fünf Jahren miteinander teilten. Sie waren ein Team. Sie waren Gefährten.

Die Minuten und Stunden verstreichen. Noch immer steht sie wie gelähmt am Fenster und starrt ohne etwas zu sehen hinaus in den Regen. Er hat etwas Beruhigendes und Reinigendes an sich. Sie ist froh, dass die Sonne nicht scheint. Die hätte sie nicht ertragen. Er verliess sie, als sich der Himmel über der Stadt rosa verfärbte und die Sonne den neuen Tag begrüsste. Ein schöner und sonniger Tag. Ein Tag wie so viele.

Sie hatte keine Chance, sich richtig von ihm zu verabschieden. Ihn nochmals zu umarmen, ihn nochmals zu küssen, ihm noch die Flusen von seinem dunklen Anzug zu zupfen. Ihm zu sagen, dass sie ihn liebte. Ihm zu sagen, er solle auf sich aufpassen. Er ging einfach zur Türe hinaus und kehrte nicht mehr zu ihr zurück. Was hat sie in ihrem Leben falsch gemacht, dass sie auf diese schmerzvolle Weise bestraft wird? Sie hat ihn geliebt. Mehr, als ihr manchmal lieb war. Sie wollte den Rest ihres Lebens an der Seite dieses Mannes verbringen. Er war viril und voller Energie. Er stand mitten im Leben, immer auf der Überholspur. Sie fühlte sich wohl an seiner Seite. Sie waren in ihren Augen das perfekte Paar. Streit gab es so gut wie nie. Ihre Beziehung war harmonisch, und der Sex mehr als befriedigend.

Und jetzt ist er weg. Er kehrte am Abend nicht wie versprochen zu ihr nach Hause zurück. Nein. Sie musste ihn im Leichenschauhaus identifizieren, nachdem er zu Fuss auf dem Weg in sein Büro mit einem Auto kollidiert war.


Inspiration: Nur zu Besuch von Die Toten Hosen



Das Leben. Mit dem hast du nicht gerechnet.

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