Читать книгу Iria - Blut wie Regen - Lea Loseries - Страница 10

Nächtlicher Überfall

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Gerade hatte Hedwig sich wieder aufs Bett gesetzt, als die Zimmertür aufsprang.

Herein kam Marie. Grußlos steuerte sie auf ihr Bett zu und warf ihr Griechischbuch

darauf. „Na, wie war´s?“ Hedwig war froh, heute kein Hebräisch gehabt zu haben.

Frau Nalisa war krank, aber das hielt Professor Xynulaikaus natürlich nicht davon ab,

seinen Unterricht durchzuziehen. Als Antwort auf die Frage ihrer Freundin murmelte

Marie etwas. Dann schlug sie Buch und Heft auf und fing an, Hausaufgaben zu

machen. Nicht am Tisch, sondern auf dem Bett. Hedwig runzelte die Stirn. „Alles

okay mit dir?“, fragte sie und sah Marie prüfend an. Die stöhnte nur. „Alles bestens.“,

sagte sie dann. Hedwig schwieg. Da fiel ihr etwas ein. „Hey, ist die neue Schülerin

eigentlich schon da?“, fragte sie neugierig, „Sie wollte doch heute hier ankommen,

oder?“ „Hhm.“, machte Marie zustimmend. Hedwig verdrehte die Augen. So

langsam nervte sie Maries Einsilbigkeit. „Was hhm?“, hakte sie nach, „Gibst du mir

Recht, dass sie heute kommen wollte oder hattest du mit ihr Unterricht?“ „Beides.“,

sagte Marie knapp und starrte dann wieder auf ihr Heft. „Ist sie nett?“, wollte Hedwig

wissen. „Weiß ich nicht.“, antwortete Marie und schwieg. Dann legte sie ihre

Schulsachen beiseite und sah ihrer Freundin zum ersten Mal in die Augen. „Sie heißt

Naomi und sie kann wahnsinnig gut Griechisch.“ Hedwig war beeindruckt. „Wie

jetzt? Du sagst von jemandem, dass er etwas wahnsinnig gut kann? Dann muss

Naomi ja fast so gut sein wie du. Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“ Marie

zuckte nur mit den Schultern. Sie hatte gemischte Gefühle, was diese Neue betraf.

Die Lehrerin schleuderte ihre braune Tasche aufs Pult. Es knallte. „Guten Morgen!“

Die Antwort darauf war schläfriges Gemurmel. Professor Grünschnabel schüttelte

nur den Kopf. Diesen Faulpelzen würde sie das Schlafen im Unterricht noch

austreiben. Kurzerhand kramte sie einen Stapel Arbeitsblätter aus ihrer Tasche

hervor, spaltete ihn in mehrere kleine Teile und fing an, diese im Raum zu verteilen.

„Professor Grünschnabel?“ Es war Hedwigs Stimme. Die Lehrerin drehte sich um.

„Ja?“, fragte sie mit hochgezogener Augenbraue. „Wir haben eine Neue.“ Erst in

diesem Moment fiel Professor Grünschnabels Blick auf das Mädchen, das zwei

Plätze entfernt von Hedwig saß. Ihre kugelrunden, großen blauen Augen verliehen ihr

etwas Niedliches und die kurzen, dunkelblonden Haare standen ihr zu allen Seiten

vom Kopf ab. Professor Grünschnabel reagierte erst nicht. Sie schämte sich,

zuzugeben, das neue Mädchen ganz vergessen zu haben. Sie schaute weg, tat so, als

sei sie voll und ganz mit ihren Arbeitsblättern beschäftigt und wandte sich dann

wieder der Klasse zu. „Wie ihr seht“, sagte sie mit lauter Stimme, um auch den

schlafenden Werner in der letzten Reihe aufschrecken zu lassen, „haben wir jemand

neuen in der Klasse.“ Dann nickte sie dem Mädchen zu. „Möchtest du dich kurz

vorstellen?“, fragte sie. Das Mädchen lächelte ein wenig schüchtern. Dann sagte sie

leise: „Ich heiße Naomi. Ich gehe jetzt hier zur Schule, weil ich zu meinem Vater

gezogen bin, der in der Nähe wohnt.“ Hedwig hatte sich schon vorgebeugt, um das

Mädchen in ein Gespräch zu verwickeln und noch mehr über sie zu erfahren, aber

Professor Grünschnabels schneidende Stimme kam ihr dazwischen. „Herzlich

Willkommen in Firaday, Naomi.“, sagte die Lehrerin und fuhr dann im gleichen

Atemzug fort: „Du bist gerade zur richtigen Zeit gekommen. Jetzt, wo ihr schon in

der sechsten Klasse seid, habe ich mir für das nächste Thema eine etwas andere

Lernmethode ausgedacht...“ „Cool!“, rief Achmed, „Das ist bestimmt irgendwas mit

modernen Medien.“ „Modernen was?“, Mino verzog das Gesicht und guckte

ungläubig. „Medien.“, erklärte ihm Achmed. „Das sind zum Beispiel Computer, die

die Leute auch im Norden benutzen. Die haben dort jetzt endlich gecheckt, dass man

auch die Lehrmethoden an den Schulen an den technologischen Wandel anpassen

muss und...“ „Wir sind hier nicht im Norden, sondern im tiefsten Süden!“, Professor

Grünschnabels Stimme war barsch und sie schien irgendwie beleidigt, „Mit

Ausnahme der solarbetriebenen Taschenlampen wird es hier keine technischen

Neuerungen geben.“ Ein Drittel der Klasse murrte. „Ich habe mir etwas viel Besseres

für euch ausgedacht.“, die Lehrerin grinste spitzbübisch, „Diese Arbeitsblätter hier“,

sie deutete auf die Batzen Papier, die vor dem geistigen Auge der Schüler nur so vor

sich hin welkten, „sind Stationsaufgaben. Es gibt zwanzig Stationen, zu jeder

gehören drei bis vier Arbeitsblätter. Diese enthalten alles, was für die Klassenarbeit in

einem Monat relevant ist.“ Die Klasse schwieg. Professor Grünschnabel schien

äußerst zufrieden. Da meldete sich Marie. „Heißt das jetzt“, fragte sie, dem

Verständnis halber, „dass wir alles bis dahin durcharbeiten und auswendig lernen

sollen?“ „Du hast es erfasst.“, sagte Professor Ferono. Ihr Ton war geradezu stolz,

„Aber auswendig lernen müsst ihr natürlich nur die wichtigen Sachen.“ „Und was

genau ist wichtig?“, Naomis Stimme war immer noch leise, aber schon wesentlich

selbstsicherer als zuvor. Spöttisch schürzte Professor Grünschnabel die Lippen. „Das,

meine Liebe“, sagte sie, „müsst ihr selbst entscheiden. So etwas nennt man selektive

Kompetenz. Und falls du am Ende Hilfe brauchst, kannst du Marie fragen, die wird

das sowieso alles richtig machen.“ Aus ihrer Stimme sprach ehrliche Anerkennung.

Marie atmete erleichtert auf. Aber nur solange, bis Naomi ihr aus

zusammengekniffenen Augen einen Blick zuwarf. Irgendetwas stimmte nicht mit

diesem Mädchen. Den Rest der Stunde verbrachten die Schüler damit, Informationen

über eine Pflanze namens Irsis tidikus zusammenzutragen. Als ihnen das zu

langweilig wurde, fing Hedwig an, leise mit Leo und Jonas zu tuscheln. Zuvor hatte

sie sich zu ihnen an den Tisch gesetzt. Immerhin das war bei dieser Unterrichtsart

nicht verboten. „Hey, ich muss euch was erzählen.“, flüsterte sie, während sie eifrig

Sternchen auf ihr Arbeitsblatt malte, damit es wenigsten so aussah, als würde sie

arbeiten. Jonas rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Ist mit der TBA

irgendetwas schiefgelaufen?“ „TBA?“, fragte Leo verwirrt und blickte Jonas hilflos

an, „Was ist das denn?“ „Die Terminkalender-Beseitigungs-Aktion natürlich!“,

zischte Hedwig. Dann versuchte sie, auf das eigentliche Thema zu sprechen zu

kommen: „Nein, damit alles in Ordnung. Ich habe nur äußerst wenig Lust darauf,

meine nächsten Nächte damit zu verbringen, die Teile einzufangen.“ „Wo ist

eigentlich Gundula?“ Hedwig verdrehte die Augen. Leo konnte sie nicht einmal einen

Gedanken zuende führen lassen. „Die ist unten bei Finja und PiPo.“, erzählte sie,

„Und da werden auch die anderen bald landen.“ Jonas gluckste amüsiert, als sie das

erzählte. „Das ist ja prima!“, schnarrte er, „Auf diese Idee wäre ich gar nicht

gekommen. Als Nächstes nimmst du meinen Sigor mit, ja?“ „Sehr gute Idee.“, gab

ihm Leo recht, „Dann kann ich wenigstens wieder in Ruhe auf Toilette gehen.“

Hedwig warf ihm einen befremdeten Blick zu. Doch das erregte schon zu viel

Aufsehen. Schnurstracks kam Professor Grünschnabel auf die kleine Gruppe zu. Sie

sagte nichts, aber ihre Adleraugen scannten nacheinander jedes ihrer Arbeitsblätter.

Als sie Hedwigs Kunstwerk betrachtete, schüttelte sie nur den Kopf. Dann endlich

verschwand sie wieder. „Was ich euch eigentlich sagen wollte“, nahm Hedwig das

Gespräch wieder auf, „ist, dass ich die Tapete im geheimen Raum lesen kann.“

„Hä?“, Leo musterte sie so, als hätte er Zweifel an ihrer Zurechnungsfähigkeit,

„Wieso, sind da hebräische Schriftzeichen drauf?“ „Nein!“, Hedwig schüttelte

verärgert den Kopf, „Das sind doch diese verworrenen Linien.“ Und als Leo nicht

reagierte, setzte sie nach: „Na, du weißt schon, diese goldenen Streifen, die aussehen

wie ein auseinandergezerrtes Wollknäuel.“ „Und das willst du lesen können?“, fragte

Jonas sie mit offenem Mund. „Ich will nicht, ich kann.“, sagte Hedwig bestimmt.

„Naja, zumindest teilweise.“ „Und, was steht da so?“, fragte Leo, der das Ganze für

einen Scherz hielt. „Opfer.“, antwortete Hedwig. „Hey, nur weil ich dich nicht immer

ernst nehme, musst du mich nicht gleich beleidigen!“, rechtfertigte sich ihr Freund.

Hedwigs schnalzte unzufrieden mit der Zunge. „Das meinte ich nicht, du Pappnase.

Das ist das Wort, das da steht. Opfer.“ Leo verzog amüsiert das Gesicht. „Ist das

Graffiti, oder was? Die Typen, die das benutzen, schmieren doch auch oft

Schimpfwörter an die Wände.“ „Das ist kein Schimpfwort!“, zischte Hedwig ein

bisschen zu laut, sodass Professor Grünschnabel sich zu ihr umdrehte und sie streng

ansah. „Setzt dich bitte wieder zurück auf deinen Platz, Hedwig.“, sagte sie ohne

Umschweife. Hedwig seufzte, packte aber ihre Sachen zusammen und fügte sich.

Nicht aber ohne einen letzten Wortwechsel mit Jonas zu führen. „Das ist ja seltsam.“,

meinte er, „Warum steht auf der Tapete so ein Wort?“ „Keine Ahnung.“, Hedwig

zuckte mit den Schultern, „Wenn ihr wollt, könnt ihr es euch demnächst ja auch mal

angucken.“ Als sie sich mit einem lauten Plumpsen wieder neben Marie niederließ,

schenkte ihre Freundin ihr keine Beachtung. Aber nicht, weil sie zu sehr in ihre

Arbeit vertieft war, sondern vielmehr, weil sie aus den Augenwinkeln Naomi

beobachtete, die wie sie schon bei Station fünf angekommen zu sein schien. Um

ihren Mund herum bildete sich ein merkwürdiger Zug.

Endlich! Hedwig stöhnte leise auf. Dann schwang sie sich vorsichtig aus ihrem Bett

und suchte ihre beiden Hausschuhe zusammen. Es hatte eine halbe Ewigkeit

gedauert, bis Marie eingeschlafen war. Jetzt war es schon zehn. Normalerweise

schliefen sie um neun. Doch heute hatte Hedwig etwas Anderes vor. Auf

Zehenspitzen schlich sie zu dem Schrank, der in der Ecke stand und kramte ihren

Kescher sowie einen großen Müllbeutel daraus hervor. Heute Nacht würde sie sich

endlich um die Terminkalender kümmern. Zum allerersten Mal. Die von Leo und

Jonas hatte sie schon längst beseitigt. Nur bei Sternchen, dem von Marie, zögerte sie

noch. Sie hatte keine Ahnung, wie ihre Freundin auf das Verschwinden des

automatischen Tagesplaners reagieren würde. Sie war momentan sowieso ein wenig

durch den Wind. Den ganzen Tag lang war Marie ziemlich schweigsam gewesen.

Und jedes mal, wenn man sie darauf ansprach, hatte sie nur gereizt reagiert.

Anscheinend brauchte sie keine Hilfe. Oder sie wollte nicht. Hedwig wurde den

Verdacht nicht los, dass das alles etwas mit Naomi zu tun haben könnte. Die

bewohnte seit gestern gemeinsam mit Anna und Fabienne, zwei

Klassenkameradinnen, das Zimmer neben ihnen. Wahrscheinlich sah Marie in ihr so

etwas wie eine Rivalin. Hedwig grinste. Das würde sich auch wieder legen. Sobald

sie ihre Sachen beisammen hatte, öffnete sie vorsichtig die Tür und spähte in den Flur

hinaus. Dort war alles dunkel. Für einen Moment erinnerte Hedwig sich daran, wie es

gewesen war, als Herr Maschael noch hier war. Er war sowohl am Tage, als auch in

der Nacht pausenlos durch die Schule gegeistert, um abtrünnige Schüler aufzugabeln.

Gut, dass das jetzt vorbei war. Woran sie sich lieber nicht erinnern wollte, war, dass

das, was sie hier gerade tat, letztlich dazu diente, diesen Mann wiederzufinden. Aber

nein, sie tat das hier für Jonas. Für niemand anderen. Gedankenverloren zog sie die

Tür zu. Dabei ertönte ein mittellautes Klicken. Hedwig erschrak. Sie musste wirklich

vorsichtig sein. Langsam huschte sie hinunter in die Eingangshalle. Dort konnte sie

bereits die ersten Terminkalender umher flattern sehen. Resigniert stellte sie fest, dass

die kleinen Dinger sich in der Dämmerung noch besser verstecken konnten als

sowieso schon. Hedwig packte den Kescher fester. Dann ging sie entschlossen auf

einen der Terminkalender zu. Aber der flatterte so wild umher, dass sie es nicht

einmal schaffte, ihm mit den Bewegungen ihres Keschers zu folgen. Nach einer

halben Stunde gab sie es auf. Erschöpft, wütend und verschwitzt wie sie war, torkelte

sie den Gang entlang, an dessen Seiten sich die Büroräume der Lehrer befanden. Da

hörte sie ein Rascheln. Das konnte nur ein Terminkalender sein! Dich kriege ich!,

dachte sie und machte eine ruckartige Bewegung in Richtung des Geräuschs. Und

tatsächlich: als sie den Kescher wieder in das schummrige Licht der Fackeln hob,

erkannte sie, dass sich darin ein blaues Heftchen verfangen hatte! Schnell packte sie

es und beförderte es mit einem geschickten Handgriff in den Müllbeutel. Dann ging

sie weiter. Bis sie merkwürdige Geräusche aus einem der Büros vernahm. Sie schrak

zusammen. Was war das? Ein Einbrecher? Ein lauter Rums erklang, so als wäre

irgendetwas umgestoßen worden. Dann schepperte es. Dazu hörte man ein Stöhnen.

Hedwig blieb das Herz stehen, als sie das Namensschild las, das außen an der Tür

angebracht war. Professor Suro Xynulaikaus. Konnte es sein, dass der Einbrecher den

Lehrer überwältigt hatte? Oder konnte Professor Xynulaikaus nur nicht schlafen und

hatte es deshalb vorgezogen, sein Büro umzugestalten? Hedwig zögerte. Und klopfte

an der Tür. Erst zaghaft, dann deutlicher. Mit einem Mal war es still. Doch gerade als

Hedwig sich wieder abwenden wollte, gingen die Geräusche von neuem los. Es hörte

sich an, als würde da drinnen ein Kampf ausgeführt werden. Als sich dann auch noch

unterdrückte Schreie in die Geräusche des Chaos mischten, konnte Hedwig nicht

mehr an sich halten. Sie holte tief Luft und öffnete die Tür. Am liebsten hätte sie sie

danach sofort wieder zugeschlagen. Vor ihr lag Professor Xynulaikaus. Mit dem Kopf

auf dem Schreibtisch, die Hände krampfhaft um einen Bleistift geschlungen. Seine

Stirn war schweißnass und um ihn herum herrschte ein heilloses Chaos. Alles, was

sich einmal auf dem prall gefüllten Schreibtisch befunden hatte, lag jetzt daneben.

Zitternd versuchte Hedwig, in dem Raum einen anderen Menschen auszumachen.

Langsam trat sie ein. Das dämmrige Licht, dass den Raum durch die Fenster erhellte,

ließ alles irgendwie unwirklich erscheinen. Hektisch drehte sich das Mädchen von

einer Ecke zur anderen. Doch da war nichts. Der Einbrecher, oder wer auch immer

hier gewesen sein mochte, musste wieder verschwunden sein. Mit klopfendem

Herzen bewegte sich Hedwig auf Professor Xynulaikaus zu. Dabei strauchelte sie

und wäre fast über einen umgekippten Stapel Schreibhefte gefallen. Im letzten

Moment konnte sie sich auffangen und stand vor dem Lehrer. Sie lauschte. Einen

schrecklichen Moment lang konnte sie nichts hören. Kein Atmen, gar nichts. Doch

dann begann sich der Brustkorb des Lehrers langsam zu heben und zu senken.

Hedwig atmete auf. Dann fiel ihr ein, dass es wohl am besten wäre, das Licht

anzuschalten. Als sie dieses Mal über das Chaos aus Stiften, Heften und Büchern

hinweg stieg, rutschte sie aus und landete unsanft auf einem Buch mit

Hardcovereinband. Sie fluchte. Dann betrachtete sie Professor Xynulaikaus genauer.

Immer noch hielt er den Bleistift krampfhaft umklammert. Zögernd tippte sie ihn von

der Seite her an. Sie hoffte, dass er nicht verletzt war. Nachdem der Lehrer mehrere

Male nicht reagiert hatte, holte sie Luft, um ihn zu rufen. Doch statt dazu, gebrauchte

sie ihren Atem wenig später, um unterdrückt aufzuschreien. Sie hatte das Gefühl, die

Zeit würde mitsamt ihres Herzens stehen bleiben. Professor Xynulaikaus stand auf.

So ruckartig wie eine Marionette. Er schob den Stuhl beiseite und bewegte sich so

sicher, als sei er wach. Aber die Augen hatte er geschlossen. Im nächsten Moment

hatte Hedwig den Bleistift im Gesicht. Der Lehrer fuchtelte damit so wild herum, als

hinge sein Leben davon ab. Erschrocken wich sie zurück. Doch damit war das Ganze

noch nicht beendet. Jetzt fing Professor Xynulaikaus an, gegen einen unsichtbaren

Gegner zu kämpfen. Er führte den Stift wie ein Schwert und kam dabei Hedwig

bedrohlich nahe, bis er sie schließlich packte und zu Boden riss. Dabei brüllte er. Nun

schrie auch Hedwig. Sie hatte es satt, dieses abgekarterte Spiel mitzuspielen und

wollte endlich wissen, was hier los war. „Professor Xynulaikaus!“, schrie sie entsetzt,

„Wachen Sie auf! Ich bin nicht der Einbrecher!“ Im nächsten Moment schlug sie mit

ihrem Kopf unsanft auf dem Boden auf. Doch das Schlimmste war, dass der

muskulöse Mann direkt auf ihr lag und sie festhielt. Sie kreischte, als er anfing, nach

ihr zu schlagen. „Hilfe!“, ihre Schreie hallten im ganzen Gebäudeteil wider. Sie

hoffte, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis ihr die anderen Lehrer zur Hilfe

eilen würden. Professor Xynulaikaus war total durchgedreht. Da schoss seine Faust

auch schon auf ihr Gesicht zu. Alles, was sie tun konnte, war, den Kopf wegzudrehen

und die Augen zusammenzukneifen. Dann spürte sie den dumpfen Aufprall, einen

stechenden Schmerz und das Blut an ihrer Lippe. Sie wimmerte. Die Augen hatte sie

immer noch fest zusammengepresst. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was

geschah, wenn der Kerl auf die Idee kam, sie ihr mit seinem Bleistift-Schwert

auszustechen. Da hielt der sich ständig windende und zappelnde Klotz auf ihr auf

einmal inne. Sie wusste nicht, wie, aber als sie wenig später die Augen wieder

aufschlug, kreuzte sich ihr Blick mit einem anderen, braunen Augenpaar, dass sie

bestürzt anblickte. Endlich war er wach! „Hedwig?“, seine Stimme war kratzig und

dünn und sein Blick wirr. Entsetzt rappelte er sich auf und blickte hektisch im

Zimmer umher. „Was habe ich Ihnen denn getan?“, jammerte Hedwig und rappelte

sich auf. Ihre Lippe blutete, aber sie war froh, als sie nach eingehender Untersuchung

feststellte, dass sie keinen einzigen Zahn verloren hatte. Doch statt ihr zu antworten,

stellte jetzt Professor Xynulaikaus eine Frage: „Von welchem Einbrecher sprichst

du?“, fragte er und scannte mit geballten Fäusten jeden Winkel des Raumes ab,

bereit, sich den Eindringling zu packen und ihn zu vermöbeln. Hedwig war jetzt

komplett verwirrt. „Na, ich dachte, das wüsste Sie.“, meinte sie perplex und starrte

den Lehrer mit großen Augen an. Dieser verzog befremdet das Gesicht und

wiederholte: „Ich?“, dann wurde sein Gesichtsausdruck auf einmal besorgt. „Was ist

dir denn passiert?“, fragte er und musterte Hedwig, „Hat dich dein Einbrecher so

zugerichtet?“ Das war zu viel für Hedwig. Jetzt explodierte sie. „Das waren Sie!“,

keifte sie und zeigte mit ihrem Finger anklagend auf Professor Xynulaikaus, „Ich lag

doch auch unter Ihnen eingequetscht, als sie endlich wach wurden!“ Nachdenklich

strich der Lehrer sich über seinen Dreitagebart. Dann schien er eine Entscheidung zu

fällen. Er schloss die Tür und bat Hedwig, sich neben ihn auf einen Stuhl zu setzen.

Dann betrachtete er sie forschend und fragte gelassen: „Also, was ist passiert?“

Hedwig schwieg. Sie konnte einfach nicht begreifen, was hier vor sich ging. Hatte

Professor Xynulaikaus denn gar nichts bemerkt? Nur, dass sie etwas von einem

Einbrecher geschrien hatte? Letztlich sah sie ein, dass es keinen Sinn hatte, weiter

darüber nachzugrübeln und fing an, die Ereignisse zu schildern. „Ich war im Gang

und habe plötzlich Schreie aus Ihrem Zimmer gehört.“, sagte sie, „Und dann“, sie

machte eine allumfassende Geste, „bin ich reingekommen und habe dieses Chaos

hier gesehen. Sie lagen zusammengesunken mit dem Kopf auf dem Tisch und ich

dachte, jemand hätte sie niedergeschlagen und Ihre Akten durchsucht, um etwas zu

klauen.“ Professor Xynulaikaus runzelte die Stirn. „Daran kann ich mich nicht

erinnern.“, sagte er matt, „Ich weiß nur, dass ich irgendwann während der Korrektur

der Griechisch Vokabeltests eingeschlafen sein muss.“ „Achso.“, meinte Hedwig

schnippisch und verschränkte die Arme vor der Brust, „Und warum räumen Sie dann

während des Schlafs Ihren ganzen Schreibtisch leer? Als ich Sie wecken wollte, sind

Sie auf einmal aufgestanden und haben mich mit Ihrem Bleistift da bedroht. Ich

glaube Sie dachten, er sei ein Schwert.“ Grimmig verzog sie das Gesicht. In

Professor Xynulaikaus´ Blick flackerte plötzlich so etwas wie eine Erkenntnis auf. Er

schluckte und schüttelte den Kopf. „Dann bin ich wohl über dich hergefallen, was?“,

fragte er leise. „Genauso war es.“, sagte Hedwig in einem Brustton der Überzeugung.

Professor Xynulaikaus stöhnte auf und murmelte etwas, das Hedwig nicht verstand.

„Wie bitte?“, fragte sie nach. „Ich habe schlecht geträumt.“, gab der Lehrer zu. Dann

fing er auf einmal an zu straucheln und seine Hände wurden feucht. „Ich… äh… es

tut mir wirklich leid, aber ich fürchte, so etwas passiert mir dann manchmal.“ „Heißt

das, Sie haben geschlafwandelt?“, fragte Hedwig verwundert. „So könnte man es

ausdrücken, ja.“, räumte Professor Xynulaikaus grimmig ein, „Aber bitte sag

niemandem etwas davon, ich komme damit schon zurecht.“ „Das sehe ich.“,

antwortete Hedwig brüsk. Nach einer Weile peinlichen Schweigens, in der der Lehrer

nur mit glasigen Augen und gekrümmtem Rücken vor sich hingestarrt hatte, fragte

Hedwig, bemüht, den neugierigen Unterton in ihrer Stimme zu unterdrücken: „Was

haben Sie denn geträumt?“ Professor Xynulaikaus Reaktion war heftig. Mit einem

Mal richtete sich sein entkräfteter, durchgeschwitzter Körper wieder zur vollen Größe

auf und er sagte laut und bestimmt: „Das geht niemanden etwas an.“ Dann

betrachtete er Hedwig und runzelte die Stirn. „Was machst du eigentlich hier?“

Hedwig kreuzte die Finger, presste die Beine zusammen und schwieg. In ihrer

rechten Hand hielt sie noch immer den Müllbeutel mit dem fliegenden

Terminkalender. Glücklicherweise winkte Professor Xynulaikaus kurz darauf ab.

„Ach, nicht so wichtig.“, meinte er, „Das, was hier heute passiert ist, bleibt unter uns,

ja? Ich kümmere mich jetzt um deine Wunden und dann gehen wir einfach wieder ins

Bett.“ Hedwig atmete erleichtert auf. Doch noch ein einziges Mal in dieser Nacht zog

sich ihre Eingeweide angstvoll zusammen. Nämlich, als Professor Xynulaikaus Blick

auf ihren Müllbeutel fiel. „Was macht denn Ernie da drin?“, rief er verwundert. Und

mit einem Handgriff war der Terminkalender wieder frei und flatterte aufgeregt in der

Gegend umher. „Oh, ist das Ihrer?“, fragte Hedwig peinlich berührt. Ihre Wangen

hatten sich hellrosa verfärbt. Professor Xynulaikaus nickte. „Hast du ihn mit deinem

verwechselt?“, fragte er, nicht ohne den skeptischen Unterton in seiner Stimme

verbergen zu können. Hedwig wusste, dass er ihr sowieso nicht glauben würde. Also

antwortete sie leichthin: „Tun wir einfach so, als ob.“ Professor Xynulaikaus verstand

und fragte nicht weiter. Nachdem er ihre blutende Wange mit einem Pflaster verklebt

und ihr etwas zum Kühlen für die aufgeplatzte Lippe gegeben hatte, fiel Hedwig

todmüde ins Bett.

Am nächsten Morgen wachte Hedwig zu ihrer Verwunderung noch vor Marie auf. Sie

hatte miserabel geschlafen. Sobald sie einen Blick in den Spiegel warf, stöhnte sie

auf. Links und rechst an ihren Schläfen, sowie überall an ihren Armen hatte sie blaue

Flecken. Sie wirkte, als wäre sie in einen Fleischwolf geraten. Ihr Mund verzog sich

und ließ einen säuerlichen Ausdruck auf ihrem Gesicht entstehen. Die Aktion letzte

Nacht war ja total erfolgreich gewesen. Nicht einmal den blöden Ernie hatte sie

einfangen können! Stattdessen war sie von einem Lehrer mit Albträumen vermöbelt

worden! Missmutig ging sie ins Bad und machte sich fertig. Als sie wieder zurück ins

Zimmer kam, war auch Marie schon wach. Bestürzt hauchte sie: „Wie siehst du denn

aus?“ „Ich hab schlecht geschlafen.“, antwortete Hedwig knapp. „Albträume.“ Das

stimmte ja auch. Kurz nach dem Frühstück hatte Hedwig endlich eine Minute, um

allein mit den beiden Jungen zu sprechen. Marie war schon zum Griechischraum

vorausgegangen und Hedwig wartete mit den Jungen im Flur darauf, dass der

Unterricht begann. „Was ist letzte Nacht wirklich passiert?“, nahm Leo das Thema

auf, über das sie während des Frühstücks die ganze Zeit geredet hatten. Doch statt zu

antworten, sagte Hedwig einfach: „Ich geb´s auf. So geht das nicht weiter. Wir

müssen uns irgendeine andere Methode suchen, wie wir die Terminkalender

einfangen können. So macht das alles keinen Sinn.“ Jonas machte große Augen. „Bist

du von ihnen verprügelt worden?“, fragte er überrascht und schaute Hedwig ernst an.

Diese grunzte verärgert. „Natürlich nicht. Aber ich kann einfach nicht Nacht für

Nacht diesen Dingern hinterherlaufen. Erstens sind die viel zu schnell, um sie mit

dem Kescher einzufangen und zweitens ist das alles zu auffällig.“ Leo sah sie

prüfend an. Dann nickte er. „Okay. Wir müssen uns also etwas Anderes ausdenken.“

In diesem Moment quietschte die Eingangstür des Nebenhauses, in dem sich die

Unterrichtsräume befanden. Herein kam Professor Xynulaikaus. Als sein Blick auf

Hedwig fiel, dachte sie, er würde gleich anfangen zu weinen. Es tat ihm wirklich leid.

Das sah sie ihm an. „Wie geht es dir?“, fragte er, als er vor ihr und ihren Freunden

stehen blieb. Hedwig lächelte schief. „Ganz gut.“, räumte sie dann ein, „Machen Sie

sich mal keine Sorgen, ich bin Schlimmeres gewohnt. Wissen Sie nicht, wie meine

Freunde und ich monatelang durch die Wildnis gelatscht sind, um dieses hässliche

Amulett kaputt zuhauen? Das war auch kein Spaziergang.“ Professor Xynulaikaus

lächelte gequält. Dann sagte er: „Kommst du dann zum Unterricht, wenn ihr euch

zuende unterhalten habt, Jonas?“ Erst guckte der Junge ihn verdutzt an, dann

antwortete er grinsend: „Na klar!“ Er wartete noch eine Weile, bis der Lehrer um die

nächste Ecke verschwunden war, dann kicherte er: „Ist ja voll cool. Seit wann dürfen

wir bei dem machen, was wir wollen?“ Hedwig antwortete nicht, sondern

verabschiedete sich von ihrem Freund. Leo und sie machten sich auf den Weg zur

Hebräischstunde.

Nero fluchte. Was wollte dieser Hornochse von Jäger eigentlich von ihm? Er war hier

der Leiter der Operation, nicht so ein dahergelaufener Einheimischer. Aber der Mann

hörte nicht auf zu reden. Mit jedem Atemzug, den er tat, hatte Nero das Gefühl, die

Luft um ihn herum würde dicker werden. In seinem Kopf kreiste nur ein Wort.

Langweiler. Er stellte sich breitbeinig vor den kleinen, untersetzten Mann und

durchbohrte ihn mit verächtlichen Blicken. „Das Wetter ist zu schlecht….“ Bla, bla,

bla. Nero verdrehte die Augen. Als ob ihn das Bisschen Nebel davon abhalten

könnte, seine Mission auszuführen. Der fette Jäger vor ihm war nicht der Einzige, der

ihn begleiten würde. Er hatte sich ein Team aus erfahrenen Leuten zusammengesucht,

ausgerüstet mit den besten Waffen der Welt. Hoffte er zumindest. Bis jetzt hatte er

alles getan, um nicht so zu enden wie Tilo. Und nun? Jetzt hielten ihn seine

notorischen Vorsichtsmaßnahmen doch tatsächlich davon ab, sein Vorhaben

durchzuführen. Jetzt stimmte auch noch jemand anderes dem kleinen Mann bei. Es

war eine Frau. Keine besonders weibliche, aber immerhin. Sie trug eine

Kurzhaarfrisur und war zwei Köpfe größer als der dicke Mann neben ihr. Eine

Bogenschützin. Während der kleine Mann noch weiter auf Nero einredete und

behauptete, es wäre zu gefährlich, bei diesem Nebel in den Wald zu gehen, machte

sie Neros festen Entschluss, es doch zu tun, mit einem einzigen Satz zunichte. „Ich

dachte, du wolltest nicht so enden wie Tilo?“ Ihr Blick war geradeheraus und ihre

Augen glitzerten hinterlistig. Nero malmte in kreisenden Bewegungen seine

Backenzähne aufeinander. Er hatte mal gehört, dass Kühe das so machten. Um ihr

Futter zu zerkleinern. „Na gut.“ Er gab nach, aber nicht bereitwillig. Stattdessen

würde er dafür sorgen, dass diese vorlaute Frau bei ihrem nächsten Versuch nicht mit

dabei war. Er wollte in diesen Wald gehen. Um jeden Preis.

„Och nö.“, Marie stöhnte, als sie einen Blick auf ihren Stundenplan warf, „Ich hasse

die Stationsarbeit in IPT.“ Hedwig pflichtete ihr stumm bei. Dann meinte sie:

„Immerhin ist danach Schulschluss.“ Leo grinste nur, als er registrierte, dass das

Maries Laune auch nicht aufbesserte. „So was kenne ich ja gar nicht von dir.“, foppte

er, „Seit wann hasst du irgendwelche Fächer?“ „Schon immer.“, gab Marie patzig

zurück, „Ich habe es vorher nur nie gesagt. Aber IPT ist das bescheuertste Fach

überhaupt. Und Professor Grünschnabel kann ich langsam auch nicht mehr sehen.“

„Wieso?“, fragte Jonas, „Die ist doch immer so nett zu dir.“ „Ja.“, stöhnte Marie,

„Jede Stunde erzählt sie, wie toll ich bin und wie gut ich alles kann. Dabei ist das

alles gar nicht so. Ich mache auch manchmal Fehler.“ „Echt?“ Die vier Freunde

drehten sich um. Es war Naomis Stimme. Das Mädchen kam auf sie zu und lehnte

sich neben ihnen an die Wand. „Dann habe ich ja doch noch eine Chance, die

Klassenbeste zu werden.“, sagte sie ruhig und kratzte sich am Arm. Jonas schnappte

nach Luft. „Marie überholst du nie.“, sagte er bestimmt und mit Bewunderung in der

Stimme, „Die kann das alles im Schlaf.“ „Ach ja?“, antwortete Naomi erstaunt und

kniff die Augen zusammen. „Aber in Sport bist du nicht so gut, was?“ Marie wand

sich unter ihrem Blick. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte, immerhin war ihre

Unsportlichkeit bis jetzt noch für niemanden ein Problem gewesen. Außerdem

überraschte sie Naomis so offensichtlicher Angriff. „Was willst du denn jetzt?“,

konterte Hedwig, „Denkst du, du kriegst einen besseren Durchschnitt, weil du besser

in Sport bist?“ „Vielleicht.“, piepste Naomi nur, stieß sich flink von der Wand ab und

verschwand ohne einen Blick zurückzuwerfen im Klassenraum. „Ich habe doch

schon immer gesagt, dass die komisch ist!“, platzte es aus Marie heraus. Leo

schüttelte nachdenklich den Kopf. „Das ist wirklich nicht böse gemeint, Marie, aber

manchmal denke ich, du bist auf dem besten Weg, genauso zu werden wie sie.“

Marie blieb die Luft im Hals stecken. „Was?“, krächzte sie. Dann spürte sie Trauer

und Enttäuschung wie bittere Galle in ihrer Magengegend aufsteigen. „Schön zu

erfahren, was die eigenen Freunde von einem denken.“, sagte sie nur. Dann folgte sie

Naomi, ohne auf die Anderen zu warten, in den Raum hinein. „Hallo?“, fragte Jonas

wütend, „Geht´s noch?“ Vorwurfsvoll sah er Leo an. Der hob beschwichtigend die

Hände. „So habe ich das doch gar nicht gemeint.“, stammelte er, „Ich meinte nur,

dass Naomi so ist wie Marie. Nur asozialer.“ „Super.“, Hedwig schüttelte genervt den

Kopf, „Das hättest du ihr nicht sagen müssen.“ Da unterbrachen resolute Schritte ihre

Unterhaltung. Professor Grünschnabel war auf dem Weg zu ihnen. Schnell liefen sie

zu ihren Plätzen und machten sich auf eine weitere Stunde gefasst, in der sie wieder

nur Arbeitsblätter bearbeiten würden. Doch zu ihrem großen Erstaunen stand heute

etwas ganz anderes auf dem Plan. Professor Grünschnabel trug ein kleines

Gewächshaus mit sich herum, das sie zu Anfang der Stunde auf dem Pult abstellte.

Als sie die fragenden Blicke der Schüler auffing, erklärte sie schmunzelnd: „Das ist

eine Irsis tidikus. Heute gönne ich euch ausnahmsweise mal eine Pause von der

Stationsarbeit.“ Sie lächelte. „Ich muss wirklich sagen, dass ihr bis jetzt gut

mitgearbeitet habt.“ Durch die Klasse ging ein erstauntes Luftholen. Marie tat es

augenblicklich leid, dass sie so schlecht über Professor Grünschnabel geredet hatte.

Wie es schien, war sie doch nicht so gemein, wie alle dachten. Nach ein paar

schnellen Handgriffen von Seiten der Lehrerin stand die Pflanze auf dem Tisch. Sie

schien relativ unscheinbar und hätte Hedwig sie in der freien Natur pflücken müssen,

hätte sie statt ihrer wahrscheinlich irgendein Unkraut mitgenommen. Während

Professor Grünschnabel ihnen mehr über die Pflanze erzählte, fing es in einer Ecke

des Raumes auf einmal an zu rascheln. Ein Terminkalender kam und setzte sich

neben der Pflanze auf den Tisch. Dann raschelte es wieder. Dieses Mal lauter. Immer

mehr und mehr blaue Heftchen kamen angeflogen und setzten sich neben die Pflanze.

Das ging so weit, bis sie das gesamte Pult für sich besetzt hatten und Professor

Grünschnabel Anna bat, die Tür zu schließen, durch die die Hälfte der Heftchen

hineingeströmt war. Als Jonas die Lehrerin fragte, was für die Terminkalender an

dieser Pflanze so anziehend war, gab diese zu, dass sie keine Ahnung hatte. Als die

Schulglocke das Ende des Unterrichts prophezeite, hatte Hedwig den besten Plan

ihres Lebens ausgeheckt. Sie blieb noch länger da als alle anderen und verwickelte

Professor Grünschnabel in ein mehr oder weniger interessantes Gespräch über die

Irsis tidikus. Da die Lehrerin wie selbstverständlich davon ausging, dass Hedwig sich

tatsächlich für die Pflanze interessierte, schenkte sie sie ihr. Hedwig strahlte

daraufhin bis über beide Ohren. Genau das hatte sie gehofft.

Er schnappte nach Luft. Augenblicklich bildeten sich kleine Tröpfchen auf seiner

Haut, die wenig später zu von seinem Körper herabströmenden Bächen wurden.

Noch einmal holte er Luft. Jetzt fiel es ihm leichter. Er lauschte. Nichts. Alles war

still. Dann heftete er seine Augen hilfesuchend auf einen Fixpunkt. Den einzigen, den

er hier überhaupt fand. Es war der Lichtkegel seiner Taschenlampe. Aber der

blendete nur. Er spürte, wie ihn jemand am Arm berührte. Einer seiner Begleiter. Wie

gut, dass die sich hier auskannten. Nero atmete tief durch und schloss die Augen.

Dann öffnete er sie wieder. Ja, es war ganz normal, dass er sich fürchtete. Hier, wo

ihm nicht einmal das Licht etwas nützte. Aber gerade das Bekämpfen dieser Furcht

würde ihn zu einem Helden machen. Als er sich umdrehte, entdeckte er hinter sich

sieben weitere Lichtkegel, die suchend die Umgebung ableuchteten. Nun konnte auch

Nero erkennen, wie es hier aussah. Überall schwarze Bäume und Nebel. Ein Schauer

lief ihm über den Rücken. Wesen, die hier lebten, konnten ja nur gefährlich sein. Mit

einer kurzen Geste bat er seinen Hintermann um eine Karte. Dieser verstand, trotz

des durch den Nebel getrübten Lichts seiner Lampe. Wenig später hielt Nero die

Karte in den Händen. Alle Gebiete, in denen Fachleute die Gierungen vermuteten,

waren rot umkreist. Nero spürte, wie der alte Stolz wieder in ihm hoch kam. Er

würde die Tiere finden. Und er würde sie einfangen und die Belohnung kassieren.

Das war Grund genug, um sich in dieses unbekannte Terrain zu begeben. Ein paar

Sekunden lang studierte er die Karte. Dann fing er an, schnurstracks in eine

bestimmte Richtung zu laufen. Die anderen mussten ihm folgen. Von allen Seiten

stellten sie sich neben ihn. Die Waffen im Anschlag. Das gefiel Nero. Er gab den Ton

an und wurde gleichzeitig beschützt. So musste sich ein König fühlen. Ohne sich

weiter von den um ihn herum schleichenden Schatten stören zu lassen, ging er seinen

Weg. Es dauerte. Mittlerweile war seine Kleidung vollkommen nass. Außerdem

schmerzten seine Kniegelenke. Zwischendurch hatte er immer wieder innegehalten,

um zu lauschen. Doch bis jetzt waren sie noch keinem einzigen Lebewesen begegnet.

Er fand, dass er sich eine Pause verdient hatte. Erschöpft lehnte er sich an einen

pechschwarzen Baumstamm, kramte seine Wasserflasche hervor und trank. „Sollten

wir die Mission nicht so schnell wie möglich zu ende führen?“ Es war der kleine,

dicke Mann vom Vortag, der ihn das fragte. Nero betrachtete ihn abschätzig. Sein

Gesicht war gerötet und von seinem Ansatz lief das Kondenswasser mit Schweiß

vermengt. In den schwieligen Händen hielt er seinen Bogen, den er krampfhaft

versuchte, zu fixieren, da er ihm immer wieder aus der Hand zu rutschen drohte. Der

Gute hätte sich eine Pause verdient. Aber Nero dachte nicht daran. Der sollte schön

seinen Job machen. Er lachte laut auf. Wie wohltuend es war, den Besserwisser nun

schwitzend und keuchend vor sich stehen zu sehen. Ursprünglich hatte er ihn, genau

wie die Frau, mithilfe einer faulen Ausrede zurück in die Gaststätte schicken wollen,

um ihn für sein respektloses Verhalten zu bestrafen. Aber jetzt erkannte Nero, dass

das hier Strafe genug war. Ein wohliges Gefühl der Genugtuung breitete sich in

seinem Bauch aus. Mitten in seinen Gedanken versunken spürte er, wie ihm jemand

die Karte aus der Hand nahm. Nero war überrascht, deshalb leistete er keinen

Widerstand. „Ich werde uns zu einer der Stellen führen. Damit wir heute noch fertig

werden.“, die tiefe Stimme versetzte Nero eine Schlag in die Magengrube. So etwas

durfte er sich nicht bieten lassen! Dummerweise konnte er nicht erkennen, wer

gesprochen hatte. Und da er sich seine Kräfte lieber für die Jagd, die ihm bevorstand,

aufheben wollte, tat er etwas, zu dem er niemals sonst imstande gewesen wäre.

Missmutig überließ er einem der Jäger die Führung und wanderte weiter durch die

Dunkelheit. Zwanzig Minuten später musste Nero sich eingestehen, dass der Mann

sich wahrscheinlich wirklich besser auskannte als er. Denn mit einem Mal waren sie

umgeben von dunklen Schatten. Nero konnte ihre Anwesenheit spüren. Und er hörte

die Geräusche, die sie hin und wieder verursachten. Es waren viele. Und sie lauerten

im Schatten auf sie. Adrenalin durchströmte seinen Körper. Jetzt war es Zeit für eine

Waffe. Noch ehe er sein langes Messer aus dem Gürtel ziehen konnte, waren sie da.

Sie preschten von allen Seiten auf die Gruppe Menschen ein. Es war ein heilloses

Chaos. Das Einzige, was Nero hin und wieder wahrnehmen konnte, waren

quietschende Schreie und im diffusen Licht der Taschenlampe aufblitzende,

messerscharfe Krallen. Noch ehe er eine Chance gehabt hatte, eines dieser Tiere zu

erlegen, legte sich der Tumult wieder. Seine Begleiter hatten sie wirklich betäubt.

Alle. Staunen steckte Nero sein Messer wieder ein. Und beugte sich gespannt über

einen der zusammengesunkenen Körper. Das Tier war groß. So viel konnte er sehen.

Und es war am ganzen Körper stark behaart. Der leicht nach vorn gebeugte

Oberkörper sagte einen ebensolchen Gang hervor. Also fast so wie ein Affe. Als Nero

sich wieder aufrichtete, brüllte er. Vor ihm stand eines dieser Biester. Zu voller Größe

aufgerichtet und angriffslustig stürzte es sich auf ihn. An das, was dann kam, konnte

Nero sich später nicht mehr erinnern. Die Anderen hatten ihm nur gesagt, es wäre

eine Glanzleistung gewesen. Absolut unschlagbar. Aber Nero wusste nicht, ob das

stimmte. Und solange das nicht klar war, nagte in ihm immer fort der quälende

Drang, sich vor sich selbst beweisen zu müssen. Jedenfalls lag das Ungetüm bald

erdolcht vor ihm. Mit einer klaffenden Bauchwunde und erschlafftem Kiefer. Neros

linker Arm blutete in Strömen. Von oben bis unten klaffte dort eine breite

Schnittwunde. Aber er spürte den Schmerz erst, als er helfen musste, zwei der

Gierungen auf schnellstem Wege aus dem Wald hinaus zu transportieren. Sie legten

die Tiere auf Netze und zerrten sie mit sich. Noch nie hatten Neros Muskeln so

gebrannt. Und noch nie hatte er solche Schmerzen empfunden. Ihm war, als würde er

in diesem Moment für alle Gemeinheiten, die er je in seinem Leben begangen hatte,

bestraft werden. Und das auf einen Schlag. Im Stillen bat er um Vergebung. Bei wem

auch immer. Er war zu erschöpft, um sich darüber Gedanken zu machen. In dem

Moment, als das Licht der Sonne ihn umflutete, war ihm, als sei er den Schritt ins

Paradies gegangen. Bis er wieder den furchtbaren Schmerz in seinem Arm

registrierte. Geschickt hoben seine Begleiter die beiden Tiere in zwei verschiedene

Metallkäfige, die sie auf einen Wagen gestellt hatten und sperrten sie gründlich zu.

Danach wurden die Gitterstäbe mit Planen abgedeckt. Schließlich sollte nicht alle

Welt wissen, dass zu dieser Stunde zwei ausgewachsene Gierungen, ein Männchen

und ein Weibchen, mit zwei Pferdekutschen durch eine kleine Stadt im Süden Irias

transportiert wurden. Sobald Nero sich auf eine der beiden Ladeflächen setzte, weit

genug entfernt von dem Käfig, brach er zusammen. Der Blutverlust machte ihm zu

schaffen.


Iria - Blut wie Regen

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