Читать книгу Iria - Blut wie Regen - Lea Loseries - Страница 9

Ein gefährlicher Plan

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Das Bett quietschte, sodass Marie fürchtete, es könne selbst unter einem

Fliegengewicht wie ihr einbrechen. Sie hatte sich neben Hedwig gesetzt, die sich mit

geschlossenen Augen an die Wand gelehnt hatte. Ihre Schultasche hatte sie zuvor

achtlos in eine Ecke des Raumes gepfeffert. Hausaufgaben konnten warten. Das fand

sogar Marie. Sie hatte sowieso keine Lust, sich jetzt mit irgendwelchen Zahlen und

Buchstaben zu quälen, während ihre Gedanken zehn Kilometer weit von der

eigentlichen Aufgabe entfernt waren. Im Matheunterricht hatte sie sich heute kein

einziges Mal gemeldet. Das war auch ihrer Freundin aufgefallen und wäre sie selbst

nicht genauso mies drauf gewesen, hätte sie diesen Tag im Kalender rot angestrichen.

Der Tag, an dem Marie sich nicht gemeldet hat. Nicht einmal dieser Gedanke konnte

die beiden Mädchen jetzt aufheitern. „Lass uns nachher bei Jonas vorbeischauen.“

Maries Stimme klang nach, ohne, dass eine Antwort kam. Sie glaubte schon, Hedwig

sei eingeschlafen, aber nach ein paar Sekunden kam doch eine Reaktion. Hedwig

öffnete die Augen, bedeutete Erwin, aufs Bett zu springen und nickte. Das hätte sie

lieber nicht tun sollen, denn das marode Gestell hatte schon Schwierigkeiten, zwei

Sechstklässlerinnen gleichzeitig zu tragen. Der Sprung des schwarzen Hundes, der

schwanzwedelnd und mit einem Satz auf der Matratze landete, zog ein lautes

Krachen nach sich. Erschrocken sprang Marie auf und machte Anstalten, den

Schaden zu begutachten. Doch Hedwig winkte mürrisch ab. „Bestimmt ist eh nur

eine Latte gebrochen.“, sagte sie, „Das bedeutet, dass ich noch vierzehn heile Latten

übrig habe.“ „Vierzehn?“, Marie schaute sie verdattert an, „Also unter meinem Bett

sind sechzehn.“ Über Hedwigs Gesicht huschte tatsächlich ein Grinsen. „War ja klar,

dass du das wieder so genau weißt.“, sagte sie. Dann fügte sie leichthin hinzu: „Ich

hatte auch mal sechzehn, aber das hier ist ja nicht das erste Mal, dass Erwin auf mein

Bett springt.“ Marie schüttelte ungläubig den Kopf. Dann nahm sie das Risiko in

Kauf, mitsamt Erwin, Hedwig und dem quietschend protestierendem Bett

einzukrachen, und zwängte sich neben Hedwigs Haustier auf die Matratze. Wenn

Marie sich nicht täuschte, war Erwin in den Sommerferien tatsächlich noch ein Stück

gewachsen und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er das gesamte Bett für sich

allein beansprucht. „Wann wollen wir denn zu Jonas?“, fragte Marie, um wieder auf

ihr Anliegen zurückzukommen, „Jetzt gleich?“ Hedwig öffnete den Mund, um etwas

zu erwidern, doch kaum hatte sie Luft geholt, wurde sie von einem lauten Rascheln

unterbrochen. Gundula und Sternchen, die beiden fliegenden Terminkalender, kamen

pflichtbewusst auf sie zu geflattert und wiesen sie im monotonen Einvernehmen

darauf hin, dass in einer Viertelstunde die AGs beginnen würden. Hedwig stöhnte auf

und sagte ironisch: „Mann, hab ich eine Lust, gleich noch zu singen!“ Marie

kommentierte kopfschüttelnd: „Ich verstehe sowieso nicht, warum du dich dieses

Jahr wieder für die Chor AG eingetragen hast.“ „Na, meinst du es macht mir mehr

Spaß, mit einem Trainingsschwert in der Luft herumzufuchteln?“, antwortete ihre

Freundin heftig. Marie schwieg. Statt etwas zu erwidern, musterte sie aus den

Augenwinkeln Gundula und Sternchen. Gundula hatte sich erneut demonstrativ vor

Erwins Schnauze gesetzt, weil sie genau wusste, dass der Hund Ärger kriegen würde,

wenn er ihr etwas tat. Und Sternchen saß auf Maries der Tür zugewandten Schulter

und beobachtete ihre Kollegin mit einem beleidigtem Flügelrascheln. Das bildete

Marie sich zumindest ein. In Wahrheit hatten diese Terminkalender bestimmt gar

keine Persönlichkeit. Aber irgendwie schien es ihr so, als säße hinter den Floskeln,

die sie tagtäglich von sich gaben, doch etwas Lebendiges. Nun fiel auch Hedwigs

Blick auf die beiden Heftchen. Ihr Mund verzog sich unheilvoll. „Irgendwie habe ich

das Gefühl, dass dein Sternchen etwas gegen mich hat.“, sagte sie und musterte

besagten Terminkalender, der sich wie zur Bestätigung ihrer Aussage von Maries

Schulter in die Lüfte erhob und in eine andere Ecke des Raumes flog. „Siehst du.“,

kommentierte Hedwig. „Ach was.“, Marie winkte ab, „Lass uns jetzt lieber zu Jonas

gehen.“ Doch daraus wurde nichts. Im nächsten Moment war das ganze Zimmer

erfüllt von hohem Gemurmel. Die beiden Terminkalender riefen immer wieder, dass

in zehn Minuten die AGs anfingen und regten sich scheinbar darüber auf, dass die

beiden Mädchen ihren Worten keine Beachtung schenkten, bis Hedwigs Nerven

schließlich blank lagen und sie brüllte: „Ja! Ist ja gut! Wir gehen zu den AGs!“

Danach war es augenblicklich still. „Meine Güte.“, flüsterte Marie, „Das sind ja die

schlimmsten Nervensägen überhaupt. Gut, dass wir gleich von hier verschwinden.“

Sie hoffte nur, dass die Terminkalender ihre Worte überhört hatten.

Marie war ganz in ihrem Element. Sie hatte sich aufgewärmt, ihre Muskeln waren

geschmeidig und auf ihrer Stirn bildeten sich langsam kleine Tropfen. Sie wirbelte

herum. Hinter ihr stand Professor Xynulaikaus. Mit erhobener Waffe. Die Spitze auf

ihre Brustkorb gerichtet. Sie ließ sich nach hinten fallen und riss das Schwert nach

oben, um den Schlag zu parieren. Es gelang ihr. Aber der Feind gönnte ihr keine

Pause. Wieder standen der Lehrer und sie sich gegenüber. Die Augen konzentriert auf

die des anderen gerichtet. Angespannt und in der Erwartung, jeden Moment einen

Angriff parieren zu müssen. Lauernd machten sie ein paar Schritte im Kreis. Dann

schlug er zu. Es ging sehr schnell. Marie hatte keine Chance. Verzweifelt versuchte

sie, mit ihrem Schwert herumzuschwenken und den Schlag abzuwenden. Ihre Finger

klammerten sich fester denn je um den Griff. Kurz darauf glitt er einfach so aus ihrer

Hand. Das Schwert fiel und ihr gegenüber stand mit siegessicherem Blick der

Gegner.

Professor Xynulaikaus hatte es ihr schon hundertmal gesagt. Sie machte immer ein

und denselben Fehler. Verärgert stellte Marie ihr Trainingsschwert zurück ins Lager.

Wieder hatte ihr Trainer sie besiegt. Und das nur, weil sie es wieder einmal verpatzt

hatte, aufmerksam zu sein. Na toll. Doch Professor Xynulaikaus, der Leiter der

Schwertkampf AG, schien das ganz anders zu sehen. Grinsend kam er auf sie zu und

klopfte ihr auf die Schulter. „Gut gemacht.“, sagte er anerkennend, „Du wirst von

mal zu mal besser. Du lernst wirklich schnell.“ Marie winkte, immer noch

unzufrieden mit sich selbst, ab. Dann fragte sie: „Wo haben Sie es eigentlich gelernt,

so zu kämpfen?“ Professor Xynulaikaus Züge wurden auf einmal angespannt. Er

wand sich. „Das ist eine lange Geschichte.“, presste er schließlich hervor, „Ich will

nicht darüber reden.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und ließ sie stehen. Marie

war verwirrt. Bis jetzt hatte sie immer damit gerechnet, dass ihr Lehrer das Kämpfen

in der Schule gelernt hatte, genauso wie sie. Aber anscheinend verbarg sich hinter

seinen Fähigkeiten etwas ganz anderes. Erschöpft strich sich Marie ein Haar aus der

Stirn. Es hatte keinen Zweck, sich weiter darüber Gedanken zu machen. Sie griff

nach ihrer Wasserflasche. Doch ehe sie einen gierigen Zug nehmen konnte, vernahm

sie ein leises Rascheln von oben her. Entgeistert sah sie, wie sich ein Dutzend

Terminkalender hinter einen Dachbalken quetschten, emsig darauf bedacht, nicht

gesehen zu werden. Marie blieb die Luft weg. Sie war sich ganz sicher, dass unter

ihnen auch Sternchen war. Sie spürte es. Aber was hatten die fliegenden Dinger hier

zu suchen? War man denn nirgends mehr sicher vor ihnen?

Einer nach dem anderen kamen sie herein. Jonas freute sich, sie zu sehen. Endlich.

Draußen war es schon dunkel. Sie hatten sich ganz schön Zeit gelassen bis zu ihrem

Besuch. „Hi, Jonas.“, Leo grinste und ließ sich auf einem Stuhl neben dem Bett

nieder, „Wie geht’s dir?“ „Wir konnten leider nicht eher kommen, weil wir AGs

hatten und unsere Terminkalender uns gekillt hätten, wenn wir da nicht hingegangen

wären.“, erklärte Hedwig. „Die folgen einem echt überall hin.“, erboste sich Marie.

„Echt?“, Jonas machte ein langes Gesicht, „Ich habe meinen heute noch kein einziges

Mal zu Gesicht bekommen.“ „Du Glücklicher.“, seufzte Leo, „Schön übrigens, dass

du wieder mit mir redest.“ Das war Jonas jetzt peinlich. Er wusste nicht, ob er sich

für seine Wortkargheit entschuldigen sollte. Doch Marie nahm ihm die Entscheidung

ab, indem sie ihn aufforderte: „Jetzt erzähl doch mal endlich! Was genau ist da

draußen in Miniklu passiert und wie geht es dir?“ „Ach, mir geht es schon wieder

ganz gut.“, meinte Jonas, „Dummerweise darf ich in der nächsten Zeit keinen Sport

machen.“ Schmollend deutete er auf seinen eingegipsten Arm. Hedwig runzelte die

Stirn. „Bist du Links- oder Rechtshänder?“ „Rechtshänder.“, antwortete er, woraufhin

seine Freundin stöhnte: „Och nein! Heißt das, dass wir dann für dich im Unterricht

mitschreiben müssen, oder was?“ „Wie bitte?“, Jonas sah sie verdutzt an. Er kapierte

mal wieder nichts. „Na, du kannst mit dem gebrochenem Arm doch nicht schreiben.“,

halft Marie ihm auf die Sprünge. Für die Wirkung dieses Satzes hätte sie sogar in

Kauf genommen, ein ganzes Schuljahr lang den Unterrichtsstoff für ihren Freund

mitschreiben zu müssen. Ein kindliches Strahlen lief über Jonas Gesicht, das den

schwermütigen Ausdruck, der seit dem Anfang dieses Schuljahrs auf ihm gelastet

hatte, endlich vertrieb. Jonas war anscheinend wieder ganz der Alte. „Daran habe ich

ja noch gar nicht gedacht!“, rief er begeistert, „Juchhu, keine Hausaufgaben!“ „Von

wegen.“, Hedwig schnaubte, „Wenn ich der Lehrer wär, würde ich dich den Stoff

schön nacharbeiten lassen.“ Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile darüber, wie

schlecht das Essen in der Krankenstation war, bis aus Hedwig herausplatzte: „Habt

ihr euch eigentlich schon mal mit den neuen Fünftklässlern unterhalten?“ Die

anderen schüttelten den Kopf und warteten gespannt darauf, den Grund für Hedwigs

Frage zu erfahren. „Die sind so wahnsinnig respektlos!“, schoss es in diesem

Moment unkontrolliert aus ihr hervor, „Ein halbes Dutzend von denen hat sich in der

Chor AG angemeldet und seitdem überlege ich ernsthaft, ob ich mich einfach wieder

abmelden soll. Da sind zwei Jungen drin… die sind einfach nicht zum Aushalten! Die

ganze Zeit reden sie dazwischen und statt vernünftig mitzusingen, werfen sie sich

gegenseitig mit benutzten Kaugummis ab! Und die Mädchen sind auch nicht viel

besser. Allein schon wie die rumlaufen...“ Unvermittelt stockte Hedwig, als sie Leos

skeptischen Blick sah, der gerade auf ihr ruhte. „Lästerst du gerade?“, fragte er

vorwurfsvoll. Hedwig wurde rot. „Ich...“, sie wand sich, „naja, eigentlich weiß ich ja

gar nicht, ob alle von denen so sind. Aber wenn wir die mit uns vergleichen, dann...“

„Entdecken wir wahrscheinlich mehr Ähnlichkeiten, als uns lieb ist!“, führte Marie

den Satz lachend zu ende, „Wir waren doch früher genauso. Erinnerst du dich nicht

an den Tag, an dem Mino und Achmed faule Eier in die Klos geschüttet haben?“

„Mann, hat das gestunken!“ Jonas kicherte schelmisch. „Irgendwie war es auch

witzig. Besonders, weil sie es auf der Mädchentoilette gemacht haben und dann von

Professor Grünschnabel dabei erwischt wurden.“ Hedwig verzog beleidigt das

Gesicht und reckte stolz ihre Nase in die Höhe. „Was die beiden betrifft, magst du ja

Recht haben.“, posaunte sie, „Aber ich fand die Streiche der Jungen schon damals

eklig. Und wir Mädchen sind ganz bestimmt nicht so wie die neuen

Fünftklässlerinnen!“ „Da wär ich mir nicht so sicher.“, schmunzelte Leo, woraufhin

Hedwig die Arme vor der Brust verschränkte und schwieg. Dabei machte sie nicht

gerade den glücklichsten Eindruck. „Ach, Hedwig!“, Marie verdrehte die Augen, als

sie ihre Freundin so sah, „Reg dich doch nicht über die auf. Ändern kannst du eh

nichts!“ „Aber ich habe nicht gelästert.“, beharrte Hedwig stumpf und starrte bockig

auf ihre Fußspitzen, „Alles, was ich gesagt habe, entspricht der Wahrheit.“ „Der

Wahrheit, wie du sie siehst.“, korrigierte Marie milde, „Ich verstehe ja, dass die

Kleinen dich nerven, aber wir müssen eben auch versuchen, mit Menschen

klarzukommen, mit denen wir uns nicht so gut verstehen.“ „Und wie soll das

gehen?“, fragte ihre Freundin schmollend und mit vorgezogener Kinnlade. Die

anderen schwiegen einen Moment lang. Dann machte Leo einen Vorschlag: „Indem

du anfängst, sie zu sehen, wie Gott sie sieht. Er sieht in ihnen mehr als nur die

kleinen, nervigen Kröten, die das ganze Schulleben auf den Kopf stellen. Und vergiss

nicht, dass wir auch nicht immer einfach sind.“ Hedwig schien tatsächlich besänftigt.

Ihr Gesichtsausdruck entspannte sich und sie setzte sich auf die Kante von Jonas

Bett. Als sich die Federn der Matratze unter ihrem Gewicht bogen, quietschte es. „Es

gibt da etwas, über das ich mit euch reden möchte.“, Jonas belegte Stimme zerriss die

anfängliche Stille. Maries erster Reflex, auf seine Ankündigung zu reagieren, war ein

gestöhntes: „Oh nein!“, was sie aber glücklicherweise unterdrückte. Innerlich

schüttelte sie den Kopf. Was war denn jetzt wieder mit Jonas los? Leo und Hedwig

schienen weniger abweisend über das zu denken, was ihrem Freund auf dem Herzen

lag. „Was ist denn?“, fragte Leo ruhig und beugte sich zu Jonas vor. Dieser presste

angestrengt die Lippen zusammen. Es kostete ihn sichtlich viel Überwindung, das zu

formulieren, was jetzt kam. Als Erstes wollte er seine Freunde angemessen darauf

vorbereiten. „Ich weiß ja, wie ihr darüber denkt, aber...“, stammelte er. Doch dann

fuhr er entschlossen fort. Er würde das durchziehen. Mit oder ohne seine Freunde.

Das war beschlossene Sache. Andererseits… er musste ja nicht mit der Tür ins Haus

fallen. Was machte es schon, wenn er seine Freunde nur Schritt für Schritt in seinen

Plan einweihte? „Wie Leo eben schon gesagt hat, kann man anfangen, die anderen

Menschen mit Gottes Augen zu sehen. Das bedeutet, man sieht zwar das Schlechte,

aber auch all die Stärken und vielleicht auch die Gründe, warum sich eine Person

komisch verhält. Und im allerbesten Fall kann man sogar anfangen, jemanden

wertzuschätzen, obwohl andere in ihm einen Verbrecher sehen.“ Langsam wurde

seinen Freunden klar, worauf Jonas hinaus wollte. Marie sog scharf Luft ein, Hedwig

presste besorgt die Lippen zusammen und auf Leos Gesicht machte sich ein hilfloser

Ausdruck breit. Aber noch wagte niemand, Jonas zu unterbrechen. „Ich möchte

wieder Kontakt zu meinem Vater haben.“, sagte er, „Das müsst ihr doch verstehen.“

Bittend schaute er von einem Freund zum anderen. Keiner reagierte. Schließlich stieß

Leo scharf Luft aus und sagte so vorsichtig wie möglich: „Du weißt ja, wie wir

darüber denken. Aber selbstverständlich ist es deine Entscheidung, ob du mit ihm

wieder etwas zu tun haben willst. Die Frage ist nur: Wie willst du an ihn

herankommen? Und wie sollen wir dir dabei helfen?“ Schnell fuhr Jonas sich mit der

Zunge über die spröden Lippen. Das war gut. Sehr gut. „Ihr könntet zum Beispiel

Nachforschungen über ihn anstellen.“, schlug er vor, „Leute befragen, Zeitung

lesen… was weiß ich. Hauptsache, ihr haltet die Augen offen und ich weiß, dass ihr

auf meiner Seite seid.“ „Und du meinst wirklich, dass wir damit weiter kommen?“,

fragte Hedwig und hob zweifelnd eine Augenbraue. „Früher oder später sicherlich.“,

meinte Jonas und versuchte, optimistisch zu klingen, „Es kann Jahre dauern, aber

irgendwann werden wir wissen, wo er sich aufhält. Dann kann ich ihm wenigstens

einen Brief oder so etwas schreiben. Allerdings gäbe es da noch eine andere

Möglichkeit, an ihn heranzukommen. Das würde auch deutlich schneller gehen.“

Sein Tonfall hatte jetzt etwas Verschwörerisches an sich. Alle außer Marie hingen wie

gebannt an seinen Lippen. „Im Büro von Professor Ferono muss noch irgendwo eine

Akte über ihn zu finden sein. Immerhin war er hier Lehrer! Und vielleicht können

wir unter Tyras persönlichen Sachen auch noch etwas von ihm finden...“ Noch ehe er

seinen Redefluss stoppen konnte, merkte er schon, dass er zu weit gegangen war. „Du

willst in den Sachen deiner Tante herumschnüffeln? So etwas hätte ich echt nicht von

dir erwartet! Als ob du ihr nicht vertrauen könntest!“ Aus Maries sonst so klaren,

abgeklärten grauen Augen stoben wilde Funken. „Ich will dir jetzt mal sagen, was ich

von deinem Plan halte: nichts! Absolut nichts! Wenn du meinst, du musst deinem

Vater unbedingt einen Brief schreiben, bitte. Hindern kann ich dich sowieso nicht

daran. Aber ich werde dich ganz bestimmt nicht noch dabei unterstützen!“ Innerhalb

weniger Sekunden verrauchte die Wut, die den gesamten Raum in sich eingehüllt

hatte und machte Traurigkeit und dem Gefühl von Ohnmacht Platz. „Ich kann das

einfach nicht!“, Maries Stimme war immer noch kraftvoll, aber jetzt fast weinerlich,

„Irgendwie kann ich nachvollziehen, wenn du wieder Kontakt mit deinem Vater

haben willst, aber… Du kannst doch von uns nicht erwarten, dass wir dich dabei

unterstützen! Dieser Mann hat Menschenleben auf dem Gewissen! Und Leo und mir

hat er das Leben ganz besonders schwer gemacht. Es ist nicht so, dass ich ihn dafür

jetzt für alle Ewigkeit in Verantwortung ziehen will, aber nach ihm suchen werde ich

ganz bestimmt nicht! Das kann ich einfach nicht!“ Mit diesen Worten drehte Marie

sich um und stapfte zur Tür, die kurz darauf mit einem lauten Krachen zuschlug.

Noch ehe sie ging, konnte Jonas einen kurzen Blick auf ihr Gesicht erhaschen und

sah, wie sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. Ihm war, als hätte er

einen Schlag in die Magengrube bekommen. „Und ihr?“, fragte er leise und sah dabei

abwechselnd Hedwig und Leo an. Die beiden fühlten sich ganz offensichtlich nicht

wohl in ihrer Haut. Hedwig starrte auf die geschlossene Tür, als könne jeden Moment

ein Gespenst daraus hervorschweben und Leo schluckte schwer. „Wenn deine Tante

Informationen über ihren Halbbruder hat“, fing er an, „warum gibt sie sie dir dann

nicht?“ Jonas schüttelte resigniert den Kopf. „Ich habe sie schon gefragt.“, gab er zu,

„Zweimal. Aber sie hat noch schlimmer reagiert als Marie eben. Und als Lisa dann

noch davon gehört hat… Mit Tyras Hilfe kann ich jedenfalls nicht rechnen. Die wird

alles tun, damit ich meinen Vater nie wiedersehe. Sie meint, mich irgendwie vor ihm

beschützen zu müssen.“ Etwas Ähnliches dachten Hedwig und Leo auch. Sie waren

felsenfest davon überzeugt, dass ein weiteres Treffen zwischen Jonas und seinem

Vater ihm nur noch mehr wehtun würde. Wenn sie aber verhindern wollten, dass er

sich im Alleingang auf die Suche nach Herrn Maschael machte, würden sie ihm

zumindest das Gefühl geben müssen, hinter ihm zu stehen. „Also schön.“, gab Leo

widerstrebend nach, „Wie willst du denn an die Sachen herankommen?“ Jonas sah

sich suchend im Raum um. Zuerst dachte Hedwig, er suche nach seinem grünen

Teddybären, um ihn sich als Kopfkissen in den Nacken zu schieben, aber dann ging

ihr ein Licht auf: Jonas wollte sichergehen, dass keine lästigen Terminkalender sie

belauschten! Das war gar nicht so dumm. Um Jonas gedämpfte Stimme besser

verstehen zu können, beugte sie sich zu ihm hinunter. „Wir müssen in ihr Büro

einbrechen!“ Der Inhalt dieses Satzes war so unglaublich, dass Hedwig beinahe

aufgelacht hätte. Aber als Jonas anfing, alle Details auszuführen, wurde ihr mit

Schrecken bewusst, dass er es todernst meinte. „Die Schlüssel trägt sie Tag und

Nacht bei sich, in ihrer Jackentasche. Aber“, er machte eine bedeutungsvolle Pause,

„nicht beim Duschen. Ich werde mich einfach kurz reinschleichen, mir den großen

Schlüssel und den Schlüsselbund ausleihen und ihn dann später, wenn alle schlafen,

benutzen, um in ihr Büro zu kommen. Neben ihrem Schreibtisch hat sie ein großes

Pult mit vielen verschiedenen Fächern. Aber ich weiß ganz genau, dass die Akte

meines Vaters rechts in der zweiten Schublade von unten liegt, weil sie für dieses

Fach nämlich noch einen Extraschlüssel hat.“ „Wie bitte?“ Leo brauchte einige

Sekunden, um das Gehörte zu verarbeiten. „Und du meinst, sie merkt es nicht, wenn

während des Duschens plötzlich die Badezimmertür aufgeht und jemand Schlüssel

aus ihrem Umhang herausnimmt, die wahrscheinlich doppelt so schwer sind wie das

Kleidungsstück selbst? Und überhaupt: schließt sie beim Duschen denn nicht ab?“

„Nö.“, sagte Jonas und musterte seinen Freund einfältig, „Ich weiß, wie sie duscht,

ich habe mir sechs Wochen lang eine Ferienwohnung mit ihr geteilt. Deshalb weiß

ich auch ganz genau, dass sie während des Duschens singt und zwar so laut, dass sie

garantiert nicht den kleinsten Mucks hören wird, wenn ich reinkomme.“ „Was?“,

Hedwig lachte ungläubig, „Professor Ferono singt unter der Dusche? Kann sie das

überhaupt?“ „Mit dem Können ist das so eine Sache. Jeder ist in der Lage, etwas zu

tun, aber ob das den Anderen guttut oder bei ihnen so etwas wie einen Tinnitus

verursacht ist eine andere Sache.“, antwortete Jonas schlicht. Hedwig schnappte nach

Luft. „Du bist fies.“, stellte sie dann halb lachend fest. Dann war es eine Weile lang

still. Hedwig und Leo überlegten fieberhaft, wie dieser Plan aufgehen sollte. „Weißt

du denn überhaupt, wo der Schlüssel für die Schublade versteckt ist?“, fragte Leo

und wagte damit einen letzten Versuch, Jonas von seinem wahnsinnigen Vorhaben

abzubringen. „Natürlich.“, antwortete dieser, sehr zur Enttäuschung von Leo, „Er ist

in dem Topf mit der fleischfressenden Pflanze.“ Leo legte die Stirn in Falten.

Langsam kam eine Erinnerung in ihm hoch. „War das nicht die, die dir beinahe die

Hand abgebissen hätte, als wir zum ersten Mal im Büro deiner Tante waren?“

„Davon weiß ich ja gar nichts.“, warf Hedwig interessiert ein, bevor Jonas antworten

konnte. „Ach, so schlimm war das gar nicht.“, winkte Jonas leicht verärgert ab, „Ich

weiß schon, wie man mit diesem grünen Monster umgehen muss.“ Dann schaute er

seine Freunde auffordernd an und fragte: „Was ist jetzt? Seid ihr dabei?“

Sie konnte jetzt nicht stillsitzen. Unmöglich. Ihr Herz raste. Ihre Hände waren eiskalt.

Ihr Kopf schmerzte und ihre Stirn war gerötet. In ihr waren tausend Empfindungen,

die alle um ihre Aufmerksamkeit kämpften und von der sie kaum eine richtig

benennen konnte. Es war, als würde sie mit sich selbst streiten. Aufgewühlt ließ

Marie sich auf einem Stuhl vor dem Fenster nieder und stützte den Kopf auf die

Hände. Der Ausraster von vorhin machte ihr immer noch zu schaffen. Sie wollte

keinen Streit mit ihren Freunden. Und am liebsten hätte sie Jonas einen besseren Halt

gegeben. Ihn einfach nur anzuschreien, hatte sicherlich alles nur noch schlimmer

gemacht. Wären da nur nicht ihre Gefühle gewesen… In ihr brodelte glühende Wut.

Anders konnte sie es nicht beschreiben. Sie würde diesen Mann nicht suchen gehen.

Niemals. Sie wünschte sich von Herzen, diesem Menschen nie mehr in die Augen

schauen zu müssen. Noch während sie so dasaß, ihrem keuchendem Atem lauschte

und versuchte, sich irgendwie zu beruhigen, fiel ihr Blick auf das beschriebene Blatt,

das vor ihr lag. Frieden und Krieg. Ein Gedicht. Sie hatte es erst gestern geschrieben

und hätte es eigentlich schon längst wegwerfen sollen. Mit einer Hand packte sie es,

riss es aus dem Block und stand auf, um es in den Mülleimer zu katapultieren. Doch

stattdessen hielt sie inne. Sie wusste nicht, warum, aber irgendetwas drängte sie dazu,

diese Zeilen noch einmal zu lesen. Mit pochendem Herzen überflog sie sie.

Frieden & Krieg

Du hörst es, dieses Wort

neutral, rationalisiert, abstrakt

Du fragst dich, was es bedeutet.

Was ist Krieg?

Und wem gehört der Sieg,

wenn sich der Mensch vernichtet

Dann schnappte sie sich einen Bleistift und fing aus dem Impuls heraus an, ein paar

Zeilen dazu zu kritzeln:

Alles ist normal, alles scheint friedlich

grau, bunt, kompromissvoll

Nur in dir drin brodelt es manchmal.

Fängt Unfrieden nicht bei dir selbst an?

Diese Menschen sind arm dran,

die Krieg haben und sie wissen es nicht

Während sie schrieb, war sie immer nachdenklicher geworden. Als sie den Stift

beiseite legte, war sie wieder vollkommen ruhig. Nur die Kopfschmerzen blieben.

Und die Sorgen. Nachdenklich starrte sie auf die Zeilen. Ja, genauso fühlte sie sich.

Hier in der Schule taten alle so, als wäre alles in Ordnung. Der Unterricht wurde

abgehalten wie immer und man stritt sich um dieselben Kleinigkeiten wie jedes Mal.

Aber jeder wusste, dass nicht alles gut war. Die politische Lage in Iria wurde immer

unübersichtlicher. Beinahe unkontrollierbar. Dasselbe Gefühl, das sie verspürt hatte,

als sie Jonas und den anderen ihre Meinung gesagt hatte. Sie hatte nicht anders

gekonnt. In ihrem Herzen war ein Gefühl gewesen, als würde sie gleich zerspringen,

so viel Wut und Trauer hatten sich darin angesammelt. Im Nachhinein war Marie

froh, ausgerastet zu sein. Das hatte raus gemusst. Alles war besser, als Ärger in sich

hineinzufressen. Weil der Ärger einen sonst nämlich selbst auffrisst.

Endlich Ruhe. Seufzend zog Leo sich die Hose hinunter und klappte den

Toilettendeckel nach oben, der mit einem kurzen Scheppern gegen den Spülkasten

knallte. Er setzte sich und stützte den Kopf auf die Hände. Der Tag war ereignisreich

gewesen. Heute morgen hatte er seine erste Stunde Hebräisch gehabt. Schon jetzt

fragte er sich, ob das wirklich das Richtige für ihn war. Jedes mal, wenn sein Blick

unverhofft auf sein Vokabelheft fiel, drehte sich ihm der Magen um. Er wusste beim

besten Willen nicht, wie er das alles in seinen Kopf hineinkriegen sollte. Diese

ganzen Zeichen und Laute machten einfach keinen Sinn. Er fühlte sich dumm.

Genauso wie heute Mittag beim Essen, als Jonas ihm stolz berichtet hatte, sowohl ein

Lob von seinem Lehrer als auch von Marie bekommen zu haben. Niemand hätte ihm

zugetraut, dass er mit dem Griechischen klarkam. Besonders nicht Marie. Aber heute

hatte sie erstaunt zugeben müssen, dass Jonas in schulischen Dingen wohl doch nicht

so dumm war, wie sie gedacht hatte. Leo aber fühlte sich deshalb jetzt wie der letzte

Depp. Er stöhnte, zupfte eine Schlange Klopapier von der Rolle und knüllte sie

achtlos zusammen. Dann zielte er damit auf das Waschbecken. Und traf. Wenigstens

das ging heute nicht schief. Da unterbrach ein Rascheln seine Gedankengänge.

Wahrscheinlich das Klopapier. Aber immerhin wurde sein Kopf jetzt langsam wieder

klar für die wirklich wichtigen Dinge. Jonas, Hedwig und er hatten sich heute noch

einmal getroffen, um nach großem Hin- und Her endlich einen Plan auszuhecken, um

an Herrn Maschaels Akte zu kommen. Den Einbruch würden die beiden Jungen

allein erledigen. Leo wurde mulmig zumute, als er an dieses Wort dachte. Einbruch.

Er wollte das eigentlich nicht. Aber letztlich war ihm klargeworden, dass er Jonas

nicht im Stich lassen konnte. Schließlich waren sie Blutsbrüder. Der eine durfte den

anderen nicht hängen lassen, egal, wie dämlich eine Idee auch sein mochte. Hedwig

hatte sich ihnen nur zögerlich angeschlossen und geklagt, dass sie ein schlechtes

Gewissen habe bei dem Gedanken, Marie anlügen zu müssen, wenn sie ihnen half.

Zum Schluss hatten sie den Kompromiss geschlossen, Hedwig nur indirekt an der

Sache mitarbeiten zu lassen. Sie würde sich um die alles beobachtenden

Terminkalender kümmern und sie einfangen. Wie, das wusste noch keiner von ihnen.

Aber Hedwig war clever. Die würde das schon hinkriegen. Leo grinste bei der

Vorstellung, wie sie mit einem Kescher bewaffnet durch die Schule schlich und die

kleinen Heftchen einfing… und erschrak zu Tode. Über ihm raschelte es schon

wieder. Da war etwas. Erschrocken richtete er seinen Blick zur Decke. Direkt über

ihm flatterte Sigor. Leo fluchte. Ausgerechnet der! Zum Glück hatte er nicht laut

gesprochen. Diese fliegenden Teilchen waren ihm irgendwie unheimlich. Aber

immerhin hatte sich durch den Schrecken sein Magen von ganz allein entleert. Jetzt

brauchte er keine Angst mehr vor einer Verstopfung zu haben. Dennoch: Was um

alles in der Welt machte Sigor auf seiner Toilette? Hatten die fliegenden Dinger denn

nicht mal das bisschen Respekt vor seiner Privatsphäre? Leo stand auf, grapschte mit

einer Hand nach dem erschrockenen Terminkalender und riss mit der anderen die Tür

auf. Dann katapultierte er das wild mit den Flügeln um sich schlagende Ding hinaus.

Direkt in Jonas verwirrtes Gesicht. „Was?“, raunzte Leo nur und schlug die Tür

wieder zu. Aber eines war ganz sicher: nächstes Mal, wenn er etwas rascheln hörte,

würde er sofort seine Hose hochziehen.

Nero fühlte sich großartig. Mit jedem Atemzug der spätsommerlichen Luft, die er

einatmete, wurde sein Rücken gerader, seine Schultern härter und der Ausdruck in

seinen Augen stählerner. Tief in seinem Innern konnte er nicht anders, als über sich

selbst den Kopf zu schütteln. Nero, du bist zu leichtsinnig. Doch jetzt wollte er nichts

Anderes, als darüber zu lachen. Was für eine Ironie des Schicksals. Er war auf dem

Weg zu einer Beerdigung. Tilo hieß der arme Strolch, den es getroffen hatte. So

meinte er zumindest, es gehört zu haben. Er war bei lebendigem Leibe zerfetzt

worden. Gerne hätte Nero ihn auf dem Tisch des Gerichtsmediziner betrachtet. Er

fand, das war irgendwie echter. In der kalten, sterilen Umgebung der Gerichtsmedizin

war das hämische Lächeln des Todes viel deutlicher. Und die Verwundungen auch.

Schließlich wollte Nero sich auf seinen Einsatz top vorbereiten. Und da half es ihm

äußerst wenig, einen Blick auf seinen Vorgänger zu werfen, während dieser mit

einem friedlichen Ausdruck auf dem Gesicht, die Hände gefaltet und die

Verletzungen so gut wie möglich retuschiert, in einem Sarg lag. Aber das hier war

immerhin besser als gar nichts. Mit weit ausholenden Schritten überquerte Nero die

Straße der kleinen Stadt, in der die Beisetzung stattfinden würde. Schon von weitem

hörte er die Klänge. Wenn er sich nicht täuschte, war es eine elektronische Orgel

und… Geigen. Für eine Beerdigung also perfekt. Noch bevor er das kleine, weiße Tor

zum Friedhof aufreißen konnte, wusste er schon, dass er zu spät kam. Die anderen

Trauergäste waren bereits alle versammelt. Dort standen sie in Reih und Glied und

schauten andächtig gen Himmel. In Neros Unterbewusstsein fing etwas an, sich zu

regen. Er selbst ließ lässig die Sonnenbrille auf seine Nasenflügel fallen und

schlenderte langsam auf die kleine Gemeinschaft zu. Jetzt waren die Leute alle viel

zu sehr damit beschäftigt, dem Pastor zuzuhören, als dass sie ihn hätten beachten

können. Er stellte sich einfach ganz hinten an. So weit wie möglich von dem Podium

entfernt. Das würde ihm genügen. Nur einen kurzen Blick in den Sarg wollte er

später werfen. Eine schöne Idee, die Gedenkfeier im Freien stattfinden zu lassen,

fand er. Doch noch etwas fiel ihm auf. Während er die Gäste um sich herum während

der irre langen Predigt aufmerksam musterte, wurde ihm bewusst, dass die meisten

von ihnen bunt trugen. Orange Oberteile, blaue Hosen und gelbe Halstücher drängten

sich in sein Blickfeld. Dazu unterschiedlich farbene Strümpfe. Als er die junge Frau

mit den orangen Haaren vor sich betrachtete, musste er grinsen. Pippi Langstrumpf.

Doch dann erforderte wieder das Geschehen weiter vorn seine Aufmerksamkeit. Der

Gedenkgottesdienst war zu ende und nun drängten sich die Gäste nacheinander nach

vorn, um sich ein letztes Mal von ihrem Familienmitglied oder Bekannten zu

verabschieden. Nero ließ sich in dem Strom einfach mitreißen. Als er nur noch

wenige Meter vor dem Körper des Mannes stand, wegen dem er hier war, fiel sein

Blick auf ein Mädchen in einem weißen Kleid. Sie wirkte wie eine junge Braut, doch

dazu passte der Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht. Ihre hellen, braunen Augen

starrten mit unterdrückter Pein ins Leere und ihre Wangen waren benetzt von einem

Gitter aus glitzernden Tränen. Für einen Moment vergaß Nero alles um sich herum

und sah nur noch sie. Sie, die dastand und trauerte. Er sog ihre gesamte Erscheinung

in sich auf, die hellen Haare, die zierliche Statue… und den Babybauch. Für einen

Moment zog sich sein Herz schmerzvoll zusammen. Dann wandte er sich,

erschrocken über sich selbst, ab. Er stand direkt vor dem Sarg und starrte auf ein

schwarzes Tuch. Alles, was von Tilo übrig geblieben war.

„Gundula?“, Hedwigs laute Stimme tönte von einer Ecke ihres Zimmers in die

andere. Marie war weg, das bedeutete, dass sie endlich Gelegenheit hatte, ihre

Terminkalender-Beseitigungs-Aktion zu starten. Und anfangen wollte sie direkt bei

ihrem eigenen. Bei der lieben, alten Gundula. „Warst du eigentlich schon mal im

Urlaub?“, Hedwig rechnete nicht damit, eine Antwort zu erhalten, aber vielleicht

würde sie Gundula ja beruhigen können, indem sie ein wenig mit ihr sprach. Erst

gestern Nacht hatte sie einen genialen Geistesblitz gehabt: Sie würde die

Terminkalender einfach alle in den geheimen Raum unter ihrer Schule sperren!

Vorausgesetzt, sie würde es je schaffen, die 150 Stück bei lebendigem Leibe

einzufangen. Wie erwartet antwortete Gundula nicht. Stattdessen meckerte sie mit

hoher, monotoner Stimme: „Mittagessen ist um 13:30 Uhr.“ Dennoch kam sie auf

Hedwig zugeflattert und setzte sich vertrauensvoll auf ihren Arm. „Aber das weiß ich

doch.“, sagte Hedwig freundlich und seufzte. Was bin ich froh, dich Nervensäge bald

hinter Schloss und Riegel sperren zu können, dachte sie, während sie sich auf alle

Viere niederließ, um die unter ihrem Bett eingelassene Falltür beiseite zu schieben.

Sie schnaufte. Einfacher wäre es gewesen, das Bett woanders hinzustellen, aber sie

wollte um jeden Preis vermeiden, dass ihre Freundin Verdacht schöpfte sobald sie

zurückkam. Bis die Aktion gelaufen war, sollte Marie schön ihre Finger von dem

geheimen Raum lassen. Mit einem ekligen Ritsch sprang die Tür auf. Darunter

verbarg sich ein dunkles, schwarzes Loch. Hedwig rümpfe die Nase. Sie konnte

schon jetzt den Kellergeruch wahrnehmen. Modrig und feucht. Sie schnappte sich

eine Taschenlampe und stieg in den Gang hinab. Dabei war sie stets darauf bedacht,

Gundula nicht zu verlieren. Doch die saß ganz ruhig auf ihrem Arm und schien nicht

den leisesten Verdacht zu schöpfen. Unten angekommen, tappte Hedwig etwas

orientierungslos ein paar Schritte durchs Dunkel. Dann ging sie zielstrebig in eine

Richtung. Und spürte im nächsten Moment bereits, wie ihr linker Fuß in etwas

Weichem einsackte. Dazu schmatzte es. Hedwig fluchte. So ein Mist aber auch! Die

Schuhe hatte sie erst vor ein paar Wochen gekauft. Als sie mit dem schmalen

Lichtkegel der Taschenlampe die Umgebung absuchte, stellte sie grimmig fest, dass

sie genau richtig war. Sie stand direkt über der Falltür zum geheimen Raum. Und

genau wie beim ersten Mal war sie voll in die Pfütze darüber getreten. Jetzt

verlagerte sie ihr Gewicht auf das Bein, dessen Fuß im Matsch steckte und trat mit

dem anderen energisch gegen einen Stein. Sofort wurde der Schlamm in der Pfütze

weniger. Darunter erkannte sie die Falltür. Erleichtert, sich endlich wieder frei

bewegen zu können, beugte Hedwig sich hinunter und ritzte die geheimen Zeichen in

das Holz: Stern, Mond, Fisch, Bibel. Die Falltür sprang auf. Perfekt. Das einladende

Licht, das aus der Öffnung hervor strömte, weckte Hedwigs Vorfreude auf ein

Wiedersehen mit Finja und PiPo, den beiden Halbelfen, die sich um den Raum

kümmerten und dort wohnten. Sie hätte sie schon viel eher wieder besuchen sollen.

Flink überwand Hedwig die lange Strickleiter, die nach unten führte und fand sich

wenig später in dem goldenen Licht des über und über mit Büchern vollgestopften

Raumes wieder. Staunend betrachtete sie ihre Umgebung. Die goldene Decke, die

Regale, die rote Tapete mit dem Goldfaden. Erst jetzt merkte sie, wie sehr sie es

vermisst hatte. „Finja, Pi Po?“, noch während sie in Gedanken versunken war, rief sie

schon ihre Freunde. Aber niemand antwortete. Wahrscheinlich waren sie beschäftigt.

Gedankenverloren schlenderte Hedwig ein paar Schritte weiter. Und fand sich vor

einem merkwürdigem Geäst aus Namen wieder. Es zeigte die Besitzer des geheimen

Raums bis heute. Als sie so sehr in seine Betrachtung versunken dastand, musste sie

plötzlich an Marie denken. Die hätte hier bestimmt stundenlang vorstehen und die

Namen in sich aufsaugen können. Hedwig lachte laut auf. Dann wandte sie ihren

Blick den Linien auf der Tapete zu. Sie folgte ihnen und versuchte angestrengt,

irgendein Muster auszumachen. Doch es gelang ihr nicht. Immer wieder und wieder

verstrickte sie sich in den komplizierten Verzweigungen und Schlangenlinien, bis sie

es schließlich aufgab. Nachdem sie noch eine Weile gewartet hatte, stellte sie

enttäuscht fest, dass Finja und PiPo wohl nicht mehr kommen würden. Noch bevor

sie ihren ersten Fuß auf die Strickleiter setzten konnte, sog sie scharf Luft ein.

Beinahe hätte sie vergessen, Gundula hier abzusetzen! Sachte nahm sie den

Terminkalender von ihrem Arm und setzte ihn auf eins der Regale. „Ich bin gleich

wieder da, Gundula.“, sagte sie und versuchte, ihre Stimme so sanft wie möglich

klingen zu lassen. Sie kam sich vor, als rede sie mit einer todkranken, verwirrten

alten Frau. Da fiel ihr Blick auf ein Wort. Opfer. Dort prangte es. Ihr gegenüber.

Direkt auf der Wand. Mit fetten, goldenen Buchstaben. Hedwigs Herz schlug

schneller und auf ihrer Stirn bildeten sich skeptische Falten. Was war das denn?

Warum schrieb hier jemand Opfer an die Wand? Sie schaute kurz weg und als sie

beim nächsten Mal auf die Wand blickte, war dort nichts mehr. Nur ein Gewirr aus

goldenen Linien. Hedwig schüttelte den Kopf. Wurde sie jetzt auch noch verrückt?

Sie beeilte sich, zur Leiter zurückzukommen. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen,

ohne sich umzudrehen nach oben zu klettern, aber wie erwartet machte ihr ihre

Neugier einen Strich durch die Rechnung. Sie drehte sich wieder in die Richtung der

Wand mit dem seltsamen Wort. Da sah sie es wieder. Klar und deutlich. Wie

gedruckt. Und mit einem mal fiel ihr auf, dass sie die Linien lesen konnte. Sie konnte

sie tatsächlich lesen! Das waren keine Muster, sondern eine Schrift! Aufgeregt

kletterte Hedwig nach oben und hievte sich zurück in den modrigen Gang, um ihren

Freunden von ihrer Entdeckung zu berichten. Nur Marie durfte sie nichts sagen.

Sonst kam die sicher auf die Idee, im geheimen Raum nachzuschauen. Und da war ja

jetzt Gundula.


Iria - Blut wie Regen

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