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Eine erschreckende Entdeckung

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Die Kaffeepfütze war immer noch da. Und wieder trat Eljosch mitten hinein. Aber es

störte ihn nicht. Sein Körper war schweißgebadet. Er hatte Angst. Mit dieser Angst

vermischte sich das dumpfe Gefühl, dass das Gespräch mit Borost für ihn überhaupt

nicht gut verlaufen war. Auch wenn er versuchte, sich das Gegenteil einzureden.

Dieser Mann hatte radikale Ziele. Und er würde radikale Mittel anwenden, um diese

zu erreichen. Eljosch war anders als viele Präsidenten vor ihm. Er war vor moralisch

fragwürdigen Mitteln, um die Regierung im Land zu stabilisieren bisher immer

zurückgeschreckt. Aber jetzt fühlte er sich dazu gedrängt, eins von ihnen einzusetzen.

Borost musste mundtot gemacht werden, bevor es zu spät war. Um das Wohl des

Landes Willen. Keuchend setzte er sich in seinen Sessel und schloss für einen

Moment die Augen. Da quietschte die Tür. Wie erwartet trat Kristina ins Zimmer. Ihr

Auftreten war dieses Mal erschreckend formell. „Haben sich irgendwelche neuen

Termine ergeben?“, fragte sie, ohne Eljosch anzusehen. Dieser schüttelte den Kopf.

In seinem Rachen stieg ihm langsam die Galle hoch. Er brauchte eine Pause. Und

zwar schnell. Er überlegte schon, ob er Kristina bitten sollte, seine persönliche

Reinigungskraft zu rufen, um wieder ein wenig Ordnung in das Chaos seines Hauses

zu bringen. Aber seine Zunge erschien ihm zu schwer. Aus seinem Mund drang nur

ein Keuchen. Aus fast fiebrig glitzernden Augen sah er Kristina an. Wurde er krank?

Gut möglich. Kristina warf einen prüfenden Blick auf ihren allgegenwärtigen

Notizblock, auf dem sie sich alles Mögliche, manchmal sogar doppelt, notierte, um ja

nichts zu vergessen. Sie hatte gehofft, spätestens Ende dieser Woche in diesem Punkt

Unterstützung zu erhalten. Wie sehr sie sich gefreut hatte, als Eljosch ihr und anderen

Regierungsangestellten diesen Zuschuss nach langem Hin und Her endlich billigte.

Aber heute war eine schlechte Nachricht eingetroffen. Sie ärgerte sich darüber und

war enttäuscht. Seufzend und mit saurem Unterton eröffnete sie: „Die 150 fliegenden

Terminkalender, die ich in deinem Auftrag für das Ministerium bestellt hatte, wurden

übrigens falsch abgeliefert. Stattdessen haben wir einen Satz Englischbücher für eine

fünfte Klasse erhalten.“ Eljosch warf den Kopf in den Nacken und blinzelte. Er hatte

jetzt wirklich andere Sorgen.

„Kommst du mit nach Miniklu?“ Hedwigs fröhliche Stimme schien seinen düsteren

Gemütszustand zu verspotten. Jonas saß mit seinen drei Freunden am Frühstückstisch

und stocherte lustlos in seinem Haferflockenbrei herum. Mit Leo hatte er sich immer

noch nicht ausgesprochen. Und das hatte er auch nicht vor. Der würde ihn eh nicht

verstehen. Ich habe mir Unterstützung von dir erhofft, dachte Jonas grimmig,

Zumindest passive, damit jemand meiner Tante sagen kann, wo ich bin, wenn ich für

ein paar Wochen verschwinde, um meinen Vater suchen zu gehen. Aber stattdessen

machst du mir Vorwürfe und lachst über mein Vorhaben. Ich hätte es dir gar nicht

sagen dürfen. „Jonas?“, jetzt wurde auch noch Marie auf ihn aufmerksam.

Stirnrunzelnd fragte sie: „Warum sagst du denn nichts?“ Schmollend verzog Jonas

den Mund. „Was machen wir da?“, fragte er desinteressiert, statt eine Erklärung für

sein Verhalten zu liefern. Marie zuckte überrascht mit den Schultern. Dann schlug sie

vor: „Wir könnten in verschiedene Geschäfte gehen und gucken, ob wir irgendetwas

Nützliches finden. Leo meinte zum Beispiel, dass du schon wieder deine Federtasche

verlegt hast. Wir können eine neue kaufen. Und natürlich statten wir auch der

Bäckerei und dem Süßigkeitenladen einen Besuch ab.“, sagte sie verschwörerisch

und blinzelte ihrem Freund zu, um ihn wieder auf andere Gedanken zu bringen. Jonas

wusste nicht, was er antworten sollte. Ja, er hatte ja nicht einmal eine Ahnung, wie er

sich fühlen sollte! Eigentlich war er immer Feuer und Flamme gewesen, wenn sich

die Gelegenheit bot, mit Kutschen von der Schule aus nach Miniklu zu fahren.

Besonders, wenn er Süßes kaufen konnte. Aber jetzt… „Ich weiß noch nicht.“,

murmelte er betreten. „Na gut.“, meinte Hedwig, „Du kannst es dir ja noch

überlegen.“

Am Nachmittag saßen sie tatsächlich alle zusammen in einer Kutsche und genossen

die holprige Fahrt über den mit blauen Kieselsteinen gesäumten Weg und die

Aussicht auf die weiten, saftgrünen Wiesen. Die beiden Mädchen unterhielten sich

und kicherten jedes Mal, wenn Erwin neben eine von ihnen auf die Sitzbank sprang,

um sich an sie zu kuscheln. Leo und Jonas schwiegen. Beide dachte nach. „Jonas?“,

fragte Leo schließlich, unsicher, wie er ihn ansprechen sollte. Doch sein Freund

reagierte nicht. Also versuchte Leo es einfach. „Es tut mir leid, falls ich irgendetwas

gesagt habe, das dich verletzt hat. Aber ich dachte, du siehst das Ganze auch so.“

Keine Reaktion. Na toll. Mehr tun, als sich zu entschuldigen für etwas, bei dem er

gar nicht richtig wusste, was er falsch gemacht hatte, konnte Leo auch nicht. In ihm

kroch die Wut hoch. „Was habe ich dir denn getan?“, fragte er schließlich hitzig und

beugte sich zu seinem Freund hinüber, um seinen abwesenden Gesichtsausdruck

deuten zu können. „Nichts.“, war die dumpfe Antwort. Und dann: „Mach dir nur

keine Gedanken, eigentlich liegt es nicht an dir.“ „An wem dann?“ Doch die Frage

war vergebens. Jonas sagte nichts mehr, bis sie an den Rand des dunklen Waldes

kamen, der zwischen Firaday und Miniklu lag und durch den sie kurz nach ihrer

Einschulung gewandert waren. Leo konnte sich daran erinnern, als wäre es gestern

gewesen. Da war wieder diese Beklemmung, die sich erst in Angst und schließlich in

unterdrückte Panik gesteigert hatte. Leo konnte nichts weiter tun, als den

Fünftklässlern, die morgen allesamt am Bahnhof in Miniklu eintrudeln würden, viel

Glück zu wünschen. Jetzt war ihre Kutsche kurz vor den dunkel und bedrohlich

aufragenden Baumspitzen angekommen. Die Mädchen hörten auf, sich zu

unterhalten und Hedwig griff vorsichtshalber nach Erwins Halsband, in der

Erwartung, um sich herum gleich nichts mehr als nur schwere Dunkelheit zu sehen.

Hoffentlich würde der Kutscher schnell fahren. Dann wäre es umso schneller vorbei.

Doch stattdessen ging ein Ruck durch das Gefährt. Auch die anderen Kutschen, die

ihnen gefolgt waren, blieben nach und nach stehen. Marie lehnte sich aus dem

großen, offenen Fenster, um zu erfahren, was geschehen war. Direkt darauf hörten

ihre Freunde, wie sie kurz erschrocken aufschrie und ihr Gesicht, eine Maske aus

Angst, Ekel und Mitleid, dann in ihren Händen verbarg. „Was ist denn?“, jetzt war

auch Leo aufgesprungen. „Da draußen liegt einer.“, stammelte Marie, „Ein

Mann. ...glaube ich.“ Nun warf auch Leo einen Blick auf den direkt neben ihrer

Kutsche liegenden Kadaver und wünschte sich sofort, er hätte es nicht getan.

Unvermittelt erschien nun auch Hedwigs Gesicht neben dem seinen im Fenster. „Was

ist das?“, fragte sie entsetzt und rümpfte die Nase wegen des bestialischem, frischen

Verwesungsgestanks, der von der Leiche ausging. „Ein Mensch.“, antwortete der

Kutscher, der heruntergestiegen war, um seinen Fund genauer zu betrachten. Die

Arme des Mannes waren unnatürlich verdreht und eines seiner Beine war mit roher

Gewalt herausgerissen worden, sodass man den Knochen irgendwo in dem Meer aus

dunklem, eingetrocknetem Blut hervorblitzen sehen konnte. Der restliche Körper war

übersät mit großen, tiefen Wunden. Es sah aus, als sei der Mann kurz vor seinem

Ableben mit tausend Messerstichen malträtiert worden. Doch das Schlimmste an

allem war sein Gesicht. Es war nichts weiter als eine Wüste aus rohem, blutendem

Fleisch und hatte alle menschenähnlichen Züge verloren. Das eine Auge war

herausgerissen. Statt seiner klaffte dort ein rundes Loch. Das andere war noch intakt.

Es war weit aufgerissen und starrte zu den Schülern empor. Der wässrige, tote

Ausdruck in ihm blieb Hedwig und Leo im Gedächtnis haften. „Was machen wir

denn jetzt?“, fragte Hedwig und schaute hilflos den Kutscher an. „Ich habe zum

Glück mein Talikum dabei.“, antwortete dieser und kramte mit einer nervösen Geste

einen kleinen, flachen Gegenstand mit Zahlentasten aus seiner Hosentasche hervor.

Doch seine Finger zitterten so sehr, dass er die Nummer nicht eingeben konnte,

obwohl er auf irgendeine Art und Weise stolz zu sein schien, den Schülern seinen

neuen, außergewöhnlichen Erwerb zu zeigen. Denn Talikums waren hier eine

Seltenheit. „Geben Sie her!“, bot Leo an und nahm ihm das Gerät behutsam aus der

Hand. Dann tippte er die Nummer der irianischen Polizei ein. Nachdem er kurz

telefoniert hatte, gab er das Talikum zurück an den Kutscher, der nun alle Hände voll

damit zu tun hatte, seinen erzürnten Kollegen den Grund für sein ruckartiges

Anhalten zu erklären, bis deren Blicke sich auf den seltsamen Fund richteten und sie

erschrocken ihre Hände vor dem Mund zusammenschlugen.

Sie mussten zehn Minuten warten. Die Zeit kam ihnen unerträglich lang vor. „Da

sind Fliegulas!“, bemerkte Jonas endlich und wies in Richtung des offenen Fensters.

Er selbst hatte keinen Blick auf den Toten geworfen. Wie er fand, hatte er in seinem

Leben schon genug Elend gesehen. Die riesigen Vögel kamen immer näher, bis sie

schließlich neben der Kutsche landeten und die Polizisten, die auf ihnen gesessen

hatten, hinabsprangen. Einer von ihnen trug keine Uniform und beugte sich sofort zu

der Leiche hinunter. Vielleicht ein Arzt oder ein Gerichtsmediziner. Die anderen

Polizisten machten sich daran, den Tatort abzusperren, während zwei von ihnen

herauszufinden versuchten, was geschehen war. „Guten Tag, mein Name ist Inspektor

Flammberg.“, stellte sich der Größere von ihnen vor und reichte dem Kutscher

freundlich die Hand. Marie war so, als würde sie die Stimme irgendwoher kennen.

Sein Kollege schien jedenfalls wesentlich weniger sympathisch zu sein als er. Er

durchleuchtete den Kutscher mit argwöhnischen Blicken und fragte: „Sie haben also

die Leiche gefunden?“, während sein brauner Schnurrbart träge auf und ab wippte.

Der Kutscher nickte. Dann redete er so schnell und aufgeregt drauf los, dass

Inspektor Flammberg ihn mit einer besänftigenden Geste zum Schweigen bringen

musste. „Nun mal langsam.“, versuchte er ihn zu beruhigen, „Sie wollten mit ihrer

Kutsche den Wald also durchqueren, um die Schüler nach Miniklu zu bringen. Bis

dahin habe ich alles verstanden. Und dann?“ Der Kutscher holte tief Luft und

schluckte. „Dann habe ich das hier gesehen.“, sagte er und deutete auf den Kadaver,

„Ich habe mich gewundert, dachte zuerst, es sei ein totes Tier, aber es war so groß

und… trug Kleidung. Also bin ich angehalten, um danach zu sehen. Kaum konnte ich

klar denken, merkte ich, dass es ein Mensch war und wollte sehen, ob ich ihn noch

irgendwie retten kann. Aber wie Sie sehen, kommt für diesen armen Mann jede Hilfe

zu spät.“ Trübsinnig starrte der Kutscher nach unten. Inspektor Flammbergs Begleiter

hatte sich währenddessen eifrig Notizen gemacht. „Wir brauchen Ihre Aussage noch

auf dem Präsidium.“, sagte er mürrisch, „Am besten, sie kommen gleich mit.“

Inspektor Flammberg schien die Worte des anderen gar nicht wahrgenommen zu

haben. Er kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe herum und stützte sein Kinn auf

der rechten Hand ab. „Haben sie irgendeine Vermutung, wie der Mann hierhin

gelangt sein könnte oder was ihm zugestoßen ist?“, fragte er und musterte den

Kutscher aus seinen eisblauen Augen. Dieser schüttelte nervös den Kopf. „Keine

Ahnung, ich...“, stammelte er. Dann sah er ein, dass es keinen Sinn machte, sich noch

weiter Gedanken darüber zu machen und schüttelte resigniert den Kopf. „Ich kann im

Moment sowieso keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Bitte, Sie müssen das

verstehen.“ Der Inspektor lächelte verständnisvoll. Dann sagte er: „Ich nehme jetzt

noch Ihre Personalien auf und dann können Sie gehen. Das mit der Aussage auf dem

Präsidium hat Zeit bis Morgen.“ Der Kutscher war sichtlich erleichtert. Der andere

Polizist hingegen ballte die Fäuste und schien wenig erfreut darüber, einfach so

übergangen worden zu sein. Plötzlich erinnerte sich Marie, woher ihr die beiden

bekannt vorkamen. Sie hatte sie letztes Schuljahr gesehen, nachdem in ihrer Schule

angeblich ein Päckchen mit einer Bombe abgegeben worden war, was sich letzten

Endes als großer Irrtum herausgestellt hatte. Damals war es ihr so vorgekommen, als

wären die beiden Polizisten gleichrangig gewesen. Doch entweder war der

Unfreundliche degradiert worden oder Inspektor Flammberg hatte eine Beförderung

hinter sich. Während sie aus dem Fenster heraus die Polizisten musterte, vermied

Marie es, ihren Blick auf die Leiche zu senken. „Brauchen Sie unsere Aussagen auch

noch?“, fragte sie vorsichtig. Kaum hatte sie den Mund aufgemacht, bäumte sich der

Polizist mit dem Schnurrbart schon vor ihr auf. „Natürlich.“, ließ er laut vernehmen

und streckte die Brust, „Jede Aussage, die uns in diesem Fall weiterbringt, ist

wichtig. Lass nur hören.“ Interessiert musterte er sie. „Ähm...“, Marie spürte, dass er

jetzt etwas wirklich Wichtiges von ihr erwartete und hoffte, dadurch einen Pluspunkt

für sich einzuheimsen, weil er es war, der sie dazu aufgefordert hatte, zu reden. „Ich

habe eigentlich nichts anderes gesehen als der Kutscher auch. Ich frage nur, weil ich

wissen möchte, ob es notwendig ist, dass auch wir alle auf dem Präsidium eine

Aussage machen müssen.“ Der Schnurrbärtige schaute nur enttäuscht drein und

schwieg. Also beantwortete Inspektor Flammberg ihre Frage. „Müsst ihr nicht.“,

sagte er und fügte dann ruhig hinzu: „Aber wenn euch irgendetwas Wichtiges einfällt,

woran ihr euch erinnern könnt, irgendein Detail, das ihr jetzt im Eifer des Gefechts

vergessen habt, dann meldet euch.“ Jetzt wandte er sich an den Mann ohne Uniform.

„Schon was herausgefunden, Taski?“ „Ein Mann, schätzungsweise Mitte zwanzig.“,

eröffnete der Angesprochene, ohne seinen prüfenden Blick von der Arbeit, die er vor

sich liegen hatte, zu heben. „Er scheint mehrere Knochenbrüche zu haben, die ihm

aber erst nach seinem Tod zugefügt worden. Und das hier“, er deutete auf das nicht

mehr vorhandene Bein, „ist wahrscheinlich herausgerissen worden. In seinem

Gesicht finden sich Bissspuren.“ „Was ist die Todesursache?“, forschte der Polizist

mit dem Schnurrbart. Der Gerichtsmediziner deutete auf die tiefen Stiche im Rumpf

des Toten. „Es scheint so, als wäre er erstochen worden.“, sagte er nachdenklich,

„Und das vor grob geschätzt mindestens 24 Stunden. Das ist merkwürdig.“ „Was?“,

fragte Flammberg, während er einerseits versuchte, den Leichnam zu studieren, um

sich ein besseres Bild von dem Fall zu machen und andererseits darauf bedacht war,

so wenig wie möglich daran erinnert zu werden, dass das dort vor ihm einmal ein

Mensch voller Leben gewesen sein musste. „Na“, der Gerichtsmediziner schnalzte

mit der Zunge, als wäre es das Offensichtlichste überhaupt, „Das hier sieht mir nicht

nach einem Unfall aus. Aber wenn er ermordet wurde, dann müssen anschließend

wilde Tiere über ihn hergefallen sein und ihn hierher geschleppt haben. Und mir fällt

kein Tier hier in der Gegend ein, das zu so etwas im Stande wäre.“ Unvermittelt stieß

Inspektor Flammberg einen leisen Pfiff aus. „Die Gierungen“ Es war mehr eine Frage

als eine Feststellung. Der Gerichtsmediziner wiegte den Kopf nachdenklich hin und

her. „Wenn man nur das Wenige betrachtet, was man über sie weiß, könnte das

übereinstimmen. Aber bis jetzt ist man davon ausgegangen, dass Gierungen keine

Menschen angreifen.“

Neugierig und zugleich schaudernd hatten die vier Freunde gelauscht. „Gierungen?“,

Jonas verzog das Gesicht, „Die haben noch nie jemanden angegriffen.“ Trotzdem

hatten kurz darauf alle ein komisches Gefühl im Bauch, als ihre Kutsche polternd

durch die absolute Düsternis des Waldes fuhr. Marie klammerte sich ängstlich an ihre

Freundin, die wiederum hielt Erwin fest an sich gedrückt. In Leo kamen immer

wieder die Bilder des zerschundenen Mannes hoch und er bekam Angst bei dem

Gedanken, dass sie alle genauso enden könnten wie er. Als das Licht der Sonne

schließlich die Dunkelheit durchbrach und den Blick auf den erdigen Pfad, der auf

das kleine Städtchen zuführte, freigab, war die Freude umso größer. „Endlich.“,

selbst Jonas stöhnte erleichtert auf. Obwohl er die Leiche nicht gesehen hatte, waren

in seiner Fantasie in Windeseile furchtbare Bilder entstanden. Er wünschte sich in

diesem Moment, nie mehr nach Firaday zurück zu müssen, um nie mehr den Wald zu

durchqueren. Sie fuhren noch ein paar Meter, dann stiegen sie aus. Wenig später

standen sie auf dem Platz, auf dem Emanuel vor einem Jahr entschieden hatte, sie

nach Firaday zu schicken. Bei dem Gedanken an ihn zogen sich ihre Eingeweiden

schmerzhaft zusammen. Emanuel, der große Löwe. Er war jahrelang Irias wichtigster

Berater gewesen und hatte über einen unaufwiegbaren Schatz an Weisheit verfügt. In

seiner Nähe hatte man sich wohl und sicher gefühlt. Paradoxerweise. Denn Emanuel

war ein Löwe gewesen. Doch eines Tages war er verschwunden, nachdem er sich von

Marie verabschiedet hatte. Sie spürte noch das Kribbeln von damals in ihrem Bauch,

als sie an seiner Seite durch die wunderschönen Wiesen gestreift war. Und den

Schmerz, als sie am nächsten Morgen aufgewacht war mit der Gewissheit, dass sie

ihn vielleicht nie wieder sehen würden. Emanuel hatte ihnen den Auftrag gegeben,

den „Schlüssel der Macht“ zu zerstören. Und er hatte sie dabei unterstützt. „Wohin

jetzt?“, fragte Jonas und zerbrach dadurch das andächtige Schweigen. Marie zuckte

mit den Schultern. „Mir egal.“, sagte sie. Dann merkte sie, wie ein spitzbübisches

Leuchten in Jonas Augen aufglomm. „Dann gehen wir als Erstes zur Bäckerei.“,

sagte er gut gelaunt und zog die anderen mit sich. Sobald sie in den warmen

Verkaufsraum eintraten, lief ihnen das Wasser im Mund zusammen. Manchmal,

dachte Leo, riechen die Dinge besser, als sie schmecken. Doch das war genau das

Problem. Angezogen durch den verführerischen Duft machte keiner von ihnen vor

der Theke Halt ohne etwas mitzunehmen. Außerdem hatten sie schon wieder Hunger.

Marie und Hedwig kauften sich eine mit Früchten gefüllte Teigtasche und Leo einen

großen Schokokeks. Jonas füllte einen ganzen Beutel mit den verschiedensten

Leckereien, von Amerikanern und Quarkbällchen, bis hin zu überbackenen Bananen.

Dabei berichtete ihm die Verkäuferin stolz, dass ihre Bäckerei jetzt bei fast allen

Produkten von Weizenmehl auf Dinkelvollkornmehl umgestiegen war. Jonas hörte

kaum zu. Aber später wunderte er sich darüber, dass sein Marzipanröllchen bei

genauerer Betrachtung dunkler war als sonst. Als Jonas die anderen erstaunt darauf

hinwies, lachte Leo nur und behauptete: „Es hat bestimmt Sonnenbrand.“, woraufhin

Marie nur verächtlich den Kopf schüttelte. Als Nächstes entbrannte zwischen Hedwig

und Jonas eine heftige Diskussion, ob sie erst zum Tiergeschäft gehen sollten, um

Futter für Erwin zu kaufen oder zu dem kleinen Süßigkeitenladen, der direkt neben

der Bäckerei lag. Auf Maries Einwand hin, dass er seine Süßigkeiten auch in jedem

x-beliebigem Supermarkt für weniger Geld bekommen könne, erklärte Jonas: „Die

Süßigkeiten da sind aber nicht hausgemacht. Frau Jahnsan stellt sie schon immer

selbst her. Und deshalb schmecken sie auch viel besser.“ Da musste Marie ihm Recht

geben. Also stolzierten sie wenig später alle nacheinander in den kleinen, von oben

bis unten mit bunten Bonbons vollgestopften Laden hinein. Als Entschädigung für

Hedwig, dass sie noch ein bisschen warten musste, um das köstliche Hundefutter zu

kaufen, hielt Jonas ihr wenige Zeit später eine bunte Tüte Bonbons hin, die sie

überrascht annahm. Aber Jonas Großeinkauf war damit noch lange nicht fertig. Seine

Freunde vertrieben sich die Wartezeit, indem sie gespannt auf den kleinen Fernseher

starrten, der seit neustem in einer Ecke des Raumes installiert war. Es liefen die

irianischen Nachrichten. Marie verzog traurig das Gesicht, als sie bemerkte: „Das ist

ja auch nicht viel besser als bei uns. Fast alles, was es zu berichten gibt, ist negativ.“

Kopfschüttelnd sah sie zu, wie darüber berichtet wurde, wie eine radikale Gruppe

Hetzkampanien veranstaltete, in denen sie Rache für den Süden forderte. Kurz darauf

liefen zig Bilder von Demonstranten über den Bildschirm. Iria schien sich innerhalb

weniger Wochen in ein hochexplosives Minenfeld verwandelt zu haben. Zu diesem

Entschluss kam auch Leo, als der Polizeipräsident von der schwindelerregend schnell

ansteigen Rate von Drohbriefen erzählte, die vor allem Politiker erhalten hatten.

„Und jetzt kommen wir zum wichtigsten Teil unserer Sendung.“, eröffnete die

Nachrichtensprecherin, „Eljosch Kanidis hat sich gestern mit Christian Borost, dem

Vertreter der Bürgerinitiative „Heimat Südland“ getroffen.“ Wir sind gespannt, was

dabei herausgekommen ist.“ Als nächsten war die Kamera auf ein schmal

zulaufendes Gesicht mit stechenden Augen gerichtet, eingesäumt von eisblauem

Haar. „Ich, Christian Borost, Vertreter der Bürgerinitiative „Heimat Südland“,

besuche heute den Präsidenten von Iria, um ihm einige wichtige Fragen zu stellen

und mich mit ihm zu unterhalten.“ Ein charmantes Lächeln zierte das hübsche

Gesicht. Dann wurde die Aufnahme abgespielt. Je mehr sie sahen, desto stärker kam

bei ihnen das Gefühl auf, dass sich der Präsident diesem Gespräch irgendwie nicht

freiwillig unterzogen hatte. Er wirkte auf einmal nervös, im nächsten Moment aber

wieder ruhig und sachlich. Es war klar, dass dieser Borost ihn auf den Zahn fühlen

wollte. Zuerst waren Kanidis Antworten gut, aber irgendwann zog sich die imaginäre

Schlinge um seinen Hals immer enger, bis das Gespräch am Ende völlig ausartete.

Leo kam sich vor wie in einem Krimi, wenn der Täter endlich gefasst und verhört

wird, tausende von Fragen über sich ergehen lassen muss und letztendlich gesteht.

Aber Präsident Kanidis hatte nichts zu gestehen. Schließlich wurde die Aufnahme

unvermittelt abgebrochen. Keiner wusste, warum. Von den drein hatte es Hedwig am

meisten getroffen, den Präsidenten ihres Heimatlandes so zu sehen. Einen, wie sie

meinte, sehr guten Präsidenten. Als Jonas endlich fertig war und sie sich wieder vom

Fernseher abwandten, hielt sie sich geschockt eine Hand vor den Mund und flüsterte:

„Oh Gott.“ Und sie meinte es ernst. Der beliebteste Präsident der gesamten

irianischen Geschichte war an einem einzigen Tag entehrt worden.

Am Abend zuvor

Es war kalt und dunkel. Aus den großen, dunklen Gassen, die von der taghell

beleuchteten Hauptstraße abzweigten, tönte unheimliches Männergelächter vermischt

mit weiblich klingenden Quiektönen. Um diese Zeit war kaum mehr jemand

unterwegs. Nur vereinzelt traf er auf Gestalten, die entweder halb rannten, hektisch

darauf bedacht, so schnell wie möglich in ihr sicheres Zuhause zu kommen, oder in

den überdachten Hauseingängen herumlungerten. Eljosch spürte die Kälte, als ein

Mann, dessen Gesicht er wegen der Dunkelheit nicht erkennen konnte, ihm den

Rauch seiner Zigarette ins Gesicht blies. Mit grimmiger Miene steckte Eljosch die

Hände in die Hosentaschen. Auch seine 50€ waren schützenswert. Er fühlte sich auf

eine seltsame Art und Weise wohl. Die Atmosphäre, die sich über dieses Viertel des

nächtlichen Veridas gelegt hatte, war so offen, so ungeschützt, so feindlich, dass es

fast schon wieder lächerlich war, überhaupt zu versuchen, dem Sog aus Alkohol,

Drogen und gekaufter Liebe zu entkommen. Eljosch fühlte sich wie ein Reh in der

Dämmerung inmitten eines riesigen Feldes, in dessen Ohren schon die Schüsse der

Jäger hallen. Was für einen Sinn hat es, wegzurennen? Es fing an zu regnen. Erst nur

tröpfchenweise, bald aber stärker. Eine Wolke schob sich vor den hellen Mond,

sodass die hässlichen Leuchtreklamen der Nachtclubs nur noch anziehender wirkten.

Kein Ort für einen Präsidenten. Doch das Wetter war auf seiner Seite. Es hatte sich

Eljoschs Stimmung angepasst. Borost hatte ihn blamiert. Schlimmer noch, er hatte

halb Iria dazu gebracht, sich gegen ihn aufzulehnen. Seine eigenen Leute misstrauten

ihm und sahen in ihm einen Fremden. Wegen eines aufgezeichneten Gesprächs. Seit

Stunden dachte Eljosch an nichts anderes mehr. Wenn er die Aufnahmen doch nur

von Anfang an abgelehnt hätte! Genaugenommen hätte er Borost nicht einmal

empfangen müssen. Aber nein, er hatte für sein Volk so transparent wie möglich

agieren wollen. Offen und somit auch leicht verletzlich. Die Hände in seinen

Hosentaschen ballten sich zu Fäusten. Er hatte alles falsch gemacht. Alles. Er war

Schuld daran. Schuld an dem Misstrauen, dass sich über die Medien ausbreitete wie

radioaktive Strahlung. Unaufhaltsam. Schnell. Tödlich. Er hatte aufgehört, die

einzelnen Vorwürfe, die ihm am Vormittag gemacht worden waren, zu katalogisieren.

Die einen nannten ihn nur inkonsequent und bemängelten, dass er sich nicht genug

für die Gerechtigkeit einsetzten würde, die anderen sahen in ihm, so dämlich es auch

klang, den Drahtzieher der Kriegsverbrechen, die der Ring Pordu vor rund 100

Jahren an der Seite der Nordringe verübt hatte. Auf der Arbeit hatten alle ihn

angestarrt. Ihm mit stummen Blicken zu Verstehen gegeben, dass es für ihn besser

wäre, zu verschwinden. Er sollte als Opfer dargebracht werden. Ausgeliefert der

unzufriedenen, reißerischen Masse, nur um das Volk der Irianer daran zu hindern,

auch den Rest der Regierung zu zerfleischen. Selbst Kristina hatte ihn nicht

ermutigen können. „Das ist eine Katastrophe, Eljosch!“ Ihre Worte hallten in seinem

Kopf nach. Wenn selbst Kristina einsah, dass eine Sache ein ernsthaftes Problem war,

dann war das Problem in Wahrheit sintflutartig. Chaos bringend. Eljosch hatte die

Aufnahmen des Gesprächs gesehen. Und er hatte sich bearbeitete Versionen davon

anschauen müssen. In manchen von ihnen war der Film so geschnitten worden, dass

er auf den Bilder plötzlich Dinge sagte, die er in Wahrheit nicht einmal gedacht hatte.

Er war am Ende. Er brauchte Hilfe. Und dazu wollte er untertauchen. Abstürzen.

Wenn schon am Ende, dann so richtig. Es hatte keinen Zweck mehr zu kämpfen. Er

würde zurücktreten. Es sei denn, Gott würde ein Wunder tun. Womit er nicht

rechnete. Und danach… was danach mit seinem einst geliebten Land geschah, lag

nicht mehr in seiner Verantwortung. Ohne es zu bemerkten, hatte sich seine Hand auf

die kaputte Türklinke einer heruntergekommenen Kneipe gelegt. Die grell blau

leuchtende Aufschrift davor lautete: Men´s End. Genau das Richtige. Ohne zu zögern

riss Eljosch die Tür auf und trat ein. Erst konnte er nichts erkennen. Innen war es

düster. Wahrscheinlich hat die der Suchscheinwerfer da draußen ein Vermögen

gekostet, sodass sie hier drinnen auf die guten alten Kerzen zurückgreifen müssen.

Wie zu Hause im Süden. Ein kurzes Glücksgefühl durchströmte ihn, als er daran

dachte. Ja, diese Kneipe war genau die richtige. Nur das Atmen fiel ihm etwas

schwer. Der stinkende Zigarrenqualm lag so schwer in der Luft, dass er glaubte,

jeden Moment zu erstickten. Nur mit Mühe fand er den Weg zur Theke, wo ihn ein

dicker Barmann in verlotterter Kleidung mit seinem zahnlosen Mund angrinste. „Neu

hier?“, fragte mit schwerer Zunge. Eljosch bemerkte, dass er beim Sprechen sabberte.

Deshalb also die erschwerte Aussprache. Als Eljosch nicht reagierte, fügte der Mann

mit hochgezogenen Augenbrauen hinzu: „Hier kommen meist nur unsere

Stammgäste hin. Die feinen Pinkel schätzen kein Kerzenlicht.“ Eljosch schrak

zusammen. Feiner Pinkel? Damit konnte doch nur er gemeint sein. Waren die

aufgerissene Jeans und der graue Kapuzenpulli, in dem er so tief wie möglich

versunken war, denn nicht unauffällig genug? War seine Tarnung aufgeflogen?

Würde gleich jemand vor ihm stehen, ihn mit einer Knarre bedrohen und an einen

Ort bringen, wo ihn niemand finden würde? Die Summe an Lösegeld wäre gewaltig.

Aber nein, dachte Eljosch mit hämischem Grinsen, die Zeiten haben sich geändert.

Heutzutage will dich niemand entführen. Ab jetzt ist es viel lukrativer, dich

bloßzustellen. Präsident besucht Rattenkneipe. Ha, ha. Hoffentlich würde ihn

niemand überfallen. Eljosch war so wenig bei der Sache, dass er die Frage des

Mannes, was er trinken wolle, einfach überhörte. Ihm fiel nur auf, wie der müffelnde

Kloß vor ihm stand, in einer Haltung, als würde er etwas erwarten. Verwirrt wandte

Eljosch sich ab. „Ob du was trinken willst, Mann!“, die Stimme des Mannes war laut

und hart. Er hatte keine Lust, noch zehntausend mal zu fragen. „Ein Bier.“, nuschelte

Eljosch, woraufhin sein Gegenüber sich schimpfend an die Arbeit machte. „Mann,

Mann, Mann, wenn du von hier weg gehst, sollst du voll sein, nich schon vorher. Was

ist das denn für´ne Gesellschaft heutzutage!“ Das Bier war warm. Er ließ es sich den

Rachen hinunterfließen, gurgelte und merkte, wie der penetrante Geschmack langsam

immer stärker wurde. Ihm war, als würde er Desinfektionsmittel schlucken. Gut. Er

musste sich reinigen. Reinigen von der eigenen Dummheit, seiner Gutgläubigkeit. In

diesem Moment fiel ihm ein, dass er den Gedanken gehabt hatte, Borost mundtot zu

machen. Direkt nach dem Interview schon. Aber er hatte nichts unternommen. Nichts

unternehmen wollen. Jetzt gerade fiel ihm eine noch viel einfachere Methode ein, ihn

zum Schweigen zu bringen. Blöd nur, dass der Feigling mit den gefrorenen Haaren

längst geredet hatte. Aber als kleine Racheaktion… Nimmst du mir mein Leben,

nimm ich dir deins. Ein Satz aus dem „fünften Evangelium“. Ein schreckliches Buch.

Eljosch hatte es gelesen. Wenn das wirklich von einem der Jünger geschrieben

worden war, war es um die Leute, die das glaubten, schlecht bestellt. Vielleicht war

es Zeit, sich nach einer neuen Religion umzusehen. Aber nicht nach einem anderen

Gott. Eljosch hatte sein Bier bereits geleert. Frustriert starrte er in den schmuddeligen

Krug. Immer noch dachte er über seine Probleme nach. Er hatte es satt. Er wollte sie

ertränken. Ihnen den letzten Atem rauben. Sie betäuben, sie nicht mehr zu Wort

kommen lassen. Der Barmann fing seinen Blick auf. Ein wissendes Lächeln zog sich

über sein hässliches, gerötetes Gesicht. Er wusste, was solche Gäste wollten. Gut für

das Geschäft. Doppelt gut. Äußerlich lächelte er, aber innerlich strahlte der kleine

Mann. Jetzt bloß aufpassen, dass der Gast nicht aus heiterem Himmel die Kneipe

wechselte. „Noch was?“, fragte er und grinste dreckig. „Bitte.“ Eljoschs Stimme war

verändert. Sein Hals kratzte. Er war trocken, obwohl gerade erst ein Schwall Bier

hindurchgeflossen war. Das Wort klang hohl. Er fragte sich, wann er das letzte Mal

so etwas getan hatte wie heute. Eigentlich nie. Und wenn doch vor langer, langer

Zeit, während seines Studiums. Aber er erinnerte sich nicht. Nachdem er den zweiten

Krug geleert hatte, merkte er beim dritten nicht mehr, wie scheußlich das warme

Getränk schmeckte. Nach dem vierten breitete sich eine wohlige Wärme in seiner

Bauchgegend aus. Und nach dem fünften hatte er so viel getrunken, dass er sich an

nichts Schlechtes mehr erinnern konnte. Er stand an der Theke und kicherte leise vor

sich hin, während er ein weiteres Bier bestellte. Ihm war, als würden die Portionen

von Mal zu Mal größer. Und wenn er sich nicht täuschte, war das eine Bier gar nicht

braun gewesen, sondern durchsichtig. Wie komisch. Er gluckste und betrachtete

glücklich sein wieder aufgefülltes Glas. Noch während er es leerte, fing seine

Umgebung langsam an, sich in Luft aufzulösen. Stück für Stück. Der Fußboden unter

ihm wackelte immer stärker. Eljosch schwankte. Nachdem der Wirt noch eine weitere

Bestellung abgewartet hatte, zog er seinem besoffenem Gast in geflissentlicher Eile

einen Stuhl heran. Eljosch gab sich alle Mühe, in die Hocke zu gehen, um das Polster

zu treffen, doch irgendwie ging es immer daneben. Hätte der nette Mann, der ihn mit

allem was das Herz begehrte versorgte, ihn nicht aufgefangen, wäre Eljosch aus

Versehen auf den Boden daneben geplumpst. So langsam wurde der Nebel um ihn

herum stärker. Und er selbst immer abwesender. Bis er zu dem Punkt kam, an dem er

sich an nichts mehr erinnern konnte. Immerhin atmete er noch. Im Laufe der Nacht

waren noch ein paar weitere Leute mit in die Bar gekommen. Allerdings so spät, dass

Eljosch ihre Gesichter schon nicht mehr hatte erkennen können, wenn er sie ansah.

Jetzt kamen ein paar der Männer zu ihm. Auch der Barkeeper trat hinzu, stellte sich

vor Eljosch hin und sagte irgendetwas. Dieser schaute ihn nur mit offenem Mund an

und starrte danach vorwurfsvoll in sein leeres Bierglas. Ihm wurde nachgefüllt. Aber

noch bevor er schlucken konnte, merkte er, dass mit dieser Flüssigkeit irgendetwas

nicht stimmte. Egal. Doch das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass

sich, je länger er wartete, der Nebel um ihn herum langsam auflöste, bis er mit

Sicherheit wieder seinen eigenen Namen wusste und auch, dass er nach Hause wollte.

Alles andere war ihm nach wie vor ziemlich unklar. Als er zur Tür ging, strauchelte

er. Ob er überhaupt in der Lage war, den Weg zu seinem Haus, das am anderen Ende

von Verida lag, zu finden, wusste niemand. Doch bevor Eljosch die Tür aufreißen

konnte, rief ihn jemand. „Nicht so schnell, Bürschchen!“, die Stimme gehörte dem

Mann von der Bar. „Du musst erst noch bezahlen.“ Eljosch schaute verwirrt drein.

Laut seiner Erinnerung hatte er für jedes Getränk genug hingeblättert. Aber er ahnte,

dass sein Hirn in so einer Lage alles andere als vertrauenswürdig war. Also kramte er

so lange in seinen Taschen, bis sie ausgebeult waren. Er konnte nichts finden. All sein

Bargeld war futsch. Ausgegeben. Das Einzige, was er fand, war eine Geldkarte. Auf

dem dazugehörigen Konto lag ein für ihn unbedeutender Betrag. Zum Glück. Denn

jetzt, da er nichts anderes fand, streckte er dem Mann vor ihm mit einem dämlichen

Hicksen die Karte hin, woraufhin dessen blutunterlaufene Augen so groß wurden wie

Fußbälle. Er riss Eljosch das Plastikteil mit einer schnellen Bewegung aus der Hand

und setzte sich an einen alten Computer. Als er sah, wie viel Geld sich auf dem Konto

befand, schrak er zusammen und seine Stirn legte sich in Furchen. Wohingegen die

Männer, die um ihn herum standen, in grölendes Jubelgeschrei ausbrachen. „Tja,

kaum zu glauben, dass man das kriegen kann, ohne jemanden halb tot zu schlagen!“,

freute sich einer und klopfte dem Barmann freundschaftlich auf die Schulter. Doch

der zuckte zusammen und schlug die Hand seines Kumpanen mit einer angeekelten

Geste von sich. „Bullshit.“, murmelte er, „Unser Krankenhausfall da muss jemand

Besonderes sein. Sonst würde der nicht so viel Geld haben.“ Und ehe die Bedeutung

der soeben gesprochenen Worte schwerfällig durch Eljoschs Suff hindurch dringen

konnten, befahl der Dicke: „Durchsucht ihn!“ Grob wurde Eljosch gegen eine Wand

gedrückt. Mittlerweile war er wieder so klar, dass er sich wehrte. Er wollte nicht, dass

die das mit ihm machten. Sie taten ihm weh. Nein, das wollte er nicht. Also schlug er

um sich und warf sich gegen die Männer, die ihn von allen Seiten umzingelten. als

Nächstes spürte er eine starke Erschütterung an seiner linken Gesichtshälfte. Seine

Lippe platzte auf und warmes Blut quoll daraus hervor. Erst danach spürte er den

Schmerz. Er machte ihn fast wahnsinnig. Doch anscheinend hatte er noch nicht

genug, denn jetzt wurde er auch noch brutal zu Boden geschmissen. Während Eljosch

wimmerte, traten und schlugen die Männer auf ihn ein, bis er sich nicht mehr rührte.

Dann hoben sie ihn auf und pressten ihn abermals gegen die Wand. Als sie Eljoschs

zerschundenes Gesicht dagegen drückten, bröckelte ein wenig Putz heraus. Dann

wurde er abgetastet. Er ließ es willenlos über sich ergehen. Doch sie fanden nichts.

Als letztes zogen sie ihm die Kapuze vom Kopf. „Nichts.“, grimmig durchbohrte

einer der Männer Eljosch mit seinen Blicken. Der Dicke, der sich bis jetzt kein

einziges Mal die Finger schmutzig gemacht hatte, antwortete in einer Tonlage, die

man normalerweise benutzt, wenn man mit Dreijährigen redet. „Vielleicht möchte

uns der Kleine etwas über sich erzählen.“ Einer der Männer schüttelte langsam den

Kopf und erklärte: „Dazu ist der immer noch zu voll.“ Doch ein anderer meinte: „Wir

können es versuchen.“ Ab da war Eljosch irgendwie weggetreten. Er bekam nichts

mehr von dem mit, was sich um ihn herum abspielte. Das Nächste, woran er sich

erinnern konnte, war der bittere Geschmack von Kaffee auf seinen aufgeplatzten

Lippen. Der Schmerz wurde immer greifbarer, immer realer, immer heftiger. Eljosch

schnappte nach Luft. Keine Frage, er kam wieder zur Besinnung. Vor ihm das

vollbärtige Gesicht eines Mannes. „Wer bist du?“, fragte er grob und als Eljosch nicht

gleich antwortete, wiederholte er: „Wenn du mir nicht gleich sagst, wer du bist, muss

ich dich wohl noch mal vertrimmen.“ Eljosch riss sich zusammen. Jetzt wurde nicht

hoch gepokert. Er musste alles tun, um sich selbst noch mehr Schmerzen zu ersparen.

Er öffnete den Mund und heraus drang ein schwerfälliges Stöhnen. Dann presste er

mühsam hervor: „Ich… ich bin Eljosch Kanidis.“ „Nie gehört.“, drohend hob der

Mann vor ihm die Faust. Deshalb beeilte sich Eljosch zu sagen: „Ich bin der

Präsident von Iria.“ Ja, das war er. Für ein paar Stunden hatte er es vergessen. Der

Mann vor ihm hielt mitten in seiner Bewegung inne. Dann verzog sich sein Gesicht

und Eljosch schrak bei den ersten Tönen seines rauen Lachens furchtbar zusammen.

„Der Präsident von Iria! Dass ich nicht lache!“, japste er. „Doch, es stimmt.“, sagte

Eljosch flehend. Schlagartig veränderte sich der Gesichtsausdruck des Mannes.

Resigniert stellte Eljosch fest, dass er ihn nicht überzeugt hatte. „Du willst noch mehr

Prügel, richtig?“, fragte der Mann wütend, trat einen Schritt zurück und holte zum

Schlag aus. „Halt!“, die bestimmte Stimme gehörte dem kleinen, dicken Mann. Ohne

ein weiteres Wort zu sagen, drängte er sich an dem Muskelprotzen vorbei und stellte

sich direkt vor Eljosch hin, sodass die kleinen, grauen Augen direkt vor den großen,

braunen des Präsidenten waren. „Du bist also der Präsident?“, fragte der Mann

prüfend. Eljosch nickte. Seine Kehle war schon wieder trocken. Aber dieses Mal

würde er garantiert kein Bier trinken. Was hatte er nur getan? Leise und vorsichtig

wisperte er: „Ihr habt meine Karte, darf ich jetzt gehen?“ Die Antwort des Dicken

überraschte ihn. Seine Stimme war laut und großzügig. „Natürlich darfst du gehen!“,

eröffnete er lächelnd und leise fügte er hinzu: „Wenn du für uns einen klitzekleinen

Gefallen tust.“ Eljoschs Augen weiteten sich.

Wieder bewegte er sich durch die nächtlichen Straßen Veridas. Dieses Mal keuchend

und mit schleppendem Gang, sowie mit flatterndem Herzen. Als er nach einer halben

Ewigkeit endlich zu Hause angekommen war, erlosch gerade das Licht der

Straßenlaternen. Es war Morgen. Noch nie war er erpresst worden. Doch jetzt spürte

er umso schmerzhafter, dass dies der erste Tag sein würde, von dem an er nicht mehr

frei war.


Iria - Blut wie Regen

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