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Konzert mit Folgen

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Die frische Luft tat ihnen gut. Als sie aus dem Süßigkeitenladen hinaus auf die Straße

traten, strich ihnen ein leichter Wind um die Ohren. Jonas hatte die Arme von sich

gestreckt und versuchte, den Berg aus Süßigkeiten und Backwaren vor sich her zu

balancieren, damit bloß nichts davon mit einem lauten Klatschen auf dem in der

Sonne glänzenden Kopfsteinpflaster landen würde. Da diese Aktivität seine ganze

Aufmerksamkeit forderte, merkte er erst nach geraumer Zeit, dass seine drei Freunde

missmutig und in Gedanken versunken vor sich hinstarrten. Das war kein gutes

Zeichen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch und etwas unsicher fragte Jonas:

„Was habt ihr denn?“ „Ach, Eljosch Kanidis wurde von so einer blauhaarigen

Bohnenstange fertig gemacht, die meinte, sie müsse alle Nordirianer abschlachten,

um sich selbst besser zu fühlen. Wir haben das Gespräch gerade im Fernsehen

gesehen.“ „Blauhaarige Bohnenstange?“, Jonas war verwirrt. Dann lachte er auf.

„Ach, ich weiß, wen du meinst. Diesen Borost, richtig? Und der soll unseren

Präsidenten heruntergemacht haben? Ich dachte immer, die Leute würden nicht auf

einen hören, der allgemein schon so viel Mist von sich gibt.“ „Falsch gedacht.“,

Hedwig knirschte mit den Zähnen. Danach seufzte sie niedergeschlagen. „Ich frage

mich, wie das hier alles weitergehen soll. Noch vor ein paar Wochen war alles in

bester Ordnung und jetzt...“ „Vielleicht liegt das daran, dass wir den „Schlüssel der

Macht“ zerstört haben?“, meinte Leo vorsichtig. Die Idee war ihm gerade erst

gekommen. Eigentlich fand er sie absurd, aber das war die gesamte Situation sowieso

schon. Noch nie hatte er erlebt, dass die Streitereien innerhalb eines Landes über so

einen kurzen Zeitraum eskalierten. Und eigentlich hatte er auch gehofft, so etwas nie

erleben zu müssen. „Das ist doch Quatsch!“, rief Hedwig und unterbrach so seine

Gedankengänge, „Das alles hat doch nichts mit uns zu tun. Klar, es gibt ein paar

wenige Leute, die sauer sind, dass die Mitglieder des Ordens verhaftet wurden. Aber

auf der anderen Seite gibt es vielmehr Menschen, die bedauern, dass es nicht genug

Beweise gibt, um diese Verbrecher zu verurteilen!“ Marie schüttelte langsam den

Kopf. „Ich glaube, das meint Leo nicht.“, sagte sie gedehnt, „Emanuel hat mir so

etwas Ähnliches auch gesagt, als ich mich von ihm verabschiedet habe. Er meinte,

dass uns eine schlimme Zeit bevorstehe, weil die Herzen der Irianer jetzt wie ein

offenes Buch dalägen, in dem jeder unverblümt lesen könne, was sie wirklich

denken. Aber er hat mir ausdrücklich klargemacht, dass wir uns dafür nicht die

Schuld geben sollen.“ Die Freunde schwiegen eine Weile lang. Dann bemerkte

Hedwig skeptisch: „Aber das hast du geträumt.“ „Ich habe nicht geträumt!“,

erwiderte Marie hitzig, „Na gut, das eine Mal schon. Aber das war danach. Ich weiß,

wie sich Träume anfühlen und worin sie sich von der Wirklichkeit unterscheiden.

Und das war definitiv kein Traum. Außerdem: Wer hat denn miterlebt, wie mein

Traum beim letzten Mal Realität geworden ist?“ Herausfordernd schaute sie vom

einen Freund zum anderen. Nachdem sie noch eine Weile lang durch das Städtchen

gelaufen waren und Marie darauf bestanden hatte, für Jonas einen großen Stoffbeutel

zu kaufen, da ihnen Dank ihm eine nicht enden wollende Spur aus heruntergefallenen

Bonbons folgte, machten sie sich wieder auf den Weg zum Bahnhof, dem Platz, an

dem die Kutschen auf sie warten würden. Schon von Weitem konnten sie einzelne

Töne hören, die ihnen irgendwie bekannt vorkamen, mit denen sie aber nichts

anfangen konnten. Als sie schließlich um die Ecke bogen, rückte eine große

Menschentraube in ihr Sichtfeld. „Was ist denn da los?“, Hedwig wunderte sich, „Ist

heute irgendetwas Besonderes los?“ Je näher sie dem Geschehen kamen, desto besser

konnten sie die merkwürdigen Tonfetzen einordnen, die ihnen der Wind zuvor

entgegengeweht hatte. Es war Musik. Ein alles durchschallender Tonvorhang, der die

Leute in den Gassen durch sein immer währendes Auf und Ab und die getragene

Melodie mitriss. Die Freunde merkten bald, dass sie nicht die Einzigen waren, die

sich dem Geschehen näherten. Viele Menschen kamen neugierig näher. So etwas gab

es nicht oft in Miniklu. Die Ansammlung aus Häusern, ein paar Läden und ein paar

wenigen Schulen war eine Kleinstadt, weiter nichts. Doch heute schienen sich die

Straßen dieses kleinen Kaffs auf einmal mit Leben zu füllen. Die Musik zog die

Menschen wie magisch an, vielleicht auch, weil sie eine willkommene Abwechslung

zu dem sonst so unaufgeregtem Stadtleben bildete. Je näher sie kamen, desto

deutlicher konnten sie einzelne Instrumente aus dem Tonschleier heraushören. Ein

Klavier, eine E-Gitarre, ein Schlagzeug, eine Geige. Und da war noch etwas, das sie

aber nicht einordnen konnten. Als Hedwig den gesungenen Text endlich verstehen

konnte, fing sie auf einmal an, begeistert auf und ab zu hüpfen. „Das sind die „Roten

Riesen“, meine Lieblingsband!“, erklärte sie mit leuchtenden Augen, als Marie sie

wegen ihres Herumgehüpfes ungläubig lachend musterte. Sofort fing Hedwig an,

mitzusingen: „If you´re crawling in the deepest night, don´t forget that the sun of

tomorrow will be yours.“ Leo verdrehte die Augen. „Was soll das denn?“, fragte er

kopfschüttelnd, „Also entweder ist das die totale Schnulzenfabrik oder die Leute sind

alle depressiv.“ Hedwig überhörte sein Kommentar und bewegte sich stattdessen im

Takt der Musik, während Jonas angestrengt versuchte, die Wortfetzen, die ihm

bekannt vorkamen, auf Deutsch zu übersetzen. Am Ende kam dabei etwas heraus

wie: „Wenn du in der Nacht kraulst, vergiss nicht, dass du morgen eine Sonne sein

wirst.“ Als ihm selbst klar wurde, wie wenig Sinn seine Übersetzung machte, verzog

er verärgert das Gesicht. Er hasste Englisch und würde es eh nie schaffen, auch nur

einen korrekten Satz von sich zu geben. Sie kamen immer näher. Selbst Marie

lauschte nun fasziniert den Tönen. Sie mochte den Text und das Zusammenspiel aus

den verschiedensten Instrumenten im Einklang mit der ungewöhnlichen Melodie ließ

das Ganze mystisch erscheinen. Als sie endlich nah genug herangekommen waren,

fing Hedwig unverzüglich an, sich durch die Menschenmassen hindurch auf die

Bühne zu zu quetschen. Marie folgte ihr gespannt, während die beiden Jungs ihr nur

widerwillig hinterherschlurften. „Schon vergessen, dass wir wieder zurück fahren

wollten?“, wagte Leo einen sowohl halblauten, als auch halbherzigen Versuch, seine

Freunde zum Weitergehen zu bringen. Aber ihm war schon klar, dass es nichts nützen

würde. Sie würden so lange hierbleiben, bis Hedwig genug hatte und das war

höchstwahrscheinlich erst, wenn das Konzert zu Ende war. Hinter ihm quetschte sich

Jonas durch die Reihen und stöhnte jedes Mal genervt auf, wenn sein prallgefüllter

Stoffbeutel gegen die anderen Leute stieß, die dicht an dicht gedrängt und zumeist

mit glänzenden Augen den besonderen Klängen lauschten. Dadurch, dass Jonas sich

ungefähr bei jeder zweiten Person entschuldigen musste, bekam er die Gelegenheit,

ihre Gesichter zu mustern. Bei den meisten von ihnen war da nichts Besonderes, sie

waren alle hingerissen und hatten für nichts anderes Augen und Ohren mehr als für

das, was da auf der Bühne passierte. Doch es schien auch ein paar schwarze Schafe

zu geben, die grimmig und mit geballten Fäusten zu der Band hinauf starrten. Jonas

war verwirrt. Wenn ihnen die Musik nicht gefiel, warum waren diese Exoten dann

hier? Als er es endlich geschafft hatte, sich an der Seite seiner Freund in der ersten

Reihe zu positionieren, raunte er: „Was ist das überhaupt für eine Band?“ Eigentlich

war Hedwig jetzt viel zu sehr damit beschäftigt, die von ihr bewunderten und auf der

Bühne positionierten Typen anzustarren, aber da Jonas nach Fakten über ihre Idole

verlangt hatte, antwortete sie stolz: „Die Band kommt ursprünglich aus Liemir und

wurde erst vor wenigen Jahren gegründet, hat aber schon sehr viele Erfolge erzielt,

Tourneen gemacht und so weiter. Manchmal fahren sie einfach in irgendeine

unbedeutende Stadt und geben dort unangekündigt ein Straßenkonzert. Kaum zu

fassen, dass sie gerade heute nach Miniklu gekommen sind!“ Beim letzten Satz

platzte ihre Stimme fast vor Freude. In Jonas Kopf fing es an zu rattern. Diese Band

kam also aus Liemir… er wagte nicht, es auszusprechen, aber er hatte den

unangenehmen Verdacht, dass unter den Zuschauern einige Leute waren, die in den

letzten Wochen ebenso wie viele andere Irianer Opfer des irren Hasses geworden

waren, den die Südirianer auf die Leute aus dem Norden entwickelt hatten. Das war

nicht gut. Jonas hörte die ganze Zeit über nur mit halbem Ohr zu. Angespannt drehte

er sich immer wieder nach hinten um, um zu sehen, ob einer der Besucher, die auf die

Bühne starrten, als hätten sie Mordgedanken, anfangen würde, die Band

herunterzumachen. Doch es geschah nichts. Zum Glück. Langsam konnte Jonas sich

wieder entspannen. Allerdings nur so lange, bis der Ärger kam. Sie standen hier nun

schon seit geraumer Zeit, die Musik war hier vorne irre laut und sein Arm, den er für

seine Einkäufe geopfert hatte, tat ihm mittlerweile so weh, dass er fürchtete, er könne

jeden Moment abfallen. Kurz spielte er mit dem Gedanken, den Beutel einfach auf

den Boden zu legen, aber die Angst, jemand könne aus Versehen darauf

herumtrampeln, hinderte ihn daran. Unwirsch stupste er Leo an, bei dem er hoffte,

auf Verständnis zu stoßen. „Hey“, sagte er und versuchte dabei, die Musik zu

übertönen, ohne, dass die beiden Mädchen etwas davon mitbekamen. „Können wir

bitte wieder gehen? Mein Arm fällt gleich ab.“ Leo schüttelte den Kopf. Seine Augen

waren leicht gläsern und mit Erschrecken stellte Jonas fest, dass nun auch er dieser

Musik verfallen sein musste. Aber das gab sein Freund natürlich nicht zu. „Wir

kriegen Hedwig und Marie sowieso nicht von hier weg, es sei denn, wir legen sie in

Ketten und führen sie ab.“ Das war also seine Ausrede. Jonas kochte vor Wut. Bockig

trat er mit seinem linken Fuß einen imaginären Stein von sich weg. Schließlich blieb

ihm nichts anderes übrig, als die Situation so hinzunehmen. Geschlagen ließ er seinen

Beutel auf den Boden vor ihm fallen und versuchte, den Klängen, die schon seit

mindestens einer Stunde vor ihm herschallten, irgendetwas abzugewinnen. Da

geschah etwas Wunderbares: nachdem das nächste Lied endlich zu ende war,

verklangen die Töne endgültig und der Sänger trat vor, um etwas zu sagen.

Hoffentlich sagt er, dass sie jetzt fertig sind, dachte Jonas grimmig und schaute den

jungen Mann mit einer Mischung aus Erwartung und Vorwurf an. Er hatte wirklich

Besseres zu tun, als den ganzen Tag lang hier herumzustehen. Das Erste, was der

junge Mann sagte, war: „Vielen Dank!“ Seine nächsten Worte gingen schon längst in

aufgeregtem Jubelgeschrei und begeisterten Zugaberufen unter. „Oh nein.“, sagte

Jonas, mit den Nerven völlig am Ende, „Bloß keine Zugabe.“ Als sich die Menge

allmählich wieder beruhigt hatte, sagte der Sänger noch ein paar Sätze und setzte

dann zu Jonas Leidwesen tatsächlich zu einem weiteren Song an. „Nein!“, rief er so

laut er konnte, doch es hörte ihn keiner. Die Leute waren alle viel zu begeistert. Erst

als die ersten Lebensmittel flogen, wurde den Passanten, die Jonas Abneigung gegen

die Musik teilten, Gehör geschenkt. Verdutzt starrte er nach vorne. Über seinen Kopf

hinweg war gerade eine Tomate geflogen und mit einem ekligen Klatschen direkt vor

dem Mikrofon gelandet. Danach folgte ein Ei. Ein faules Ei, wie Jonas kurz darauf

naserümpfend feststellte. „Igitt!“ Er verzog das Gesicht und starrte die glibberige

Pfütze vor sich angewidert an. So etwas Fieses wäre nicht einmal ihm eingefallen.

Den beiden Geschossen folgten weitere, bis die Band sich schließlich unter einem

Pfeilregen aus Abfällen und kleineren Steinen wiederfand und irritiert aufhörte zu

spielen. Das alles war innerhalb von wenigen Sekunden passiert. Viel zu schnell.

Jetzt, wo die Musik aufgehört hatte, hörte man endlich die hasserfüllten Rufe, die

schon die ganze Zeit von den Klängen bedeckt über den Platz geschallt waren.

„Verschwindet ihr Mörder!“ „Macht euch vom Acker, ihr Elitesöhnchen!“ und:

„Verräter!“ Die Rufe schwollen allmählich zu einem einem hässlichen Sprechgesang

an. „Nordleute raus, Nordleute raus!“ Erschrocken hielt sich Jonas die Ohren zu.

Dann zuckte er zusammen und duckte sich. Um ein Haar hätte ihn ein großer Stein

am Kopf erwischt. Verwirrt sah er sich um und versuchte vergeblich, die Leute aus

der Masse auszumachen, die dieses Unheil stifteten. Doch es waren einfach zu viele.

Seinen Freunden und vielen anderen erging es ähnlich. Suchend wandten sie ihre

Köpfe umher und als sie nichts fanden, die Angreifer aber immer aggressiver wurden,

machte sich etwa die Hälfte der Zuhörer fluchtartig auf den Weg nach Hause. Die

Menschenmasse wurde zerstreut. Zurück blieben die nun mehr völlig verstörten

Bandmitglieder, die aggressive Meute und die eingefleischten Fans, die sich so eine

Behandlung auf keinen Fall gefallen lassen wollten. „Verschwindet doch, wenn euch

die Musik nicht gefällt!“ Hedwig hatte Jonas direkt ins Ohr geschrien. „Hört auf mit

dem Mist!“, das war Leo. Als Jonas wenig später einen Blick auf die Bühne warf, fiel

ihm auf, dass der Gitarrist von einem Stein am Ohr getroffen worden war und jetzt

stark blutete. Er wurde gestützt von seinen von oben bis unten mit Bioabfällen

beschmierten Kumpanen. Mitleidig verzog Jonas das Gesicht. Die Band versuchte,

sich aus dem Staub zu machen. Nur der Sänger wagte noch einen letzten Versuch, die

Situation zu entschärfen. Er trat ans Mikro und rief: „Wir wollten euch doch nur eine

Freude machen...“ Doch er hatte das Falsche gesagt. Wie in Zeitlupe sah Jonas mit

an, wie der Mann von der Bühne gezerrt wurde und in einem Haufen Randalierer

verschwand, während die Leute um sie herum anfingen, wie wild aufeinander

einzuprügeln. Jetzt endlich schienen auch seine Freunde zu begreifen, dass sie

schleunigst von hier verschwinden mussten. Doch es war zu spät. Schon wurden sie

in die Massenschlägerei mit hineingerissen. Von allen Seiten wurden sie angerempelt,

während sie verzweifelt versuchten, den Tritten und Schlägen auszuweichen, die auf

sie nieder gingen. Geduckt und ihren Kopf mit verschränkten Armen schützend

rannten sie durch die aufgebrachte Masse hindurch. Jonas war immer noch darauf

bedacht, seine Süßigkeiten nah bei sich zu haben. Er wollte das alles hier nicht

umsonst auf sich genommen haben. Sie schafften es bis hinter die Bühne. Dort war es

wesentlich weniger chaotisch, doch während sie schon aufatmeten und sich davon

machen wollten, erschien wie aus dem Nichts ein Mann vor ihnen. Er hatte

zerzaustes Haar, war schreckensbleich und seine Lippe blutete. Auf seiner rechten

Wange zeichnete sich ein hässlicher blauer Fleck ab. Erst bei eingehender

Betrachtung gelang es den Freunden, ihn als den bedauernswerten Sänger der Band

zu identifizieren, der anscheinend auf der Flucht vor seinen Verfolgern war. Ganz

automatisch schloss er sich ihnen an. Sie rannten alle völlig kopflos ein paar hundert

Meter weiter zu dem Bahnhofsvorplatz, auf dem gerade dutzende von verängstigten

Kutschern versuchten, ganz normale Passanten in Sicherheit zu bringen. So etwas

war hier noch nie passiert. Die Freunde rannten weiter, auf eine der Kutschen zu.

Doch noch bevor sie einsteigen konnten, sah Jonas aus dem Augenwinkel einen

Schatten auf sie zu huschen. Als er sich umdrehte, blieben seine panikerfüllten Augen

einzig und allein an der glänzenden Klinge haften. Ihm wurde schlecht. Keuchend

wandte er sich seinen Freunden zu, von denen alle schon in der Kutsche saßen. Gut.

Hoffentlich würde ihnen nichts passieren. Der Mann schoss zielsicher auf Jonas zu.

Er hatte keine Chance auszuweichen, keine Zeit mehr, um im Inneren der Kutsche zu

verschwinden. Er schloss die Augen und hörte, wie das Blut in seinen Adern

rauschte. Nach einer schier endlos langen Zeit öffnete er sie wieder, um zu sehen, wie

sich der wahnsinnige Mann statt auf ihn auf den Sänger der Band stürzte.

Fassungslos und schweißnass musste Jonas mit ansehen, wie er versuchte, ihm das

Messer in den Bauch zu rammen. Rote Tropfen bildeten sich auf dem hellen Stein.

Der Mann hatte laut schreiend mit seinen Händen abgewehrt. Doch der Angreifer ließ

sich nicht beirren. Mit einem vor Wut und Hass verzerrten Gesicht stach er erneut zu.

Dieses Mal erwischte er den Mann in der Bauchgegend. Langsam sackte er in sich

zusammen und fiel zu Boden. Wie aus Reflex schoss Jonas nach vorne. Später, als er

an diesen Moment zurückdachte, würde er sich eingestehen müssen, dass es verrückt

gewesen war. Lebensmüde. Aber Jonas konnte nicht anders. Mit einem lauten Schrei

riss er den Mann mit dem Messer zu Boden. Die Waffe flog ihm aus der Hand und

landete ein paar Meter weiter entfernt auf dem ebenmäßigen Stein. Beide hechteten

darauf zu, Jonas und der Mann. Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Wenn Jonas verlor,

würde er sterben. Das war Ansporn genug. Noch bevor sein Angreifer sich richtig

aufgerappelt hatte, war Jonas schon bei dem Messer angekommen. Er streckte seine

Finger danach aus und… wurde unsanft nach oben gerissen. Als Nächstes starrte er in

das maskenhafte Gesicht von Inspektor Flammberg. Jonas blieb die Luft weg. Er

taumelte. Wenn der Inspektor ihn nicht losgelassen hätte, wäre er davor bewahrt

worden, unsanft auf dem Boden aufzuprallen. Es knackte. Doch er spürte keinen

Schmerz. Nur Angst. Der Polizist schien ihn nicht zu erkennen, denn als Nächstes

starrte Jonas in die Mündung einer Pistole, die unmissverständlich auf seinen Kopf

zeigte. Er war wie erstarrt. Wagte es nicht, sich zu bewegen. „Ganz ruhig.“, die

Stimme des Polizisten klang professionell, doch Jonas vermutete, dass das hier

eigentlich nicht sein Job war. Wahrscheinlich hatte er in dem Fall des armen Mannes

ermittelt, der tot am Rand des dunklen Waldes gefunden worden war und war dabei

auf den Tumult gestoßen. Hoffentlich hatte er seine Kollegen informiert… „Zeig mir

deine Hände und steh langsam auf.“ Jonas gehorchte. Sobald er auf den Beinen stand,

durchzog ihn ein stechender Schmerz. Verwundert schaute er an sich hinunter, um die

Ursache dieser Qual zu entdecken. Da fiel sein Blick auf seinen linken Arm. Er war

an einer Stelle rot angelaufen und sah irgendwie unnatürlich verdreht aus. Jonas

schluchzte. Das war alles zu viel für ihn. Er wollte nach Hause. Inspektor Flammberg

begriff und senkte langsam seine Waffe. „Du bist doch ein Schüler von Firaday,

richtig?“ Jonas nickte. „Holen Sie einen Krankenwagen, der Mann dort verblutet

sonst!“, war das Einzige, was unter kalten Schluchzern über seine Lippen kam. „Ist

schon unterwegs.“ Die ruhige Stimme des Polizisten beruhigte ihn nicht, ganz im

Gegenteil. Sie ließ ihn nur noch mehr zittern. „Darf ich nach Hause?“, flehend starrte

er den Mann an. Widerstrebend nickte der Inspektor. „Geh.“, sagte er, „Aber lass

deinen Arm untersuchen. Ich glaube, der ist gebrochen.“ Bevor Jonas sich gänzlich

abwandte, warf er noch einen verzweifelten Blick auf den am Boden liegenden

Sänger. Das Gesicht war gräulich verfärbt, der Mund geöffnet und in seiner

Magengegend klaffte eine Wunde, aus der das Blut strömte, dass sich in der

Umgebung als Lache ausbreitete. Jonas warf dem Polizisten einen bittenden Blick zu.

Der nickte nur stumm. Es war, als würde er sagen: „Ich kümmere mich darum.“

Krieg. Das Wort hallte in Maries Kopf nach wie das nicht enden wollende Echo einer

lauten Schallplatte in Dauerschleife. Krieg. Wieder setzte sie ihren Stift auf das Blatt

Papier vor sich, nur um ihn kurz darauf wieder wegzuziehen. Dort war jetzt nur ein

weiterer blauer Punkt. Was sollte sie zu diesem Thema schon schreiben? Und

welchen Sinn hatte es, sich überhaupt darüber Gedanken zu machen? Das hatte doch

alles gar keinen Zweck. Momentan konnte sie sowieso keinen klaren Gedanken

fassen. Sie hob den Kopf und starrte nachdenklich in das zur Hälfte entstellte Gesicht

von Professor Xynulaikaus, ohne ihn wirklich zu sehen. Brandblasen. Die Verletzung

zog sich wie eine Schnur über seine linke Gesichtshälfte. Was da wohl passiert ist?

Seit Professor Xynulaikaus Herrn Maschael, den unbeliebtesten Lehrer aller Zeiten,

im Fach Verschiedene Ansichten abgelöst hatte, war keine Stunde vergangen, ohne

dass sich Marie diese Frage gestellt hatte. Auch jetzt nicht. Sie lachte freudlos auf.

Eigentlich hatte sie jetzt wirklich andere Sorgen. Doch statt für Jonas zu beten, der

mit einem gebrochenem Arm und völlig fertig in die Krankenstation der Schule

eingeliefert worden war, machte sie sich Gedanken über diese dämliche Verbrennung.

„Alles in Ordnung?“, Professor Xynulaikaus klang besorgt. „Du musst nicht

schreiben, wenn du nicht willst.“, sagte er dann. Die Schüler hatten die Aufgabe

bekommen, ein Gedicht zum Thema Krieg zu schreiben, im Zusammenhang mit den

Ereignissen, die sich am Vortag in Miniklu abgespielt hatten. Kaum einer war so

hautnah mit dabei gewesen wie Hedwig, Marie, Leo und Jonas. Die vier hatten

einfach Pech gehabt. Besonders Jonas. Heute morgen hatte er erfahren, dass der

Sänger der Band, den er versucht hatte, mit Leibeskräften vor dem Mann mit dem

Messer zu schützen, noch im Krankenwagen verstorben war. Das hatte ihrem Freund

den letzten Rest gegeben. Marie schluckte und rieb sich ihren wunden Unterarme.

Überall blaue Flecken. Neben ihren traumatischen Erinnerungen das Einzige, was

vom Vortag an ihr hängen geblieben war. Wieder starrte sie auf das leere Blatt vor

sich. Dann setzte sie ihren Füller auf und fing an zu schreiben.

Frieden & Krieg

Du hörst es, dieses Wort

neutral, rationalisiert, abstrakt

Du fragst dich, was es bedeutet.

Was ist Krieg?

Und wem gehört der Sieg,

wenn sich der Mensch vernichtet

Doch schon nach diesem einen Vers hörte sie auf und starrte missmutig die Wand an.

Müll. Nichts als Müll, fand sie. Gerade wollte sie das Blatt zusammenknüllen und

noch einmal neu beginnen, doch Professor Xynulaikaus hinderte sie daran. „Lass

es.“, sagte er leise und fügte dann mit einem leichten Lächeln hinzu: „Vielleicht wird

es dir irgendwann etwas bedeuten.“ Der Rest der Stunde schien ewig zu dauern.

Marie saß nur da und kaute gedankenverloren auf ihrem Bleistift. Sie dachte an den

Toten vom Wald. An die Opfer des Massakers in Miniklu. An Jonas, Hedwig und

Leo. Aber irgendwann wurde ihr doch langweilig. Und da sie sich nicht dazu in der

Lage fühlte, an Professor Xynulaikaus gut gemeinter „Traumatherapie“

teilzunehmen, begnügte sie sich damit, den Lehrer eingehend zu mustern. Natürlich

unbemerkt. Sie hatte es schon immer spannend gefunden, Menschen zu analysieren.

Zu beobachten, wie sie sich bewegten, wie sie sprachen, wie sie handelten. Und wie

sich ihr Gesichtsausdruck veränderte, wenn sie an bestimmte Dinge dachten. Sie

hoffte, eines Tages anhand dieser Indizien ganz sicher darauf schließen zu können,

wie ein Mensch sich fühlte und was er vorhatte. Insgeheim aber wusste sie ganz

genau, dass ihr so etwas nie möglich sein würde. Menschen waren nun mal nicht

einfach. Nichtsdestotrotz fand sie das Gesicht ihres Lehrers sehr aufschlussreich. Es

war eingefallen, irgendwie fahl. So, als wäre die Haut nicht mit genügend

Nährstoffen versorgt worden. Die schwarzen Augenbrauen standen jetzt im Kontrast

zu der beinahe weißen Haut. Weiße Haut. Marie schüttelte den Kopf. Doch nicht so

einer wie Professor Xynulaikaus! Normalerweise war sein Hautton bräunlich,

vielleicht auch gelb. Aber niemals weiß. Die Ringe unter seinen Augen zeugten von

Schlafmangel. Die tiefer gewordenen Falten auf seiner Stirn von Sorgen. Doch

worüber? Konzentriert beobachtete Marie, wie sich der Lehrer gedankenverloren

über die Verbrennung an seiner linken Gesichtshälfte strich. Dabei zuckte sein Mund.

Dann wandte er sich ab, sodass sie sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. Marie

schüttelte sich. Sie musste aufwachen. Professor Xynulaikaus Vergangenheit ging sie

nichts an und es würde ihr kein bisschen helfen, darin herumzustochern, nur um sich

von ihren eigenen Problemen abzulenken.

Er fühlte sich, als könne sein Kopf jeden Moment vor Schmerzen zerspringen. Er

atmete schwer. Keuchte. War sich nicht sicher, ob ein Körper so viel Schmerz auf

einmal vertragen konnte. Dazu noch die Kreislaufprobleme. Sobald er die Augen

öffnete, sah er nur noch blendendes Schwarz und die Kopfschmerzen, er konnte es

nicht glauben, verstärkten sich sogar noch. Während er wieder zurück auf seine

Couch sank, tastete er mit den Händen nach einem Lichtschalter. Die kleine

Wohnzimmerlampe hatte ihm seit jeher gute Dienste geleistet. Er fragte sich, wie spät

es wohl war. Hoffentlich hatte er keine wichtigen Termine verpasst! Aber selbst

wenn: in diesem Zustand konnte er unmöglich zur Arbeit gehen. Wie lächerlich

dieser Gedanke doch war! Ein total verkaterter Präsident, der dazu noch aussah, als

wäre er mit Haut und Haaren zwischen zwei überdimensionale Scheibenwischer

geraten. Er konnte jeden seiner Knochen spüren. Hoffte nur, dass das Nasenbluten

aufgehört hatte. Langsam wurde das flirrende Schwarz vor seinen Augen weniger.

Nach ein paar Sekunden versuchte er noch einmal, die Augen zu öffnen. Und

erstarrte. Es war helllichter Tag! Warum hatte Kristina ihn denn nur nicht geweckt?

Mit einem grimmigem Gesicht, dass seine eisige Laune demonstrativ zur Schau

stellte, knipste er die Lampe wieder aus. Die brauche ich jetzt wohl nicht. Dann stand

er wankend auf und torkelte ein paar Schritte bis zum Fenster. Draußen schien die

Sonne. Hell und klar. Aber in seinem Kopf war es neblig und goss in Strömen. Er

konnte sich an alles erinnern. Zumindest an das, was wichtig war. Er würde sich für

bestimmte Dinge einsetzten müssen, wenn er nicht abgesetzt werden wollte. Was das

für Dinge waren, wusste er selbst nicht genau und warum die Anliegen diesen Leuten

so wichtig waren, war ihm schleierhaft. Aber er würde sein Versprechen halten. Ganz

bestimmt. Die Tür quietschte. Noch während Eljosch sich umdrehte, bereute er es.

Vor ihm stand Kristina, die kastanienbraunen Haare ordentlich hochgesteckt und in

blütenweißer Bluse, aber dafür mit hektischen roten Flecken auf den Wangen und

einem so vorwurfsvollem Ausdruck in den Augen, dass selbst ein völlig

Unbescholtener bei diesem Anblick ein schlechtes Gewissen bekommen hätte. Doch

anscheinend sah Eljosch noch ausgezehrter aus als sie. In Kristinas Blick mischte

sich jetzt noch etwas anderes. „Du siehst schrecklich aus.“, stellte sie fest und

musterte ihn besorgt. Eljosch antwortete nicht, sondern musterte sie mit finsteren

Blicken. Daraufhin unterließ sie es, ihm eine Gardinenpredigt zu halten und bot ihm

an, erst einmal seine Wunden zu versorgen. Während sie dasaßen, zwischen

aufgewühlten Kissen und einer verschütteten Cornflakespackung, fragte sie dann

doch. „Bist du überfallen worden?“ Ihr Blick wanderte von der Wunde, die sie gerade

behandelte, zu Eljoschs Augen und dann wieder zurück zur Wunde. „Kann man wohl

sagen.“, brummte dieser abweisend. Kristina schwieg. Doch dann platzte es wider

Willen aus ihr heraus. „Es sieht nicht gut für dich aus. Die einzige Möglichkeit, deine

Patzer wieder geradezubiegen, wäre, ein paar sehr einflussreichen Leuten die Zehen

zu lecken und sich auf ihre Vorschläge einzulassen. Aber das willst du doch nicht,

oder?“ „Ich muss.“ Eljoschs Stimme klang so hart, dass seine engste Vertraute

erschrocken zurückzuckte.

Weiß. Warum nur sind Krankenstationen immer blütenweiß? Mit diesem Gedanken

drehte sich Jonas von einer Seite auf die andere. Das heißt: er versuchte es. Aber mit

dem eingegipsten Arm, doppelt so schwer wie seine immer noch prall gefüllte

Süßigkeitentüte, die jetzt unberührt neben seinem Bett lag, gelang ihm das nicht. Er

stöhnte. Das war jetzt schon das fünfte Mal, dass er es versuchte. Er hasste

Krankenhäuser. Es war immer dasselbe. Man wurde eingeliefert, dann durfte man

sich nicht bewegen und wenn man nach langer Haft endlich wieder freikam, wurde

einem auch noch verboten, Bibelkicker zu spielen. Er kannte sich aus mit

Verletzungen. Im letzten Schuljahr war er während des Bibelkicker Turniers in

Sinistro umgekippt. Und hatte sich seitdem fest vorgenommen, so schnell nicht

wieder ins Krankenhaus zu müssen. Tja, Pech gehabt. Er starrte auf die Decke über

sich und versuchte mit Hilfe seiner Fantasie angestrengt, irgendwelche Bilder an

diese so langweilige Wand zu projizieren. Nachdem der imaginäre Stöpsel in seinem

Kopf gezogen war, kamen die Bilder wie von selbst. Viel zu schnell und zu real. Und

viel zu schrecklich. Er kannte diese Bilder, hatte die Szenarien seit letztem Winter

tausend mal neu durchlebt. Er wollte nicht mehr. Ihm war das alles überdrüssig. Da

war Chilas Hand. Die Hand seiner Schwester, die die Seine nicht ergreifen wollte, um

sich vor dem sicheren Tod zu retten. Als Nächstes kam da das Messer, das sie

hasserfüllt in seine Hand gerammt hatte. Noch heute erinnerte ihn eine Narbe daran.

Als wenn er diesen Tag jemals vergessen könnte! Und am schlimmsten war der

Ausdruck in Chilas Augen, als sie von dem Felsen viel. Hass. Pure Verachtung und

dahinter alles ergreifende Leere. Zum tausendsten Mal fragte er sich, ob das alles

seine Schuld war. Doch wie hätte er es verhindern können? Plötzlich fingen die

Bilder in Jonas Kopf an, sich zu drehen. Und er begann zu zittern. Unvermittelt

erschienen da Bilder von Ulrügio, dem ehemaligen Hauptquartier des „Schlüssels der

Macht“ und im nächsten Augenblick spürte er den Atem der grässlichen

Riesenschlange hinter sich, die dort gehaust hatte. Ihm wurde schlecht bei dem

Gedanken, dass Seres sich dort wohl irgendwo noch befinden musste. Zwar konnte er

jetzt keine Gestalt mehr annehmen, aber allein die Vorstellung, dass es ihn gab, ließ

Jonas Herz einen Moment lang aussetzen. Er wollte das nicht mehr sehen. Wollte

nichts mehr spüren. Mit dem gesunden Arm zog er sich die dicke Bettdecke so weit

wie möglich über den Kopf. Dass es draußen 30 Grad warm war, machte ihm nichts

aus. Ihm war eiskalt. Er versuchte, sich den Schrecken von der Seele zu weinen. Die

Trauer. Die Selbstvorwürfe von damals, die ihn sein ganzes Leben lang verfolgen

würden. Doch es kam nichts. Keine Tränen, nichts. Stattdessen nur gähnende Leere.

Was hatte dieses Leben für einen Sinn?


Iria - Blut wie Regen

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