Читать книгу ANGEL - Liesa-Maria Nagel - Страница 6

Оглавление

Während der Mann murmelnd über den Parkplatz schlenderte und seine Beine und Arme dehnte, schlug Nick einen Bogen, um ihn von hinten anzugreifen. Ich wartete. Denn der Mensch würde rennen. Das taten sie immer.

Der Schrei, der über den Parkplatz hallte, erregte jede einzelne Zelle in meinem Leib. Der Mann hatte Nick entdeckt. Das große, schwarze, geifernde Ungeheuer, das dort knurrend vor Hunger auf ihn zu kam. Dicht am Boden. Drohend. Bereit zum Sprung. Endlich rannte er. Um Hilfe schreiend und mit dem herrlichen Wahnsinn purer Angst in den Augen. Er lief blindlings in sein Verderben. Genau in mein offenes Maul. Ein neuer schriller Schrei schallte durch die Nachtluft.

Angelockt vom Blutgeruch und den Geräuschen unseres Mahls, gesellten sich bald die anderen zu uns. Wir teilten unsere Beute, stritten um die besten Stücke.

Das war es, was uns am Leben erhielt. Nicht die Gene. Nicht das Blut. Die Jagd und das Zusammensein waren es, die uns nahezu unsterblich machten. Blut und Fleisch gaben uns Kraft, doch diese grausame, herrliche Brutalität, diese erbarmungslose Gemeinschaft war unser Lebenselixier. Inmitten dieses Blutvergießens, zwischen den Leibern der anderen, fühlte ich mich fast vollkommen.


Eine halbe Stunde später war unser Hunger gestillt. Satt und zufrieden lagen wir um die spärlichen Reste des Mannes herum und genossen das Mondlicht. Entspannt lag ich etwas abseits, lauschte den Geräuschen der andern. Erst ein leises Knurren ließ mich aufblicken. Seth stand vor mir und sah mich aus gelben Augen auffordernd an. Er machte eine Kopfbewegung und ging dann an mir vorbei tiefer in den Wald. Ich schnaubte und stemmte mich in die Höhe. Nick sah uns nach, als ich Seth in die Nacht hinaus folgte.

Wir schlichen eine Weile schweigend nebeneinander durchs Unterholz, scheuchten ein paar Hasen auf und wateten ein Stück durch einen kleinen Bach. Dann, als wir halboffenes Gelände erreichten, begann Seth zu laufen. Seine Pranken gruben sich tief in den Boden und er schnellte lautlos über die Erde, wie der Wind. Ich sah ihm einen Augenblick nach, ehe ich mich abstieß und ihm nachjagte. Meine Tatzen hämmerten auf den Boden und kleine Schmerzenspfeile durchzuckten meine Beine, doch ich nahm sie kaum wahr. Warum Seth mich immer weiter von den anderen fortführte, darüber machte ich mir keine Gedanken.

Wir waren schon fast wieder am Haus, als ich endlich langsamer wurde und dann keuchend und hechelnd am Boden liegen blieb. Kläglich versuchte ich, wieder zu Atem zu kommen. Seth hielt nur Sekunden nach mir an und ließ sich an meiner Seite auf den Rücken fallen. Sein Atem ging schnell und der große Brustkorb hob und senkte sich. Ich konnte das rasende Schlagen seines Herzens hören. Langsam drehte er den Kopf und sah mich an. Bewunderung über das Tempo, welches ich gehalten hatte, lag in seinem Blick. Ich schnaubte leise und stieß ihn mit der Schnauze an.

Ein plötzlicher Stich in meiner Brust ließ mich den Kopf heben. Auch Seth hielt mitten in der Bewegung inne. Gleichzeitig schnellte unser Blick zum fernen Horizont. Blass und kaum wahrnehmbar zeigte sich das erste Licht des neuen Tages. Schon hallte ein lauter Ruf über das Land. Ein Heulen, laut und volltönend. Ich erkannte die Stimme, das war eindeutig Mark und er rief uns nach Hause.

Ich wollte dem folgen, doch Seth hielt mich auf. Er sprang mir in den Weg und sah mich bittend an. Ich gab einen fragenden Laut von mir und legte den Kopf schief. Was hatte er vor? Seine Antwort war ein Geräusch tief aus seiner Kehle, das fast wie ein Schnurren klang. Weich und grollend, wie Donner. Er machte einen Schritt vorwärts und rieb seinen Leib an meinem entlang. Erst jetzt erkannte ich, was er wollte. Seth hatte nicht vor zurückzugehen. Er widersetzte sich Marks Befehl und das nur wegen mir. Er plante, mit mir allein zu sein.

Sein Glück war wohl, dass ich keine Gelegenheit mehr hatte, darüber nachzudenken. Wieder erinnerte mich ein heftiger Stich in die Brust daran, dass die Sonne aufging. Diesmal jedoch verschwand der Schmerz nicht wieder. Er nistete sich in meiner Brust ein und breitete sich von dort in jeden Winkel meines Körpers aus. Ich knurrte vor Schmerz und registrierte kaum noch, dass Seth mit zwei leichtfüßigen Sätzen ins nächste Gebüsch verschwand. Er würde in der Nähe bleiben. Ich hörte sein schmerzerfülltes Stöhnen und spürte die Hitze seines Körpers. Doch schon im nächsten Moment konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Der Schmerz zwang meinen Leib in seine menschliche Form zurück, stauchte ihn zusammen. Der Wolf, das Monster, zog sich wieder unter meine Haut zurück und letztendlich hockte ich nackt und atemlos mitten in einem Waldstück, kilometerentfernt von Craven.

Ich hörte noch Seths Stöhnen, als er seine Verwandlung abschloss. Mein Blick fest auf das Gebüsch geheftet, in dem er verschwunden war, versuchte ich mir klarzumachen, was geschehen würde, wenn ich hier sitzen blieb. Ich war mir sicher, dass Seth etwas ganz Bestimmtes von mir wollte. Eine Fortsetzung von dem, was wir hinter dem Garten begonnen hatten. Allein bei der Erinnerung an seine sanften Lippen wurde mir warm. Ich konnte nicht leugnen, dass ich ihn mochte. Er hatte etwas an sich, dass mich anzog. Doch war ich wirklich schon bereit für ihn? Ich fühlte mich, wie eine Jungfrau in der Hochzeitsnacht, auch wenn weder das eine noch das andere zutraf. Ich war weder Jungfrau, noch würde ich Seth jemals heiraten. Das wusste ich mit einer Gewissheit, die mich selbst schockierte. Er ist nicht der Richtige. Woher nahm ich nur diese Sicherheit?

Jeder Gedanke verstummte schlagartig, als ein heller, muskulöser Körper lautlos aus dem Gestrüpp trat. Seths Erscheinung fesselte meine gesamte Aufmerksamkeit. Vergessen war der Wald. Vergessen die Zweifel. Bedeutungslos versank die Welt um mich herum im Nichts, als ich meine Augen über seinen makellosen Körper wandern ließ.

Ein verheißungsvolles Lächeln umspielte seine Lippen, als er sich neben mich kniete. Warm und rau waren seine Hände auf meinen Schultern, glitten über die immer noch empfindliche Haut meiner Arme und hinterließen ein Brennen, das sich bis tief in mein Innerstes fraß. Ich wollte mich ihm entziehen, doch mein Körper achtete nicht auf die Einwände meines Verstandes. Zu groß war die Sehnsucht nach dieser Wärme und seinen Berührungen. Ich spürte seinen Körper dicht hinter mir, nur Zentimeter trennen seine Haut von meiner. Mit geschlossenen Augen saß ich da und spürte seine tastenden Berührungen.

„Hör auf damit, Seth“, murmelte ich, drehte den Kopf aber dennoch in seine Richtung. Ich hatte das Gefühl diese Worte sagen zu müssen. Warum, wusste ich nicht, aber wie die Gewissheit vorhin, schienen sie aus dem vergessenen Teil meines Kopfes zu kommen.

Seth ließ sich von meinem kraftlosen Einwand nicht abhalten. Statt seine Hände von mir zu nehmen, rutschte er näher zu mir. Endlich fühlte ich seine angespannte Brust an meinem Rücken. Warm drängte seine Haut an meine. Glatt und heiß. Sein ruhiger Atem strich über meinen Nacken, als er die Arme um mich schlang. Wie von allein lehnte ich mich gegen ihn. Das plötzliche Bedürfnis, seine Wärme überall auf und in mir zu spüren überwältigte mich. Ehe ich mich versah, hatte er mich noch dichter an sich gezogen. Nun saß ich auf einem seiner Beine, während seine Hand langsam über die Innenseite meines Oberschenkels aufwärts strich.

Ein Keuchen brach durch meine zusammengepressten Lippen, ungeduldig und drängend. Ich konnte es kaum noch erwarten, ihn endlich dort zu spüren, wo sich mein Körper flüssig und offen nach ihm sehnte. Seine eigene Erregung lag schwer in der kühlen Morgenluft und drängte hart gegen meine Hüfte. Und obwohl ich spürte, wie die Lust in ihm brannte, war er vorsichtig und geduldig mit mir. Er ließ sich Zeit. Erkundete meinen Körper und küsste zärtlich meinen Nacken. Lange verweilten seine sinnlichen Lippen über meinem Puls, genossen das hektische Schlagen unter der dünnen Haut.

„Du musst nur sagen, dass ich aufhören soll. Sag es und ich lasse dich los.“ Seine Stimme, so nah an meinem Ohr, vibrierte in mir, und noch während er sprach, glitt seine Hand zwischen meine Beine. Ich schrie fast, als seine Finger meine feuchte Mitte fanden. Sanft, aber unnachgiebig bewegten sie sich dort, suchend, forschend.

Nur für den Bruchteil einer Sekunde konnte ich den Gedanken an die Worte in meinem Kopf halten. Eine geschickte Bewegung seines Daumens und er war verschwunden. Nein, ich würde ihn nicht bitten aufzuhören, viel zu drängend war mein Verlangen. Ich wollte ihn!

Stöhnend sank ich gegen ihn und reckte den Hals seinen Lippen entgegen. Als sich unsere Lippen berührten, schoss ein Pfeil flüssiger Hitze durch mich hindurch. Von ganz allein streckte ich die Arme und drehte die Finger in sein Haar. Ich krallte mich förmlich an ihn, während ich mich kurz erhob und mich umdrehte. Ich sah sein Geschlecht zuckend und hungrig zwischen seinen Beinen in die Höhe ragen. Seine Finger gruben sich in meine Hüften und er zwang mich mit sanfter Gewalt nieder. Er stöhnte auf, als seine Spitze mich berührte. Süße Qual und Genuss verzerrten sein Gesicht, als seine volle Länge in mich eindrang. Er spreizte und weitete mich, doch es tat nicht weh. Das Gefühl, ihn in mir zu spüren, raubte mir schier den Atem. Ich spürte, wie meine Instinkte die Kontrolle übernahmen. Mein Körper hungerte regelrecht nach Befriedigung, und jetzt, wo er einmal auf den Geschmack gekommen war, würde er sich nicht mehr bremsen lassen. Seit ich aufgewacht war, hatte ich mich nie zuvor so sehr wie ich selbst gefühlt.

Alles in mir wollte dieses Gefühl um jeden Preis behalten.

Gierig schlang ich die Arme um seinen Hals und sah ihn an. In seinen haselnussbraunen Augen leuchteten einzelne gelbe Funken. In ihnen lag eine Hitze, die mich zum Schmelzen brachte, mich verbrannte und verdarb. Mit einem heiseren Knurren senkte er den Kopf und begann meine Kehle zu küssen. Seine Hände in meinem Rücken pressten mich fest an ihn, als er begann, sich in mir zu bewegen. Seine Lippen wanderten tiefer, fanden meine Brüste. Mit Zähnen und Zunge jagte er einen Schauer nach dem anderen durch mich hindurch, bis ich kaum noch Luft bekam. Ich spürte nicht, dass er seinen Griff um mich veränderte. Grob gruben sich seine Finger in meine Hüften und bewegten mich auf ihm. Die engen kleinen Kreise ließen uns beide aufstöhnen. Es dauerte nur einen Moment, bis ich von allein den Rhythmus aufnahm und mich bewegte. Die Finger fest in seine Schultern gekrallt, verlor ich mich in dem überwältigend intensiven Gefühl meiner Ekstase.

Als ich kam, zuckte ein Bild durch meinen Kopf, begleitet von einem Wort.

Ich hörte, wie Seth aufschrie, spürte, wie er erzitterte. Er kam nur einen Herzschlag nach mir. Doch geriet die Lust für einen Moment völlig in den Hintergrund, als ich versuchte das Bild festzuhalten. Was hatte ich da gesehen? Es schien ein Erinnerungsfetzen zu sein. Ein fremdes und doch sehr vertrautes Gefühl ergriff mein Herz. Verzweiflung. Angestrengt rief ich es mir wieder vor Augen.

Nacht. Dunkelheit überall. Ich lag auf dem Rücken, ein weicher Teppich unter mir. Fast war mir, als könne ich die Fasern auf meiner Haut spüren. Über mir, auf mir, war jemand, den ich kannte und doch nicht erkannte. Ein Mann mit unglaublich langem, rabenschwarzen Haar. Glatt floss es ihm um die hellen, nackten Schultern, als er den Kopf in den Nacken warf.

Wächter!

Wie ein Echo hallte dieses Wort durch meinen Kopf, aber ich wusste nicht, wo ich es einordnen sollte. Erst spät merkte ich, dass Seth mich bei den Armen gepackt hatte und erschrocken ansah.

„Angel? Was ist denn los? Alles in Ordnung?“

Endlich erwachte ich aus meiner Starre und erwiderte seinen Blick. „Alles ist gut. Mach dir keine Sorgen. Ich hatte gerade nur – Ich glaube, ich habe mich eben an etwas erinnert...“

Nun wurde sein Blick noch ernster. Seine Brauen sanken tief in die Stirn, aber sein Griff um meine Oberarme lockerte sich wieder.

„Erinnert?“, wiederholte er leise. „Was hast du gesehen?“

Einen Moment überlegte ich tatsächlich, ob ich ihm die Einzelheiten erzählen sollte, entschied mich dann aber dagegen. Seth zu erzählen, dass ich einen anderen Mann gesehen, mit dem ich offenbar mal etwas gehabt hatte, während er in mir war, hielt ich für keine gute Idee.

„Ich konnte das Bild nicht lange genug halten“, log ich und stand langsam auf. Seth ließ sich nach hinten sinken und fing sich mit den Händen ab. Sein Blick glitt über meinen Körper, als ich so vor ihm stand und mich streckte. Kein Wort kam über seine Lippen, aber seine Augen sagten alles. Er wollte mich immer noch. Er wollte mich besitzen, die Gier in seinen nun dunklen Augen war nicht zu übersehen. Ich wich seinem Blick aus und drehte mich um. Diese Hitze konnte ich nicht lange ertragen. Erst einmal musste ich herausfinden, wer der Mann in meiner Erinnerung war. Vielleicht gab es doch jemanden, der zu mir gehörte.

„Komm, lass uns langsam zurückgehen. Mark wird sich schon Sorgen um uns machen.“

Ohne seine Antwort abzuwarten, machte ich mich auf den Weg. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als mir entweder zu folgen oder hier im Wald zu bleiben. Nach wenigen Metern war er wieder an meiner Seite. Gemeinsam gingen wir Arm in Arm durch den morgendlichen Wald zurück zum Haus.


Kapitel III


Ich war glücklich.

Fünfundzwanzig wundervolle Jahre. In meinen Augen bloß ein Wimpernschlag. Nicht mehr die Suche beschäftigte und bedeutete mein Leben, sondern mein Heim und meine Familie.

Wenn ich nur geahnt hätte, wie schnell es damit vorbei sein konnte ...

Mitte April erblühte der wilde Garten in Craven in den herrlichsten Farben. Überall sprossen Blüten und Knospen, zartes Grün, wohin man schaute. Die Welt erwachte zu neuem Leben. Die Tage wurden länger und die Sonne vertrieb jeden Tag mehr von der Kälte. Alles schien im Übermut des Frühlings zu ertrinken. Nicolai inklusive.

„Das wagst du nicht!“

Lachend jagte ich Nick hinterher. Von seinem Zimmer ins Bad und weiter in Seth Zimmer. Mit einem Grinsen von einem Ohr bis zum anderen wedelte Nick mit dem Foto vor meiner Nase herum.

„Oh doch! Ich werde es ins Netz stellen! Das ist aber auch einfach zu süß! Lukas! Komm her! Das musst du sehen!“

„Na, warte!“ Mit einem Satz war ich wieder bei ihm. Ich sprang einfach über das Bett, das er als Schutz zwischen uns gebracht hatte. Lachend entkam Nick meinem Angriff und stürzte aus dem Zimmer, doch ich war ihm dicht auf den Fersen. Der Grund für diese wilde Jagd war das Foto, welches Nick so stolz wie eine Trophäe vor sich hertrug. Eine erst kürzlich geschossene Aufnahme von mir und Seth in der Londoner Innenstadt. Arm in Arm vor dem Brunnen am Piccadilly Circus. Wir waren immer noch nicht wirklich zusammen. Jedenfalls nicht offiziell, aber unsere Bindung hatte sich in den letzten Jahren gefestigt. Seth war sehr geduldig mit mir und ließ mir alle Zeit der Welt, um mich an ihn zu gewöhnen.

„Nicolai Pietro Sarno!“, schrie ich ihm hinterher und schlitterte auf den Flur, „Du spielst mit deinem Leben!“

Nick lachte daraufhin nur und sprang die Treppe hinunter. Seine langen Beine nahmen immer gleich mehrere Stufen auf einmal. Unten füllte sich nun langsam die Halle. Die übrigen Rudelmitglieder waren gekommen, um zu sehen, woher das Geschrei kam.

Mit einer Hand ergriff ich das Treppengeländer und nutze den Schwung um die Ecke zu nehmen.

Dabei übersah ich die Falte im Teppich.

Eine Unachtsamkeit. Nicks Füße hatten sie eben aufgeworfen und mein Fuß verfing sich nun darin.

Hart knallte mein Kopf auf die hölzernen Stufen. Etwas knackte, das Geräusch schien die ganze Halle zu erfüllen. Dann wurde schlagartig alles schwarz.


*


Nirgends war der Wind so frisch, wie auf Raphaels Balkon.

Mariel wartete nun schon eine Weile hier draußen, aber sie hatte nichts dagegen. Die Aussicht war einfach fantastisch! Vom hohen Turm des Erzengels konnte sie bis weit hinab auf die Stadt schauen. Über sanft wogende Wiesen und Wälder hinweg in den unendlichen, blauen Himmel.

Ob Gott mich von hier oben besser hören kann?

Das fragte sie sich oft. Noch niemals zuvor war sie so hoch oben im Himmel gewesen. Beriah, der hohe Himmel, war nur den Obersten der Engel vorbehalten. Über diesem Ort lag nur noch der Wohnort Gottes, Atziluth.

Mariel war nur ein einfacher Engel, sie hatte es gerade in den Rang der Herrschaften geschafft und war darüber sehr glücklich. Sie diente in Yetzirahs großen Gärten, pflegte und hegte lebendige Wesen, Pflanzen wie Tiere.

Nie hätte sie auch nur zu träumen gewagt, dass der große Erzengel Raphael sie zu sich einlud.

Seit sie von seinem Assistenten abgeholt wurde, fragte Mariel sich, was der Engel des Windes und der Heilung wohl von ihr wollen könnte?

Sie war doch niemand. Ein Sandkorn in all der Schönheit dieser Welt. Sie hatte keine außergewöhnlichen Fähigkeiten. Nichts, was einen Engel von Raphaels Rang dazu veranlasst haben könnte, sie zu sich zu rufen.

„Wie ich sehe, genießt du die Aussicht.“

Mariel fuhr erschrocken herum, als sie die sanfte Stimme hinter sich hörte. Sein Anblick verschlug ihr die Sprache.

Sie hatte Raphael immer nur von Weitem gesehen. Wenn er auf einer Wanderung oder Inspektion in die tieferen Sphären des Himmels herabstieg. Nie war sie ihm so nah gewesen und niemals hätte sie gedacht, dass je ein Mann so schön sein konnte.

Er war so groß! Riesig im Vergleich zu ihrer zarten Gestalt. Ein langer, schlanker Körper. Schulterlanges, blondes Haar und grünblaue Augen, die sie so sanft anschauten, dass sie nicht aufhören konnte, ihn anzustarren.

Raphael trug einen anthrazitfarbenen Anzug und darunter ein weißes Hemd. Er sah unglaublich elegant aus.

So erhaben ..., dachte Mariel voller Bewunderung, so … wunderschön!

„Sire“, keuchte sie und verneigte sich so tief, dass ihre langen goldenen Locken den schwarzen Marmor des Balkons streiften.

Raphael lachte leise. „Setz' dich doch zu mir, Mariel“, sagte er und sie hörte, wie er sich in die weichen Kissen der kleinen Garnitur sinken ließ. Nur zögernd setzte sie sich auf den Stuhl ihm gegenüber.

Raphael lächelte sie an und machte eine Handbewegung hinter sich, woraufhin ein junges Mädchen mit Kaffee und Gebäck angelaufen kam. Nachdem sie alles auf dem Tisch zwischen ihnen abgestellt und eingeschenkt hatte, verschwand sie lautlos im Inneren des runden Turms.

„Ich hoffe, es hat dich nicht zu sehr erschreckt, dass ich dich habe holen lassen.“ An den Klang von Raphaels leichter, klarer Stimme würde sie sich niemals gewöhnen können. Wie Sommerwind. Duftend und rein.

„Nein, auf keinen Fall!“, wandte sie schnell ein und beobachtete, wie Raphaels schlanke Finger einen der Schokoladenkekse mit Cremefüllung auswählten. „Ich fragte mich nur, warum Ihr ausgerechnet mich ausgewählt habt ...?“

Diesmal war sein Lachen sehr herzlich. „Deiner ganz besonderen Gabe wegen, liebe Mariel!“, kicherte er und Kekskrümel fielen auf sein Jackett.

Erstaunt sah Mariel ihn an. Sie konnte gar nicht glauben, was sie da hörte. Eine Gabe? Sie?

„Weißt du, liebes Kind, wir, die Großen Vier haben eine Entscheidung getroffen. Die Zeit ist reif, dass unsere beiden Schwestern zu uns zurückkehren. Wir brauchen jemanden, mit genau deinen Talenten für diese Aufgabe.“

Mariels Augen wurden immer größer. Sie konnte gar nicht glauben, was sie da hörte.

„Also, kleine Mariel? Möchtest du unseren Auftrag annehmen und auf die Erde gehen?“

Mariel überlegte nicht. „Ja. Ja, natürlich, Sire!“


Kapitel IV


Robin Meloy lehnte auf dem schmiedeeisernen Geländer des VIP-Bereichs und sah hinunter in den öffentlichen Clubraum. Das Wollust war ihr Stammclub. Ein gehobener Szeneladen, in den man nur kam, wenn man von einem Insider eingeladen wurde. Mit dem Besitzer, einem Incubus, war sie per du. Fast jeden Abend verbrachte sie hier. Sie beobachtete gern die Menschen und Dämonen bei ihren lustvollen Spielen. Gerade an einem Samstagabend wie diesem, war der Laden bis unter das Dach gefüllt. Da bekam man einiges zu sehen.

Auf den roten Samtsesseln und Sofas, auf den Cocktailtischen und in den abgeschiedenen Ecken trieben es Pärchen und Gruppen, wie es ihnen beliebte. Dieser Club, wie so viele andere auf der Welt, war eigens für die finsteren Gelüste der dämonischen Bevölkerung ins Leben gerufen worden. Viele Menschen kamen gern hierher, um sich von den gierigen Geschöpfen der Hölle missbrauchen zu lassen. Nervenkitzel. Abenteuer. Was auch immer sie hierher treib, die Gäste des Clubs bedienten sich nach Leibeskräften an dem reichhaltigen Angebot. Robin fiel hier in der Masse der anderen Vampire kaum auf.

„Herrin.“

Die schwache, dünne Stimme ihrer Sklavin drang kaum bis an ihr Ohr. Das tat sie mit Absicht, was Robin durchaus bewusst war. Rachel, so hieß die dralle Brünette, deren Willen sie sich vor Jahren schon zu Eigen gemacht hatte, wollte ihre Aufmerksamkeit. Und eine Strafe.

„Sprich lauter, wenn du etwas von mir willst“, zischte Robin und konnte das vorfreudige Grinsen kaum verbergen.

„Herrin“, Rachel bemühte sich deutlich, lauter zu sprechen. Robin spürte ihre zarten, warmen Hände sogar durch das dunkelviolette Schlangenleder ihrer Hose, als die junge Frau behutsam ihre Wade umfasste. Lächelnd sah Robin zu ihr hinunter. In Minirock und schwarzer Seidenbluse kniete sie neben ihr. Das kastanienbraune Haar offen um ihre Schultern wallend. Sie gefiel ihr sehr und dabei war Robin nicht einmal bevorzugt lesbisch. Normalerweise nahm sie sich lieber Männer mit nach Hause, aber Rachel war eine Ausnahme. Ihr Blut schmeckte süß, wie Honig.

„Komm“, sagte Robin leise und machte eine Kopfbewegung zu ihrem Tisch hin. In einer schnellen, aber sehr eleganten Bewegung kam Rachel auf die Füße und lief zum Tisch hinüber. Mit der bloßen Hand fegte sie Staubflusen und Krümel von der Lederbank und blieb dann mit gesenktem Blick danebenstehen. Zufrieden lächelnd setzte sich Robin und zog Rachel zu sich. Mit gespreizten Beinen setze sich die junge Frau auf ihren Schoß. Robin streichelte mit ihren kühlen Händen die nackten Schenkel und ließ ihren Blick achtlos durch den separierten Bereich schweifen.

Eigentlich wollte sie nur schauen, ob sie Zuschauer hatten, doch ihr Blick wurde auf halbem Wege zurück von einem schokoladenfarbenen Haarschopf aufgehalten. Neugierig beobachtete Robin die kleine Gruppe von Männern, die gerade die wenigen Stufen zum VIP-Bereich erklommen. Vier waren es und sie waren eindeutig dämonisch. Robin konnte ihre Augen nicht von dem Mann mit den Schokoladenhaaren wenden. Irgendetwas an ihm faszinierte sie, doch erst, als sie näher kamen, erkannte sie sein Gesicht.

Was zur Hölle?! Was macht der hier?

Die kleine Gruppe, angeführt von einem schlanken Kerl mit goldenem Haar und einer grausamen Ausstrahlung, drang tiefer in das Separee ein und kam dabei unweigerlich an Robins Tisch vorbei. Natürlich nutzte sie die Gelegenheit, den Mann, den sie als Antonio Rosaro erkannt hatte, näher in Augenschein zu nehmen. Seine Haut hatte die Farbe von Kupfer. Schimmernd und weich. Seine Augen hatten dieselbe Farbe, wie sein Haar. Cremig süße Vollmilchschokolade. Der Körper in dem eleganten Anzug von Armani war kräftig. Breite Schultern, starke Arme und Oberschenkel. Er trainierte offensichtlich sehr regelmäßig. Hier in diesem rauchig, dämmrigen Ambiente sah er noch tausend Mal besser aus, als in der Agentur.

Rosaro war einer ihrer langjährigen Auftraggeber. Schon seit einigen Jahren versuchte Robin eine vermisste Person für ihn aufzuspüren. Bisher leider vergebens. Rosaro war ein sehr geduldiger Dämon, das hatte Robin bereits nach ein paar Monaten festgestellt. Er schien selbst kaum noch an den Erfolg der Suche zu glauben, dennoch brach er sie nicht ab. Sein Ehrgeiz und seine sture Einstellung hatten ihr schon von Anfang an imponiert. Dass dieser feine, reiche Mann nun denselben Club mit ihr teilte, gefiel ihr umso mehr.

Robin verlagerte Rachels Gewicht etwas, damit sie sich in den Gang hinaus lehnen konnte, als der Mann an ihr vorüberging. Sie wollte unbedingt wissen, wie er roch. Sie atmete tief ein, erhaschte aber nur die wage Erinnerung an warme Erde, Kardamom und Sommer.

Das Schicksal meinte es diesen Abend wirklich gut mir ihr, denn die Männer setzten sich an den Tisch nebenan. Robin hätte fast aufgelacht, als der schöne Südländer sich genau ihr gegenüber niederließ, mitten in ihrem Blickfeld. Sofort fing sie seinen Blick auf, er stockte sichtlich in der Bewegung und hielt kurz inne. Er erkannte sie wieder. Sie mochte es Männer aus dem Konzept zu bringen.

Mit einer Hingabe, die Ihresgleichen suchte, begann sie Rachels Hals zu küssen. Die Sklavin wand sich auf ihrem Schoß, ihre Finger gruben sich fest in Robins Schultern. Sie stöhnte leise und schloss die Augen, als Robin ihre Eckzähne über die zarte Haut kratzen ließ. Wie gebannt hielt sie dabei Antonios Blick gefangen. Keiner von ihnen wandte sich ab oder senkte den Blick. Wie erstarrt, sah er ihr zu, wie sie langsam die Lippen teilte und zärtlich zubiss.

In diesem Moment war es nicht Rachels Hals, von dem sie trank. Robin stellte sich vor, dass es der kräftige, sehnige Hals ihres Auftraggebers war. Wie sein Blut wohl schmeckte? Wahrscheinlich, wie würziger Sommerwein. Süß und schwer. Sie würde so müde sein, satt und zufrieden, wenn sie sich von ihm genährt hätte. Vielleicht sollte sie versuchen, ihn zu bekommen … Er wäre eine wirklich wundervolle Abwechslung zu all den Menschen. Und abgeneigt schien er nicht zu sein, so wie er sie anstarrte.

Ein scharfes Prickeln in ihrem Magen erinnerte sie daran, dass es genug war. Etwas zu schnell zog sie den Kopf zurück. Rachel zischte vor Schmerz und Robin beeilte sich, die Wunde mit ihrer Zunge zu versiegeln.

Sie hatte ihr nicht wehtun wollen, aber es war so schwer. Jedes Mal, wenn sie sich nährte, wandelte sie auf dem schmalen Grat zum Wahnsinn. Ein Schluck zu viel oder zu wenig und sie würde stürzen. Der Blutdurst war ihr schlimmster Feind. Nicht zu greifen. Nicht zu bekämpfen. Sie konnte nur immer und immer wieder vor ihm davon laufen, bis er sie irgendwann eingeholt hatte. Sollte sie je das Maß verlieren, würde man versuchen die tollwütige Bestie, die dann aus ihr würde, zu töten.

Robin wünschte den Vampiren, die diesen Auftrag bekämen alles Gute. Sollten sie ihr Glück versuchen. Sie war unsterblich. Nichts und niemand konnte sie töten. Die einzige, wahrhaft unsterbliche Vampirin der Welt.

Ihre finsteren Gedanken waren wie weggewischt, als sie sah, wie der schöne Herr Rosaro mit angehaltenem Atem schluckte und sich räusperte. Es fiel ihm sichtlich schwer seinen Blick von ihr und Rachel abzuwenden, und immer wieder erwischte Robin ihn dabei, wie er zu ihnen hinübersah.

Eine Weile spielte Robin dieses Spielchen mit. Sie amüsierte sich mit Rachel, knabberte an ihr und gab der jungen Frau das, was sie sich wünschte. Sie war gern die Herrin ihrer Sklaven. Robin mochte es, die Dominante zu sein. Menschen waren ihr besonders lieb. Ihre Geister waren leicht zu beeinflussen, leicht zu brechen.

Rachel war anders. Robin hatte sie vor einigen Jahren in diesem Club gefunden. Damals hatte sie den Raum kaum betreten gehabt, da war sie ihr ins Auge gefallen. Eine Weile hatten sie sich unterhalten, ehe Robin in ihren Geist eingedrungen war. Die hübsche, junge Anwältin war fast völlig freiwillig bei ihr. Robin hatte sie nicht einmal brechen müssen, bloß ein wenig verbiegen. Es war ihr eigener, freier Wille, sich der Vampirin zu unterwerfen und das machte sie für Robin zu etwas Besonderem.


Erst weit nach Mitternacht hatte Robin genug. Sie schickte Rachel ihren Wagen holen, der in einer Tiefgarage ein paar Straßen weiter parkte, und beschloss draußen vor dem Club zu warten.

Auf dem Weg hinaus, warf sie einen neugierigen Blick zurück und, wer hätte das gedacht, Antonio sah ihr nach. Mehrere Sekunden sogar hielt der Blickkontakt, ehe Robin um die Ecke biegen musste. Zufrieden war sie, dass der Mann so angetan von ihr war. Vielleicht würde er ihr sogar hinausfolgen und sie könnte ihn mit nach Hause nehmen.

Am oberen Ende der steilen Kellertreppe, die zum Eingang des Clubs führte, wartete sie. Geduldig lehnte sie an der Mauer und ließ ihre Gedanken schweifen.

Die Julinacht war lau, fast ein bisschen kühl, aber Robin fror nicht. Ihr Kälteempfinden war durch die ohnehin niedrige Körpertemperatur anders als bei Menschen.

Oh, wie oft hatte sie sich schon darüber aufgeregt, wenn sie jemand fragte, ob Vampire eigentlich untot waren! Eine fürchterliche Vermutung. Vampire waren aus einer Kreuzung zwischen Dämon und Mensch entstanden. Ihre Jugend verbrachten alle Vampire gleich. Mit menschlichen Fehlern und Eigenschaften. Sonne schadete ihn noch nicht und sie konnten ziemlich leicht sterben, aßen und tranken, wie normale Menschen. Erst im Alter von ungefähr dreiundzwanzig fand die Metamorphose statt. Eine Art schleichende Verwandlung. Ein langwieriger, schmerzhafter Prozess, in dem aus dem jungen Menschenkind ein Vampir wurde. Die Muskelstruktur veränderte sich, die Knochen. Die Haut. Die Sinne. Bis schließlich ein Übermensch mit einer kühlen, lichtempfindlichen Haut und dem Durst nach Blut daraus hervorging.

Ihre spezielle Nahrung, die nährstoffarm aber ausreichend war, senkte ihren Stoffwechsel, weshalb man sie oft für tot hielt. In der Regel lag ihre Temperatur nur knapp über Raumtemperatur.

Das Übermaß an Kraft und Schnelligkeit, die geistigen Kräfte, die sie mit dem Alter erlernen konnten, bezahlten sie mit einem hohen Preis. Dem Blutdurst. Einer Krankheit, die in ihnen steckte, genauso wie das Vampir-Gen. Ein jeder von ihnen litt daran und es gab keine Heilung. Je älter sie waren, je mehr Vampir-Gene in ihnen steckten, desto grausamer war die Krankheit.

„Solch finstere Gedanken in einer so schönen Nacht?“

Robin schauderte, als seine Stimme, wie warmer Honig ihren Rücken hinunter rann. Tief und dunkel und warm. Nur langsam hob sie den Blick und betrachtete den Schönling, der neben ihr an der Mauer lehnte und sie lächelnd ansah. Allein sein Blick verriet, wie bereit er für sie war. Robin würde sich nicht bemühen müssen, um ihn mitzunehmen.

„Die Nacht ist gerade noch viel schöner geworden“, schnurrte sie und wandte sich ihm zu.

Herr Rosaro lachte und sein Lachen rollte durch die Nacht, wie Donner. „Ich mag es, wenn Frauen kein Blatt vor den Mund nehmen.“

Robin schmunzelte. „Du magst Frauen, die dir sagen, wie schön du bist.“

Wieder lachte er schallend auf, beugte sich aber in derselben Bewegung etwas zu ihr herunter. „Mir scheint, als würde es dir nichts ausmachen, mir das die ganze Nacht lang zu sagen“, raunte er und warme Finger strichen über ihre Wange, hinab zu ihrem Hals. Sie machte einen Schritt vor, stieß mit ihrer Brust an seine. „Komm mit zu mir, dann können wir das herausfinden.“

Wie auf Kommando fuhr Rachel mit ihrem Minivan gerade an den Bürgersteig heran und hielt. Lächelnd ließ der Schönling sich von ihr zum Auto führen.

„Darf ich dich Robin nennen?“, fragte er leise, während er ihr die Tür zum Rücksitz aufhielt. Sie sah lächelnd zu ihm auf, während sie sich auf den Sitz gleiten ließ. „Hm … Gerne“, erwiderte sie und rutsche tiefer ins Innere des Wagens, um Platz für ihn zu machen.

„Nenn' mich ruhig Tony“, murmelte er und zog die Tür hinter sich zu.


ANGEL

Подняться наверх