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Kapitel 2

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“Du denkst daran, dass wir heute Abend im Wirtschaftsclub eingeladen sind?” “Ich denke ununterbrochen an nichts anderes”, frotzelte Rebecca. “Da ich mir das gedacht habe, erinnere ich Dich immer wieder gern an die Veranstaltung”, gab Oliver schmunzelnd zurück. Sie kannten sich schon seit Jahren - und auch die Vorlieben und Abneigungen eines jeden. Oliver Krug war der Chefredakteur des Verlags, Rebecca seine Nachrichtenchefin. Zusammen hatten sie schon so manche anstrengende Nachrichtensituation durchgestanden: El Kaida und Osama bin Laden, Fukushima, Anschläge, Erdbeben, Überschwemmungen, Wahlen, Rücktritte, Fußballweltmeisterschaften und olympische Spiele.

Alles, was Nachrichten ebenso zu bieten haben. Rebecca war immer froh gewesen, Oliver an ihrer Seite zu haben. Um seinen Job beneidete sie ihn nicht. Er saß stets zwischen allen Stühlen: Redaktion, Vermarktung, Verleger. Hier die richtige Balance zu finden, mit möglichst allen gut auszukommen, war nicht immer leicht.

Auch derzeit war die Welt wieder in einer unruhigen Phase, was sich stark auf die Arbeit in der Redaktion auswirkte: Anschläge in der Türkei, Flüchtlingskrise, Krieg in Syrien. Einerseits bedeuteten solche Krisenlagen viele Überstunden für alle Kolleginnen und Kollegen, andererseits wollten Journalisten wie Rebecca auch das richtige Gespür behalten. Das bedeutete, nicht abzustumpfen, gleichzeitig aber auch nicht alle Krisen dieser Welt mit nach Hause zu nehmen. Bei der derzeitigen Lage fand Rebecca es daher umso unpassender, bei einem Empfang die Champagnergläser zu heben.

Aber es war einer dieser Pflichttermine, bei denen auch Redaktionsmitglieder Präsenz zeigen mussten. Schließlich waren auf dem Empfang auch Anzeigenkunden und politische Gesprächspartner zugegen. Rebecca seufzte. Gerade heute Abend hätte sie lieber faul auf dem Sofa abgehangen, als überflüssigen Small Talk zu betreiben. “Ich fahre nachher eben kurz nach Hause, ziehe mich um und komme dann direkt dorthin”, sagte sie in Richtung Oliver. “Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Du suchst nur nach einem Grund, auf Deinem Sofa zu bleiben”, zog er sie mit einem Grinsen auf. “Ich werde mir Mühe geben, Dich nicht zu enttäuschen…”

Natürlich war es so, wie Oliver in der Redaktion prophezeit hatte: Einmal zu Hause, fiel es Rebecca schwer, sich doch wieder aufzuraffen. Sie legte Mantel, Tasche und Schuhe im Flur ab. Im Wohnzimmer schaltete sie das Licht ein und öffnete die Terrassentür Die klare Luft tat gut. Sie atmete sie tief ein. Nur ein paar Minuten auf dem Sofa, nur kurz ausstrecken. Das musste möglich sein, fand Rebecca. Sie schloss die Tür wieder. Zur Sicherheit schaltete sie ihren Handywecker ein. Einmal auf der Couch, streckte sie sich ganz lang und schloss die Augen für ein paar Minuten. Sie bemerkte die Ruhe fast körperlich.

Der Newsroom des Verlages schwebte ständig in Unruhe. Es handelte sich um einen einzigen großen Raum, von dem aus viele verschiedene Redakteure die Veröffentlichungen für die Print- und Onlineausgabe und die TV-Nachrichten koordinierten: Stimmengewirr, Fernseher, Radio, Telefone sorgten für eine ständige Geräuschkulisse. Auch wenn sich Experten bemüht hatten, für den besten Schutz zu sorgen. Kein Wunder, dass manchmal die Konzentration litt - ihre eigene und die ihrer Kolleginnen und Kollegen natürlich auch. Zu ihrer eigenen Überraschung war sie gar nicht richtig müde. Die Stille ließ sie zwar zur Ruhe kommen, sie konnte abschalten, aber es überfiel sie keine bleierne Müdigkeit.

Als ihr Handywecker nach einer Viertelstunde klingelte, schreckte sie nicht auf. Rebecca stellte ihn ab und erhob sich. Ein Abendessen war nicht nötig, denn die Versorgung im Wirtschaftsclub galt bekanntermaßen als exzellent. Rebecca machte sich frisch. Im Schlafzimmer öffnete sie ihren Kleiderschrank und setzte sich im Schneidersitz auf ihr Bett. Sie war unschlüssig wegen ihrer Garderobe. Nachdem sie eine Weile in den Schrank geblickt hatte, als wenn sie darauf wartete, dass die Kleidungsstücke zu ihr sprechen und ihr die Entscheidung abnehmen würde, wählte sie ein schmales schwarzes Kleid, hochgeschlossen mit Rollkragen und langen Ärmeln.

Die kurze, ineinander geschlungene Goldkette samt Armband passte ebenfalls zum Kleid. Dazu schwarze Schuhe mit hohen Absätzen und ihr schwarzer Kurzmantel. Das musste aus ihrer Sicht reichen. Schließlich ging sie nicht zu einer Cocktailparty.

Da Rebecca keine Lust verspürte, in diesem Aufzug die U-Bahn zu nehmen, gönnte sie sich ein Taxi. “Bist Du unterwegs?” Ihr Smartphone zeigte Olivers Nachricht mit einem kurzen Piepton an. “Bin in ein paar Minuten da, komme mit dem Taxi”, schrieb Rebecca zurück. Vor dem Eingang fand sie ihn problemlos. “Zeitlos schön wie immer”, empfing Oliver sie. “Mach Dich bitte nicht auch noch lustig, sonst gehe ich direkt wieder. Außerdem habt Ihr Männer es immer einfacher. Weißes Hemd, schwarzer Anzug - fertig”, gab Rebecca zurück. “Rebecca, das war ernst gemeint. Warum kannst Du immer so schlecht mit Komplimenten umgehen?”, fragte er. Statt einer Antwort hakte Rebecca sich bei seinem Arm ein, zusammen nahmen sie den Aufzug in die oberste Etage. Der Wirtschaftsclub residierte so, wie man es sich klischeemäßig vorstellt: mitten in der City, oberstes Geschoss, Concièrge, gediegene Einrichtung, die Stimmen und Geräusche dämpfte.

Der Club verfügte über mehrere Séparées, mehrere kleinere Besprechungszimmer und eine Art große Lounge mit Bar, von der aus man zur Terrasse gelangte. Das richtige Ambiente für Hintergrundgespräche mächtiger Herren mit grauen Schläfen in grauen Anzügen. Heute war allerdings etwas mehr Leben im Club, Jazzmusik perlte durch die Räume, das Stimmengewirr war lauter als sonst. Gerade nach dem sie ihre Mäntel abgelegt hatten, versorgte aufmerksames Personal sie bereits mit den ersten Getränken. Rebecca wählte eine Weißweinschorle, nippte aber nur wenig daran. Bei solchen Veranstaltungen brauchte sie einen klaren Kopf, damit sie sich nicht versehentlich bei irgendwelchen, eigentlich belanglosen Gesprächen verplauderte.

Da sie es am Mittag ausnahmsweise in die verlagseigene Kantine zum Mittagessen geschafft hatte, war Rebecca noch nicht sehr hungrig. Doch das Buffet sah trotzdem sehr verlockend aus. Aber natürlich war es wie immer: Bevor es richtig interessant wurde, kam stets der sogenannte offizielle Teil. Platz nehmen, Reden hören, ein paar nichtssagende Folien an der Wand, Applaus. Dieses Verfahren - je nach Gastgeber und Anlass - wiederholte sich mindestens dreimal. Immerhin durften sie während dieser Zeit sitzen. Sparsame Gastgeber zogen ein solches Programm auch als Stehempfang durch.

Mit der Zeit hatte Rebecca doch Hunger bekommen. Zusammen mit Oliver sichtete sie das Buffet. Sie bedienten sich an Suppe, Salat und Dessert. Vor allem die Mousse au chocolat aus richtig dunkler Schokolade begeisterte Rebecca. Langsam nahm sie Löffel für Löffel die dunkelbraune Masse aus dem kleinen Gläschen und genoss sie ausdauernd. Dass sie dabei beobachtet wurde, merkte sie noch nicht, zu sehr war sie mit dem Dessert beschäftigt. Nach dem Essen verlagerten sich die Gespräche Richtung Terrasse - sowohl drinnen wie draußen. Hier ein kurzes “Hallo”, dort ein “Haben Sie schon gehört, ...?”. Ein solcher Empfang war immer auch ein Marktplatz für allerlei Anekdoten und Gerüchte. Manche amüsant, manche so überzogen, dass keiner sie glaubte. Gerade diese entpuppten sich dann jedoch als die echten Wahrheiten.

Nick Hutton war schon länger auf dem Empfang und langweilte sich. Hier ein Lächeln, dort ein unverfänglicher Small Talk. Nick musste innerlich ein Gähnen unterdrücken. Es war einer dieser Pflichttermine, die er nach Möglichkeit mied. Immerhin hatte Ella - seine Begleitung - ihren Spaß. Mit ihren High Heels und ihrem dunkelgrünen Kleid wirkte sie noch schlanker, und sie war fast so groß wie er selbst. Sie genoss die bewundernden Blicke der anderen anwesenden Männer - und flirtete völlig ungeniert mit ihnen.

Nick kannte es nicht anders. Und es war ihm auch egal. Ella war ein nettes Mädchen, nett anzuschauen, aber nicht die richtige Frau für ihn. Trotz ihrer Schönheit erhielt sie einen großen Teil der Aufmerksamkeit, weil er an ihrer Seite war. Und dass wusste Ella auch. So wäre sie ohne ihn überhaupt nicht zu diesem Empfang gekommen. Da auch sonst niemand Nicks volle Aufmerksamkeit beanspruchte, ließ er seinen Blick locker durch den Raum schweifen.

Und entdeckte Rebecca. Unwillkürlich schlug sein Herz schneller. Sie hatte ihn seit der ersten Sekunde fasziniert. Ihre völlig unaufgeregte, fast schon sparsame Gestik, die ständig wachen Augen, ihr aufrechter Gang: Nick hatte sie schon bei ihrer allerersten Begegnung sehr attraktiv gefunden. Aber dieser Auftritt löste in ihm ein Verlangen aus, das er so schon lange nicht mehr gekannt hatte. In der linken Hand drehte sie ihr Weinglas, eine Geste, die er auch schon beobachtet hatte, als sie Kaffee in ihrer Küche getrunken hatten. Sie sprach und lächelte, vor allem aber schien sie Menschen zu beobachten. Dumm nur, dass dieser andere Journalist ständig an ihrer Seite war. Deswegen hatte sich ihm bisher noch keine Gelegenheit geboten, mit ihr unverfänglich ins Gespräch zu kommen. Außerdem hing seine eigene Begleitung wie eine Klette an ihm.

Rebecca stand zusammen mit Oliver in einer Gruppe von mehreren Staatssekretären, die Gespräche verliefen vertraulich, aber erstaunlich humorvoll, als Rebecca sich irgendwie beobachtet fühlte. Sie hob den Blick. Über ein paar Meter Entfernung fixierten grüne Augen sie. Rebecca wurde etwas verlegen, sie hatte diese grünen Augen sofort wiedererkannt - und sie lösten in ihrem Magen ein Kribbeln aus. Gerade in dem Moment, als Rebecca Nick freundlich zunickte und ihre Blicke sich trafen, sah sie, wie eine junge, sehr schlanke Dame Nicks Aufmerksamkeit beanspruchte. Da er nur etwas größer war als sie, neigte er den Kopf leicht zur Seite, um ihr zuzuhören. Seine Augen blieben dabei auf Rebecca gerichtet. Er lächelte, es war nur ein kurzer Moment, aber Rebecca kam dieser Augenblick ungewöhnlich intim vor. So, als wenn sie sich kannten und er ihr etwas sagen wollte.

Erst dann wandte Nick Hutton sich der jungen Dame an seiner Seite zu. Die beiden gingen zusammen durch den Raum zur Bar. Ein wunderschönes Paar, dachte Rebecca, während sie beobachtete, wie fast alle anderen Damen den Mann in seinem perfekt sitzenden Anzug unverhohlen mit ihren Blicken verfolgten. Nick Hutton schien das aber nichts auszumachen, er bemerkte es nicht einmal. Oder er war so daran gewöhnt, dass es ihm schon egal war? Für jede Frau an seiner Seite musste es jedoch ein schwerer Gang sein, denn ob der Blicke müsste sie sich ständig rechtfertigen, warum gerade sie an seiner Seite sein durfte.

Rebecca konzentrierte sich wieder auf ihre Gesprächsrunde, doch sie musste sich Mühe geben, nicht mit ihren Gedanken abzuschweifen. “Sie entschuldigen mich bitte kurz, meine Herren? Oliver?”, fragte Rebecca höflich. Sie wandte sich ab, strebte der großen Terrasse zu und atmete draußen tief ein. Das murmelnde Stimmengewirr, das im Innern für eine ständige Geräuschkulisse gesorgt hatte, war mit einem Schlag verstummt. Draußen war es doch noch kälter als gedacht. Dennoch tat die frische Luft gut. Hier merkte Rebecca erst recht, wie stickig und warm es im Innenraum gewesen war. Obwohl es dort vermutlich Lüftungsanlagen gab. Am Balkongeländer zündete sie sich eine Zigarette an und ließ ihren Blick ziellos über die angrenzenden Häuser und die Stadt schweifen. Von einer Seite der großen Terrasse konnte sie bis zum See hinunterblicken. Die Promenade und die umliegenden Straßen waren erleuchtet wie immer. Durch die klare Luft konnte sie bis in das Wasser des Sees sehen. Wie ein großes schwarzes Loch begann es jenseits der Promenade, ein Ende konnte sie nicht erkennen. Für den perfekten Kitsch fehlte nur noch der Vollmond, der sich im See spiegelte, dachte Rebecca. Sie fröstelte. Sie sollte sich beeilen.

“Gerade von Ihnen hätte ich nicht gedacht, dass Sie rauchen.” Rebecca zuckte leicht, weil sie in ihren Gedanken versunken war und nicht damit gerechnet hatte, angesprochen zu werden. Die Stimme kam ihr bekannt vor. Langsam drehte sie sich um. In seinem schwarzen Anzug, weißem Hemd, schwarzer Fliege, die Hände in den Taschen, schlenderte Nick Hutton lässig auf sie zu. Den Kopf leicht geneigt, ließen seine Augen sie nicht aus dem Blick. Sowohl Anzug als auch Hemd saßen perfekt, als wären sie speziell für seinen wohl proportionierten Körper geschneidert worden. Er gehörte definitiv zu den Menschen, denen Aufmerksamkeit sicher ist, sobald sie einen Raum - oder einen Balkon - betraten. Und die sich dieser Aufmerksamkeit bewusst sind und damit spielen können. Nick wiederum war fasziniert von der Journalistin. Das schmale Kleid und die hohen Absätze ließen sie elegant, aber gleichzeitig auch zerbrechlich wirken. Der wenige Schmuck - Halskette, Ring und Armband - unterstrich das klassische Understatement. Er folgte ihrem Blick über die Stadt.

“Solche Veranstaltungen lassen sich mich zur Raucherin werden - jedenfalls manchmal”. Rebecca lächelte. Sie hielt ihm die Packung hin. “Sie auch?” Er winkte ab. “Angst vor Abhängigkeiten?” Er zuckte mit den Schultern. Rebecca konnte seinen Blick nicht richtig deuten. “Noch etwas zu trinken?”, fragte er stattdessen, nachdem er sie eine Weile beobachtet hatte. “Verstehe. Sie bevorzugen die andere Droge. Für mich stilles Wasser, bitte.” Nick blinzelte. “Etwas ungewöhnlich.” Rebecca zuckte nur kurz mit den Schultern.

“Mein Fahrer kann Sie heimbringen”, bot Nick an. Rebecca verzog das Gesicht. “Glauben Sie, ich kann mir kein Taxi leisten?” “Soweit ich gehört habe, gehören Journalisten nicht zu den bestbezahlten Angestellten”, antwortete Nick und zog eine Augenbraue leicht hoch. “Mein Angebot steht daher.” Rebecca winkte ab. “Nein, danke, ich komme schon zurecht.” “Was, wenn ich kein Nein akzeptiere?” Langsam nervte er Rebecca, weil er sich offenbar für unwiderstehlich hielt. “Was Sie akzeptieren oder nicht, ist Ihr Problem, nicht meins”, gab sie leicht säuerlich zurück.

Nick lächelte amüsiert. “Also warum dann?” “Warum was?” “Warum trinken Sie nicht wenigstens einen Weißwein, um mit mir anzustoßen? Ich will wenigstens einen akzeptablen Grund hören”, beharrte Nick weiter. “Sind Sie immer so hartnäckig?”, fragte Rebecca genervt. “Nur, wenn ich etwas will. Also?” Nick Hutton fand mehr und mehr Gefallen an der Unterhaltung. “Erstens kann ich auch mit Wasser anstoßen - falls ICH das möchte. Zweitens brauche ich auf solchen Veranstaltungen einen klaren Kopf. Ich muss wissen, wer mir etwas erzählt hat, und vor allem muss ich wissen, was ich selbst erzähle. Alkohol ist da nicht hilfreich. Reicht das?”, fragte Rebecca genervt und blickte ihn herausfordernd an.

“Hm. Das heißt, wenn ich Sie jetzt etwas betrunken mache, dann verraten Sie mir ein paar kleine schmutzige Geheimnisse?” Der lauernde Unterton in Nicks Stimme war Rebecca nicht entgangen. “Sie haben wirklich eine unnachahmliche Art, sich beliebt zu machen…”, erwiderte Rebecca und wandte den Blick von ihm ab. Nick lachte. Es war tiefes, warmes Lachen, das Rebecca so noch nie zuvor bei einem Mann gehört hatte. “Da es von Ihnen kommt, fasse ich es als Kompliment auf”, sagte er, aber der Blick, den Rebecca auf sich spürte, war ernst. Rebecca wusste nicht, was sie sagen sollte und antwortete daher nicht mehr.

Nick Hutton ging zur Outdoor-Bar, die direkt auf der Terrasse aufgebaut worden war. Er kam mit zwei Gläsern zurück und reichte ihr das gewünschte Wasser. Er selbst trank Whisky - klar, dachte Rebecca, was auch sonst. Damit wäre das nächste Klischee ja auch erfüllt. Nick Hutton lehnte sich ebenfalls mit dem Rücken an das Geländer wie Rebecca, so dass sie zusammen in den Innenraum schauen konnten. Vertraulich nah neigte er seinen Kopf zu ihr. Es war so vertraulich, dass Rebecca jeden ihrer Herzschläge spürte. Sehr deutlich spürte.

“Dann fangen wir doch mal mit den kleinen Geheimnissen an. Meinen Sie solche Sachen, wie die, dass Mr. X dort hinten schon zweimal fast pleite gewesen wäre, hätte er nicht in letzter Minute einen Kredit erhalten?”, nahm er die Unterhaltung wieder auf. “Im Ernst?” Rebeccas Interesse war mit einem Schlag geweckt. Er blickte sie fast schon gekränkt an. Offenbar war er für sie jemand, dem sie nicht so ohne weiteres Glauben schenkte. “Klar. Glauben Sie mir nicht? Dann sollten sie eines wissen: Ich sage immer die Wahrheit.”

Jetzt war es an Rebecca, zu grinsen. “Vorsicht. Bedenken Sie, mit wem Sie gerade sprechen.” “Keine Chance. Ich werde alles abstreiten.” Nick lachte wieder. “Sie werden alles abstreiten? Wie passt das zu Ihrer Wahrheits-Philosophie, wenn Sie später alles abstreiten?”, fragte Rebecca spöttisch. “1 zu 0 für Sie.” Nick gab sich gern geschlagen. “Sind alle hier Kunden bei Ihnen?”, forschte Rebecca weiter, deren Neugier jetzt auf Touren war. “Hm. Gibt es nicht so etwas wie ein Bankgeheimnis?”, fragte Nick zurück, dessen Tonfall sich langsam veränderte.

“Bestimmt”, sagte Rebecca und blickte ihn interessiert an. “Selbst wenn ich wollte, könnte ich Ihnen das nicht einmal genau sagen, weil ich nicht jeden Kunden persönlich kenne. Darum kümmern sich meine Mitarbeiter”, antwortete Nick diplomatisch, jetzt doch auf der Hut. “Tja. Dann würde ich sagen, 2 zu 0 für mich”, lästerte Rebecca. “Wie kommen Sie jetzt darauf?” “Weil Sie mir ganz zu Beginn erzählt hatten, dass Sie Manager in einer Bank wären. Es ist aber ganz offensichtlich weder eine Bank noch sind Sie dort nur einfach ein Manager. Soviel zum Thema Wahrheit”, schloss Rebecca.

Nick lachte wieder. “Jetzt haben Sie es mir aber richtig gegeben.” “Nein. Sie sollten einfach nur auf Ihre Wortwahl achten”, sagte Rebecca ganz ruhig. “Sind Sie da jetzt nicht etwas spitzfindig oder kleinlich?”, fragte er, immer noch lächelnd. “Wörter sind mein Job. Deswegen gehören spitzfindig und kleinlich auch dazu”, gab Rebecca in einem leicht belehrenden Ton zurück.

Nick lächelte innerlich. Endlich eine Frau, die sich von ihm nicht einschüchtern ließ und gegenhalten konnte. Er lehnte sich jetzt seitlich an das Balkongeländer, sein Glas locker in der Hand, um sie besser beobachten zu können. Sein schwarzes Haar glänzte durch das Licht fast blau, seine Augen leuchteten vollkommen wach. Rebecca spürte seinen Blick auf ihr, was sie unruhig werden ließ. Sicherheitshalber betrachtete sie weiter die Menschen im Innenraum.

“Und jetzt Sie”, fuhr Nick Hutton fort. “Ich? Was meinen Sie?”, fragte Rebecca leicht verwirrt. “Ich habe Ihnen etwas über einen Beinahe-Pleitier erzählt. Jetzt sind Sie an der Reihe.” “Niemals. Quellen- und Informantenschutz. Sie verstehen?” “Nein. Sie dürfen sich auf Informantenschutz berufen, ich aber nicht auf das Bankgeheimnis? Damit zeigen Sie mir nur, dass Sie mir nicht vertrauen.” “Sollte ich das? Oder besser: Müsste ich das denn? Ihre Wahrheitsliebe war ja nur vorgeschoben. Außerdem kenne ich Sie schließlich kaum”, fragte Rebecca amüsiert. “Ich Sie auch nicht. Außer - dass mein Hund Sie offenbar sehr mag. Aber das ließe sich ja ändern”, erwiderte Nick. “Dass Ihr Hund mich mag?” “Nein. Es ließe sich ändern, dass wir uns kaum kennen. Obwohl wir immerhin im gleichen Haus wohnen.” Nicks grüne Augen trafen sie. Wie konnte ein Mann nur so charmant und selbstsicher sein? Rebecca dagegen wurde immer unsicherer und verlegener. Sie zögerte.

Aus dem Augenwinkel sah sie Oliver von der Tür winken. Ihre Chance. Doch bevor sie sich von Nick Hutton abwenden konnte, kam Oliver bereits auf sie zu. “Hier bist Du. Ganz schön frisch draußen”, setzte Oliver an. “Darf ich vorstellen? Nick Hutton, mein Nachbar. Oliver Krug, Chefredakteur unseres Verlags”, sagte Rebecca zu beiden gewandt. “Danke, wir hatten bereits des Öfteren das Vergnügen”, sagte Oliver etwas steif. “Vergnüglich fand ich unsere Treffen bisher nicht”, erwiderte Nick Hutton ungerührt.

Die Stimmung wurde frostiger als die ohnehin schon kühlen Temperaturen. Rebecca stutzte. Hatten die beiden eine Art gemeinsame Vergangenheit? Wenn ja, warum wusste sie nichts davon? “Dann macht es Ihnen sicher nichts aus, wenn Rebecca mich wieder zu den anderen Gästen begleitet?”, fragte Oliver, bevor Rebecca richtig zu Ende denken konnte. Eigentlich war es rhetorisch gemeint. “Doch, tut es”, gab Nick überraschend zurück. Nicht nur Oliver, auch Rebecca war irritiert. Sie hatte Nick Huttons letzte Bemerkung noch nicht vergessen. Aber so konnte sie eine Antwort schuldig bleiben.

“Es tut mir leid, ich werde offensichtlich erwartet”, sagte Rebecca, deutete auf Oliver und hoffte, so die Situation zu entspannen. “Sie wissen, dass Sie das jetzt nur als Ausrede nutzen”, gab Nick leise zurück. Er beugte wieder leicht seinen Kopf so, wie Rebecca es schon zuvor beobachtete hatte. Dieses Mal allerdings wanderten seine Augen mit. Rebecca wandte ihren Blick schnell ab. “Und warum sollte ich eine Ausrede benötigen?” “Weil Sie sich sonst überlegen müssten, wie Sie auf meine Essenseinladung reagieren.”

Rebecca errötete, weil er sie ertappt hatte. Sie hoffte, dass er das in der Dunkelheit nicht sehen konnte. “Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, Mr. Hutton.” Damit ging Rebecca eilig mit Oliver nach drinnen. Puh, Glück gehabt, dachte Rebecca. Ein mögliches Treffen mit diesem Mann ließ sie unruhig werden. Warum das so war, darüber wollte sie lieber nicht nachdenken. Nick trank in Ruhe sein Glas leer. Er lächelte. Offenbar war sie doch nicht so selbstsicher, wie es nach außen den Anschein hatte. Er sah, wie sie drinnen wieder in die Menschentrauben eintauchte und verlor sie zunächst aus dem Blick.

Deswegen konnte er auch Olivers Warnung nicht hören: “Ihr benehmt Euch wie zwei verknallte Teenager, die vor lauter Verlegenheit nicht wissen, wohin sie schauen sollen.” Was? Was redete Oliver da? Rebecca glaubte, nicht richtig zu hören. “Was erzählst Du denn? Wie kommst Du…”, setzte sie ehrlich empört an. “Schon gut, Rebecca, sei bitte einfach vorsichtig.” Rebecca wollte Klarheit haben. “Ich verstehe Dich nicht. Was ist denn mit Euch los? Was ist mit ihm los? Ist er ein Serienkiller oder Psychopath, oder was meinst Du?”

Oliver seufzte. Er nahm einem vorbeikommenden Mitarbeiter zwei Weißweingläser vom Tablett, wovon er eines Rebecca reichte. Außerdem ging er ein paar Schritte Richtung Fenster, so dass sie etwas abseitsstanden, damit keiner sie hören konnte. Dafür gerieten sie wieder in das Blickfeld von Nick Hutton, der immer noch auf der Terrasse stand.

“Jetzt beruhige Dich doch. Serienkiller - quatsch, natürlich nicht, Psychopath - weiß ich nicht. Aber es gibt Menschen, die einen manipulieren können, ohne dass Du es merkst. Sie sind freundlich, höflich, zuvorkommend - aber eigentlich wollen sie etwas anderes. Dich aushorchen, Dich beeinflussen, eventuell wollen sie Dich auch ausspionieren, wenn Du sie in Deine Wohnung oder gar Dein Leben lässt. Und manchmal sehen sie auch noch unverschämt gut aus”, sagte Oliver. “Außerdem bist Du doch sonst immer so vorsichtig. Wie kann es sein, dass Du Dich mit so einem Typen näher beschäftigst? Und jetzt sag’ mir nicht, dass es rein beruflich war”, schloss Oliver.

“Oliver, der Typ ist mein Nachbar. Wir wohnen in demselben Haus. Sein Hund ist ihm mal davongelaufen und ich habe den Hund eingefangen”, beschwichtigte Rebecca. So kannte sie ihn gar nicht. ”Wer sagt Dir, dass der Hund nicht mit Absicht so freigelassen wurde, dass er zu Dir kommen musste?”, fragte Oliver.

Rebecca war völlig überrascht, perplex. “Was ist denn bloß los mit Dir? Du klingst, als littest Du unter Verfolgungswahn.” Oliver trank einen Schluck Wein, bevor er weitersprach. “Rebecca, Du bist Journalistin, eine hochrangige dazu. Wir arbeiten an einer heiklen Story, die Wirtschafts- und Politikbeziehungen durchleuchtet. Wer sagt Dir, dass dieser Mr Hutton bei Dir nicht auskundschaften will, wie der Stand der Dinge ist und wie weit wir sind?” Oliver blickte Rebecca an, die ihr Glas in ihren Händen drehte. Rebecca stutzte.

Hatte Nick Hutton sie vorhin nicht aufgefordert, auch ein paar Geheimnisse auszuplaudern, nachdem er ihr eines verraten hatte? Aber die Art und Weise wäre dann schon sehr plump gewesen. Obwohl, einfach und plump war manchmal der beste Weg. “Was ist?”, fragte Oliver sofort. “Nichts, ich muss nur morgen früh unbedingt noch eine Sache prüfen, die mir gerade eingefallen ist, als Du ‘ausplaudern’ erwähnt hattest”, log Rebecca. Sie nahm ihr Handy und gab vor, eine Notiz einzutippen. Sie musste mehr über diesen Typen in Erfahrung bringen. Und vor allem musste sie wissen, was zwischen Oliver und Nick Hutton vorgefallen war. Das war es, was Rebecca als Notiz in ihr Smartphone getippt hatte.

Eine Nacht im Februar

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