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Kapitel 3

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Ein ungeduldiges Klingeln riss Rebecca aus ihrer Konzentration. Gerade jetzt! Unwillig hob sie den Kopf über ihren Laptop. Diese Dokumente konnten verdammt wichtig werden, waren ebenso schwierig zu verstehen. Wer, verdammt, musste sie jetzt stören? Als es noch einmal klingelte, erhob sie sich genervt von ihrem Stuhl. Wenn das jetzt der Briefträger … der konnte was erleben. Sollte er das Paket doch vor die Tür stellen. Unwirsch riss sie die Wohnungstür auf: “Jaa?” “Es tut mir sehr leid, dass ich Sie störe, Ms Hold.” Mrs Cox trat unsicher einen Schritt von der Tür zurück. Rebecca beruhigte sich augenblicklich. ”Ach Sie sind es, Mrs Cox. Kommen Sie doch herein.” Zögernd kam Mrs Cox in die Wohnung, ihr Unbehagen war offensichtlich.

Noch bevor die beiden Frauen die Küche erreicht hatten, legte die Haushaltshilfe auch schon los: “Es tut mir sehr leid, dass ich Sie damit belästigen muss, aber ich habe heute Abend ganz kurzfristig ein Problem”, setzte sie nervös an. Rebecca wies auf einen Küchenstuhl. Mrs Cox setzte sich gerade auf die Kante und knetete ihre Hände nervös in ihrem Schoß. “Was ist denn passiert?”, fragte Rebecca beruhigend. “Mr. Hutton erwartet heute noch wichtige Nachrichten per Boten. Irgendwann am Abend. Ich werde nicht so lange bleiben können. Mr. Hutton selbst weiß aber nicht, wann er heimkommen wird. Und ich dachte, dass Sie… Könnten Sie in seiner Wohnung warten - und dabei auch auf Murphy aufpassen?” fragte Mrs Cox sichtlich verlegen. Rebecca bemühte sich, die Dame freundlich anzuschauen. Sie verstand, dass ihre Organisation aus dem Ruder lief, womit sie offenbar nicht richtig umgehen konnte.

Rebecca musste es erst einmal selbst sortieren. “Ich bin heute Abend hier - von daher, kein Problem. Aber warum kann der Bote nicht direkt bei mir vorbeikommen? Murphy kann dann auch so lange bei mir bleiben. Und Mr. Hutton holt beide ab, sobald er wieder zurückkommt”, schlug Rebecca vor. “Das ist äh … schwierig”, stammelte Mrs Cox, “wegen des Kurier-Dienstes, der an eine bestimmte Person gebunden ist.” Rebecca starrte die ältere Dame an. Sie verstand nach wie vor nicht, wo das Problem lag, diesen Kurier anzurufen. Mrs Cox senkte vor lauter Verlegenheit ihren Kopf. Es entstand eine peinliche Stille. Rebecca atmete hörbar aus. “Okay, alles klar. Dann sagen Sie mir, was ich tun soll”, gab Rebecca schließlich nach. “Wirklich? Das ist großartig, Sie helfen mir wirklich sehr.” Rebecca konnte regelrecht sehen, wie die Erleichterung Mrs Cox erfasste. Sie blickte sie wieder, ihre ganze Haltung entspannte sich. “Wenn Sie um 19 Uhr hochkommen könnten? Dann zeige ich Ihnen alles Weitere”, antwortete Mrs Cox mit einem leichten Lächeln.

Rebecca war nervös. Warum hatte sie der Aktion zugestimmt? Im Grunde ging es sie nichts an, ob Mrs Cox ein Zeitproblem hatte. Andererseits war Rebecca auch neugierig. Wie wohnte jemand wie Nick Hutton? War die Wohnung in einem kühlen, modernen Stil gehalten - so wie sie auch ihn sah? Die Neugier in Rebecca kam doch wieder durch. Um 19 Uhr klingelte Rebecca im obersten Geschoss. Mrs. Cox hatte sofort geöffnet, ihr kurz alles erklärt und sich dann schnell verabschiedet. Sehr schnell, wie Rebecca fand, sie konnte der Dame das schlechte Gewissen direkt ansehen. Rebecca kam sich in dieser fremden Wohnung unheimlich vor. Sie empfand sich selbst als Eindringling, fast schon als Einbrecher. Noch dazu war die Wohnung so groß, mehr als doppelt so groß wie ihre, schätzte sie. Und still. Selbst wenn sie in ihrer Wohnung allein war, empfand diese nicht so still wie jetzt und hier. Sie kam sich verloren vor - und überflüssig. Gut, dass wenigstens Murphy bei ihr war. Immerhin ein Vertrauter.

Nachdem Mrs. Cox gegangen war, blieb Rebecca erst einmal etwas unschlüssig auf dem noblen Ledersofa sitzen und ließ die Wohnung auf sich wirken. Murphy wartete schon gespannt. Als Rebecca nicht reagierte, schleppte er eines seiner Lieblingsspielzeuge zu ihr: mehrere dicke, bunte ineinander verknotete kurze Seilstücke. Rebecca verstand und versuchte, es ihm wegzunehmen. Darauf hatte der Terrier nur gewartet. Knurrend, mit dem Seil in der Schnauze flitzte er durch die Räume, immer darauf lauernd, dass Rebecca ihm auch wirklich folgte.

So tobten sie eine ganze Weile durch die große, fremde, leere Wohnung. Der angenehme Nebeneffekt: Rebecca lernte die Wohnung besser kennen, ohne dass sie fand, dass sie es heimlich tat. Die Fläche war zwar sehr groß, aber es waren nicht viele Zimmer. Der Flur mit zwei Wohnungstüren: eine führte direkt ins Treppenhaus und war eher die Nottür. Die andere - offizielle - Wohnungstür war direkt mit dem Aufzug verbunden. Dann gab es in direkter Nähe ein Gästebad und zwei weitere Räume. Rebecca schätzte, dass es sich um Schlaf- und Badezimmer handelte.

Den weitaus größten Raum nahm die Verbindung von Küche, Ess- und Wohnzimmer ein. Diese drei Zimmer waren zu einem großen zusammengefügt und völlig offen gestaltet. Vermutlich gilt es als schick und man macht das heute wohl so, dachte Rebecca. Die Küche mit hellgrauen, glänzenden Fronten machte einer Profiküche alle Ehre. In dem Lack spiegelte sich nicht einmal der Ansatz eines Fleckens, als wären die Schränke noch nie berührt worden. In der Mitte befand sich die Kochinsel. Edelstahl, glänzend poliert. An einer Seite eine Art Bar mit schmalen Tisch und Hochstühlen, vor der Kochinsel der große Esstisch. Sowohl auf der Bar als auch auf dem Esstisch standen dicke Sträuße mit weißen Rosen. Rebecca wagte fast nicht, mit dem Finger die Arbeitsplatte entlangzufahren, aus Angst, ihre Finger könnten unschöne Fettspuren hinterlassen.

Eines aber zog sich durch alle Zimmer: Die Einrichtung war teuer. Vom dunklen, warmen Parkett über die dicken Teppiche bis zu den Ledersofas - alles verriet einen exklusiven Geschmack. Selbst die Sofakissen und Kerzenhalter spiegelten in ihrer zurückhaltenden Eleganz ihren Preis. Keine Frage, die Wohnung war absolut stilsicher und geschmackvoll eingerichtet. Und sie vermittelte durchaus Wärme und Charme – anders als Rebecca erwartet hatte. Vermutlich hatte sich hier ein Innenarchitekt ausgetobt, das Budget kannte bestimmt kaum ein Limit. Dennoch erschien Rebecca es nicht wie eine Wohnung. Alle Möbel waren komplett neu und daher wenig genutzt. Rebecca glaubte sich trotzdem eher in einer Musterwohnung eines teuren Möbelhauses, denn in einem wirklichen Zuhause.

Murphy hatte sich gerade hinter einem Sessel versteckt – so dachte er jedenfalls – als ein kurzes Klingeln sie aus ihrem Spiel riss. Endlich, dachte Rebecca, der Bote! Sie ging bis zur Wohnungstür am Aufzug und schaute auf den kleinen Monitor, erkannte den Boten und drückte den Summer. Die Tür öffnete sich. “Eine wichtige Sendung für Mr. Hutton. Und Sie sind?”, fragte der Bote. “Rebecca Hold”, sagte Rebecca, “ich soll die Sendung entgegennehmen.” “Stimmt, dieser Name ist mir genannt worden. Ihren Ausweis, bitte.”

Weil Mrs. Cox sie informiert hatte, wusste Rebecca Bescheid und zog den Ausweis aus ihrer Hosentasche. Der Bote betrachtete ihn genau und fotografierte ihn mit seinem Scanner ab. Anschließend musste Rebecca unterschreiben. Erst dann erhielt sie die Sendung, einen DIN A4-Umschlag, sorgfältig verschlossen. “Vielen Dank.” Der Bote verabschiedete sich schon wieder. Wenn Rebeccas Neugier nicht schon ob der Anfrage von Mrs. Cox geweckt war, so kam spätestens jetzt die Journalistin in Rebecca durch. Zu gern hätte sie gewusst, was es so Dringendes und Geheimnisvolles gab, das nur ein Bote persönlich an eine vorher ausgewählte und bekannte Person übergeben durfte.

Sie wog den Umschlag in der Hand. Sehr schwer war er nicht, vermutlich nur einige Papierseiten. Einen Absender gab es nicht, die Anschrift stimmte. Keine Handschrift, die Adresse war per Etikett aufgeklebt. Rebecca ging mit Umschlag und Hund langsam zurück in die Küche. Der Umschlag war braun, also konnte sie auch keine Umrisse erkennen.

Unschlüssig blieb sie am Übergang zwischen Küche und Esssalon stehen. Was für eine Verschwendung, dachte sie aufs Neue. Rebecca stellte sich hinter die Kochinsel und strich unbewusst mit den Fingern über die glänzenden Flächen. Hier ließe sich bestimmt gut zaubern. Und wenn sie geradeaus schaute, konnte sie den einzigartigen Blick über die Stadt genießen.

Rechts von ihr unter den Hängeschränken befand sich die Kaffeemaschine – natürlich auch als Profivariante. Sie war das einzige Gerät, das den perfekten Anblick durchbrach, denn sie verriet einige Gebrauchsspuren. Trotzdem fand Rebecca die Küche sehr steril. Keine Tasse, kein Glas, keine Krümel, einfach nichts deutete daraufhin, dass hier jemand wohnte, der die Küche benutzte. Wie in einer Küchenausstellung. Schade eigentlich. Rebecca war zwar keine ausgesprochen gute Köchin, aber sie werkelte sehr gern in ihrer Küche.

Sie kochte schon deshalb gern selbst, weil sie dann wusste, was sich alles in ihrem Essen befand. Der Lebensmittelindustrie traute sie schon lange nicht. Zu viel Zucker, zu viele Aromen, zu viele Zusatzstoffe. Und hier könnte man problemlos ein mehrgängiges Dinner für eine ganze Fußballmannschaft zubereiten, und die Küche war mehr oder weniger Dekoration.

“Was für eine Verschwendung”, sagte Rebecca laut vor sich hin. Und erschrak fast vor ihrer eigenen Stimme. Auf den kleinen Tisch im angrenzenden Salon – Rebecca fand, dass es ein Salon war und kein Esszimmer – hatte Mrs. Cox Wasser, Säfte und einen Snack für sie bereitgestellt. Rebecca goss sich etwas Wasser in ein Glas und achtete darauf, bloß keinen Tropfen zu verschütten. Mit dem Glas in der Hand ging sie zur großen Fensterfront.

Der Ausblick war wirklich fantastisch. Rebecca konnte sich kaum losreißen. Gerne wäre sie auf den Balkon gegangen. Sie wagte es allerdings nicht, die Tür zu öffnen. Die Verriegelung sah kompliziert aus. Vermutlich würde sie einen Alarm auslösen, wenn sie unbefugt an die Tür ging. Und nun? Zu dumm, dass sie nicht ihren Laptop mitgenommen hatte, dann hätte sie schon ein Grundgerüst für ihre nächste Geschichte schreiben können.

Unschlüssig setzte sie sich in einen der großen Sessel, in dem sie fast versank. Murphy sprang mühelos ohne Anlauf auf ihren Schoß. Er rollte sich zusammen wie ein kleiner Igel, den Kopf auf die Vorderpfoten. Rebecca streichelte ihn leicht, drückte ihren Kopf seitlich an die Lehnen und träumte vor sich hin. Irgendwie musste sie wohl leicht eingeschlafen sein.

Rebecca blinzelte erst, als Murphy unruhig wurde. Er versuchte aufzustehen, um von ihrem Schoß zu springen. Ein kurzer, entsetzter Aufschrei ließ Rebecca schlagartig wach werden. Ihr Herz raste mit einem Mal. Das Licht des großen Kronleuchters erstrahlte. “Wer ist das?”, kreischte aufgeregt eine junge, große Frau. Rebecca kannte die Frau nicht und wusste auch nicht, warum sie in der Wohnung war. Die Frau trug einen schwarzen Mantel über einem engen, gewickelten, kurzen Kleid.

Erst nach dem Aufschrei kam Nick Hutton hereingestürmt. Er war selbst noch in seinem Business Outfit, dunkler Anzug, weißes Hemd, allerdings ohne Krawatte. Er war ebenso perplex wie die beiden Frauen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sich noch jemand in seiner Wohnung befand. Und wenn, dann höchstens Mrs Cox. Was zum Teufel war hier los? “Miss Hold, was... “, setzte er an. “Du kennst sie? Was tut sie hier? Ist das etwa Deine Freundin?” Das aufgeregte Gekreische nahm kein Ende. “Ella, jetzt beruhige Dich. Es ist alles kein Problem, nicht wahr, Miss Hold?” Nicks Stimme hatte eine Schärfe, die ihm selbst unbekannt vorkam. Was zum Teufel ging hier vor sich? Warum war Rebecca in seiner Wohnung? Er fühlte, wie sein Puls raste, sein Herz ebenfalls. Er biss die Zähne so fest zusammen, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, dass sein Kiefer fast schmerzte.

Rebeccas fragender Blick traf ihn. Es stand ein unguter Moment der Stille. Nick brauchte auf die Schnelle eine Ausrede. Irgendetwas, was einigermaßen plausibel klang. Alles andere würde sich später klären lassen. “Miss Hold ist meine Haushälterin und sollte hier nur auf etwas aufpassen, bis ich zurückkomme. Vielen Dank, Miss Hold, Sie können dann gehen.” In dem Moment, in dem er die Sätze ausgesprochen hatte, hätte er sich am liebsten selbst auf die Zunge gebissen.

Was für ein Blödsinn! Rebecca würde ihm nie im Leben verzeihen. Er versuchte, ein unbeeindrucktes Gesicht zu machen. Sein Blick war eisig – das brauchte er nicht einmal zu spielen. Rebecca wusste nicht, ob sie ebenfalls nur kreischen oder ihm eine runterhauen sollte. Ihr Herz schlug zu laut, in den Ohren hörte sie ihr Blut rauschen. Mit Mühe und zitternden Beinen erhob sie sich und starrte Nick einfach nur an.

Er konnte sehen, wie tief er sie gekränkt, schlimmer noch, wie tief er sie mit seinem Satz verletzt hatte. “Wie Sie wünschen, Mr. Hutton”, zischte sie ihm im Vorbeigehen zu. Nick war immer noch wie versteinert, er bewegte sich nicht. Rebecca nahm nur noch aus den Augenwinkeln war, dass er seine Hände an den Seiten zu Fäusten ballte. Murphy war ebenfalls verwirrt von dieser Situation, da keiner ihn beachtete. Auf sein Begrüßungsritual hatte Nick nicht reagiert. Deswegen blieb der Hund unschlüssig im Zimmer stehen. “Ach, Miss Hold, nehmen Sie doch auch bitte den Hund mit”, rief Nick ihr hinterher. “Komm, Murphy, wir gehen”, lockte Rebecca den Terrier und verdrehte dabei ihre Augen. Was für ein Idiot! Wie konnte er selbst noch seinen Hund rauswerfen? Ein Blick aus Murphys dunkelbraunen Knopfaugen traf ihn. Erst als er keine Reaktion zeigte, trottete Murphy hinter Rebecca her.

Nick hasste sich selbst für die ganze Situation. Er hätte auf der Stelle losbrüllen können. Aber dazu war es bereits zu spät: Rebecca und Murphy waren schon zur Tür hinaus, zurück blieb leider nur die völlig überdrehte Ella. Nur widerwillig wandte Nick sich zu ihr, um sie zu beruhigen. Er setzte sie auf das Sofa, goss sich beiden Whisky in zwei Gläser und atmete tief durch. “Okay, Ella, jetzt reiß’ Dich endlich zusammen. Das hier war weder ein Überfall noch ein Einbruch. Es gibt keinen Grund, so die Fassung zu verlieren.” Die Schärfe in seiner Stimme brachte Ella endlich zur Ruhe. Überrascht beendete sie ihr künstliches Schluchzen und versuchte, sich an seine Schulter zu lehnen, damit er sie in die Arme nehmen würde. Doch Nick war viel zu aufgebracht, um Ella überhaupt richtig wahrzunehmen. Verdammter Mist, was war hier schiefgelaufen? Nick kochte vor Wut. Wieso war Rebecca in seiner Wohnung? Und noch viel schlimmer: Warum wusste er nichts davon?

Sobald Ella sich beruhigt hatte, rief Nick ihr ein Taxi. In einem ersten Anfall wollte er zunächst seinen Assistenten aus dem Bett klingeln, dann Mrs Cox. Aus Wut – oder war es Verzweiflung? Er konnte es selbst nicht genau sagen. Das Handy jedenfalls flog in hohem Bogen durch den Wohnbereich. Da dort mehrere Teppiche lagen, landete das Smartphone einigermaßen sanft. Und wenn es zersplittert wäre – ihm egal. Danach musste noch ein guter Teil des Whiskys herhalten. Nick riss die Terrassentür fast schon auf, trat auf die stabilen Bretter. Dort blieb er, bis er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Ob er einfach zu ihr gehen sollte? Zu albern, befand er. Warum traf es ihn überhaupt? Ella in ein Taxi zu setzen, hatte ihm kein Problem bereitet. Nick konnte das Gefühl, das ihn überkam, wenn er Rebecca sah, nicht einordnen. Es war neu. Und genau das machte ihm zu schaffen.

In ihrer Wohnung angekommen, platzte Rebecca fast ebenso vor Wut wie ein paar Etagen über ihr bereits Nick Hutton. “Dieser arrogante Sack! Was denkt er eigentlich, wer er ist? Ich fass’ es nicht!” Rebecca tobte durch ihre Wohnung und musste an sich halten, nicht laut zu schreien. Sie brauchte Platz! Und Bewegung! Sie zog sich um. Zum Glück hatte sie für Murphy eine eigene Leine besorgt. Sie schnappte sich Hund, Halsband und Leine. Gemeinsam verließen sie mitten in der Nacht das Haus, um zu joggen. Rebecca musste sich abreagieren. Draußen schlug ihr die kalte Luft ins Gesicht. Es war eben doch erst Februar. Auch wenn es tagsüber manchmal schon angenehm warm wurde, waren die Abende und erst recht die Nächte kalt. Egal. Jetzt tat ihr die kalte Luft sogar gut. Rebecca trabte los, an ihrer Seite der Hund. Die Straßen waren leer.

Einen Moment überlegte sie, ob es eine gute Idee war, durch den Park zu laufen. Sie entschied sich für die Straßen. Welchen Weg sie genau genommen hatte, konnte Rebecca gar nicht sagen, als sie fast eine Stunde später wieder vor ihrer Wohnung stand. Auch Murphy hatte gegen Ende nicht mehr die richtige Lust am Joggen gehabt. In ihrer Wohnung ging er ins Wohnzimmer und streckte sich auf seiner Decke aus. Sollte sie noch duschen? Um diese Uhrzeit? Egal. Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Sie ließ sich direkt in ihr Bett fallen.

Nach einer kurzen, unruhigen Nacht mit vielen unschönen Träumen riss der Wecker Rebecca um Punkt 7 Uhr aus dem Schlaf. Sie quälte sich aus dem Bett. Der Himmel war blau, es schien ein schöner Tag zu werden. Ein schöner Tag! Danach war ihr so gar nicht. Warum konnte es nicht regnen? Das würde wesentlich besser zu ihrer Laune passen. Im Wohnzimmer erwartete Murphy sie. Immerhin ein Lichtblick. Rebecca öffnete die Terrassentür, damit der Hund im Garten sein Geschäft verrichten konnte.

Missmutig machte sie sich einen Kaffee. Schon der Lärm der Kaffeemaschine nervte Rebecca. Ebenso genervt mischte sie sich ihr Müsli dazu. Murphy trabte aus dem Garten in die Küche. Diese leichten, federnden Schritte bewunderte Rebecca jedes Mal aufs Neue. Der Terrier blickte sie erwartungsvoll an. Endlich verstand sie. “Klar, Du willst auch frühstücken.” Er hatte mittlerweile einen eigenen Napf in der Küche, den Rebecca jetzt mit Trockenfutter füllte. Geräuschvoll kaute Murphy, machte sich anschließend über den Wassernapf her. “Du bist so ein toller Hund. Wie kannst Du nur ein solches Herrchen haben, das Dich bei erstbester Gelegenheit im Stich lässt?” Nachdem Rebecca ihr Müsli gegessen, ihre Nachrichten durchgesehen und beantwortet hatte, duschte sie. Danach brachen sie zum Morgenspaziergang auf.

Beide waren gerade zurückgekehrt, als es an Rebeccas Tür klingelte. Rebecca zuckte zusammen. Darüber hatte sie gar nicht nachgedacht. Irgendwie musste Murphy wieder zu seinem Herrchen zurückkommen. Sie konnte ihn ja nicht vor dessen Wohnungstür anbinden. Rebecca war jedenfalls fest entschlossen, mit diesem Menschen kein Wort mehr zu sprechen, ihm am besten gar nicht mehr zu begegnen. Aber der Hund… Es klingelte ein zweites Mal. Vorsichtig setzte Rebecca Fuß um Fuß auf das Parkett, um sich nicht durch Holzlaute zu verraten. Sie kam sich völlig albern vor, wie sie sich durch den Flur bewegte - in ihrer eigenen Wohnung! So schlich sie zu ihrer Wohnungstür, um einen Blick durch den Spion zu werfen.

Rebecca seufzte erleichterte, als sie Mrs Cox vor ihrer Tür erkannte. “Guten Morgen, Mrs Cox.” Rebecca hatte die Tür mit einem Schwung geöffnet. Sie blickte die ältere, freundliche Dame prüfend an. “Ich wollte Murphy abholen. Mr Hutton wird ihn mit ins Büro nehmen”, sagte sie lächelnd. Wenn sie über den Vorfall in der Nacht Kenntnis hatte, konnte sie es gut überspielen. “Möchten Sie hereinkommen?” “Vielen Dank, nein. Ich bin etwas in Eile. Aber in den nächsten Tagen komme ich gern einmal wieder zu Ihnen”, erwiderte sie freundlich. Rebecca konnte ihr nicht böse sein, ebenso wenig wie dem Hund. Obwohl sie eigentlich der Haushaltshilfe den Gefallen getan hatte, auf den Boten und anschließend auf diesen Scheißkerl zu warten. Mrs Cox wich nicht nur Rebeccas Einladung aus, sondern auch ihrem Blick. Also doch, frohlockte Rebecca in Gedanken. Dir ist nicht wohl bei der ganzen Sache. Mrs Cox nahm Murphy an die mitgebrachte Leine und verabschiedete sich schnell. Zu schnell, wie Rebecca befand. Erst später fiel ihr ein, dass sich Mrs Cox gar nicht danach erkundigt hatte, ob mit dem Boten und dem Umschlag alles geklappt hätte. Dabei war ihr doch gestern noch so sehr daran gelegen. Na ja. Vielleicht hatte sie den Umschlag auch gefunden und die Sache für sich abgehakt.

Rebecca setzte sich wieder in ihr Arbeitszimmer und arbeitete an ihrem Laptop den schier unüberschaubaren Wust an Dokumenten durch, den ein Informant ihnen zugespielt hatte. Super wichtig und super exklusiv sollten die Daten sein. Im Moment sah Rebecca allerdings nur super viel Arbeit. Gut, dass noch mehrere Kollegen in anderen Ländern mithalfen, die Daten zu ordnen und zu strukturieren. Rebeccas Handy rappelte wieder vor sich hin. Ein Blick verriet ihr, wer der Absender der Nachricht war. Der Mann, mit dem sie nie wieder ein Wort wechseln würde. Die wievielte Mitteilung es war – Rebecca zählte nicht mit. Selbst per Mail hatte er es versucht. Woher hatte er ihre Mailadresse und Handynummer überhaupt? Je länger Rebecca darüber nachdachte, desto sichererer war sie sich, dass sie ihm die Daten nicht gegeben hatte. Aber Mails ließen sich ebenso leicht löschen wie andere Nachrichten.

Dennoch ließ die Frage Rebecca keine Ruhe. Ihre diversen Accounts waren so gesichert, dass private Kontaktdaten nicht angezeigt wurden. Hätte jemand bei diversen Netzwerken auf ihr Profil geklickt, hätte sie einen Hinweis erhalten. Die kontrollierte sie regelmäßig. War die Mailadresse vielleicht doch ein Hinweis darauf, dass sie ihn kannte? Eigentlich hatte sie keine Zeit, aber Rebecca begann, ihre privaten Archive und die des Verlages zu durchsuchen. Und tatsächlich: Bei einer Datenbankabfrage erhielt sie mehrere Treffer zu “Nick Hutton”.

Angespannt las Rebecca die fünf bis sechs Jahre alten Geschichten. Zusammen mit David und Lou hatte sie damals an einer Story über Problemen bei der Altersvorsorge gearbeitet. Ein Nick Hutton kam in dieser Geschichte immer mal wieder vor, aber da sie damals keine Belege für seine direkte Beteiligung gefunden hatten, war er immer eine Randfigur geblieben. Außerdem war Rebecca damals selbst nur eine Art Nebenautorin gewesen, weil es mehr um einen Wirtschaftsskandal gegangen war. Bestimmte Finanzmanager waren durch fragwürdige Beratungspraktiken bei Altersvorsorgeprodukten aufgefallen. Politiker taten sich – wie meistens in Wirtschaftsfragen – nur durch Untätigkeit und Unwissen hervor.

Der politische Anteil war auch damals schon ihr Part gewesen. Rebecca starrte gebannt auf den Monitor, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und stieß hörbar die Luft aus. Sie schaute sich die Fotos von damals genauer an. Irgendwie sah dieser Kerl vor fünf Jahren noch ganz anders aus, eher Typ windiger Vertreter. Die Haare waren auch damals schon schwarz, aber viel länger. Und offenbar hatte er sein Haar mit viel Gel getragen. Das erklärt auch, weshalb sie ihn nicht direkt erkannt hatte.

Denn ihm hatte die Zeit deutlich geholfen, was sein Aussehen anging, das musste Rebecca bei allem Ärger anerkennen. Sein Gesicht erschien wesentlich schmaler, die Wangenknochen traten dadurch markanter hervor. Ein paar Strähnen fielen ständig aus seinem Seitenscheitel, die die eigentlich hohe Stirn überspielten. Die grünen Augen fielen damals nicht so stark auf, was allerdings auch den Fotos geschuldet sein könnte. “Okay, Nick Hutton, das war’s dann endgültig.” Rebecca fand sich selbst komisch, sie klang, als wenn sie sich Mut zuspreche müsste. Ein Typ, der andere abzockte, die hart für ihr Alter arbeiten mussten, um überhaupt etwas sparen zu können, was so ziemlich das Letzte, was Rebecca wollte.

Eine Nacht im Februar

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