Читать книгу Theologie des Neuen Testaments - Lukas Bormann - Страница 10

Оглавление

2Antikes Judentum


Abb. 2: Die religiöse Topographie Palästinas um 66 v. Chr.

2.1Einführung

Die oben abgebildete Karte stellt für die Zeit vor dem ersten jüdischrömischen Krieg 66–70 v. Chr. den geographischen Raum dar, auf den sich die Evangelienüberlieferung und große Teile der Apostelgeschichte beziehen. Sie unterteilt nach dem Kriterium der ethnischreligiösen Zugehörigkeit der Bevölkerungsmehrheit in jüdische, pagane und samaritanische Siedlungsgebiete. Die als überwiegend jüdisches Siedlungsgebiet bezeichneten Regionen umfassen Galiläa, westlich vom See Genezareth mit der Metropole Sepphoris, und Judäa mit Teilen Transjordaniens, also den Jordangraben und das östliche und westliche Bergland mit Jerusalem als Zentrum. Die Karte macht deutlich, dass im Gebiet, das auch die jüdischen Autoren Flavius Josephus (ca. 37–100 n. Chr.) und Philo von Alexandrien (ca. 15 v. Chr.– 40 n. Chr.) Palästina (gr. Palaistine; Παλαιστίνη) nennen, neben der jüdischen Bevölkerung auch eine teilweise hellenisierte nichtjüdische Bevölkerung anzutreffen war, die insbesondere im Küstenstreifen zum Mittelmeer mit dem Sitz des römischen Präfekten in Caesarea und im Gebiet der zehn Städte (Dekapolis) mit Skythopolis und Gerasa südlich und südöstlich des Sees Genezareth lebte. Diese pagane Bevölkerung war in sich recht heterogen, teilte aber die kulturellen und religiösen Ansichten der hellenistisch-römischen Welt, d. h. stand einem religiösen und kulturellen Synkretismus weitgehend aufgeschlossen gegenüber. Zudem lag zwischen den jüdischen Siedlungsgebieten Galiläa und Judäa das Gebiet der Samaritaner. Dabei handelt es sich um eine bis in die Gegenwart existierende religiös-ethnische Gruppierung, die sich zwar auf die fünf Bücher Mose, den Pentateuch, beruft, sich aber etwa im 2. Jh. v. Chr. von dem nach Jerusalem orientierten Judentum abgespalten hat und den Berg Garizim als wichtigsten heiligen Ort betrachtet.

Das Leben in Palästina dieser Zeit eröffnete demnach zahlreiche Erfahrungen mit anderen Kulturen, Religionen und Sprachen. Der Umgang mit diesen Erfahrungen reichte von Prozessen der Integration bis zu bewusster Abgrenzung. Alle Bevölkerungsgruppen setzten sich mit den Folgen dieser religiös-ethnischen Vielfalt auseinander und entwickelten Verhaltensweisen für kulturellen Austausch, Handel, Feiertagspraxis, Nahrungstabus, Wissenstransfer, exogame Ehen und religiös-ethnische Konversionen. Die Juden, die außerhalb Palästinas lebten, das Diasporajudentum, führten diese Auseinandersetzungen mit der Vielfalt der Denk- und Lebensweisen in ihrer Umwelt besonders intensiv, da sie sich einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber sahen und somit beständig anderen kulturellen und religiösen Prägungen begegneten.

Die Religion des Judentums fungierte als Orientierungssystem der jüdischen Bevölkerung in Judäa und Galiläa, aber auch in der Diaspora. Sie bewertete oder interpretierte historische Ereignisse als Erfüllung des Willens Gottes oder als Folge menschlicher Sünde, als toragemäß oder torawidrig und damit auch als ethisch gut oder verwerflich. Das antike Judentum war aber durch Vielfalt, Diversität und Kontroversen geprägt. Selbst in Grundfragen wie jenen nach dem Tempel, der Tora, der Ethik und der Schriftauslegung war der Konsens der Mehrheit immer auch durch abweichende Meinungen von Sondergruppen herausgefordert. Die normative Sichtweise der sprachmächtigen Eliten (z. B. Priester und Schriftgelehrte) unterschied sich nicht selten von der sozialen Praxis der Mehrheit einfacher Menschen. Für eine Theologie des Neuen Testaments ist es demnach von besonderer Bedeutung, diese Vielfalt zu berücksichtigen und ein einseitiges Bild des antiken Judentums zu vermeiden.

Dabei ist auch zu beachten, dass über Jahrhunderte christliche Theologen das Bild vom Judentum bestimmten und jüdischen Selbstdarstellungen kein Gewicht beimaßen. Gerade die Darstellungen des antiken Judentums in den Theologien des Neuen Testaments haben eine breite Wirkung auf die Wahrnehmung des Judentums entfaltet. Aus der Perspektive christlicher Theologie erschien das Judentum positiv als Vorbereitung des Evangeliums (lat. praeparatio evangelii) und negativ als eine defizitäre Entität, die in sich einen inneren Widerspruch, ein Problem, eine dramatische Spannung trug, die nach einer Lösung drängte, die dann durch Jesus gebracht worden sei. Das Judentum wurde überwiegend in dieser Ambivalenz zwischen positiver Vorbereitung oder Wurzel des Christentums einerseits und problembeladener oder defizitärer Ursache der Hervorbringung des Christentums andererseits behandelt. Dieses auf Basis der neutestamentlichen Texte konstruierte Bild des antiken Judentums bestimmt teilweise bis heute die Wahrnehmung des Judentums und ist immer wieder kritisch zu reflektieren.

Die geschilderte Ambivalenz wurde durch die neutestamentliche Wissenschaft zudem als historische Tatsache und nicht als theologisches Urteil dargestellt und bot sich dadurch geradezu für antijüdische und auch antisemitische Inanspruchnahmen außerhalb der Theologie an. Der moderne Antisemitismus zeichnet sich durch eine hohe Adaptionsfähigkeit und Flexibilität in der Konstruktion judenfeindlicher Anschauungen, Vorurteile und Stereotype aus.1 Er integrierte von Anfang an christlich geprägte antijüdische Sichtweisen in seine Polemik. Neben dieser Rezeptionsgeschichte von Judentumsbildern der christlichen Theologie ist auch zu berücksichtigen, dass historische Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums von Kontroversen um normative Sichtweisen des gegenwärtigen Judentums und des Staates Israel beeinflusst sind. Aussagen zur Bedeutung des Landes Israel oder des Tempelareals in Jerusalem sind oftmals durch heutige Konflikte zwischen der dort lebenden jüdischen, muslimischen und christlichen Bevölkerung beeinflusst.

Die in den neutestamentlichen Texten berichteten Geschehnisse, wie etwa das Wirken Jesu von Nazareth in Galiläa und Judäa oder die Missionstätigkeit des Paulus im östlichen Mittelmeerraum, ereignen sich in einem Handlungsraum, der durch die sozialen, religiösen und politischen Vorstellungen des antiken Judentums in hellenistisch-römischer Zeit bestimmt ist.

2.2Bezeichnung

Der Begriff „antikes Judentum“ bezeichnet die ethnisch-religiöse Gemeinschaft der Juden in hellenistisch-römischer Zeit, d. h. von den Eroberungen Alexanders des Großen, der im Jahr 332 v. Chr. Jerusalem erreichte, bis zur islamischen Expansion, in deren Zuge Jerusalem im Jahr 637 n. Chr. dauerhaft in sarazenisch-islamische Herrschaft gelangte. Als alternative Epochenbezeichnung wird auch vom „Judentum des Zweiten Tempels“ gesprochen. Damit wird die Zeit zwischen 539 v. Chr. und 70 n. Chr. bezeichnet. Im Jahr 539 v. Chr. übernahm der Perserkönig Kyros im Zweistromland die Macht. Er erlaubte den nach Babylonien deportierten Israeliten/Judäern die Rückkehr nach Jerusalem und ermöglichte ihnen den Bau des „zweiten“ Tempels, des Tempels von Esra und Nehemia. Die wechselvolle Geschichte des zweiten Tempels endet im Jahr 70 n. Chr. In diesem Jahr wurde dieser Tempel im Verlauf von militärischen Auseinandersetzungen zwischen den römischen Truppen unter Titus und den in sich zerstrittenen judäischen Verteidigern zerstört. An diese Epoche schließt sich dann die Zeit des rabbinischen Judentums an. Die Rabbinen repräsentieren eine Form des Judentums, die nach dem Wegfall des Tempels die Diskurse um die religiös-ethnische Verfassung, die Tora bzw. das Gesetz, in das Zentrum des jüdischen Selbstverständnisses rückte.2

Die quellensprachliche Bezeichnung gr. Ioudaios (Ἰουδαῖος) für „Jude“ hat eine starke ethnisch-geographische Komponente und bezeichnet Personen, die sich nach Herkunft, Lebensweise, Kult, Rechts- und Gemeinschaftsvorstellungen auf die Bevölkerung der Landschaft Judäa zurückführen.3 Aus diesem Grund wird für eine deutsche Übersetzung alternativ zu Jude/Jüdin, eine Bezeichnung, die die religiöse Komponente und damit die selbstgewählte Lebensweise hervorhebt, auch von Judäer/Judäerin gesprochen. Der letztgenannte Begriff will verdeutlichen, dass die Juden als Judäer unter ethnischen und politischen Gesichtspunkten ein Volk sind wie Ägypter, Griechen und Römer, während die Bezeichnung „Jude“ die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft hervorhebt und damit die Vorstellung von einer selbstgewählten Lebensweise in den Mittelpunkt stellt.

In der Forschung ist die Frage umstritten, inwiefern und ab wann mit „Jude“ eine selbstgewählte Lebensweise bezeichnet wird. Cohen sieht ein solches Auseinandertreten der ethnischen und der religiösen Komponenten in Folge der Makkabäeraufstände nach 167 v. Chr.4 Ab diesem Zeitpunkt ist man nicht mehr einfach nur Jude aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit, sondern aufgrund der Wahl einer Lebensweise, die sich am religiös-ethnischen Gesetz, das auch als väterliche Überlieferungen (gr. patrioi nomoi; πατρίοι νόμοι) bezeichnet wird, orientiert. Mit diesem Zurücktreten der ethnischen Komponente setzt zudem eine Diversifizierung des Judentums ein. In dieser Zeit kommt der Begriff Ioudaismos auf (gr. Ἰουδαϊσμός). Im zweiten Makkabäerbuch wird von der Selbstbehauptung einer später dominanten Gruppe von Judäern, den Makkabäern, berichtet, die mit Ioudaismos das selbst gewählte aktive Eintreten für die Anliegen des Judentums bis hin zum Aufstand oder zum Martyrium bezeichneten:

2Makk 2,21: (Bericht über …) die Erscheinungen, die vom Himmel her zugunsten derjenigen geschahen, die tapfer und ehrbar für das Anliegen des Judentums (Ioudaismos) eintraten, damit sie, obwohl sie nur wenige waren, in die Lage versetzt würden, das ganze Land zur Beute zu machen und die Menge der Barbaren (Nichtjuden) zu verfolgen.

2Makk 8,1: Judas aber, der auch Makkabäer (hieß), und diejenigen, die mit ihm verborgen in die Dörfer eingedrungen waren, riefen ihre Verwandten und, nachdem sie diejenigen, die auf das Anliegen des Judentums (Ioudaismos) bedacht waren, hinzugenommen hatten, brachten bis zu 6000 (Männer) zusammen.

2Makk 14,37 f.: Razis aber, einer der Jerusalemer Ältesten […] auch „Vater der Juden“ genannt, wurde bei Nikanor (ein Vertrauter des seleukidischen und damit nichtjüdischen Königs Antiochos IV.) angezeigt, denn er war in den vorherigen Zeiten der Verfolgung wegen des Anliegens des Judentums (Ioudaismos) vor Gericht gezogen worden, und hatte Leib und Seele für das Anliegen des Judentums (Ioudaismos) mit voller Entschiedenheit eingesetzt.

Ioudaismos, hier mit „Anliegen des Judentums“ übersetzt, bezeichnet das bewusste und aktive Eintreten für ein bestimmtes Verständnis von Judentum, das sich von den Lebensweisen, die sich an der hellenistischen Weltkultur orientieren, abgrenzt. In Auseinandersetzung mit Kultur, Recht und Religion des Hellenismus und vor allem mit einem hellenisierenden Judentum betont der Ioudaismos die Ausdrucksformen des Judentums, die die unverwechselbaren Besonderheiten hervorheben und die als Festhalten an den väterlichen Überlieferungen, der Tora, verstanden werden.5 Das sind vornehmlich Beschneidung, Sabbatgebot, Speisegesetze, Ehegesetze und Monolatrie.

Diese bewusste Form der aktiven Lebensgestaltung des Judentums als Ioudaismos in Abgrenzung von anderen Lebensformen erwähnt auch Paulus, um seine Lebensführung vor seiner Berufung zum Apostel der (nichtjüdischen) Völker zu beschreiben:

Gal 1,13 f.: Ihr habt von meiner Lebensführung einst gemäß des Anliegens des Judentums (Ioudaismos) gehört, wie ich im Übermaß die Gemeinde Gottes verfolgte und sie zu vernichten suchte, (14) und (wie ich) in der Wahrnehmung dieses Anliegens des Judentums (Ioudaismos) viele Altersgenossen in meiner Generation übertraf – ich war in hervorragender Weise ein Eiferer für die väterlichen Überlieferungen.

Es bilden sich somit etwa ab dem 2. Jh. v. Chr. innerhalb des antiken Judentums verschiedene Praktiken, dem jüdischen Gesetz zu folgen, aus. Damit ist die Entstehung von Gruppierungen wie den Pharisäern, Sadduzäern oder Essenern verbunden, die sich durch je eigene Interpretationen und Handhabungen des jüdischen Gesetzes voneinander unterscheiden, sich aber zugleich als Teil des Judentums verstehen. Der Jerusalemer Tempel bleibt bis zu seiner Zerstörung ein wichtiges, vergleichsweise niederschwelliges Bindeglied für diese verschiedenen Gruppierungen. Unter diesen gibt es allerdings auch einige, die sich vom Jerusalemer Tempelkult abwenden, wie etwa die Samaritaner und die „Gemeinschaft“ (hebr. yahad; יחד), die für die Gruppe der gemeinschaftsbezogenen Qumrantexte verantwortlich ist.6

Das Wort Ioudaios wird in der Antike von Nichtjuden als Fremdbezeichnung mit Betonung der ethnischen Zugehörigkeit zum jüdischen Volk verwendet. Als Selbstbezeichnung der Juden dient es vor allem zur Unterscheidung von anderen Völkern, wobei sowohl die religiöse wie die ethnische Komponente im Blick sind. Diese Funktionen erfüllt auch der Begriff „Hebräer“ (gr. Hebraios; Ἑβραῖος). Als Selbstbezeichnung eigener Art mit einer starken religiösen Komponente wird auch der Begriff „Israel“ verwendet. Mit „Israel“ bezeichnet das antike Judentum sich selbst als die unverwechselbare besondere Gemeinschaft im Gegenüber zu dem einen Gott, der als Namen das Tetragramm, JHWH, trägt. Diese Selbstbezeichnung spiegelt eher eine Binnenperspektive wider und enthält neben der religiösen auch eine normative Komponente.

Das Judentum der Antike reflektiert sich selbst als eine religiös-ethnische Gruppierung, die immer wieder zur Selbstbehauptung gegenüber ihrer Umwelt herausgefordert ist. Diese Situation bringt auch innere Konkurrenzen, um die Frage hervor, wie sich das Judentum selbst versteht und in welchen Praktiken und Überzeugungen es am besten repräsentiert ist. Die variierenden und schillernden Selbst- und Fremdbezeichnungen wie Jude, Hebräer und Israelit spiegeln diese Situation ebenso wider, wie der Begriff Ioudaismos, der das aktive Eintreten für die Anliegen des Judentums bezeichnet.

2.3Gott

In der Antike ist die Vorstellung, dass Götter existieren und das Geschick der Menschen beeinflussen können, weit verbreitet. In Homers Ilias, dem eminenten Grundtext antiker Bildung, greifen die Götter unmittelbar in das weltliche Geschehen ein und beteiligen sich auf beiden Seiten an den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Trojanern und Griechen. Atheismus im Sinne der kognitiven Überzeugung, dass keine Götter existierten, ist außerordentlich selten und setzt im Grunde die spezifischen Bedingungen der europäischen Geistesentwicklung ab dem 16. Jh. voraus. Unter gr. a-theos (ἄθεος), „gottlos“, oder a-sebes (ἀσεβής), „unfromm“, versteht man in der Antike vielmehr jemanden, der sich der öffentlichen und gemeinschaftlichen kultischen Religionsausübung verweigert und deswegen als religiöser Frevler und zugleich als moralisch Asozialer gilt. Philo von Alexandrien erläutert das Wort atheos aus jüdischer Perspektive mit einem polemischen Akzent, indem er festhält, dass derjenige, der keine Götter verehrt, und derjenige, der viele Götter verehrt, in gleicher Weise in die Irre gehen (migr. Abr. 69). In den Psalmen ist der „Gottlose“ oder „Frevler“ ein Mensch, der die göttlichen Gebote missachtet und damit zum Ausdruck bringt, dass er keine Strafe durch Gott fürchtet. Ein solcher Mensch ist verloren, vergänglich, „wie Spreu, die der Wind verweht“ (Ps 1,4). Ihm gegenüber steht der „Fromme“ (gr. hosios; ὅσιος, z. B. Ps 4,4), der in seiner Verehrung Gottes auch die Befolgung des göttlichen Gesetzes miteinbezieht und somit auch ein „Gerechter“ (gr. dikaios; δίκαιος, z. B. Ps 1,6) ist. Diese Verschränkung des Gerechten mit dem Frommen, die die griechische Übersetzung der Bibel, die Septuaginta (lat. für siebzig), vertritt, entspricht dem griechisch-hellenistischen Tugendideal, nach dem der Mensch „fromm“ gegenüber Gott und den Göttern sein soll und zugleich „gerecht“ gegenüber seinen Mitmenschen. Bereits Platon (428–348 v. Chr.) spricht vom Ideal einer „frommen und gerechten“ Lebensführung.7

Das antike Judentum folgt diesen allgemeinen religiösen und moralischen Überzeugungen, zeichnet sich nun aber dadurch aus, dass es explizit monolatrisch und monotheistisch ausgerichtet ist. Seit der Zeit des Exils hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass der Gott Israels nicht einer von vielen, sondern der eine und einzige Schöpfer und damit der eine und der einzige wahrhaft existierende Gott ist. Die Ablehnung der Verehrung anderer Götter verschärft sich zu einer grundsätzlichen Kritik dieser Götter als Götzen. Sie gelten als nichtig und die Nähe zu ihnen als Bruch des Gesetzes der Juden, d. h. ihrer väterlichen Überlieferungen. Die Schärfe, mit der andere Götter abgelehnt werden, ist innerhalb des Judentums unterschiedlich ausgeprägt.

Flavius Josephus etwa legt den Dekalog für seine am Judentum interessierten griechischen Leser (Ant. 1,5) so aus, dass den Juden die Verehrung anderer Götter und die Verehrung von Bildnissen zwar untersagt sei, die Kulte anderer Völker aber nicht per se abzulehnen seien (Ant. 3,91). Auch Philo folgt dieser Linie, die dem nichtjüdischen Verständnis der Götter entgegenkommt, indem er bestimmte Ansichten positiv würdigt. Er unterscheidet zwischen den Nichtjuden, die einen Gott als den höchsten anerkennen, und solchen, die entweder viele Götter verehren oder gar Götterbildnisse tatsächlich für Götter halten. Schließlich nennt er als unterste und besonders verachtenswerte Stufe diejenigen, die Lebewesen, d. h. Tiere, als Götter verehren. Er öffnet sich zudem der hellenistischen Weltsicht dadurch, dass er die Verehrung eines einzigen Gottes als des höchsten und die Ablehnung der Vielgötterei als Folge vernünftiger Einsicht versteht, die auch Nichtjuden zugänglich sei (Philo Decal. 65).

Neben diesen eher versöhnlich-apologetischen Aussagen, die auf eine allzu scharfe Kritik nichtjüdischer Kulte verzichten und sich der Argumente antiker Religionsphilosophie bedienen, gibt es auch eine Traditionslinie im Judentum, die eine deutlich aggressivere Position vertritt. Von Deuterojesaja über die Weisheit Salomos bis zur Apokalypse Abrahams und zu Paulus wird das Bekenntnis zum Monotheismus mit der Abwertung der anderen Götter als Götzen und sogar mit der Strafforderung gegen Nichtjuden verbunden. In Jes 44, dem Grundlagentext für den Spott über heidnische Religionspraktiken, wird der Irrsinn derjenigen, die sich aus Holz Götter machen, dargestellt. Die Weisheit Salomos, die mit einiger Wahrscheinlichkeit in das 1. Jh. v. Chr. zu datieren ist, steigert diesen Spott noch durch feinsinnige Ergänzungen, etwa indem das Holz, aus dem die Götter gefertigt werden, nun als Abfallholz bezeichnet wird. Die im 1. Jh. n. Chr. entstandene Apokalypse Abrahams greift das Motiv der Abwendung Abrahams von seinem heidnischen Vater auf, der noch dazu als Götzenbildner dargestellt wird. Abraham verlässt das Vaterhaus, das in diesem Moment vor seinen Augen von Gott vernichtet wird (ApcAbr 8,5).

Jes 44,14 f.17 (Übers. Westermann): Er geht hinaus, sich Zedern zu fällen, nimmt eine Steineiche oder eine Eiche, er wählt sich unter den Bäumen des Waldes. Er pflanzt eine Fichte, der Regen lässt sie wachsen, (15) dass sie den Leuten zum Feuer diene, und er nimmt davon und wärmt sich. Teils zündet er’s an und backt Brot, teils macht er einen Gott und fällt nieder und bückt sich davor. […] (17) Und den Rest davon macht er zum Gott, zu seinen Götzen und kniet davor, wirft sich nieder und betet zu ihm, sagt: Rette mich, denn du bist mein Gott!

Weish 13,13 f.18 (Übers. Georgi): Ein Stück Abfall, das dann zu gar nichts mehr nütze ist, ein knorriges Holz mit Astlöchern durchsetzt, das nimmt er und schnitzt es in der Muße seiner Freizeit, formt daran während des Feierabends und gleicht es dem menschlichen Bilde an (14) oder er macht es einem armseligen Tier ähnlich […] (18) Um Leben bittet er das tote Ding.

Auch der Apostel Paulus steht in dieser Tradition der scharfen Kritik an der heidnischen Götterverehrung. Diejenigen, die statt Gott selbstgemachte Götzen verehren, sind ihmzufolge zum Tode verurteilt:

Röm 1,20.22 f.32: Das unsichtbare Wesen (Gottes) […] ist ja seit der Erschaffung der Welt, wenn man es in seinen Werken betrachtet, deutlich zu ersehen, damit sie (die Menschen) keine Entschuldigung haben. […] (22) Während sie vorgaben, weise zu sein, wurden sie zu Toren (23) und vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit der Gestalt des Abbildes von vergänglichen Menschen und Vögeln und vierfüßigen und kriechenden Tieren. (24) Darum hat Gott sie dahingegeben. […]. (32) Sie kennen den Richtspruch Gottes, dass nämlich diejenigen, die derartiges tun, des Todes würdig sind.

Der Gott Israels ist demnach mit exkludierenden Eigenschaften ausgestattet, die als „Eifer“ (gr. zelos; ζῆλος; hebr. qinah; קנאה) dieses Gottes und als Eifer der Seinen für diesen Gott und sein Gesetz bezeichnet werden. Die jeweiligen Ausprägungen des „Eifers“ können sehr unterschiedliche Formen annehmen. Zunächst richtet sich der Eifer nach innen gegen Juden, denen der Abfall von den väterlichen Gesetzen vorgeworfen wird, dann gegen Nichtjuden, die Juden zum Abfall verleiten oder die im Land Israel Götzendienst betreiben, und schließlich gegen alle nichtjüdischen Symbole wie z. B. Legionszeichen der Römer, wenn sie in die heilige Stadt Jerusalem, womöglich gar während eines Festtages, gebracht werden sollen.8

Die Exklusivität der Beziehung zwischen Israel und seinem Gott gilt als Gabe und Verpflichtung, als Bund (gr. diatheke; διαθήκη). Der Bund beruht auf der Entscheidung Gottes, Israel als sein Volk zu erwählen. Bund und Erwählung bilden die Klammer, aus der die Verpflichtung zur Einhaltung des Gesetzes Gottes erwächst. Sie gelten als Gabe eines Gottes, der seinem Volk Israel gegenüber gerecht und barmherzig ist. Die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk vollzieht sich in dieser Spannung: Der gerechte Gott, der durch sein Schöpferhandeln und durch die Erwählung dieses Volkes einen berechtigten Anspruch auf Gehorsam hat, verfolgt die Verfehlungen gegen seinen Rechtsanspruch mit als gerecht angesehener Strafe. Wenn die Verfehlungen allerdings ein solches Ausmaß annehmen, dass die Vernichtung seines Volkes die gerechte Folge wäre, tritt die Barmherzigkeit im Sinne der Strafverschonung an die Stelle der Gerechtigkeit. Israel bekennt sich daher zu seinem Gott und zu dessen Willen zur Strafverschonung, indem es in Ex 34,6; Ps 145,8 u. ö. auf seine herausragenden Eigenschaften verweist.9 Die sogenannte „Gnadenformel“ fasst diese Eigenschaften Gottes im Sinne einer „Wesensdefinition“ zusammen10: Gott ist barmherzig (hebr. rachum; רחום – gr. oiktirmon; οἰκτίρμων), liebevoll (hebr. chanun; חנון – gr. eleemon; ἐλεήμων), langsam im Zorn (hebr. äräch aphim; ארך אפים, – gr. makrothymos; μακρόθυμος), voll Gnade (hebr. rav chäsäd; רב-חסד – gr. polyeleos; πολυέλεος) und treu bzw. wahrhaftig (hebr. ämät; אמת – gr. alethinos; ἀληθινός).11 Dieser barmherzige Gott wird sein Volk um seiner Zusagen willen verschonen, vor seinen Feinden retten, aus Unheil und Unglück erlösen und von Fremdherrschaft befreien.

Dieser Gott, der sich durch diese Eigenschaften an sein Volk Israel gebunden weiß, hat einen Namen: das Tetragramm JHWH. Dieser Name ist heilig und darf nicht entheiligt (Lev 19,12; 20,7) oder gar gelästert (Lev 24,16) werden. Dieser Schutz des Gottesnamens wird ab dem 3. Jh. v. Chr. auf die Aussprache ausgeweitet. Bei der Übersetzung der hebräischen Schriften der Bibel ins Griechische wird Lev 24,16, das Verbot der Lästerung, so interpretiert, dass schon die Aussprache verboten und mit dem Tod bestraft werden soll. Die ältesten Handschriften der Septuaginta lassen für den Gottesnamen eine Lücke, um dort in hebräischen Schriftzeichen das Tetragramm einzutragen. Auch zahlreiche Qumranhandschriften heben den Gottesnamen hervor, indem sie im hebräischen Text von der assyrischen Quadratschrift zu paläohebräischen Schriftzeichen wechseln, wenn das Tetragramm zu schreiben ist (z. B. 11QPsa). Im Neuen Testament gilt das artikellose „Herr“ (gr. kyrios; κύριος) als Gottesname im Unterschied zu „Herr“ als Anrede eines Höhergestellten, wobei aber im Einzelfall die Besonderheiten des Artikelgebrauchs bei Eigennamen im Griechischen zu berücksichtigen sind. Dieser Gott Israels ist der eine und einzige, der Schöpfer und Erhalter der Welt, er gibt Leben und Nahrung, und er steht zu seinem Volk in einer unvergleichlichen Beziehung, die durch Erwählung, Bund und Tora geprägt ist.

Das Gottesverständnis des antiken Judentums ist durch eine spannungsvolle Diskursivität geprägt. Gott tritt zu seiner Schöpfung und zu seinem Volk Israel durch Bundesschluss und Erwählung in Beziehung. Daraus leitet er seinen Rechtsanspruch auf Anerkennung ab. Gleichzeitig ist er aber auch durch seine Fürsorge für die Schöpfung und seine Barmherzigkeit gegenüber seinem Volk gekennzeichnet. Im Mittelpunkt stehen die Eigenschaften Gottes, wie sie in der Gnadenformel als Wesensdefinition Gottes zusammengefasst sind: Gott ist barmherzig, liebevoll, langsam im Zorn, voll Gnade, treu und wahrhaftig.

2.4Schrift

Das antike Judentum hat ein umfangreiches Schrifttum hervorgebracht, das sich zudem in einer eindrücklichen inneren Vielfalt präsentiert. Auf Hebräisch und Aramäisch, aber auch auf Griechisch, der damaligen Weltsprache, thematisieren Autorinnen und Autoren ihre Weltsicht, ihr Gottesverständnis und ihr Selbstverständnis als Teil einer religiös-ethnischen Gemeinschaft. Im Mittelpunkt stehen die „heiligen Bücher“ (gr. hieroi grammatoi; ἱεροὶ γράμματοι) des Judentums, die heute aus christlicher Perspektive als Bücher des Alten Testaments bezeichnet werden. Es ist nicht ganz klar, zu welchem Zeitpunkt die Schriftensammlung der heiligen Bücher des Judentums als abgeschlossen galt. Es lassen sich aber einige Stufen des Kanonisierungsprozesses nennen. Der erste deutliche Hinweis auf eine Abgrenzung einer definierten Schriftengruppe aus der Gesamtheit des jüdischen Schrifttums findet sich bei Jesus Sirach. Der Übersetzer des um 180 v. Chr. hebräisch abgefassten Werkes stellt diesem ein Vorwort, einen Prolog, voran. Darin erläutert er, dass der Verfasser des Werkes, sein Großvater, das „Gesetz, die Propheten und andere väterliche Schriften“ studiert habe (Sir Prol. 24 f.). Jesus Sirach ist demnach der älteste Beleg für die Dreiteiligkeit des Kanons heiliger Schriften im antiken Judentum.12 Der Autor selbst blickt also auf eine Schriftensammlung zurück, die zwar schon recht konsolidiert wirkt, aber auch noch offen für Ergänzungen ist.

Genauere Informationen über die einzelnen Bücher, die diesem dreiteiligen Schriftenkorpus zugehörig sind, erhalten wir erst später. Während im Neuen Testament meist nur von „Gesetz und Propheten“ (z. B. Mt 7,12; Röm 3,21) die Rede ist, wenn die Gesamtheit der heiligen Schriften bezeichnet werden soll, wird im Lukasevangelium an einer Stelle auch die Dreiteilung der Bibel zum Ausdruck gebracht, wobei der dritte Teil, die Schriften, pars pro toto mit „Psalmen“ bezeichnet wird. In Lk 24,27 findet sich zunächst der klassische zweiteilige Ausdruck, allerdings mit der für Lukas typischen Betonung der Gesamtheit der Propheten durch das Adjektiv „alle“. Einige Verse später wird dann aber die Gesamtheit der heiligen Schriften des Judentums in der dreiteiligen Form zum Ausdruck gebracht:

Lk 24,27: Und er begann, angefangen von Moses und von allen Propheten, ihnen zu erklären, was in allen Schriften über ihn (zu finden ist).

Lk 24,44: […] es muss alles das erfüllt werden, was über mich geschrieben ist im Gesetz des Moses und bei den Propheten und in den Psalmen.

Die Gesamtzahl der biblischen Bücher wird zum ersten Mal von Josephus in seiner Schrift Contra Apionem, etwa in den ersten Jahren nach 100 n. Chr., festgehalten. Er spricht von 22 Schriften und untergliedert diese in die fünf Bücher Moses, dreizehn prophetische Bücher und vier Schriften (Jos. Ap. 1,38 f.). Die Bücher Moses und die Propheten gelten ihm als historische Berichte, die Schriften dienen seiner Meinung nach vor allem zu Gottesverehrung und Lehre. Etwa zeitgleich nennt das apokryphe und auf Lateinisch überlieferte vierte Buch Esra 24 Bücher, die von allen zu lesen sind, im Unterschied zu nicht näher bezeichneten 70 geheimen Schriften, die nur die Weisen einsehen dürfen (4Esr 14,45 f.). Es zeigt sich, dass im ersten nachchristlichen Jahrhundert der Kanon zwar noch nicht abgeschlossen war, aber doch als dreiteilige Sammlung der heiligen Bücher des Judentums aus Gesetz, Propheten und Schriften eine recht feste Gestalt angenommen hatte.

Die Mischna (um 200 n. Chr.) überliefert eine Diskussion über die Heiligkeit dieser Schriften. Da die Berührung der heiligen Schriften die Hände verunreinige, ist mit der Zuweisung einer Schrift zum Kanon der heiligen Schriften auch eine bestimme rituelle Praxis, die Fragen der Reinheitstora zu beachten hat, verbunden. Im nachfolgend abgedruckten Abschnitt des Mischna-Traktats Jadajim („Hände“) wird demnach diskutiert, ob die Bücher Hoheslied und Kohelet die Hände verunreinigen, d. h. ob sie als heilige Schrift zu betrachten seien:

mJad 3,5 (Übers. Lisowsky): Alle heiligen Schriften machen die Hände unrein, auch das Hohelied und Kohelet machen die Hände unrein. R. Jehuda sagt, das Hohelied mache die Hände unrein, über Kohelet dagegen (bestehe) ein Streit. R. Jose sagt, Kohelet mache die Hände nicht unrein, und über das Hohelied (bestehe) ein Streit. R. Schim‘on sagt, Kohelet (gehöre) zu den Erleichterungen der Schule Schammais und zu den Erschwerungen der Schule Hillels. R. Schim‘on ben Azzai sprach: Mir wurde als Ausspruch der zweiundsiebzig Alten am Tage, da sie R. El‘asza ben Azarja (zum Vorsteher) einsetzten, überliefert, daß sowohl das Hohelied wie auch Kohelet die Hände unrein machten. R. Akiba sprach: Nein, behüte! Kein Mensch in Israel streitet dem Hohelied ab, daß es die Hände unrein mache; denn nie war die ganze Welt würdiger als der Tag, da das Hohelied Israel gegeben wurde, denn sind alle Schriften heilig, so ist das Hohelied hochheilig; besteht aber ein Streit, so geht er lediglich um Kohelet. Da sagte Johanan ben Schammua, der Sohn des Schwiegervaters R. Akibas: (Es ist,) wie Ben Azzai gesagt hat. So stritten sie und so entschieden sie.

Im Babylonischen Talmud (Endredaktion 6. Jh. n. Chr.) finden sich abschließende Aussagen zum Umfang des Kanons und der Reihenfolge der Bücher der Hebräischen Bibel.

bBB 14b (Übers. Goldschmidt): Die Rabban lehrten: Die Reihenfolge der Propheten (hebr. nebiim) ist folgende: Jehosua, Richter, Semuel, Könige, Jirmeja, Jehezqel, Jesaja und die zwölf. […] Die Reihenfolge der Hagiographen (hebr. ketubim) ist folgende: Ruth, Psalmen, Ijob, Sprüche, Qohelet, Lied der Lieder, Klagelieder, Daniel, die Esterrolle, Ezra und die Chronik.

Die Sonderstellung der heiligen Schriften drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass sie in ihrem Wortlaut als so wertvoll erachtet werden, dass sie nicht durch neue Bücher ersetzt, sondern kommentiert und ausgelegt werden. Die ältesten überlieferten Schriftauslegungen, etwa durch Philo, befassen sich nur mit den fünf Büchern Mose, der Tora, und unterstreichen damit deren hervorgehobene Stellung unter den heiligen Büchern. Diese enthalten nach allgemeiner Auffassung die grundlegenden Gesetze, ja wie Josephus immer wieder hervorhebt, die Verfassung (gr. politeia; πολιτεία) des jüdischen Volkes (Jos. Ant. 4,196–301). Daneben werden insbesondere die prophetischen Bücher und die Psalmen einer intensiveren Interpretation unterzogen. Deren Rezeption war noch nicht einer festen Auslegungstradition unterworfen, sodass sich hier mehr Möglichkeiten für abweichende Auffassungen boten. In den Qumrantexten finden sich die ersten Pescharim, d. h. Auslegungen:

4QFlor I 14 (Übers. Lohse): Eine Auslegung (hebr. midrasch) von: Wohl dem Manne, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen (Ps. 1,1). Die Deutung (hebr. pescher) des Wortes bezieht sich auf diejenigen, die abgewichen sind vom Wege […]

Die Pescharim legen den geschriebenen Text zugrunde. Sie nennen Einzelverse der „Schrift“ und legen sie mit dem einleitenden Hinweis „die Deutung dieses Wortes“ (hebr. pescher hadabar ascher) aus (z. B. 4QpJesb bzw. 4Q162 I,2). In den Pescharim aus Qumran werden die Schriftworte dann auf die Gegenwart der religiösen Gemeinschaft bezogen.

Eine weitere Möglichkeit abweichenden Meinungen Nachdruck zu verleihen, bestand darin, neue bzw. weitere Schriften mit autoritativem Anspruch zu verfassen. Die Henochliteratur, das Jubiläenbuch und viele andere Schriften verstehen sich nicht nur als Ergänzung der heiligen Schriften, sondern als Korrektur, Erweiterung, Erneuerung, oder sogar als Neuschreibung der grundlegenden Schriften („Rewritten Bible“). Der Eingangsteil des Jubiläenbuches macht deutlich, mit welchem hohen Anspruch diese Schrift neben die Tora tritt: Das Jubiläenbuch stellt sich als umittelbar niedergeschriebene Rede Gottes dar:

Jub 1,5 (Übers. Berger): Und er sagte zu ihm: „Richte dein Herz auf jede Rede, die ich zu dir reden werde auf diesem Berg, und schreibe sie in ein Buch, damit ihre Nachkommen sehen, dass ich sie nicht verlassen habe wegen allem Bösen, das sie getan haben, indem sie ihre Ordnung auflösten, die ich heute verordnet habe zwischen mir und dir für ihre Geschlechter auf dem Berge Sinai.“

Daneben ist schließlich auch noch zu erwähnen, dass biblische Gattungen weitergeführt wurden. In 11QPsa XXVII, 4 f. (David-Komposition) wird erwähnt, dass David 3600 Psalmen (hebr. tehilim, תהלים) und 450 Lieder (hebr. sir, שיר) für den Tempeldienst geschrieben habe.13 Diese sind nicht mehr erhalten, aber die Qumranhandschriften belegen immerhin 200 Psalmen über die dort ebenfalls belegten 150 kanonischen Psalmen hinaus.14 Schließlich nehmen die Midraschim eine Mittelstellung zwischen Neuschreibung und Kommentierung ein, indem sie auf der Basis biblischer Texte durch Erweiterungen, Ergänzungen und Ausschmückungen besonders die narrative Gestalt der Vorlage umgestalten.15

Die Vielfalt des Schriftgebrauchs im antiken Judentum reicht demnach von der Sphäre des Rechts, der Politik bis zum Kult. Zudem wurden die heiligen Bücher ausgelegt und für Sondermeinungen in Anspruch genommen sowie durch weitere Literatur ergänzt. Schließlich galten die heiligen Schriften auch als autoritative historische Berichte von der Geschichte des jüdischen Volkes.

Die unbestrittene Mitte der heiligen Schriften des antiken Judentums sind die fünf Bücher Mose, der Pentateuch, die zusammenfassend als Tora oder Gesetz bezeichnet werden. Daneben stehen die prophetischen Bücher, deren Anzahl ebenfalls als weitgehend abgeschlossen gilt. Die Schriften als dritter Teil der jüdischen Bibel haben geringere Geltung und auch ihr Umfang ist noch umstritten. Neben diesem Kernbereich der Überlieferung existiert eine lebendige Produktion von religiösen Schriften, Fortschreibungen biblischer Texte und Gattungen („Rewritten Bible“) und zunehmend auch Auslegungen, die die Auseinandersetzung um die heiligen Schriften und deren Aussagen lebendig erhalten.

2.5Geschichte

Geschichte kann verstanden werden als eine Abfolge von vergangenen Ereignissen in Raum und Zeit, die durch das Subjekt des Geschehens, den Raum, in dem es sich vollzieht, und durch andere Kausalitäten einen Zusammenhang bilden. Geschichtsschreibung besteht nur darin, diesen Zusammenhang zu erfassen und ihm eine narrative Gestalt zu geben. Sie beruht demnach einerseits auf den Informationen über diese Ereignisse und andererseits auf der Art ihrer Darstellung, über die die Geschichtsschreiber entscheiden. Diese bringen als Einzelpersonen oder Repräsentanten von Gruppen in der Geschichtsschreibung auch ihr gegenwärtiges Selbstverständnis zum Ausdruck. Es geht im Folgenden demnach um das Geschichtsverständnis des antiken Judentums und um die Konstruktion der Geschichte des jüdischen Volkes als Teil seines Selbstverständnisses und nicht um eine kritische Rekonstruktion der tatsächlichen Ereignisse.

Die Vertreter des antiken Judentums waren stolz auf die geschichtlichen Überlieferungen des Judentums. Sie waren der Ansicht, dass ihnen im Pentateuch und in den prophetischen Schriften eine vernünftige und glaubwürdige Geschichte ihres Volkes überliefert sei, ja dass diese Bücher, die mit der Erschaffung der Welt beginnen, auch eine Geschichte allen Seins enthielten. So hebt Josephus die Zuverlässigkeit und Klarheit der heiligen Bücher des Judentums hervor:

Jos. Ap. 1,38 f.: […] nicht Tausende von unstimmigen und einander widerstreitenden Büchern existieren bei uns, sondern 22 Bücher enthalten die Niederschrift der gesamten Zeit, die auch zu Recht anerkannt sind. Von diesen sind fünf die des Moses, sie enthalten die Gesetze und die Überlieferung von der Menschenerschaffung bis zum Tod des Gesetzgebers Moses.

Immer wieder wird von jüdischen Autoren der Antike behauptet, dass die heiligen Schriften des Judentums auch die hervorragenden Vertreter des Griechentums beeinflusst hätten. Für Philo gilt es als sicher, dass Platon für seine Schrift Timäus, in der die Entstehung der Welt erörtert wird, „Moses“, genauer das Buch Genesis genutzt, habe.16 Er deutet zudem den Namen des Volkes Israel mit „das Volk derjenigen, die Gott sehen“ und schließt daraus, dass die Griechen zwar einen wahren Philosophen (Sokrates bzw. Platon) hätten, Israel aber ein Volk von Philosophen sei.17 Die heiligen Schriften des Judentums sind nach Philo allen anderen philosophisch überlegen und auch in ihren historischen Inhalten zuverlässiger. Die fünf Bücher Mose und die Bücher der vorderen Propheten (Josua, Richter, Samuel und Könige; Luther: „Geschichtsbücher“) lassen sich wie eine Geschichtserzählung lesen. Sie berichten eine in sich geschlossene Folge von Ereignissen, die zunächst von der Schöpfung über Sintflut, Völkergeschichte bis zu den Erzeltern reicht, um dann, ausgehend von den zwölf Söhnen Jakobs, die Geschichte Israels von der Gefangenschaft in Ägypten bis zum babylonischen Exil und dessen Ende durch das Kyrosedikt zu erzählen.

Freedman hat für diesen Erzählzusammenhang, dieses Narrativ, den Begriff der „primary history“, d. h. der erstanfänglichen und grundlegenden Geschichtserzählung, geprägt.18 Sie ist die identitätsbildende Fassung der Geschichte Israels, die im antiken Judentum als grundlegendes Geschichtsbild vertraut war. Diese Geschichte trägt in sich ein Deutungsprinzip, das nach Josephus auf folgendem Gedanken beruht: Die heiligen Schriften enthalten „tausende Dinge“, vor allem aber mahnen sie, dass Gott das Befolgen des Gesetzes belohne und Übertretungen des Gesetzes bestrafe (Ant. 1,13 f.). Josephus folgt in seinem Werk über die „Jüdischen Altertümer“ (Antiquitates Judaicae) dieser biblischen Grunderzählung, gibt ihr aber für die von ihm intendierte Leserschaft und die von ihm angestrebten Zwecke eine eigene Prägung. Sterling denkt besonders an Josephus, wenn er die Geschichtsschreibung des antiken Judentums näher charakterisiert. Es seien zwei besondere Momente, die die jüdische von der römischen und griechischen Geschichtsschreibung unterscheide:

„Erstens, sie (die jüdische Geschichtsschreiber; LB) schrieben die Geschichte eines Volkes. Das gemeinsame Element war, dass das jüdische Volk der grundlegende Gegenstand ihrer Erzählungen war. […] Zweitens, sie waren überzeugt, dass Gott die Geschichte des jüdischen Volkes bestimmt.“19

Die Geschichte Israels ist demnach einem Grundprinzip unterworfen, nach dem Gott die Geschichte seines Volkes bestimmt. Freedman stellt nun noch heraus, dass das sinnbildende Zentrum dieser Geschichtserzählung die Sinaiereignisse darstellten, die die Begegnung zwischen Gott und seinem Volk, den Bundesschluss und die Verpflichtung des Volkes auf den Bund umfassten. Am Sinai werde das Deutungsprinzip der Geschichte Israels verankert, nach dem das Wohlergehen des Volkes von seinem Gehorsam gegenüber den am Sinai eingegangen Verpflichtungen bestimmt sei:

„Das übergeordnete Thema (der biblischen Geschichtserzählung; LB) ist, dass genau wie Israel von Gott geschaffen wurde, es auch von ihm zerstört werden könnte und tatsächlich auch zerstört wurde (durch die Eroberung Jerusalems im Jahr 587 v. Chr.; LB). […] Die kontinuierliche Existenz der Nation, noch mehr aber sein Erfolg, seine Sicherheit und sein Wohlstand, würden von seinem Verhalten abhängen. Insbesondere hinge dies von der Einhaltung eines Verhaltenskodex ab […]. Diese Regeln und Vorschriften seien wiederum im Dekalog oder den Zehn Geboten zusammengefasst, die jeder Israelit kennen müsste.“20

Das geschichtstheologische Grundprinzip der uranfänglichen Geschichte Israels ist damit deutlich herausgestellt: Es ist eine Geschichte des Volkes im Gegenüber zu seinem Gott. Die Hervorhebung des Dekalogs durch Freedman hingegen überzeugt nicht, da der Dekalog zwar als wichtige Orientierung gelten kann, aber eben doch nur eine recht reduzierte Zusammenstellung von Überzeugungen und Verhaltensweisen ist. Der Dekalog erwähnt z. B. weder Kult noch Opfer, weder Beschneidung noch Speisegebote. Freedman stellt etwas einseitig den Monotheismus und die ethische Orientierung in den Mittelpunkt.

Eine andere Interpretation des Geschichtsverständnisses Israels hat Neusner auf der Basis der rabbinischen Texte vorgeschlagen. Er bezeichnet die Erstgeschichte Israels in Anknüpfung an und in Differenz zu Freedman als „standard history“, die das rabbinische Judentum als „paradigmatisch“ verstehe. Was meint Neusner damit? Für die Rabbinen gelte: „Israel lebt in Beziehung zu einem dauerhaften Paradigma, das weder Vergangenheit noch Gegenwart oder Zukunft kennt.“21 Israel definiere sich über bestimmte Handlungen, die in Übereinstimmung mit einem zeitlosen Paradigma beurteilt würden. Nicht die geschichtlichen Ereignisse als solche seien relevant, sondern deren Beziehung zu dem einen Kriterium, das zählt, nämlich die Tora.

Es stehen sich demnach zwei idealtypische Zugangsweisen zur Geschichte Israels gegenüber. Die eine versteht die Geschichtserzählungen als eine Abfolge dramatischer und teilweise tragischer Ereignisse in der Spannung zwischen Gehorsamsforderung und Übertretung, zwischen Fürsorge und Strafe. In der geschichtlichen Beziehung zwischen Gott und seinem Volk Israel wiederholt sich ein Drama, das nach Erlösung drängt. Dieses Verständnis einer dramatisch-tragischen Geschichte bringt folgerichtig Figuren hervor, die diese Tragik beenden, etwa die Idealgestalt eines Königs wie David, die dann als Messias die Erwartungen nach ewigem Heil für Israel befriedigt. Dieses Narrativ scheint in der biblischen Geschichtserzählung angelegt zu sein und bildet die Basis für eine Interpretation, die für die christliche Theologie wichtig geworden ist: Die tragische Beziehung des biblischen Gottes zu seinem Volk bedarf der Erlösung.

Demgegenüber hebt Neusner darauf ab, dass es in der rabbinischen Tradition nicht diese innere tragische Gestalt sei, die die Kontinuität der biblischen Geschichtserzählung ausmache. Es gebe vielmehr ein Kriterium außerhalb der geschichtlichen Erzählung, die jedes Ereignis der zeitlosen Frage unterwerfe, in welcher Beziehung es zu den Geboten der Tora stehe. Israel als das Volk der Tora und die Tora als die zeitlose ewige Weisung Gottes werden so zu einer Mitte, die durch die historischen Ereignisse nicht wirklich berührt würden.

Mit den Konzepten der primary history und der paradigmatic history stehen sich demnach eine geschichtstheologische und eine toraorientierte Interpretation der biblischen Geschichtserzählung gegenüber. Die eine betont die Bedeutung des Gottesgedankens in seinem geschichtlichen Verhältnis zum Gottesvolk, die andere stellt die ewige Weisung der Tora und die Verpflichtung des Volkes Israel auf die Tora in den Mittelpunkt. Die geschichtstheologisch-dramatische Sichtweise der Geschichte Israels wirkt besonders in der jüdischen Apokalyptik fort, während die ungeschichtlich-toraorientierte, durch Sadduzäer und Pharisäer vorbereitet, dann schließlich im rabbinischen Judentum dominiert.

Die Darstellung der Geschichte des jüdischen Volkes und deren Deutung spielen eine wesentliche Rolle für das Selbstverständnis des antiken Judentums. Auf der Basis einer grundlegenden biblischen Geschichtserzählung (primary history) wird diese Geschichte entweder als eine dramatische und krisenhafte Beziehung zwischen dem Gott Israels und seinem Volk gedeutet oder aber als eine an den Forderungen der Tora zu messende Sammlung von Beispielen für die Erfüllung und Verfehlung der Tora (paradigmatic history). Bei beiden Geschichtskonzeptionen steht aber das eine Grundprinzip im Hintergrund, dass Gott die Geschichte seines Volkes bestimmt.

2.6Tora

Die biblische Grunderzählung von Genesis bis zum zweiten Buch der Könige denkt geschichtlich. Gehorsam oder Übertretung entscheiden über das Ergehen des Volkes Israel im Raum der Völkergeschichte. Die Völker können nur Macht über Israel gewinnen, wenn der Gott Israels es zulässt oder die Völker gar als Instrumente seines Strafhandelns nutzt. In den biblischen Geschichtserzählungen begegnen allerdings noch weitere Kriterien, die die Grenze zwischen Gehorsam und Ungehorsam markieren, etwa die Fremdgötterverehrung, die Höhen, auf denen verehrt, die Kultstatuen und Masseben, die aufgerichtet werden, oder auch das Vergießen unschuldigen Blutes. Es war durchaus umstritten, woran sich Gott orientiert, wenn er die Geschicke seines Volkes bestimmt.

Diese Fragen werden im antiken Judentum mit Hilfe der Vorstellung von den väterlichen Überlieferungen, dem Gesetz bzw. der Tora beantwortet. Nach Josephus führt die Beachtung der „väterlichen Gesetze“ (gr. patrioi nomoi; πάτριοι νόμοι) zu einem „glückseligen Leben“ (gr. eudaimonia; εὐδαιμονία). Philo ist der Überzeugung, dass die Tora den Aufstieg der Seele zur Weisheit (gr. sophia; σοφία) ermögliche, da die Tora mit dem Naturgesetz (gr. nomos physeos; νόμος φύσεως), das allem Seienden als Prinzip innewohnt, identisch sei. Das eher religionsgesetzliche Verständnis der Rabbinen hingegen unterstreicht die Verpflichtung zur Tora um ihrer selbst willen. Sie sei eine himmlische Gabe und ihre Befolgung sei für Israel Schöpfungsauftrag.

In der Hebräischen Bibel finden sich als Bezeichnungen für Recht, Rechtssatz, Weisung zahlreiche Wörter, etwa dat, mischpat, chok, mizwa und auch tora. Das hebr. Wort tora (תורה) meint zunächst die Einzelweisung. Als zusammenfassende Bezeichnung für die Gesamtheit der Gebote Gottes ist es erst in späterer Zeit belegt. Die Septuaginta übersetzt tora überwiegend und die verschiedenen anderen oben genannten hebräischen Begriffe zum Teil ebenfalls vereinheitlichend mit „Gesetz“ (gr. nomos; νόμος) im Singular. Das Wortfeld nomos dominiert in der griechischen Übersetzung noch in weiterer Hinsicht. So werden auch zum Teil sehr spezifische Rechtsbrüche und Übertretungen verallgemeinernd mit gr. anomia (ἀνομία) oder gr. paranomia (παρανομία) bezeichnet. Die Septuaginta nutzt im Falle der genannten Rechtsbegriffe, die feine terminologische Unterscheidungen erlauben, überwiegend das Wortfeld gr. nomos, wie sie auch in anderen Fällen dazu neigt, für die Übersetzung spezifischer hebräischer Begriffe „semantisch allgemeinere Äquivalente“ im Griechischen zu verwenden.22 Durch die vereinheitlichenden Übersetzungen der disparaten hebräischen Rechtsbegriffe wird auch eine Bedeutungsverschiebung des Begriffs „Gesetz“ bewirkt. Er steht nun für die Summe der religiös-ethnischen Regelungen des Judentums. Damit öffnet sich die Bezeichnung für die hellenistische Vorstellung, nach der ein Volk durch gemeinsame Sitten und durch ein gemeinsames Gesetz gebildet werde. Diese vereinheitlichende Tendenz findet sich dann auch im masoretischen Text der Hebräischen Bibel. In ihr kommt hebr. tora genau 220 Mal vor. Der Sachverhalt weist auf eine vereinheitlichende Redaktion des masoretischen Textes hin, die in der Zahlensymbolik (22 Buchstaben des Alphabets × 10) die zentrale Bedeutung der tora, ihre „Perfektion und Totalität“ zum Ausdruck bringen möchte.23 Verteilt über den gesamten Kanon wird tora zum zentralen Inhalt der Schrift, deren Bedeutung über die dort berichteten Einzelereignisse hinausgeht und dadurch zeitlos wirkt.

Die Festlegung der Tora vollzieht sich aber nicht nur symbolisch, sondern auch sehr konkret. Im Babylonischen Talmud findet sich die traditionell gewordene Gesamtzahl von 613 Geboten und Verboten. Da ältere Traditionen nicht nachweisbar sind, ist diese Zusammenstellung wohl spätestens auf die Mitte des 6. Jh. zu datieren (Endredaktion: bBB 157b; bBM 86a). Im Traktat Makkot (Geißelung) aus der Ordnung Nezikin (Schädigungen) des Babylonischen Talmuds heißt es:

bMak 23b (Übers. Goldschmidt): R. Simlai rief aus: „613 Gebote wurden Moses gegeben, 365 (Verbote), entsprechend der Zahl der Tage im Sonnenjahr, und 248 (Gebote), entsprechend der Teile des menschlichen Körpers.“

Erst aus späterer Zeit sind Listen erhalten, die diese 613 Gebote im Wortlaut nennen. Aus älterer Zeit und auch aus dem Neuen Testament sind aber immerhin Äußerungen überliefert, die die Einhaltung jedes einzelnen, noch so kleinen Gebotes bzw. der ganzen Tora einfordern (Gal 5,3; Jak 2,10).

Was ist aber nun die Tora im Sinne der Gesamtheit der religiösethnischen Gesetze? Der Mischna-Traktat Pirke Abot (Sprüche der Väter) berichtet davon, dass Moses und Aaron, als sie auf dem Sinai waren, nicht nur die schriftliche Tora, wie sie in den fünf Büchern Moses festgehalten ist, empfingen, sondern auch eine mündliche Tora, die ohne schriftliche Fixierung von Generation zu Generation mündlich weitergegeben wurde. Erst in rabbinischer Zeit bemüht man sich, Weisungen der mündlichen Tora, die über die schriftliche Tora hinausgehen, auf den Bibeltext zurückzuführen. Die älteste rabbinische Überlieferung verankert ihre Grundüberzeugungen bei den beiden Schulgründern Hillel und Schammai. Hillel gilt als der Konziliantere, Schammai eher als streng. Die Unterscheidung von schriftlicher und mündlicher Tora wird durch eine kurze anekdotische Erzählung über Schammai überliefert:

bSchabb 31a (Übers. Goldschmidt): Einst trat ein Nichtjude vor Schammai und sprach zu ihm: Wieviel Thoroth habt ihr? Dieser erwiderte: Zwei; eine schriftliche und eine mündliche. Da sprach jener: Die schriftliche glaub ich dir, die mündliche glaube ich dir nicht; mache mich zum Proselyten, unter der Bedingung, dass du mich nur die schriftliche Tora lehrst. Dieser schrie ihn an und entfernte ihn mit einem Verweis.

Im ersten Jahrhundert n. Chr. sind Tora, Gesetz und väterliche Überlieferungen zwar recht klar umrissen, in ihrer Konkretion aber bleiben sie Gegenstand von divergierenden Interpretationen. So gelten Beschneidung, Sabbat, Speisegebote und Reinheitsregeln in der Antike als bekannte Merkmale jüdischen Lebens, aber ob ein Junge beschnitten werden darf, wenn der achte Tag auf einen Sabbat fällt, oder was man macht, wenn der Rüsttag des Pessach, dem Tag, an dem die Lämmer geschlachtet werden sollen, auf einen Sabbat fällt, bleibt Gegenstand von Auslegungen.

Die Tora im Sinne der Gesamtheit der überlieferten Regeln wurde bis ins 2. Jh. n. Chr. mündlich weitergegeben. Erst in der Mischna, die etwa um 200 n. Chr. eine schriftliche Form findet, werden zum ersten Mal die grundlegenden Gebote und die Diskussionen um diese festgehalten. Die Tosefta stellt eine Art kommentierende Neuschreibung der Mischna dar, die die Regelungen eher predigtartig vorstellt. Babylonischer und Jerusalemer Talmud, Bavli und Jeruschalmi, kommentieren die Traktate der Mischna und enthalten weitere rabbinische Meinungen zu dieser. In diesem Sinn kann man sagen, dass es die eine festumrissene Tora nie gab und bis heute nicht gibt. Dennoch gibt es eine Reihe von Regelungen, die in der Außenwahrnehmung des Judentums zu Unterscheidungsmerkmalen von der Umwelt werden, wie etwa Arbeitsruhe am Sabbat, Speisetabus, bes. die Ablehnung von Schweinefleisch, und die Ablehnung der Verehrung anderer Götter.

In den rabbinischen Schriften bewirkt die zentrale Stellung der Tora bisweilen ein Gottesverständnis, das diesen der Tora geradezu unterordnet und anthropomorphe Sichtweisen nicht scheut. So wird z. B. der Tagesablauf Gottes in wie folgt geschildert:

bAZ 3a (Übers. Goldschmidt): R. Jehuda sagte im Namen Rabhs: Zwölf Stunden hat der Tag. In den ersten drei Stunden sitzt der Heilige, gepriesen sei er, und befasst sich mit der Tora; in den anderen sitzt er da und richtet die ganze Welt, und sobald er sieht, dass die Welt sich der Vernichtung schuldig macht, erhebt er sich vom Stuhle des Rechts und setzt sich auf den Stuhl der Barmherzigkeit; in den dritten sitzt er und ernährt die ganze Welt, von den gehörnten Büffeln bis zu den Nissen der Läuse, in den vierten sitzt der Heilige gepriesen sei er, und scherzt mit dem Leviathan, denn es heißt, der Leviathan, den du geschaffen hast, um mit ihm zu spielen (Ps 104,26).

Gott hat einen Tagesablauf, an dessen Anfang das Studium der Tora steht. Die übrige Zeit wendet er auf, um Recht und Barmherzigkeit zu bewirken, die Schöpfung zu erhalten und zu spielen.

Der Begriff Tora erfährt durch die Übersetzung ins Griechische mit „Gesetz“ eine erhebliche Bedeutungsverschiebung. Tora bezeichnet eher einen vielfältigen und differenzierten Diskurs um Geltungsansprüche innerhalb des Judentums, Gesetz hingegen die Gesamtheit der religionsgesetzlichen Regelungen des Judentums. Im antiken Judentum existiert keine normative Festlegung auf eine Gesamtheit der für das Judentum ausschlaggebenden religionsgesetzlichen Regelungen. Vielmehr werden Gehalt und Bedeutung jedes einzelnen Gebotes wie auch die Gesamttatsache Tora kontrovers diskutiert, in den verschiedenen Sondergruppen unterschiedlich bewertet und immer wieder neu bestimmt.

2.7Tempel

Der Jerusalemer Tempel wurde in den Jahren zwischen 520 und 515 v. Chr. als Nachfolgebau für den im Jahr 587 v. Chr. zerstörten ersten, den Salomonischen Tempel errichtet. Er galt als das zentrale und einzige Heiligtum der Bewohner Judäas, eines Gebiets von ca. 40 × 50 km im Umfeld von Jerusalem mit 15.000 bis 25.000 Einwohnern zu dieser Zeit. Den Tempeldienst verrichteten 24 Priesterklassen, die abwechselnd je 14 Tage Tempeldienst zu leisten hatten. Danach kehrten die Priester wieder in ihre übliche Wohnumgebung, meist judäische Bergdörfer, zurück. Nur wenige Priester waren ganzjährig tätig, unter ihnen der Hohepriester. Der Jerusalemer Tempel war durch diese Regelung nicht nur ein Gebäude, sondern auch ein religiöses Sozialsystem, ein Priesternetzwerk.

Im Jahr 169 v. Chr. führte der seleukidische Herrscher Antiochos Epiphanes IV mit der Unterstützung hellenisierter Judäer den Kult des Zeus Olympios im Jerusalemer Tempel ein. Diese stellten dort auch eine Statue des Antiochos auf. Der Aufstand gegen diese und andere Maßnahmen, wie etwa das Verbot der Beschneidung und das Gebot, die Speisegesetze unbeachtet zu lassen, führte zum Aufstand national-judäischer Traditionalisten unter der Führung des Mattathias Makkabäus und seiner fünf Söhne. Die Eroberung des Tempels stellte die Makkabäer vor die Frage, wie sie mit den durch „Frevel“ sakral zerstörten Kulteinrichtungen umgehen sollten. Der Altar wurde niedergerissen und nach den Vorschriften von 1Kön 6 neu errichtet (1Makk 4,36–59; 2Makk 10,1–8; Jos. Ant. 12,316–325). Die Einweihung erfolgte am 25. Kislev und begründet das Fest der Tempelweihe, Chanukka (חנוכה, Wortbedeutung unklar, „Lager am 25.“ oder „Einweihung“) bzw. der „Erneuerung“ (vgl. Joh 10,22). Der Talmud überliefert die Legende von der Entstehung des Festes: Im Tempel sei ein einziger Krug mit reinem Öl gefunden worden, der aber wunderbarerweise acht Tage ausgereicht habe.

bSchabbat 21b (Übers. Goldschmidt): Was bedeutet das Chanukafest? – Die Rabbanan lehrten: Am fünfundzwanzigsten Kislev beginnen die Tage des Chanukafestes; es sind ihrer acht, an denen man keine Trauerfeier abhalten noch fasten darf. Als nämlich die Griechen in den Tempel eindrangen, verunreinigten sie alle Öle, die im Tempel waren. Nachdem die Herrscher des Hauses der Hasmonäer sich ihrer bemächtigt und sie besiegt hatten, suchte man und fand nur ein einziges mit dem Siegel des Hohepriesters versehenes Krüglein mit Öl, das nur so viel enthielt, um einen Tag zu brennen. Aber es geschah ein Wunder, und man brannte davon acht Tage. Im folgenden Jahre bestimmte man, diese Tage mit Lob- und Dankliedern als Festtage zu feiern.

Das Tempelgebäude wurde von Herodes dem Großen in den Jahren ab 20 v. Chr. grundlegend umgestaltet. Aus jüdischer Perspektive ist dieser Neubau aber kein neuer, dritter Tempel, sondern steht sakralrechtlich in Kontinuität zum zweiten Tempel bzw. zu dem von den Makkabäern neu eingeweihten Tempel. Diese sakralrechtliche Komponente kommt darin zum Ausdruck, dass Herodes die Priester alle für den Tempelneubau notwendigen Handwerke erlernen ließ, sodass die Arbeiten am Tempel durch Priester ausgeführt wurden.

Der Tempel war der einzige legitime Ort der kultischen Gottesverehrung und damit des Opferdienstes. Täglich wurden als regelmäßiges Dankopfer, Tamid, zwei einjährige Schafe („Lämmer“) geopfert. Eines am Morgen und eines am Abend als Brandopfer, begleitet von einem Mehl-Öl-Gemisch als Speisopfer und Wein als Trankopfer (Ex 29,38–42; Num 28,3–8).

Num 28,3–5: Und sage ihnen: Das ist das Feueropfer, das ihr dem Herrn darbringen sollt: zwei einjährige Lämmer ohne Fehler, täglich als regelmäßiges (hebr. tamid; תמיד) Brandopfer. (4) Das eine Lamm sollst du am Morgen bereiten, und das zweite Lamm sollst du in der Abenddämmerung bereiten, (5) und als Speisopfer ein zehntel Efa Feinmehl, untergerührt mit einem viertel Hin gestoßenen Öles.

Ex 29,38.45: Und dies sollst du auf dem Altar darbringen: täglich zwei einjährige Lämmer als regelmäßiges (hebr. tamid; תמיד) Opfer. […] (45) Und ich werde mitten unter den Kindern Israels wohnen und ihr Gott sein.

Am Sabbat verdoppelte sich die Zahl der Opfertiere auf vier (Num 28,9 f.), am Monatsanfang wurden zwei Jungstiere, ein Widder und sieben Lämmer ebenfalls begleitet von Speis- und Trankopfern dargebracht (Num 28,11–15). Ein normaler, festfreier Monat von 30 Tagen und 4 Sabbaten erforderte demnach ca. 78 Opfertiere. An den Festtagen erhöhte sich die Zahl der Opfertiere. An der Spitze steht das siebentägige Laubhüttenfest, Sukkot (von hebr. sukka; סכה; „Laubhütte“; vgl. Lev 23,34–43). Der Festkalender in Num 29,12–38 nennt täglich 29 bis 23 Opfertiere (am ersten Tag 13 Jungstiere, zwei Widder und vierzehn einjährige Lämmer). Insgesamt sollen einschließlich des achten Tages mit neun Opfertieren am Sukkot ca. 190 Opferschlachtungen stattfinden. Während die bisher angeführten Opfer Aufgabe des regelhaften Tempeldienstes waren, gab es zusätzlich noch Opfer, die durch Einzelpersonen, Familien und Sippen angeregt wurden.

Die Deutung dieser Opferhandlungen und der mit ihnen verbundenen Mahlgemeinschaften ist nicht ganz einfach. Es geht sicher nicht um die Sättigung Gottes, sondern um die Gemeinschaft mit Gott. Gese hebt die Funktion der Sühne durch das Opfer hervor, die die durch den Menschen verschuldete „Störung des Gottesverhältnisses“ aufhebe und überhaupt erst so die Gemeinschaft Israels mit Gott ermögliche.24 Nur die im Opfer vollzogene Sühne der wissentlichen und unwissentlichen Schuld Israels erlaube die Nähe zu Gott. Marx hingegen stellt den kommunitären Charakter in den Mittelpunkt.25 Das Opfer werde von Gott als Zusage der Mahlgemeinschaft des Gottes Israels mit seinem Volk verstanden. Die Priesterschrift bevorzuge das Opfer mit gemeinschaftlicher Opfermahlzeit (hebr. säbach schelamijm; ). Sie vertrete die Vorstellung, Gott lasse sich zu dieser Mahlgemeinschaft einladen und zeige mit der Annahme der Produkte des Landes seine Verbundenheit mit Volk und Land.

Die Opferhandlung ermöglicht jedenfalls den Zugang und die Nähe zu Gott, wie die Begrifflichkeit für „opfern“ (hebr. qarab; קרב), wörtlich „sich nähern (um zu opfern)“, und Opfer (hebr. qorban; קרבן) für Nähe zu Gott unterstreicht. Das Opfer ist demnach ein kultisches Ritual, das die Präsenz Gottes bei den an diesem Ort versammelten Menschen gewährleistet.

Eine Sonderstellung nimmt das Passahfest ein, weil die Opfertiere dabei nicht von Priestern geschlachtet wurden und die Mahlzeit auch nicht am Tempel stattfand. Die nichtpriesterliche Schlachtung und das sich anschließende gemeinschaftliche Laienmahl hatten keine sühnende Wirkung. In nachexilischer Zeit hatte sich die Regelung durchgesetzt, dass die Passahlämmer, die in den Familien und Gruppen als Festmahl verspeist werden sollten, im Tempel zu schlachten waren (2Chr 35,11). 2Chr 35,7–9 nennt für ein Passahfest zur Zeit Josias insgesamt 37.600 Stück Kleinvieh, Ziegen und Lämmer, und 3.800 Rinder, die geschlachtet wurden. Im 1. Jh. n. Chr. ist damit zu rechnen, dass ein großer Teil der judäischen und galiläischen Bevölkerung zum Passah nach Jerusalem kam, d. h. zumindest einige hundertausend Pilger.26 Die Schlachtungen wurden von Priestern und Leviten überwacht, aber von „Israeliten“ durchgeführt (mPes V,5).

In den einschlägigen Texten von Mischna und Talmud werden die damit verbundenen Vorgänge wie Festbinden der Tiere, Schlachtungen, Auffangen des Blutes, Weitergabe des Blutes zum Altar, Vorrichtungen zum Aufhängen und Abhäuten der Tiere, deren Zerlegung usw. im Detail beschrieben (z. B. bTamid 30a–30b). Der Opferkult und die mit ihm verbundenen Dienstleistungen wie Erwerb der Opfertiere, Vergabe des Priesteranteils von den Opfertieren oder Verwertung von Häuten und Fellen hatten auch eine nicht unerhebliche wirtschaftliche Bedeutung. Der Tempel war ein Großabnehmer für die verschiedenen Opfertierarten, Wein, Öl, Getreide, Weihrauch, Kleidung u. a.27

Es ist wichtig, sich die konkreten Abläufe des Jerusalemer Kultes zu vergegenwärtigen, um die Dimensionen des Geschehens zu verstehen, innerhalb derer dann das Auftreten Jesu (Mk 11,15 f.) und des Paulus (Apg 21,26–22,30) im Tempel einzuordnen ist. Die hier geschilderten Vorgänge unterschieden sich nicht kategorial und grundsätzlich von Vorgängen an vergleichbaren antiken Kultstätten. Der aus heutiger Perspektive offensichtliche Unterschied besteht darin, dass für keine antike Kultstätte auch nur annähernd vergleichbar ausführliche Kultnarrative, Festkalender und religiös-theologische Erörterungen über den Opferkult vorliegen.

Es kommt hinzu, dass im jüdischen Schrifttum die Feste einer Sinnbildung unterliegen, die als Spiritualisierung oder auch Theologisierung bezeichnet werden kann. Der Kult, das Opfer, die Inszenierung der Gemeinschaft und ihre sozialen Strukturen werden intensiv reflektiert, die Kultterminologie wird metaphorisiert und die mit dem Kult verbunden Heilserwartungen werden immer wieder aktualisiert, auf andere Phänomene übertragen und gesteigert. So spricht der qumranische Yahad, der sich vom Jerusalemer Tempelkult abgewendet hat, von einem „Heiligtum aus Menschen“ (hebr. mikdasch adam; ).28 Paulus nennt die Gemeinde einen „Tempel Gottes“, dessen Beschädigung durch falsches Verhalten Gott strafen werde (1Kor 3,16). Der Tod Jesu am Kreuz wird als sühnendes Opfer (Röm 3,24–26) und Jesus als der Hohepriester verstanden, der „nicht durch das Blut von Böcken und Kälbern, sondern mit seinem eigenen Blut […] sich selbst als makelloses Opfer Gott hingegeben“ hat (Hebr 9,11–14).

Im antiken Judentum wird man grob drei Stufen des Umgangs mit Opfer, Kult und Fest benennen können, die Kaiser als Historisierung, Denaturierung und Eschatologisierung bezeichnet.29 Das ursprünglich nomadische Passah, das Schlachten der Lämmer und der Blutritus, wird historisiert, indem es mit einem einmaligen historischen Ereignis, dem Exodus, verbunden wird, und denaturiert, indem es seine Funktionen für die nomadische Gemeinschaft verliert und an die eine und einzige zentrale Kultstätte, den Jerusalemer Tempel, gebunden wird. Das Passah wird zum Erinnerungsfest an die Befreiung aus der Knechtschaft und zugleich an die kultischen Vorstellungen und Interessen der Priesteraristokratie angepasst. Die Zusagen des Kultes und des Festkreises werden durch Metaphorisierung auf andere Sachverhalte übertragen, die die in der Gegenwart ausbleibende Realisierung der Heilserwartung in die eschatologische Endzeit verlagern.

Für die Funktionen am Tempel wurde eine Tempelsteuer in Höhe einer tyrischen Doppeldrachme erhoben. Diese Tempelsteuer wurde auch in der Diaspora eingetrieben. Der Transport des Geldes nach Jerusalem stellte ein Politikum dar, da der Geldabfluss aus den Siedlungsgebieten der Diasporajuden von Nichtjuden bisweilen kritisch bewertet wurde. Cicero berichtet von einem Edikt des Statthalters der römischen Provinz Asia aus dem Jahr 62 v. Chr., das den Export von „Gold der Juden“ (d. i. Tempelsteuer) verboten habe.30 In diesem Zusammenhang erwähnt Cicero auch, dass in Laodikeia zwanzig Pfund Gold eingezogen wurden, was einer jüdischen Bevölkerung in der Gegend um diese Stadt von etwa 10.500 personenrechtlich freien jüdischen Männern entspricht.

Der Jerusalemer Tempel ist das zentrale Heiligtum des Judentums, an dem eine mit dem Volk verbundene Priesterschaft die kultischen Dienste verrichtet. Das tägliche Opfer wie auch die umfangreichen kultischen Handlungen an den Festen unterstreichen die religiöse, soziale, politische, aber auch wirtschaftliche Bedeutung des Tempels. Das Disporajudentum ist durch die Tempelsteuer ebenfalls in die durch den Tempel konstiuierten inneren Beziehungen des antiken Judentums eingebunden. Der Tempel gilt als der Ort, an dem Gott seine Präsenz zugesagt hat. Vor allem diese Vorstellung führt dazu, dass kultische Begriffe metaphorisiert verwendet und auf andere religiös bedeutsame Sachverhalte übertragen werden.

2.8Diaspora

Seit dem babylonischen Exil waren in Mesopotamien und Ägypten zwei Diasporagruppen entstanden. Die nach dem Alexanderzug sich auch über Kleinasien, Syrien und Ägypten ausbreitende hellenistische Weltkultur, das ptolemäische und das seleukidische Reich ermöglichten und förderten zum Teil die Ansiedlung von Judäern außerhalb des judäischen Kerngebietes. Die Forschung beziffert die judäische Bevölkerung in Palästina im 1. Jh. n. Chr. auf etwa 800.000 bis eine Million Einwohner. Philo nennt für Alexandria und Ägypten ebenfalls die Zahl Eine Million und spricht davon, dass etwa ein Viertel der Stadtbevölkerung Alexandrias jüdisch gewesen sei.31 Die Angaben Philos sind wohl übertrieben. Da die Einwohnerzahl Alexandrias in dieser Zeit in der Forschung nur auf etwa 300.000 bis 500.000 geschätzt wird, wären davon ein Viertel doch eher ca. 100.000 Juden. Weiterhin belegen Inschriften und literarische Quellen jüdische Bewohner der an Palästina angrenzenden Provinzen Syrien und Kilikien. Für Kleinasien überliefert Josephus einen Brief des Antiochos III (223–200 v. Chr.), in dem dieser die Anweisung erteilt, „2000 jüdische Haushalte” von Mesopotamien nach Lydien und Phrygien umzusiedeln, ihnen Land zu geben und ihnen die Befolgung ihrer eigenen Gesetze zu erlauben.32 Von diesen 2.000 im 3. Jh. v. Chr. umgesiedelten Familien stammen vermutlich auch die bereits oben genannten ca. 10.500 steuerpflichtigen jüdischen Männer des 1. Jh. v. Chr. ab, die in der Gegend um Laodikeia lebten. Auch Philo erwähnt, dass in Kleinasien und Syrien „Juden in großer Zahl in jeder Stadt“ lebten.33 Weitere Hinweise lassen sich aus Einzelnachrichten entnehmen, wie etwa die Information, dass Herodes der Große Abgaben kilikischer Kleinstädte übernommen habe, oder die Aufzählung judäischer Kolonien (gr. apoikia; ἀποικία) in Pamphylien und Kilikien durch Philo.34 Auf Philo geht auch die Aussage zurück, die Juden Judäas hätten den römischen Statthalter von Syrien gewarnt, dass die Missachtung des jüdischen Religionsgesetzes zu Aufständen der Juden weltweit führen könnte. Sie tragen vor:

Philo, Gai. 215: Wäre es nicht höchst gefährlich, diese Massen (der Juden in Palästina und in der Diaspora) zu Feinden zu machen? Ach, nie geschehe es, dass sie, nachdem sie sich verbündet hätten, von allen Seiten zur Vergeltung vorrückten.

Die zahlreichen literarisch und inschriftlich belegten jüdischen Einzelpersonen und Gemeinden in der Antike lassen sich nur schwer zusammenfassen. Versuche, eine Gesamtzahl zu bestimmen, sind naturgemäß ungenau. Es ist jedenfalls mit einer eher städtisch orientierten Bevölkerung zu rechnen, die sich vor allem im Osten des Mittelmeerraums konzentriert. Wenn man zugrunde legt, dass ca. 20 % der Bevölkerung im Mittelmeerraum in Städten lebten und dass sich die jüdische Bevölkerung außerhalb Palästinas überwiegend ebenfalls in Städten ansiedelte, dann kann man unter Einbeziehung der Zahlen aus Alexandria und Palästina auf einen Bevölkerungsanteil von 2 bis 5 % im römischen Reich kommen. Die Frage, ob dieser große Bevölkerungsanteil allein auf natürliches Bevölkerungswachstum oder auch auf Mission und Ausbreitung des Judentums unter Nichtjuden zurückgehen kann, ist umstritten. Eine organisierte Mission ist nicht nachzuweisen (vgl. Mt 23,15), allerdings ging von den Formen jüdischen Lebens in der Diaspora auch eine Anziehungskraft aus. Josephus berichtet z. B., dass in Antiochien die Synagoge so attraktiv gewesen sei, dass „eine große Menge der Griechen zu ihren (der Juden) Gottesdiensten“ gekommen sei.35

Die Sprache des Diasporajudentums war Griechisch, ihre Bibel die Septuaginta, die aber nicht einfach als Übersetzung galt, sondern selbst als inspirierte Schrift betrachtet wurde.

Aristeasbrief 310: Da gut und fromm und sehr genau übersetzt worden ist, ist es gut, dass sie so erhalten bleibe und keinesfalls eine Überarbeitung erfolge.

Das jüdische Leben der Diaspora kam ohne Opfer aus. Die Nähe zu Gott wurde vor allem in der Befolgung der Tora, ihrer Lesung im Synagogengottesdienst und im Gebet gesucht. Es ist nicht ganz klar, ab wann und auf welche Weise das Synagogengebäude bzw. der Ort der Gebetszusammenkunft als sakraler Ort verstanden wurde. Nach Levine leitet sich die Synagoge aus dem Tor der jüdischen Stadt ab, in dem Recht gesprochen wurde und wo sich die Ältesten versammelten.36 In der Diaspora fiel das Stadttor für die jüdische Minderheit als Versammlungsort aus. Die Synagoge trat an ihre Stelle als soziales und rechtliches Zentrum. Die religiöse Funktion als Ort des Gottesdienstes und Gebets habe sich später etabliert und die Vorstellung der Sakralität der Synagoge sei erst durch die Präsenz der Torarolle entstanden, deren Heiligkeit auf das jeweilige Gebäude übertragen worden sei.

Andere Theorien leiten hingegen die Synagoge als Gebetsstätte aus der ägyptischen Diaspora ab, die das Vorbild aus ihrer Umwelt übernommen habe, und betonen den ursprünglich religiösen Charakter. Das Zentrum jüdischen Lebens in der Diaspora stellte jedenfalls die Synagogengemeinschaft dar, die sich als „Personengemeinschaft“ (gr. politeuma; πολίτευμα) versteht und sich an einem Ort versammelt, der im Griechischen meist mit „Gebetsstätte“ (gr. proseuche; προσευχή) bezeichnet wird. Im ersten Jahrhundert n. Chr. existierten in der Diaspora bereits einige repräsentative Synagogengebäude. Oft wurden jedoch Privathäuser für die Synagogenversammlung genutzt. Das Bild, das Lk 4,16–30 von der Synagoge in Nazareth zeichnet, scheint hingegen unhistorisch zu sein. Lukas überträgt die Verhältnisse der Diaspora der Jahre 80–90 n. Chr. auf das Galiläa der 30er Jahre. Im Nahbereich des Jerusalemer Tempels, d. h. in Judäa, sind Gebäude, die als Synagogen interpretiert werden können, nur für jüdische Sondergruppen belegt. Erst nach der Tempelzerstörung entstehen in größerem Ausmaß auch Synagogengebäude in Judäa und besonders in Galiläa.

Das Judentum hatte sich ab dem sechsten Jahrhundert v. Chr. über andere Länder verteilt. Dieses sogenannte Diasporajudentum blieb an die Zentren jüdischen Selbstverständnisses in Palästina, besonders an die Stadt Jerusalem und den Tempel, rückgebunden. Es brachte aber auch eigenständige religiöse und kulturelle Institutionen hervor, wie etwa die Synagoge, die Tempelsteuer, Bibelübersetzungen, religiöse Literatur in Griechisch und die Auseinandersetzung mit hellenistischen Denk- und Lebensweisen.

2.9Sondergruppen

Die religiösen Sondergruppen haben sich im Zuge eines Prozesses der inneren Diversifizierung des Judentums des Zweiten Tempels gebildet. Pharisäer, Sadduzäer, Essener und weitere Gruppierungen werden von Josephus als Sekten oder Sondergruppen (gr. hairesis; αἵρεσις) des Judentums und ihre Mitglieder als Sektierer, Anhänger (gr. hairetistai; αἱρετισταί) bezeichnet.37 Philo macht uns mit zwei Gruppierungen vertraut, die sich ebenfalls als Sondergruppen von der Mehrheit abgrenzen. Er nennt zum einen die Essaier oder Essener (gr. Essaioi; Ἐσσαίοι), die eine praktische und aktive Lebensführung bevorzugen, und zum anderen die „Therapeuten und Therapeutinnen“ (gr. therapeutai; θεραπευταί), die sich gemäß ihrer „Lebensweise als Philosophen“ mit dem beschaulichen Leben (gr. theoria; θεωρία) befassen.38

In den Textfunden von Qumran begegnet eine Klasse von Texten, die eine weitere Sondergruppe vorstellt, die sich als „Gemeinschaft“ (hebr. yahad; יחד) in Abgrenzung von der Mehrheit des judäischen Judentums versteht.39 Vor diesem Hintergrund jüdischer Sondergruppen sind auch die Gemeinschaften der ersten Christusanhänger zu verstehen, die vom Apostel Paulus in seinen Briefen als „Versammlung“ (gr. ekklesia; ἐκκλησία), „Versammlung Gottes“ oder „Versammlung Christi“ angesprochen werden (Phil 4,15; 1Kor 1,2; Röm 16,16). Unter diesen Gemeinschaften nehmen die von Paulus, dem Apostel der Völker, gegründeten Gemeinden als „Versammlungen der (nichtjüdischen) Völker“ wiederum eine Sonderstellung ein.40

Für die nähere Charakterisierung der religiösen Überzeugungen dieser Gruppen folge ich zunächst dem Schema, das Neusner entwickelt hat.41 Er beschreibt die Gruppen nach den Kriterien: soziale Zugehörigkeit, Binnenstruktur, sozialer Ort und Toraverständnis. Man kann erkennen, dass das Toraverständnis hier zum zentralen Kriterium bezüglich der religiösen Überzeugungen dieser Gruppen wird.

Tab. 1: Gruppen im Judentum zur Zeit Jesu


Schließlich wirkt auf die Binnenkommunikation des antiken Judentums auch das weitere soziale, kulturelle und politische Umfeld ein. Als nichtjüdische Ethnien in Judäa, Samaria und Galiläa sind zu nennen: Samaritaner (religiös definierte Ethnie); Samarier (Bewohner von Samaria); „Syrer“ (nichtjüdische Einwohner überwiegend in den Küstenstädten Caesarea, Tyrus, Sidon); Römer (Mitglieder der röm. Administration, Kaufleute, Soldaten) und „Griechen“ oftmals synonym mit „Syrer“ (Angehörige der hellenisierten Stadtbevölkerung).

Neusner konzentriert sich auf das Toraverständnis der oben genannten vier Gruppen. Eine nähere Untersuchung muss noch weitere Gesichtspunkte heranziehen, um der Vielfalt von Sondergruppen gerecht zu werden. Nach Cohen beginnt mit der Zeit der Makkabäer und damit ab Mitte des 2. Jh. v. Chr. ein Prozess der Diversifizierung des Judentums, die er mit dem positiv konnotierten Begriff der „Demokratisierung der Religion“ näher kennzeichnet.42 Diese Sondergruppen grenzten sich von der Mehrheitsgemeinschaft des Judentums ab, ohne sich von dieser zu trennen. Vielmehr verstanden sie sich als elitäre Gruppen, in denen das Selbstverständnis der Mehrheitsgruppe besonders angemessen zum Ausdruck käme. Cohen schlägt folgende Definition vor:

„Eine religiöse Sondergruppe („sect“) ist eine kleine organisierte Gruppe, die sich selbst von der größeren religiösen Gemeinschaft abgrenzt und die Behauptung vertritt, dass sie alleine die Ideale der größeren Gruppe verkörpere, weil nur sie alleine den Willen Gottes verstehe.“43

In dieser Definition wird die religiöse Sondergruppe als eine Gemeinschaft definiert, die eine spannungsvolle Beziehung zur Mehrheitsgruppe aufrechterhält. Sie repräsentiert die Ideale, die eigentlich von allen wahrgenommen werden sollten, und folgt damit alleine dem Willen Gottes, womit ein bestimmtes Toraverständnis miteingeschlossen ist. Auf dieser Basis wird näherhin diskutiert, welche bestimmten Elemente zur Abgrenzung und welche zur Aufrechterhaltung der Beziehung zur Mehrheitsgruppe geeignet sind. Lim nennt in seinen Überlegungen zur Sondergruppenmatrix („sectarian matrix“) folgende Sachverhalte, die die Identität einer Sondergruppe innerhalb der weiten Grenzen des Judentums des Zweiten Tempels bestimmen: Trennung von der Mehrheit, besondere religiöse und ethische Überzeugungen, die Hervorhebung bestimmter biblischer Texte, zusätzliche religiöse Praktiken und Rituale.44 Vor diesem religionssoziologischen Hintergrund, der die ekklesia, d. h. die Sondergruppe der Christusanhänger im Kontext der jüdischen Sondergruppen des Judentums des Zweiten Tempels, versteht, sind auch die paulinischen Gemeinden zu analysieren. Diese kann man aufgrund einer ihrer exklusiven Besonderheiten, der Bereitschaft Nichtjuden aufzunehmen, ja geradezu anzuwerben, als Konversionsgruppe („conversionist group“) bezeichnen.45

Die Entwicklung des frühen Christentums ist nun nicht so vorzustellen, dass das antike Judentum zwar auf Jesus von Nazareth oder die erste Gemeinde eingewirkt habe, nach dem Auftreten Jesu aber eine christlich-neutestamentliche Binnenentwicklung eingesetzt habe. Ein solches Bild vermittelt z. B. Schnelle, wenn er behauptet, „dass Jesus einen ungeheuren Anspruch für seine Person erhoben hat, der von keinem Juden vor und nach ihm so gestellt wurde“.46

Der historische Gehalt dieser Aussage, dass kein Jude vor und nach Jesus solch hohe Ansprüche vertreten hätte, ist leicht zu widerlegen. Das Judentum kennt messianische Figuren wie z. B. Simon Bar Kochba (bis 135) oder Sabbatai Zwi (1626–1676), die sich im Gegensatz zu Jesus selbst als Messiasse proklamierten. Außerdem brachte es weitere herausragende religiöse Persönlichkeiten hervor. So wird vom Begründer des neuzeitlichen Chassidismus Israel Ben Eliezer, auch bekannt als Baal Schem Tov (ca. 1700–1760), und seinen Nachfolgern berichtet, dass ihnen die Dämonen untertan waren. Zudem bewirkten sie durch die mystische Verschmelzung mit Gott die Erlösung der Seelen ihrer Anhänger nach dem Tod und sicherten durch die Kraft ihrer eigenen Seelen den Bestand aller sieben Firmamente.47

Wichtiger als diese historische Relativierung der Aussage Schnelles in Blick auf das Judentum ist es aber, dem Eindruck entgegenzutreten, dass mit Jesus von Nazareth eine vom Judentum weitgehend abgeschottete eigenständige Entwicklung des Christentums begonnen habe. Jesus hätte demnach durch seinen „ungeheuren Anspruch“ eine implizite Christologie zum Ausdruck gebracht, die die „frühchristliche Theologiebildung“ durch Transformationen bis zu einer vollendeten Gestalt der „Jesus-Christus-Geschichte“ im Johannesevangelium entwickelt hätte.48 Eine solche im Kern autonome Entwicklung der Christologie bzw. Theologie des Neuen Testaments ist aber unwahrscheinlich. Vielmehr ist es so, dass jede Phase der neutestamentlichen und frühchristlichen Entwicklung zu den verschiedenen Formen des antiken Judentums in der jeweiligen historischen Epoche und geographischen Lage weiterhin unmittelbar und grundlegend in Beziehung steht. Die Jesusgemeinschaften werden demnach von den vielfältigen Formen des antiken Judentums auch nach Kreuz und Auferstehung Jesu weiterhin maßgeblich beeinflusst.

Etwa ab Mitte des 2. Jh. v. Chr. entstehen jüdische Sondergruppen, die sich zwar nicht vom Mehrheitsjudentum vollständig abspalten, aber doch die Vorstellung vertreten, dass sie die Ideale des Judentums am besten repräsentieren. Wichtige Formen und Bereiche, in denen Eigenständigkeit zum Ausdruck gebracht wird, sind: Separierung, besondere ethische Überzeugungen, Konzentration auf einige wenige biblische Aussagen, zusätzliche religiöse Praktiken und Rituale. Die ersten Gemeinschaften der Jesusanhänger sind ebenfalls als jüdische Sondergruppen zu verstehen.

2.10Ergebnis und Ausblick

Eine Theologie des Neuen Testaments kann nicht darauf verzichten eine Sicht des Judentums zu entwickeln, da die Autoren der neutestamentlichen Schriften und deren Gemeinden zu diesem in enger Beziehung standen. Sie wird auch reflektieren, welche Formen und Anschauungen des antiken Judentums jeweils in den einzelnen neutestamentlichen Schriften aufgenommen und thematisiert werden. Die Entstehung der neutestamentlichen Schriften ist nicht nur Ausdruck einer inneren Entwicklung des entstehenden Christentums, sondern auch Ergebnis der Auseinandersetzung mit Anschauungen, die von verschiedenen Gruppen des antiken Judentums vertreten werden. Jesus und Paulus stehen vor den Fragen, die sich das Judentum des Zweiten Tempels stellt. Das Matthäusevangelium ringt mit dem pharisäischrabbinischen Judentum gegen Ende des 1. Jahrhunderts. Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte reflektieren die Haltungen des hellenistischen Diasporajudentums dieser Zeit. Die Johannesoffenbarung ist von den Sichtweisen des kleinasiatischen Judentums geprägt.

Es ist deswegen unangemessen, dem antiken Judentum ein Defizit nachweisen zu wollen, für das Jesus, Paulus oder das frühe Christentum insgesamt die Lösung angeboten hätten. Eine solche Sichtweise klingt an, wenn Theißen das Judentum als „rituelle Religion“ bezeichnet, die Jesus „revitalisiert“, ja „neu belebt“ habe, als ob das Judentum zur Zeit Jesu nicht genau das war: vital und lebendig.49

Die Dynamik der Entwicklung wird vielmehr von Räisänen richtig beschrieben: Zur Zeit Jesu teilten viele im Judentum die Erwartung einer „großen Wende“.50 Die Diskrepanz zwischen den Aussagen über Israel, den Tempel und das Volk der Gerechten Gottes etwa in Ps 146–150 und der politischen und sozialen Realität der Juden in Judäa und Samaria verbunden mit der Erwartung einer Rückkehr der weltweiten Diaspora führte immer wieder zu religiös-ethnisch motivierten politischen Konflikten. Diese Konflikte können als Ausdruck der Vitalität und Lebendigkeit des antiken Judentums verstanden werden und bilden den Rahmen für religiös-politische Kontroversen, die auch im Neuen Testament thematisiert sind (Mk 6,14–16; Lk 13,1 f.; 23,5.25; Joh 19,12; Apg 5,36 f.; 21,38).

Die Lebendigkeit und Vielfalt des antiken Judentums wirken sich auch auf die Ausbildung der Christologie aus. Dunn hebt hervor, dass die frühe Christologie „mit der Reflexion der Gottesvorstellungen des Judentums des Zweiten Tempels übereinstimmt und zu ihr gehört“.51 Es ist sinnvoll, diesen Gedanken nicht auf die Anfänge zu beschränken, sondern auf die weitere christologische Entwicklung auszuweiten. Die Christologie ist Ausdruck der energischen Auseinandersetzung um die Frage, in welcher Beziehung Gott zu Israel und zur Menschheit steht.52

Dabei ist zu beachten, dass im antiken Judentum die Dezentrierung der monotheistischen Gottesvorstellung bereits weit fortgeschritten ist. Dezentrierung bezeichnet den Vorgang der Ausweitung der Gottesvorstellung von der einen Figur des handelnden und richtenden Gottes auf eine Vielfalt von räumlich und figürlich vorgestellten Handlungsräumen und -trägern des göttlichen Willens.53 Je transzendenter Gott selbst vorgestellt wird, desto zahlreicher werden die Vermittlungsinstanzen, die seinen Willen und seine Macht erfahrbar machen. Die räumlichen Vorstellungen über den Thronsaal Gottes und das himmlische Heiligtum waren zur Zeit Jesu bereits weit entwickelt. Dort begegnen himmlische Heerscharen, Engel, Erzengel und der Engel des Herrn. Die Sabbatopferlieder (4Q 400–407; 11Q17) stellen einen himmlischen Gottesdienst vor, der kosmische Dimensionen erreicht. In der aus diesen Texten zu erschließenden Liturgie verschmelzen die himmlische und die irdische Welt im Gottesdienst. Diese Hymnen berichten vom Zusammenströmen von Priestern und Engeln, gottähnlichen Wesen (hebr. elohim und elim) und weiteren Figuren unter der „Anweisung des Königs“.54

Die Dezentrierung der Gottesvorstellung war im antiken Judentum in vollem Gang. Sie entwickelte sich während der Entstehung der neutestamentlichen Schriften weiter, ohne allerdings die Entscheidung des frühen Christentum zu übernehmen, dass der galiläische Jude Jesus von Nazareth nach seinem schmählichen Kreuzestod in diesen Thronraum Gottes erhöht worden sei und dort eine hervorragende Machtstellung „zur Rechten Gottes“ einnehme (Rezeption von Ps 110,1 in Röm 8,34; 1Kor 15,25; Eph 1,20; Kol 3,1).

Diese Entscheidung, Jesus von Nazareth als wesentlichen Bestandteil des Thronraums Gottes, der als Macht- und Willenszentrum Gottes galt, zu verstehen, führt zu weiteren theologischen Reflexionen über Grundüberzeugungen des Judentums des Zweiten Tempels. Wright verweist etwa darauf, dass die Vorstellung der Rechtfertigung als Reflexion des Paulus über den Ort der Tora im bundestheologischen Denken zu interpretieren sei, „das Paulus kannte und als Basis seines fortdauernden Dialogs mit dem Judentum voraussetzte“.55

Wenn es ein „Problem“ gab, auf das das antike Judentum keine angemessene Antwort gefunden hat – eine solche Fragestellung verbindet historische und normative Gesichtspunkte – dann wird man am ehesten davon sprechen können, dass das Judentum für Nichtjuden keine angemessene Stellung gefunden habe.56 Die Bedeutung der Nichtjuden für den Gott Israels und für das Judentum blieb eine offene Frage, deren Beantwortung zwar im Judentum selbst nicht als dringlich empfunden wurde, die aber dennoch auf eine überzeugende Antwort wartete.

Literatur

Ådna, Jostein: Jerusalemer Tempel und Tempelmarkt im 1. Jahrhundert n. Chr., Wiesbaden 1999 (ADPV 25).

Austermann, Frank: Von der Tora zum Nomos. Untersuchungen zur Übersetzungsweise und Interpretation im Septuaginta-Psalter, Göttingen 2003 (AAWG.PH 3,257).

Belayche, Nicole: Iudaea – Palaestina. The Pagan Cults in Roman Palestine, Tübingen 2001 (RRP 1).

Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus 3, München 2010.

Bormann, Lukas: Diversity by Rewriting. The Divine Characteristics as Part of the Identity Concept of Jewish Groups in Second Temple Judaism, in: Antti Laato/Jacques Van Ruiten (Hg.), Rewritten Bible Reconsidered, Winona Lake 2008 (SRB 1), 103–123.

Ders.: Jüdische oder römische Perspektive? Neue Studien zum römisch dominierten Judäa – Ein kritischer Literaturbericht, in: ZRGG 61 (2009), 105–123.

Ders.: Die neuere Monotheismusdebatte aus theologischer Sicht, in: ders. (Hg.), Schöpfung, Monotheismus und fremde Religionen. Studien zu Inklusion und Exklusion in den biblischen Schöpfungsvorstellungen, Neukirchen-Vluyn 2008 (BThSt 95), 1–35.

Boyarin, Daniel: A Radical Jew. Paul and the Politics of Identity, Berkeley 1994.

Buber, Martin: Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 2006.

Cohen, Shaye J.D.: From the Maccabees to the Mishnah, Philadelphia 1987.

Dahmen, Ulrich: Psalmen- und Psalter-Rezeption im Frühjudentum. Rekonstruktion, Textbestand, Struktur und Pragmatik der Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran, Leiden 2003 (STDJ 49).

Davidson, Maxwell J.: Angels at Qumran. A Comparative Study of 1 Enoch 1–36, 72–108 and Sectarian Writings from Qumran, Sheffield 1992 (JSPES 11).

Dunn, James D.G.: New Testament Theology. An Introduction, Nashville 2009.

Fishbane, Michael (Hg.): The Midrash Imagination. Jewish Exegesis, Thought, and History, New York 1993.

Freedman, David N.: The Unity of the Hebrew Bible, Ann Arbor 1991.

García López, Félix: Art. תורה torah, in: ThWAT 8 (1995), 597–637.

Gese, Hartmut: Die Sühne, in: ders., Zur biblischen Theologie, Tübingen ³1989, 85–106.

Grözinger, Karl E.: Jüdisches Denken 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus, Frankfurt 2005.

Jeremias, Jörg: Theologie des Alten Testaments, Göttingen 2015.

Kaiser, Otto: Der Gott des Alten Testaments. Theologie des Alten Testaments 1, Göttingen1993.

Krauter, Stefan: Bürgerrecht und Kultteilnahme. Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum, Berlin/New York 2004 (BZNW 127).

Levine, Lee I.: The Ancient Synagogue. The First Thousand Years, New Haven 2000.

Lim, Timothy H.: Towards a Description of the Sectarian Matrix, in: Florentino García Martínez (Hg.): Echoes from the Caves. Qumran and the New Testament, Leiden 2009 (STDJ 85), 7–31.

Mach, Michael: Concepts of Jewish Monotheism in the Hellenistic Period, in: Carey C. Newman (Hg.), The Jewish Roots of Christological Monotheism, Leiden 1999 (JSJ.S 63), 21–42.

Marx, Alfred: Le système sacrificiel de P et la formation du pentateuque, in: Thomas Römer (Hg.), The Books of Leviticus and Numbers, Leuven 2008 (BETL 215), 285–303.

Mason, Steve: Introduction to the Judean Antiquities, in: Louis H. Feldman, Judean Antiquities. Books 1–4, Translation and Commentary, Leiden 2000, XIII–XXXVI.

Ders.: Jews, Judaeans, Judaizing, Judaism. Problems of Categorization in Ancient History, JSJ 38 (2007), 457–512.

Neusner, Jacob: The Idea of History in Rabbinic Judaism, Leiden/Boston ²2004.

Ders.: Judentum in frühchristlicher Zeit, Stuttgart 1988.

Newman, Carey C. (Hg.): The Jewish Roots of Christological Monotheism, Leiden 1999 (JSJ.S 63).

Niebuhr, Karl-Wilhelm: Heidenapostel aus Israel. Die jüdische Identität des Paulus nach ihrer Darstellung in seinen Briefen, Tübingen 1992 (WUNT 62).

Räisänen, Heikki: The Rise of Christian Beliefs. The Thought World of Early Christians, Minneapolis 2010.

Regev, Eyal: Temple and Righteousness in Qumran and Early Christianity. Tracing the Social Difference between the Two Movements, in: Ruth Clements (Hg.), Text, Thought, and Practice in Qumran and Early Christianity, Leiden 2009 (STDJ 84), 63–83.

Sauer, Georg: Jesus Sirach (Ben Sira), Gütersloh 1981 (JSHRZ 3/5).

Schnelle, Udo: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen ²2014.

Schofield, Alison: From Qumran to the Yahad. A New Paradigm of Textual Development for the Community Rule, Leiden 2009 (STDJ 77).

Spieckermann, Hermann: Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen, Göttingen 1989 (FRLANT 148).

Sterling, Gregory E.: The Jewish Appropriation of Hellenistic Historiography, in: John Marincola (Hg.), A Companion to Greek and Roman Historiography, Bd. 1., Oxford 2008, 231–243.

Stuckenbruck, Loren T. (Hg.): Early Jewish and Christian Monotheism, London 2004 (JSNTS 263).

Taylor, Joan E.: Jewish Women Philosophers of First-Century Alexandria. Philo’s „Therapeutae” Reconsidered, Oxford 2003.

Theißen, Gerd: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh ³2003.

Tiwald, Markus: Das Frühjudentum und die Anfänge des Christentums, Stuttgart 2015 (BWANT 208).

Wick, Peter: Das antike Judentum, in: Lukas Bormann (Hg.), Neues Testament. Zentrale Themen, Neukirchen-Vluyn 2014, 5–25.

Wright, Nicholas T.: Rechtfertigung. Gottes Plan und die Sicht des Paulus, Münster 2015.

____________________

1Benz, Handbuch des Antisemitismus 3, 20.

2Wick, Antikes Judentum, 7–10.

3Mason, Jews, Judaeans, Judaizing, Judaism, 484–489.

4Cohen, From the Maccabees to the Mishnah, 160 f.

5Niebuhr, Heidenapostel aus Israel, 21–24.

6Die Umschrift des hebräischen Jods mit „y“ bei yahad für יחד und nicht mit „j“ wie etwa im Tetragramm JHWH folgt dem angelsäschsischen Sprachgebrauch, der sich für diesen Begriff auch in der deutschsprachigen Fachliteratur eingebürgert hat.

7Plato Gorg. 523b: δικαίως καὶ ὁσίως.

8Krauter, Bürgerrecht und Kultteilnahme, 332 f.

9Bormann, Diversity by Rewriting, 105–113.

10Spieckermann, Heilsgegenwart, 291. Ähnlich Jeremias, Theologie des Alten Testaments, 290 f.

11Vgl. Dtn 4,31; 2Chr 30,9; Neh 9,17.31; Ps 86,15; 103,8; Joel 2,13; Jon 4,2; Mi 7,18 f.; vgl. Nah 1,2.

12Sauer, Jesus Sirach, 490.

13Dahmen, Psalmen- und Psalter-Rezeption, 17.

14Die Zahl für 3600 Psalmen kommt vermutlich über je 150 Psalmen für jede der 24 Priesterklassen zustande, die Zahl 450 für Lieder in etwa über den kultischen Jahresablauf, d. h. 364 für das tägliche Dankopfer (Tamid), 52 für das Sabbatopfer, 30 weitere für die Neumondfeste, die Festversammlungen und den Versöhnungstag und einige weitere evtl. für den Schaltmonat.

15Fishbane, Midrash Imagination, 17–19.

16Philo Opif. 21; 119; 133.

17Philo Migr. 18; 21; 39.

18Freedman, Unity of the Hebrew Bible, 6–15.

19Sterling, Jewish Appropriation of Hellenistic Historiography, 241 f.

20Freedman, Unity of the Hebrew Bible, 14.

21Neusner, Idea of History in Rabbinic Judaism, 23.

22Austermann, Von der Tora zum Nomos, 203.

23García López, Art. תורה torah, 601.

24Gese, Sühne, 87.

25Marx, Le système sacrificiel de P, 297.

26Jos. Bell. 2,280 spricht von 3 Millionen Pilgern, die an einem Passah während der Statthalterschaft des Cestius Gallus (63–67 n. Chr.) in Jerusalem versammelt waren (vgl. Bell. 6,420–427). Das ist sicher übertrieben, aber selbst 300.000 oder gar nur 30.000 wären bereits gewaltige Zahlen.

27Ådna, Jerusalemer Tempel, 145–148.

284Q174 Kol. III 6; vgl. 1QS VIII 5 u. IX 6.

29Kaiser, Gott des Alten Testaments 1, 318.

30Cicero, Flacc. 28.

31Philo Flacc. 43.

32Jos. Ant. 12,148–153.

33Philo Legat. 245.

34Jos. Bell. 1,428; Philo Legat. 281.

35Jos. Bell. 7,45.

36Levine, Ancient Synagogue, 41.

37Jos. Bell. 2,118–119; Ant. 13,371–373; 18,10–23. Vgl. Mason, Introduction, XXXI.

38Philo Contempl. 1–2. Vgl. Taylor, Jewish Women Philosophers.

394Q255 (= 1QS): Buch der Regel der Gemeinschaft (hebr. sepher serech hayahad; ספר סרך היחד). Vgl. Schofield, From Qumran to the Yahad, 217 f.

40Röm 16,4. Daneben unterscheidet Paulus im Rahmen seiner Briefkommunikation die Versammlungen auch nach geographischen Gesichtspunkten, z. B. die „Versammlung der Thessalonicher“ (1 Thess 1,1) oder die „Versammlungen Galatiens“ (Gal 1,2).

41Neusner, Judentum in frühchristlicher Zeit, 26–30.

42Cohen, From the Maccabees to the Mishnah, 160.

43Cohen, From the Maccabees to the Mishnah, 125.

44Lim, Description of the Sectarian Matrix, 7 f.

45Regev, Temple and Righteousness, 81.

46Schnelle, Theologie, 136.

47Buber, Erzählungen der Chassidim, 15–110; Grözinger, Jüdisches Denken 2, 709–753.

48Schnelle, Theologie, 707.

49Theißen, Religion der ersten Christen, 59 u. 62.

50Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 83–86.

51Dunn, New Testament Theology, 68.

52Mach, Concepts of Jewish Monotheism, 24 f.; Stuckenbruck (Hg.), Early Jewish and Christian Monotheism, 2.

53Bormann, Monotheismusdebatte, 30–34.

54Davidson, Angels at Qumran, 247–253.

55Wright, Rechtfertigung, 62.

56Boyarin, A Radical Jew, 51 f.

Theologie des Neuen Testaments

Подняться наверх