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Es war das einzige der fünf Fotos gewesen, auf denen Regentropfen einen Großteil bedeckten und wie überbelichtete Kreise wirkten. Gisela hatte ihren Blick nicht mehr davon wenden können, während Walter vergeblich und wenig überzeugend versucht hatte, das angebliche Gesicht darin als ›reine Einbildung und Fantasie‹ abzutun. »Das ist, wie wenn du in Wolken schaust und dein Gehirn daraus seltsame Gebilde formt, die es in Wirklichkeit nicht gibt«, hatte er auf unterschiedliche Weise mehrfach betont, als das Unwetter längst abgeklungen war.

Auch Sven, der als analytischer Denker nichts von angeblich unerklärlichen Phänomenen hielt, hatte den Gelassenen gemimt und seiner Mutter geraten: »Schlaf erst mal drüber. Morgen sieht alles wieder anders aus.«

Doch Gisela hatte sich während der Diskussion, die erst lange nach Mitternacht beendet war, nicht von dem abbringen lassen, was sie zu sehen glaubte. »Ich hab über viele Fälle gelesen, bei denen sich Verstorbene auf eine solche Weise gezeigt haben. Du brauchst nur mal im Internet nachzuschauen …«

»Im Internet«, war ihr Sven über den Mund gefahren. »Da wirst du zu jedem Unsinn etwas finden, das dich bei jedem irgendwie gearteteten Phänomen bestätigt.«

»Ich hab schon Leute getroffen, die so etwas selbst erlebt haben«, hatte sie gekontert.

Jetzt, nach einer kurzen, nahezu schlaflosen Nacht und beim Frühstück mit Walter, wirkte sie genauso aufgewühlt wie gegen ein Uhr, als Sven und Sylvia nach Hause gefahren waren.

Gisela hatte sich von ihrer Schwiegertochter das besagte Foto auf ihr eigenes Smartphone schicken lassen, das sie nun auf dem Frühstückstisch liegen hatte.

Walter war von ihrem ungebrochenen Interesse an dem Bild, das sie mit streichenden Fingerbewegungen auf dem Display erscheinen ließ, wenig angetan. »Bitte, Gisela«, sagte er beschwörend und sah nervös auf die Uhr, »glaub jetzt nicht an irgendwelchen Hokuspokus. Viel wichtiger ist mir, dass wir da oben Ordnung schaffen. Wir müssen das Zimmer trocken legen und das nasse Zeug wegschaffen.«

»Und dringend ein neues Fenster bestellen«, erwiderte sie, ohne den Blick von dem Foto zu nehmen.

»Ich werde ein paar Handwerker anrufen«, entschied Walter. »Und die Versicherung. Ich denke, dass so ein Unwetterschaden versichert ist.«

Gisela blickte auf. »Du weißt aber, dass da oben viele Dinge von Siegfried sind.«

Er nickte nachdenklich und musste sich eingestehen, seit dem Tode seines Bruders kaum etwas angerührt zu haben. »Ich werde nach dem Rechten sehen«, sagte er kühl.

»Und wie verhältst du dich mit dem Ulmer Münster?«

Er hatte in der vergangenen Nacht lange genug wachgelegen, um darüber nachzudenken. Sven hatte sich angeboten, mit ihm gemeinsam hochzusteigen. Doch diesen Vorschlag hatte er strikt abgelehnt, schließlich sei er allein in der Lage, diese Situation zu meistern. »Außerdem wird mir am helllichten Tag da oben nichts passieren«, hatte Walter hartnäckig und eigensinnig betont, obwohl ihm Gisela und Sylvia dringend davon abgeraten hatten.

»Natürlich geh ich hin«, blieb er auch jetzt nach dem Frühstück entschlossen. Es war halb acht, und in zwei Stunden musste er in Ulm sein.

Wie bei seiner nächtlichen Grübelei kam ihm wieder sein Revolver in den Sinn, den er vor vielen Jahren von einem etwas zwielichtigen Geschäftsfreund erhalten hatte. »Für alle Fälle«, hatte dieser damals gesagt. Die Worte waren Walter Temming bis heute nicht aus dem Sinn gegangen. Er hatte die Waffe zum Leidwesen von Gisela entgegengenommen, ihr aber versprechen müssen, sie im Keller aufzubewahren. Seither lag die schwere Waffe, die sogar mit Zielfernrohr ausgestattet war, in einer Schachtel, irgendwo bei den verstaubten Akten. Samt ein paar Schuss Munition. Allerdings hatte er nie damit geschossen und auch keine Ahnung, ob die Waffe überhaupt funktionierte.

Er hätte auch nicht gedacht, dass er sie jemals brauchen würde. Denn dass er sie gar nicht besitzen, geschweige denn damit hantieren durfte, war ihm klar. Somit wäre es äußerst riskant, sie mit auf das Ulmer Münster zu nehmen.

»Ich besorg mir vorsichtshalber schnell ein Pfefferspray«, sagte er schließlich.

»Aber was versprichst du dir von dem Treffen mit dem E-Mail-Schreiber?«, fragte Gisela, die noch immer das Bild auf dem Smartphone-Display vor sich hatte.

»Er schreibt doch, dass er kein Geld will«, erinnerte Temming an den Inhalt der E-Mail, als sei dies für ihn beruhigend. »Er will nur, dass ich Reue und Buße zeige.« Temming quälte sich ein verächtliches Lächeln ab. »Aber du darfst mir glauben, dass ich nicht erwarte, dass Siegfried leibhaftig vor mir steht.« Seine Stimme verriet Unsicherheit.

»Ich fühl mich nicht wohl dabei«, gestand seine Frau. »Vielleicht lässt du dich mit einer Sache ein, die du nicht mehr loswirst.«

»Du meinst wohl: die Geister, die ich rief – frei nach Goethes Zauberlehrling«, entgegnete Temming und schmunzelte: »Da ging’s übrigens auch um viel Wasser, wie bei uns da oben.«

Gisela wusste mit dieser Bemerkung nichts anzufangen, wollte auch keine Hintergründe dazu wissen. Ihr war nicht nach einer Lehrstunde zur deutschen Literatur.

»Du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen«, sagte sie stattdessen.

»Ich schlag vor, du kümmerst dich um Handwerker«, blieb Temming sachlich, »und ich erledige das auf dem Münsterturm.«

Wieder starrte Gisela auf das Foto. »Aber du wirst mir doch zugestehen, dass man in diesem runden Klecks im Bild deinen Bruder erkennen könnte.«

»Könnte, könnte«, echote Temming genervt. »Wie Sven dir heut Nacht doch hundertmal erklärt hat, kannst du in so ein trübes Mischmasch aus Formen und Linien, Spiegelungen und Reflexionen alles Mögliche reininterpretieren – und wenn du einmal geglaubt hast, etwas zu sehen, das dir bekannt vorkommt, wirst du es bei jedem Blick darauf wieder meinen.«

»Aber du warst doch selbst für einen kurzen Moment irritiert.«

»Irritiert nur, weil du so hysterisch reagiert hast.«

Gisela ließ sich nicht so schnell von etwas abbringen. »Walter, du willst dir nicht eingestehen, dass hier etwas Seltsames vorgeht. Die Briefe, der Schlüsselanhänger – merkwürdige Botschaften, die Forderung nach Reue und Buße. Das ist doch nicht normal. Wenn einer Kapital aus allem schlagen wollte, würde er dich erpressen, eine konkrete Geldforderung stellen, verstehst du? Was weiß ich, was der Absender von dir auf dem Ulmer Münster will.« Sie konnte ihren emotionalen Ausbruch kaum unter Kontrolle bringen, weshalb sie aussprach, was sie eigentlich nicht sagen wollte: »Er verlangt Buße und Reue. Vielleicht … vielleicht …« Sie kämpfte mit den Tränen. »Will er dich runterwerfen – vom Turm.«

»Ich bitt dich!«, gab sich Walter empört, obwohl er vergangene Nacht auch an so etwas gedacht hatte. Aber er wollte seine Frau nicht belasten. »Da oben sind um zehn Uhr morgens viele Leute. Und außerdem will er mich ja nicht ganz oben auf der Turmspitze treffen, sondern bei den Glocken.«

»Ruf doch einen Securitydienst an und bestell dir einen Aufpasser.«

»Quatsch«, lehnte er den Vorschlag strikt ab. »Ich kann allein auf mich aufpassen. Ich will doch kein großes Trara veranstalten.«

»Aber mein Entschluss steht endgültig fest«, hatte sich Gisela wieder psychisch gefestigt. »Ich will wissen, was da mit uns vorgeht.«

»Mit uns? Was soll da mit uns vorgehen?«

»Entweder hat sich jemand auf raffinierte Weise in unsere Privatsphäre geschlichen – oder wir haben’s tatsächlich mit einem unerklärbaren Phänomen zu tun.«

Temming atmete tief durch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ach Gott! Natürlich würdest du Variante zwei bevorzugen: unerklärbares Phänomen.«

»Mach dich bitte nicht lustig darüber. Ich hab mit genügend Leuten gesprochen, die vieles erlebt haben, über das sie nur mit Gleichgesinnten reden, weil sie Angst haben, für verrückt erklärt zu werden.«

»Ja, natürlich, mit Gleichgesinnten«, äffte Temming nach. »Ich hab dir schon tausendmal gesagt, du sollst dich nicht in diesen okkulten und esoterischen Kreisen bewegen.«

»Und ich hab dir ebenso oft erklärt, dass wir uns nicht mit Okkultem und nicht mit Esoterischem befassen, sondern nur ganz sachlich darüber reden, was es alles an Unerklärbarem gibt. Mehr nicht. Und die Leute sind froh, darüber reden zu können.«

»Und was hat das alles mit uns und diesem Foto zu tun?«, versuchte Temming den unerwarteten Redefluss seiner Frau zu stoppen.

»Du weißt, ich hab übermorgen den Termin mit Timberli.«

»Timberli?« Er stutzte, wusste aber sofort, was damit gemeint war.

Gisela half ihm trotzdem auf die Sprünge: »Der Reinkarnationsexperte.«

Temming verdrehte die Augen: »Und was soll das – ausgerechnet jetzt?«

»Vielleicht ein seltsamer Zufall, dass der Termin gerade jetzt ist. Ich will wissen, ob ich schon mal gelebt habe.«

»Du weißt aber schon, was du jetzt gesagt hast?«, hakte er zweifelnd nach.

»Das ist kein Hokuspokus. Ich will wissen, ob es so etwas gibt und was davon ich in mein jetziges Leben mitgebracht habe.«

»Um dann zu glauben, dass es möglich ist, den seit 49 Jahren toten Siegfried wieder zu treffen? Hier im irdischen Leben«, spöttelte Temming

Sie nickte und starrte auf das Display mit dem Foto.

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