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Kapitel 6

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Der unbekannte Anrufer - Donnerstag, 27. Dezember 2012, 15 Uhr, in der Villa Braunmeier

»Leider war die Nummer unterdrückt«, sagte Doris und hob bedauernd die Schultern. »Sonst könnten wir vielleicht herausbekommen, wer der Anrufer war.«

Sie hatte am Vormittag bei allen Mitgliedern angerufen und eine Sondersitzung einberufen. Alle waren pünktlich erschienen, auch Reinhold.

»In mir tobt das schlechte Gewissen, denn in meinem Institut hat sich mittlerweile ein wahrer Leichenberg aufgetürmt.« Er räusperte sich und fügte hinzu: »Es sind noch zwei besonders Bösartige hinzugekommen, die ihren Angehörigen partout Silvester verderben wollen.«

»Sollten Sie uns nicht verraten, wie es Lottchen geht?«, unterbrach Margot mit schmalen Lippen an Doris gewandt. »Sie bedauern eine fehlende Telefonnummer, und der Herr Bestatter beschwert sich über zu viel Arbeit. Dabei sollte unser Interesse doch eigentlich einem kranken Menschen gelten, dessen Zustand wir verschuldet haben.«

»Krank, haha«, krähte Herbert. »Das ist ja wie damals, als uns die Schneiderin weismachen wollte, dass sie was mit dem Magen hatte und deswegen bis zum Mittag nicht aus dem Bett kam.«

»Aber in Wirklichkeit hatte ich einen Kater«, war Evi behilflich, »und ich habe gesagt, wenn es Sie glücklich macht, dann eben das.«

»Sie schien noch ein wenig müde, aber sonst war sie in Ordnung«, berichtete Doris. »Ich bin trotzdem noch über eine Stunde bei ihr geblieben und riet zu einem Frühstück. Was man so Frühstück nennt. Lottchen scheint eine ähnlich schlechte Hausfrau zu sein wie ich, allerdings war ihr Kühlschrank nicht bis oben hin mit Champagnerflaschen gefüllt, sondern mit kalter Luft. Ich musste also hinüber zu Erika gehen, die ich bei der Gelegenheit fragte, was Beckergsell von ihr wissen wollte. Nichts, was mich etwas angehe, blaffte sie schlechtgelaunt, also können wir Sie abhaken.

Na, zumindest kam ich mit zwei Brötchen und einem Stück trockenen Streuselkuchen zurück. Aber es gab nichts zum drauf tun, und Kaffee hatte sie auch keinen. Nur Dosenmilch, die ich mit heißem Wasser verdünnte.«

»Vertrocknetes Gebäck mit verdünnter Dosenmilch. Und davon ist ihr nicht schlecht geworden?«, fragte Evi.

»Sie musste schon beim Anblick würgen«, antwortete Doris.

»Ist ihr noch etwas zu Poff eingefallen?«, fragte Reinhold.

»Sie hat nicht ein Wort geredet, und ich verstand, dass sie alleine sein wollte. Ich nehme an, dass sie wieder zurück in ihr Bett gekrochen ist, wo sie ihrem Zustand nach zu urteilen immer noch sein dürfte.«

»Haben Sie ihr von dem Anruf erzählt?«, wollte Evi wissen.

»Natürlich nicht, denn dann hätte ich beichten müssen, dass ich ihr Handy aus der Manteltasche gezogen und das Gespräch angenommen habe. Das wäre schön dumm gewesen, denn zum einen hätte ich dagestanden wie eine alte Schnüffeltante, und zum anderen wäre die Chance vertan, mich zum Treffpunkt zu begeben.«

Wie auf Knopfdruck schlug Reinhold mit den Handflächen auf seine Schenkel und rief: »Ich wusste es von dem Moment an, wo Sie den Anruf erwähnten.«

»Sie wollen wirklich dorthin gehen?«, fragte Margot. »Das verstehe ich nicht. Der Typ kennt Lottchen doch anscheinend. Er sprach sie mit Namen an, und er hat ihre Telefonnummer.«

»Sie müssen sich dringend noch einmal unterhalten«, wiederholte Evi. »Also hat er sie entweder schon einmal getroffen, oder sie sprachen am Telefon miteinander.«

»Oder beides«, sagte Reinhold. »Als wen wollen Sie sich denn ausgeben, wenn nicht als die echte Lottchen Kääsig?«

»Ich dachte, mich als eine enge Vertraute vorzustellen. Als eine Art Sekretärin, die sich um ihre Angelegenheiten kümmert, wenn sie verhindert ist oder unpässlich. Ich werde in ihrem Namen mein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, dass sie nicht selbst erscheinen kann.«

Evi sah die Lehrerin an, als hätte diese nicht mehr alle Tassen im Schrank. Dann lachte sie schrill und fasste sich an den Kopf. »Bei allem Respekt, Doris. Aber das ist das Hanebüchenste, was ich seit langem von Ihnen gehört habe. Und dann diese geschwollene Ausdrucksweise. Glauben Sie denn, er ließe sich davon beeindrucken? Er wird sich an die Stirn tippen und Sie fragen, ob es bei Ihnen piept.«

»Es könnte aber auch sein, dass er Doris als Stellvertreterin akzeptiert«, bemühte sich Reinhold um einen versöhnlichen Ton. »Andererseits könnte er sich ausgetrickst fühlen, und das wiederum könnte zu einer höchst heiklen Situation führen. Sie sollten sich das gut überlegen.«

»Sie fürchten sich vor heiklen Situationen?« Doris‘ Stimme hatte einen ironisch-heiteren Unterton angenommen. »Ich wundere mich über Ihr schlechtes Gedächtnis. Als Lothar seinen Verstand verlor, befanden wir uns in einer heiklen Situation. Dagegen ist das hier ein Kaffeekränzchen.«

»Bis jetzt noch, aber das kann sich schnell ändern. Ein Mann wurde ermordet.«

»Sie sagen es«, bekräftigte Doris. »Der Anruf muss etwas mit Poff zu tun haben. Er hat eine Bank ausgeraubt. Die Frage, wo sein Komplize abgeblieben ist, konnte Lottchen uns nicht beantworten. Vielleicht war er es.«

»Das halte ich für sehr unwahrscheinlich«, widersprach Reinhold, »denn wenn ich das richtig verstanden habe, konnte der Komplize entkommen, und es ist erwiesen, dass er die Beute bei sich hatte. Warum also sollte er ausgerechnet mit der Verlobten seines weinerlichen Kumpanen Kontakt aufnehmen und riskieren, von ihr verraten zu werden?«

»Ich habe ein wenig recherchiert«, unterbrach Evi die kleine Reiberei. »Der Bankraub war vor genau sieben Jahren, im Dezember 2005. Die Räuber kamen zu zweit, maskiert und mit einer Pistole. Ein Kinderspielzeug, wie sich später herausstellte. Poff hat sich zwar bei dem Kassierer entschuldigt, und er hat sich auch widerstandslos abführen lassen, aber seinen Komplizen hat er nie verraten. Dadurch blieb auch die riesige Summe von zwei Millionen Euro verschwunden, und außerdem hatte eine Angestellte vor Schreck nachweislich eine Fehlgeburt erlitten. Die Staatsanwältin hatte daraufhin acht Jahre Haft gefordert, aber Poff hatte mit seiner dümmlich-schlichten Vorführung und der Aussage des Kassierers, dass dieser keinen Moment daran geglaubt hatte, Poff werde ihm auch nur ein Haar krümmen, den Richter milde gestimmt. Deswegen bekam er nur sechs Jahre. Poff ist seit einem Jahr auf freiem Fuß. Er kann in der Zeit seinen Komplizen aufgestöbert haben. Er verlangte seinen Anteil, aber statt einer Million bekam er ein Messer in den Bauch, und der andere entkam ein weiteres Mal.«

»Das haben Sie schön zusammengefasst, Evi«, sagte Reinhold. »In einer Sache muss ich Ihnen jedoch widersprechen. Sich bei einem Menschen für etwas zu entschuldigen, hat nichts mit dümmlich oder schlicht zu tun. Poff hatte erkannt, dass er einen Fehler gemacht hat und diesen noch an Ort und Stelle bereut. In meinen Augen zeugt dies von sehr viel Mut und Empathie, beides Tugenden, die man gar nicht genug würdigen kann.«

»Und das nehmen Sie ihm ab?« Evi schüttelte ihren Kopf. »So schlicht kann er gar nicht gewesen sein, um sich nicht auszurechnen, dass eine weinerliche Entschuldigung ihn eventuell vor einer hohen Strafe bewahren könnte.«

»Sie glauben also, dass Poff von seinem Komplizen ermordet wurde, weil er seinen Anteil verlangte?«, fragte Doris ungeduldig.

»Natürlich. Das ist die einzige logische Erklärung. Wer sonst sollte es auf den armen Schlucker denn abgesehen haben?«

»Von dem Geld ist doch längst nichts mehr da«, sagte Herbert.

»Es waren über zwei Millionen«, erinnerte Evi.

»Du meinst, das wäre zu viel zum Ausgeben in sieben Jahren? Da bin ich anderer Meinung. Ferraris, ein Schloss, Frauen…, da flutscht die Kohle nur so durch die Finger.«

»Du redest wie ein Ganove«, entrüstete sich Margot.

»Nein, schlimmer!«, fauchte Evi. »Er betrachtet Frauen als Waren, die man kaufen kann. Einfach skandalös ist das!«

»Dich würde ich nicht geschenkt nehmen, Schneiderin«, konterte Herbert. Er wies auf ihre Finger. »Nicht mit diesen krummen Pfoten.«

»In ihrem Nachttisch fand ich zwei Visitenkarten. Eine von einem Lokal namens »Zum schmalen Handtuch« in Perlstetten«, berichtete Doris weiter. »Der Kerl am Telefon redete von einem »Handtuch« als Treffpunkt. Der Lärm im Hintergrund war typisch für eine Kneipe.«

»Sie sprach doch von der miesen Kneipe mit den miesen Typen«, erinnerte Reinhold. »Könnte sie damit nicht diese gemeint haben?«

»Das halte ich für sehr wahrscheinlich«, antwortete Doris. »Auf der zweiten Karte war von einem Weinlokal die Rede. Es nennt sich »Zum himmlischen Tröpfchen« und befindet sich in Knaufberg. Kennt das jemand von Ihnen? Ich meine, war schon mal einer dort?«

»Ich«, antwortete Reinhold. »Vor vielen Jahren erhielt ich den Auftrag, von dort eine Überführung ins Ausland durchzuführen. Ein nettes Örtchen, und wegen der historischen Altstadt touristisch sehr interessant. Sie wissen schon, Fachwerkhäuser, schmale Gassen und so weiter. Allerdings ist es ein ziemlich weiter Weg bis dorthin. Aber mein Ruf, wie jedermann weiß…,«

»…eilt Ihnen voraus«, beendeten die anderen den Satz im Chor.

»Wir gehen alle zusammen in dieses komische »Handtuch««, sagte Herbert plötzlich.

»Bravo, Herr Klöbelschuh«, rief Reinhold. »Ich dachte dasselbe, wagte es aber nicht, den Vorschlag zu machen aus Angst, die Vorsitzende könnte mir einen Rüffel erteilen, weil sie glaubt, ich wolle sie bevormunden.«

»Falls Sie auf die alte Geschichte mit Lothars Liebesbriefen anspielen…«

»Schnee von gestern«, polterte Herbert dazwischen. »Wen interessiert das denn noch?«

»Ich gehe«, wiederholte Doris. »Und zwar alleine!«

»Das ist viel zu gefährlich«, blies nun auch Evi ins selbe Horn wie die beiden Männer. »Selbstverständlich betreten wir nicht als Gruppe dieses Etablissement, sondern einzeln im Minutentakt. Einer nach dem anderen, verstehen Sie. Wir verteilen uns an Tischen, und einer nimmt Platz am Tresen. Wir bestellen ein Getränk und warten, was geschieht.«

»Dieses Lokal nennt sich »Zum schmalen Handtuch««, erinnerte Doris. »Das wird sicher seinen Grund haben. Demnach könnte es schwierig für Sie werden, sich zu zerstreuen. Außerdem sind wir noch nie dort gewesen. Es ist doch klar, was geschehen wird, wenn nacheinander fünf Unbekannte den Raum betreten. Augenblicklich werden alle Köpfe zur Tür fliegen, es herrscht einen Moment Stille, und dann wird man uns anstarren. Vor allem unsere verehrte Schneiderin in ihrer eleganten Aufmachung wird reichlich Anlass zum Tuscheln geben. Vielleicht spricht man sie sogar an, aber nicht auf die höfliche Art, wie sie es erwartet, sondern auf die freche und unverschämte. Und noch etwas, Evi. Man wird Ihnen nicht erlauben, zu rauchen.«

Sie blickte von einem zum anderen und holte tief Luft: »Es bleibt dabei, ich gehe, und sonst niemand!«

»Haben Sie wenigstens eine Ahnung, was er von Lottchen gewollt haben könnte?«, fragte Evi aus einer Schwade beißenden Rauches heraus.

»Nichts Gutes, so viel steht fest. Der Satz weshalb, wirst du dir ja denken können, enthält eine versteckte Drohung, finden Sie nicht?«

»Doch«, bestätigte Reinhold und flehte nun regelrecht. »Umso unverzichtbarer ist es, dass wir bei Ihnen sind, wenn Sie sich schon auf ein solch gefährliches Abenteuer einlassen wollen.«

»Wie wäre es, wenn wir Beckergsell einen Tipp geben würden?«, fragte Margot. »Dann kann er hingehen.«

Evi ließ ein langgedehntes Oooh Gott vernehmen und stach mit ihrer Zigarette Löcher in die Luft, so als hielte sie einen Degen in der Hand. »Auf was für Ideen Sie auch immer kommen! Sie haben ihn doch erlebt. Er leckt Torf von seinem Finger, lässt zu, dass ein Untergebener den Staatsanwalt einen Depp nennt und kommt mit zwei verkaterten Trunkenbolden und eigener Schnapsfahne hier ins Dorf, um Zeuginnen zu befragen.«

»Für den Torf kann er nichts, das müssten Sie doch am besten wissen«, entgegnete Margot. »Und dass einer seiner Untergebenen den Staatsanwalt beleidigt, haben auch Sie zu verantworten. Sie haben alle verhext, deshalb waren beide nicht mehr Herr der Lage. Außerdem war es eine Feier. Da ist es normal, dass getrunken wird. Kein Mensch konnte ahnen, dass ausgerechnet an dem Abend ein Mord geschieht.«

»Morde geschehen an jedem Abend«, beharrte Evi, »oder glauben Sie, Mörder scheren sich um Weihnachtsfeiern?«

»In Perlstetten schon.«

»Wieso legst du dich denn dermaßen für diesen Kripofutzi ins Zeug?«, mischte Herbert sich ein.

»Weil ich es erotisch fand, wie er an seinem Finger leckte«, antwortete Margot, wobei sie gleichzeitig Braue und Mundwinkel anzog. Ihr Gesichtsausdruck konnte lüsterner nicht sein, als sie hinzufügte: »Daran zu saugen wäre allerdings noch schärfer gewesen.«

Von einem auf den anderen Augenblick lief Herberts Kopf vom Kinn aufwärts übers Gesicht und dann über seine Glatze hinweg bis tief in den Hemdkragen hinein dunkelrot an. Doris schwappte Champagner über, und Reinholds Zigarre fiel auf das Stäbchenparkett. Evi dagegen lachte schrill und kippte einen Likör hinunter. »Ausgezeichnet, Margot! Sie haben rasch hinzugelernt.«

Sie fischte eine neue Zigarette aus der Schachtel, Herbert gab Feuer, dann verschwand ihr Gesicht für einen Moment hinter einer Wand aus Rauch. Als die Sicht wieder frei war, fragte sie: »Was werden Sie anziehen, Doris?«

»Was schlagen Sie vor?«

»Nun, er sprach ja von etwas Hübschem. Was immer so ein Mensch auch darunter verstehen mag. Mit einem Hut werden Sie nicht zu übersehen sein.«

Sie sah Reinhold an. »Ich erinnere mich, dass Sie Eleonores Hut bewundert hatten, damals, als sie bei Huss‘ Bestattung auftauchte. Und dass Sie es bedauerten, dass Hüte bei Frauen aus der Mode gekommen zu sein scheinen. Ich selbst besitze einige, und es werden ständig mehr, aber auch ich muss gestehen, dass ich mich viel zu selten damit schmücke.«

»Geschmückt werden Weihnachtsbäume«, bemerkte Herbert trocken, »aber wenn du einer werden willst, bitte. Stachlig bist du ja schon.«

Evi zeigte ihm mit rechts einen Vogel, und mit links hielt sie ihm die Zigarettenschachtel hin. »Nehmen Sie mal eine raus. Meine Hände fühlen sich plötzlich so steif an.«

Herbert war sofort behilflich, machte aber ein bedenkliches Gesicht. »Das mit deinen Fingern wird immer schlimmer.«

»Bei hundert Zigaretten am Tag kein Wunder«, stichelte Margot, doch sie wurde von Reinhold abgewürgt, der abermals an Doris appellierte: »Versprechen Sie uns, dass Sie sofort um Hilfe bitten, sollte dieser Kerl aufdringlich werden. Machen Sie dem Wirt verständlich, dass er die Polizei rufen muss, oder Sie rufen einen von uns an.«

»Die draußen auf und ab gehen und nur darauf warten, stimmt’s?«

»Also wirklich, Doris«, entrüstete sich Margot über die Vorsitzende. »Warum wollen Sie es denn nicht zugeben? Dass Sie in Wirklichkeit beleidigt wären, wenn wir es nicht tun würden.«

Doris seufzte und ergab sich. »Also gut. Dann kommen Sie eben mit und warten im Wagen. Wenn aber unbedingt einer mit hinein will, dann Herbert. Er passt optisch noch am ehesten ins Milieu.«

»Optisch? Milieu? Wollen Sie meinen Mann beleidigen?«, rief Margot empört.

Doch Herbert beschwichtigte. »Lass nur. Ich geh gern mal ins Milieu, man kommt ja selten genug raus aus dem Kaff hier.«

Reinhold hatte eine neue Flasche geöffnet und allen eingeschenkt.

»Es beruhigt mich, dass wir Sie überzeugen konnten.«

Er hob sein Glas und lächelte sie an. Sie erwiderte sein Lächeln, doch Herbert unterbrach das Gesäusel mit einer unerwarteten Frage. »Wieso schicken wir nicht die Schneiderin hin? Sie befiehlt ihm zu sagen, was dieses du weißt schon zu bedeuten hat. Und wenn er ihr das verraten hat, verhext sie ihn noch ein bisschen mehr und lässt sich erzählen, was wir sonst noch wissen wollen.«

»Das ist gar nicht so dumm«, pflichtete Reinhold bei. »Wenn es Evi tatsächlich gelingen würde, ihn auf diese Weise zum Plaudern zu bringen, wären wir im Handumdrehen einen riesigen Schritt weiter. Wir wüssten dann, welche Rolle Lottchen in diesem Rätsel spielt.«

»Das kann ich Ihnen auch so sagen«, erwiderte Evi. »Vor dem Bankraub kannte sie Poff noch nicht. Aber als sie ein Paar wurden, hat er ihr alles gebeichtet. Den Bankraub und den Gefängnisaufenthalt. Von da an war Lottchen involviert, ob sie es wollte oder nicht.«

»Und Holger Bölker? In was ist oder war er involviert?«, warf Doris ein. »Es ist doch möglich, dass der Typ aus dem »Handtuch« ihn kennt. Er kann uns vielleicht auch sagen, wo er ist und wieso sich sein Pass in Poffs Hosentasche befand. Vielleicht kennt er auch den Grund, wieso Lothar seinen Bruder nie erwähnt hat. Etwa weil Lothar wusste, dass Holger in kriminelle Machenschaften verwickelt war?«

»Holger Bölker war der Komplize von Poff, ist mit dem Geld abgehauen, und Lothar hat ihm die Steuererklärung gemacht«, sagte Herbert trocken.

»Ein grandioser Gedanke«, lobte Reinhold. »Und damit wäre er dann doch ein Steuereintreiber gewesen.«

Diese Bemerkung stützte sich auf eine alte Geschichte. Lothar hatte während eines Streits Evi und Herbert über seine Funktion als Beamter im gehobenen Dienst beim Finanzamt Perlstetten aufgeklärt und es sich verbeten, von Herbert als Steuereintreiber bezeichnet zu werden. Er pochte darauf, mit seiner Arbeit zu den unerlässlichen Stützen einer funktionierenden Gesellschaftsordnung zu zählen, und dies wiederum sorgte auch nach einem Jahr immer noch für Heiterkeit.

»Und wenn Holger Bölker wirklich der Komplize war?«, fragte Doris.

»Wir können es vielleicht erfahren, wenn es Evi gelingt, den unbekannten Anrufer in Trance zu versetzen«, antwortete Reinhold. »Der Kerl wäre ausschließlich auf das konzentriert, was Evi ihm aufträgt, zu sagen.« Er klopfte Herbert auf die Schulter. »Eine ganz ausgezeichnete Idee. Ich bin stolz auf Sie.«

Herbert bekam schon wieder einen roten Kopf und spülte seine Verlegenheit eilig mit einem Glas Champagner hinunter.

»Ich brauche eine Liste von dem, was wir wissen wollen, sonst bin ich ja völlig unvorbereitet«, sagte Evi.

»Gut, dann versuchen Sie es«, gab Doris sich geschlagen. »Sollte es klappen, hätten wir uns tatsächlich viel Arbeit erspart. Evi könnte dasselbe übrigens bei Lottchen wiederholen, falls beim Verhexen des Unbekannten nichts herauskommen sollte.«

Sie sah auf ihre Uhr. »Es ist erst 18 Uhr. Sie haben also noch reichlich Zeit für eine gute Vorbereitung. Jetzt kommt alles auf Sie an, Evi.«

Die Schneiderin nickte und erhob sich. »Ich muss mich umkleiden. Holen Sie mich rechtzeitig ab.«

*

21.30 Uhr, auf dem Weg zum »Schmalen Handtuch«

Pünktlich auf die Minute saß der Club dreieinhalb Stunden später vollzählig in Doris‘ Wagen.

»Sind alle bereit zur Abfahrt?«, fragte die Vorsitzende. »Und sind sich alle sicher, dass wir das Richtige tun?«

Die Antwort gab Herbert mit einer Gegenfrage, die er an Evi richtete. »Hast du auch dein Handy dabei? Ein Klingeln genügt, und wir stürmen die Bude.«

Evi bejahte und warf eine Kippe aus dem fahrenden Auto.

Herbert hatte mit einem Perlstettener Stadtplan auf dem Schoß Doris fehlerfrei bis zu der Adresse gelotst, die auf der Visitenkarte gestanden hatte.

»Was ist mit der Liste?«, wollte Evi wissen.

»Zunächst müssen Sie alles über ihn erfahren«, antwortete Doris. »Weitere Fragen werden sich höchstwahrscheinlich aus seinen Antworten ergeben.«

»Wir sollten uns dringend noch mal unterhalten, worüber kannst du dir denken«, wiederholte Reinhold. »Das ist der Schlüssel, Evi. Zu erfahren, was er damit meinte, hat höchste Priorität.«

»Ich werde mein Bestes tun.« Evi rückte ihren Hut zurecht, ein Modell im Stil der 20er-Jahre, der, weit ins Gesicht gezogen, ihre Stirn bis zu den Augen vollständig bedeckte.

»Du trägst einen Blumentopf auf dem Kopf?«, lästerte Herbert erwartungsgemäß.

»Ganz recht, Klöbelschuh«, antwortete Evi. »Es ist einer von Beckergsells Efeutöpfen, die seine Hilfspolizisten aus dem Fenster geworfen haben.«

Sie hatte während der 15-minütigen Fahrt nicht weniger als zehn Zigaretten geraucht mit der Folge, dass elf von zwölf Kilometern mit heruntergekurbelten Scheiben zurückgelegt worden waren, weil sonst Rauchschwaden Doris die Sicht erschwert hätten.

Als Doris eine Parklücke gefunden hatte, stiegen alle aus. Evi strich ihren Mantel glatt und schritt, begleitet von Reinhold und dessen eindringlichen Ratschlägen, dem »Handtuch« entgegen. Am Eingang drückte er ihre Hand und sagte: »Bis gleich. Sie schaffen das. Wenn nicht Sie, wer dann?«

*

»Los, steig ein!« Der aggressive Ton verhieß nichts Gutes. Eine Autotür knallte zu, dann eine zweite, und schon schleuderte der Wagen um die Ecke.

Wenn irgendein Mensch an diesem Ort unterwegs gewesen wäre, hätte er vielleicht die wütenden Schreie gehört, die aus dem Wageninneren nach draußen drangen, doch die Straßen waren wie ausgestorben, keine Menschenseele konnte etwas gesehen oder gehört haben. Es gab keine Zeugen für das, was geschehen war, nur einer wusste es, doch der war zurückgeblieben, enttäuscht, voller Wut und machtlos. Aber es gab Hoffnung, denn das Letztere schien nur so. Das Recht war auf seiner Seite – und die Rache umso süßer.

*

22.40 Uhr, im »Handtuch«

Als Evi nach über einer Stunde nicht zurückgekehrt war, stiegen sie aus und überquerten die Straße. Es war totenstill.

»Das musste ja schiefgehen«, unkte Margot.

»Mach nicht die Pferde scheu«, wies Herbert seine Frau zurecht. »Noch ist nichts schiefgegangen.«

Vorm Eingang blieben sie stehen und sahen einander an.

»Sind Sie dann soweit?«, fragte Doris.

Alle nickten. Sie zog die Tür auf und ging als Erste hinein, gefolgt von Margot, die nach der Hand ihres Mannes griff und sie fest umschlossen hielt. Reinhold als Letzter schloss die Tür.

Der Name »Zum schmalen Handtuch« hätte passender nicht sein können.

Die vom Fußboden bis zur Decke abgewetzte und ungepflegte Schänke war wenigstens zehn Meter lang, doch höchstens vier Meter breit. An den beiden Längsseiten standen je fünf Tische. Sie waren mit einer Seite bis an die Wand geschoben, so dass an jeden nur drei Stühle passten. Durch die beiden Reihen hindurch führte ein kaum fünfzig Zentimeter breiter Gang, der vor einer altmodischen, schillernd bunt beleuchteten Musikbox endete.

Reinhold schien beim Anblick dieser Rarität seinen Augen nicht zu trauen. »Mann, das ist ja eine original Wurlitzer Musik-Box. Die hat gut und gerne fünfzig Jahre auf dem Buckel.«

Seine Begleiter sahen ihn erstaunt an. »Was schauen Sie denn so?«, fragte er pikiert. »Ich war nicht immer Bestatter.«

Ein Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Tresen. Sie erschraken, als dahinter plötzlich ein Mann zum Vorschein kam. Über seine Schanksäule aus weißblaugeäderter Keramik und einem künstlichen Miniweihnachtsbaum hinweg funkelte er sie misstrauisch an. Sein Alter schätzte Doris auf fünfundvierzig, doch das ungewaschene, schulterlange Haar und der Stoppelbart machten einen so ungepflegten Eindruck, dass er womöglich älter aussah, als er in Wirklichkeit war.

»Guten Abend«, begrüßte sie den Mann. »Sind Sie der Wirt?«

»Und wenn?«, war die patzige Antwort.

»Dann können Sie uns sicher sagen, wo wir unsere Bekannte finden.«

»Bekannte? Keine Ahnung. Ich hab schon geschlossen. Kommt morgen wieder.«

Doris hatte beim Eintreten den typischen Geruch vom Qualm schwarzen Tabaks bemerkt. Gott sei Dank, dachte sie und musste lächeln, als sie den bis zum Rand mit gelben Stummeln gefüllten Aschenbecher sah. Der Wirt war ihrem Blick gefolgt und entfernte ihn wortlos. Als Nächstes schnappte er sich einen Lappen und wischte damit den Tresen sauber.

»Das werden wir«, versprach Doris in extra scharfem Ton. »Aber nicht alleine, sondern in Begleitung eines gewissen Hauptkommissars Beckergsell von der hiesigen Kriminalpolizei, es sei denn, Sie sagen uns augenblicklich, wo sich die Dame befindet, die vor einer Stunde Ihre Gaststätte betreten hat. Sie ist schon etwas älter und trägt einen Hut.«

»Was seid ihr denn für Vögel?«, fragte der Wirt und verzog sein Gesicht.

»Sehen wir aus, als könnten wir fliegen?«, blaffte Herbert zurück. »Also. Wo ist sie?«

Als keine Antwort kam, schritt Herbert hinter den Tresen und packte den Kerl mit beiden Händen beim Kragen. »Ich frag nur noch einmal: Wo ist die Schneiderin?«

Herberts rohe Behandlung machte Eindruck.

»Sie ist mit einem Typ durch den Hinterausgang raus.«

»Mit welchem Typ?«

»Ich hab ihn vorher noch nie hier gesehen.«

Herbert zog ihn so dicht an sich heran, dass sich fast ihre Nasenspitzen berührten. »Du lügst«, knurrte er. »Er hat sie hierher bestellt. Warum sollte er das tun, wenn er die Kneipe nicht kennt? Es gibt hunderte in Perlstetten.«

Der Wirt versuchte, sich aus Herberts Griff zu befreien, aber der ließ nicht locker. »Ich zähl bis drei. Dann sagst du uns seinen Namen und wo er mit der Frau hingegangen ist.«

Herbert schien es Ernst zu sein. Mit jedem Wort wuchs sein Zorn, der sich im Sekundentakt auf den bockigen Kneipenwirt entlud. Schließlich war dessen Widerstand gebrochen.

»Er heißt Rudi und ist hier Stammgast.«

»Rudi…, und weiter?«

»Böhm.«

»Was ist das für einer?«

»Einer wie alle hier. Trinkt viel, redet Mist und bezahlt nur selten.«

»Wie sieht er aus und wie alt ist er?«

»Hässlich wie die Nacht ist der, und sein Alter…? Keine Ahnung. Vielleicht um die vierzig.«

»Seit wann sind sie weg?«

»Seit einer halben Stunde vielleicht.«

»Und was haben sie gemacht?«

»Was sollen sie denn gemacht haben? Rumgesessen haben sie, und die Alte hat mich so lange genervt, bis ich ihr einen Aschenbecher hingestellt habe. Es ist verboten, in Gaststätten zu rauchen, das hab ich ihr gesagt, aber sie hat nicht lockergelassen. Dann hat sie angefangen zu qualmen, und zwar derart stinkenden Tabak, dass ein Gast nach dem anderen abgehauen ist.«

»Du lügst schon wieder«, sagte Herbert. »Es waren außer den beiden keine Gäste hier. Wir haben deinen Schuppen die ganze Zeit beobachtet. Nicht einer ist reingegangen oder rausgekommen.«

»Über was haben sie denn geredet?«, fragte Doris betont versöhnlich, denn es kam jetzt darauf an, vom Wirt auf schnellstem Wege brauchbare Informationen zu erhalten.

»Rudi hat geredet, sie fast gar nicht. Normalerweise quatscht er nicht so viel, aber heute Abend wollte seine Klappe überhaupt nicht mehr stillstehen.«

»Und was redete er?«

»Woher soll ich das wissen? Glaubt ihr, ich belausche meine Gäste?«

»Von Ihnen glaube ich noch ganz andere Dinge, da zählt Lauschen noch zu den harmlosen«, meinte Reinhold trocken.

»Wieso stellt ihr mir all diese idiotischen Fragen? Ich hab nichts getan«, quengelte der Wirt wie ein auf frischer Tat ertappter Langfinger.

»Erzählen Sie uns ganz einfach, was hier zwischen 22 und 23 Uhr passiert ist, dann können wir auf die Fragerei verzichten«, schlug Reinhold vor.

Herbert lockerte seinen Griff und bellte: »Los! Raus mit der Sprache!«

Der Wirt hob die Hände zum Zeichen seiner Kapitulation.

»Rudi kam so gegen halb zehn und bestellte Bier. Dann erzählte er, dass er eine Verabredung hätte. Ich fragte mit wem und er sagte, mit Lottchen.«

»Moment«, unterbrach Reinhold. »Nur um eine Verwechslung zu vermeiden: Sie sprechen von Lottchen Kääsig, der brünetten Schönheit vom Lande, richtig?«

»Kääsig? Wenn sie so heißt, dann tut sie mir leid. Sie nannte sich Lottchen, Nachnamen sind hier Nebensache.«

»Sie verkehrte also hier in Ihrem Lokal?«

»Ja. Leider viel zu kurz. Sie war der beste Gast, den ich jemals hatte.«

»Weiter!«, befahl Herbert.

»Ich sagte, dass sie aber schon lange nicht mehr hier gewesen wäre, und da schnauzte er mich an, dass das ja wohl kein Wunder wäre bei dem Loch hier. Und warum kommt sie dann überhaupt, wollte ich wissen, weil mir sein arrogantes Gelaber ziemlich auf die Nerven ging. Weil ich es so will, war seine Antwort. Lottchen lässt sich doch von dir nichts befehlen, hab ich ihn ausgelacht. So selbstbewusst wie die drauf ist.

Als um zehn seine Verabredung dann auftauchte, hatte Rudi seinen Augen nicht getraut. Er hatte ja Lottchen erwartet. Aber die hier war ja mindestens achtzig, und der komische Hut machte sie auch nicht gerade jünger. Aber er ist trotzdem zu ihr an den Tisch gegangen, wahrscheinlich aus Neugier. Ich hab nicht hören können, wie die Alte sich vorgestellt hat, aber Rudi setzte sich tatsächlich zu ihr. Und dann passierte etwas ganz Seltsames. Die Frau bekam auf einmal so einen komischen Gesichtsausdruck. Sie starrte Rudi an, und sofort fing er an zu erzählen. Wie ich schon sagte, so viel quatscht er normalerweise nicht. Die Frau saß nur da und hörte zu. Das ging die ganze Zeit so.«

»Ist der Name Bertram Poff gefallen?«, fragte Reinhold. »Den kennen Sie doch sicher.«

»Poff? Der ist tot. Ermordet«, antwortete der Wirt.

»Hat Rudi ihn gekannt?«

»Vom Sehen, sicher. Die beiden waren ja oft genug hier.«

»Haben sie mal miteinander geredet, über Geld zum Beispiel?«

»Geld? Die hatten kein Geld, höchstens Schulden. Seit einem halben Jahr warte ich darauf, dass Rudi seine Zeche zahlt.«

»Die kein Geld haben, reden am häufigsten darüber«, sagte Doris. »Also!«

»Wenn ich’s doch sage: Sie haben miteinander über gar nichts geredet.«

Sie überlegten eine Weile, dann sagte Reinhold: »Poff war ein Bankräuber, wussten Sie das?«

»Na klar wusste ich das. Als er aus dem Knast entlassen wurde, war er als Erstes hierher ins »Handtuch« gekommen. Wie er mich doch vermisst hätte, tönte er. Das war vor einem Jahr. Er tat so, als wenn überhaupt nichts gewesen wäre, ich meine, daran, dass er jahrelang im Gefängnis gesessen hatte, schien er sich nicht mehr erinnern zu wollen. An seine Schulden übrigens auch nicht mehr. Ab und zu laberte er mir noch die Ohren voll von seinem Knastaufenthalt und ließ seinen Frust ab wegen dem Komplizen. Die Lage änderte sich, als Lottchen vor ein paar Wochen hier reingeschneit kam. Ab da hat er kein Wort mehr darüber verloren.«

»Wann kam Lottchen zum ersten Mal?«, fragte Doris.

»Am 24. November. Nikolaus war sie zuletzt hier. Da hat sie ordentlich einen drauf gemacht und jede Menge spendiert. Wahrscheinlich war das als Abschiedsparty gedacht. Poff war in bester Stimmung, deswegen glaube ich, dass sie an dem Abend noch zusammen waren. Jedenfalls fragte ich ihn ein paar Tage danach, wieso sie nicht mehr kommen würde, da hat Poff mich nur angepflaumt. Später hat er dann aber zugegeben, dass es schon seit Tagen nicht mehr so richtig laufen würde zwischen ihm und Lottchen. Dabei wette ich, dass längst Schluss war.«

»Haben Sie etwas davon mitbekommen, wieso die beiden es so eilig hatten mit der Verlobung?«, fragte Reinhold.

»Nein. Ist mir ehrlich gesagt auch egal. Was mich interessiert, sind zahlungskräftige Gäste. So welche wie Lottchen müssten hier jeden Tag reinschneien.«

»Noch mal zurück zum Bankraub«, sagte Doris. »Poff hatte einen Komplizen. Was hat er über ihn erzählt?«

»Außer dass er ein Mistkerl war, nichts. Als ob der was dafür konnte, dass Poff sich neben den Filialleiter gehockt hat, anstatt abzuhauen.«

»Und Sie hat an der Geschichte nichts weiter interessiert?«

»Hört mal, ich bin nur ein Wirt mit einer kleinen Kneipe, die mir viel Ärger, aber wenig Geld einbringt. Was meine Gäste machen und mit wem sie verkehren, will ich gar nicht wissen. Sie sollen trinken und bezahlen.«

»War Poff in der Mordnacht hier? Am 19. Dezember, das war ein Mittwoch.«

»Ja.«

»Wie hat er sich benommen? War er nervös, hat er etwas gesagt?«

»Er war schon die ganze Zeit so komisch. Und an dem Abend ganz besonders. Vielleicht wegen Liebeskummer. Er hat mich ständig nach der Uhrzeit gefragt, und als es so viertel vor zehn war, ist er abgehauen. Ohne zu zahlen natürlich.«

»Ist ihm jemand gefolgt?«, fragte Reinhold.

»Böhm ist kurz nach ihm raus. Auch er hat nicht gezahlt. Zwei Zechpreller an einem Abend. Ich war stocksauer.«

Plötzlich mischte sich Margot ein, die während der ganzen Zeit im Hintergrund gestanden und zugehört hatte.

»Evi ist verschwunden. Anstatt sie zu suchen, vergeuden wir kostbare Zeit mit diesem Halunken.«

Doris erschrak, und Reinhold presste seine Lippen aufeinander.

»Wo ist der Hinterausgang?«, fragten sie gleichzeitig.

Der Wirt wies auf eine Tür, auf der Zu den Toiletten stand.

Herbert ging hin und öffnete die Tür. Sie blickten in einen kaum beleuchteten Gang, aus dem ihnen ein Geruch von Urin und Erbrochenem entgegenschlug.

»Wenn dein Bier so schmeckt, wie’s hier stinkt, versteh ich, wieso sich kein Gast in deinen Schuppen verirrt.« Im Hinausgehen fragte er noch: »Wie heißt du eigentlich?«

»Jonny. Von Johann.« Der Wirt kam hinter dem Tresen hervor und stellte sich Margot in den Weg. »Den Halunken nimmst du zurück, du fette Kuh.«

»Wie bitte? Lassen Sie mich gefälligst durch, Sie, äh, Johann.«

Sie schob ihn zur Seite und holte die anderen ein, die mit zugekniffenen Nasen bereits am Ende des Ganges angekommen waren. Herbert stieß eine Eisentür auf, und nacheinander traten sie hinaus in einen beinahe taghell erleuchteten Hinterhof, der von mehrgeschossigen Mietshäusern umbaut war. Der Hof war klein und machte einen verwahrlosten Eindruck. Das grelle Licht kam von einer Neonröhre, die über dem Ausgang angebracht war.

Zwischen ein paar Bierfässern und gut einem Dutzend aufeinandergestapelten Getränkekisten stand eine Mülltonne mit offenem Deckel. Herbert blickte hinein, doch seine Neugier hätte ihm fast einen Herzanfall beschert, denn heraus schoss eine Katze, nur um Haaresbreite an seinem Gesicht vorbei. Als er Reinholds Grinsen bemerkte, sagte er: »Schönes Tier. Ganz wie unsere.«

Plötzlich wies Margot mit einer Hand auf die gegenüberliegende Seite. »Da ist eine Durchfahrt zur Straße. Wieso sind sie hier hinaus und nicht vorne durch die Tür?« Sie drehte sich im Kreis und schüttelte ihren Kopf. »Ich versteh das nicht. Oder gehört es zu Evis Hexenplan?«

Doris nahm ihr Smartphone aus der Manteltasche. »Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen?« Kaum dass sie gewählt hatte und das erste Freizeichen tutete, war die Verbindung auch schon wieder unterbrochen.

»Was ist?«, fragte Margot bange.

»Nichts. Anscheinend hat sie mich weggedrückt.«

»Dann versuchen Sie’s gleich nochmal.«

Doris tat es, doch auch beim zweiten Mal kam sie nicht durch.

»Wir müssen sie suchen, dann wird sie uns vielleicht finden«, schlug Margot vor, aber Herbert beruhigte auf seine eigene Art. »Die Schneiderin hat mehr Mumm in ihren alten Knochen als mancher Kerl. Sie wird anrufen, sobald sie was herausgefunden hat. Darauf verwette ich meinen A…, äh, Allerwertesten.«

*

23 Uhr, in Rudis Wohnung

Evi saß an Rudi Böhms Küchentisch und rauchte. Schon zweimal hatte Doris angeläutet, und zweimal wäre sie fast in Ohnmacht gefallen, denn bei jedem Klingeln zuckte Rudi zusammen und wurde von Mal zu Mal unruhiger. Dabei war sie froh, dass sie ihn endlich soweit hatte, ihren Befehlen zu gehorchen. Sie war nervös geworden, weil es ihr vorkam, als habe sie keine Kontrolle mehr über ihre Zauberkräfte. Aber dann gelang es ihr doch noch, sich zu entspannen, und auf einmal war er ganz zahm geworden.

Sieh woanders hin, dachte sie. Augenblicklich änderte er seine Blickrichtung.

Und jetzt schaust du im Kühlschrank nach, ob du da nicht etwas Nettes zum Anstoßen findest.

Rudi stand auf und ging schnurstracks zum Kühlschrank. »Wie wär’s mit Bier?«, fragte er und hielt eine Flasche hoch.

Mandellikör hatte sie in solch einem verlausten Haushalt ohnehin nicht erwartet. Der Eierlikör im Handtuch war schon ungenießbar gewesen, deswegen hatte sie ihn mit Sekt verdünnen müssen. Aber der Sekt war auch nichts anderes als Schaumwein gewesen, einer von der ganz schlimmen Sorte. Und so hatte sie nach einem Glas ganz verzichtet. Nicht lange und sie würde Sodbrennen bekommen. So gesehen könnte etwas Bier sogar einen heilenden Effekt haben, in dem es die Säure zurück in den Magen spülte, dort, wo sie hingehörte.

Rudi brachte zwei Flaschen und stellte sie auf den Tisch.

Und jetzt die Gläser.

Rudi trabte zurück und entnahm einem Schrank über dem Herd mit den verkrusteten Kochplatten zwei Gläser.

Hoffentlich sind sie gespült.

Er hielt sie ins Licht und nickte. »Absolut sauber.« Als er sich hingesetzt hatte, öffnete er die Flaschen.

Einschenken!

Rudi schenkte ein.

Sag Prost!

Rudi sagte Prost.

Evi löschte ihren Durst mit zwei kräftigen Schlucken. Sie drückte die Zigarette aus und dachte, dass der Aschenbecher dringend geleert werden müsste.

Sofort nahm er ihn und ließ Kippen und Asche in den Mülleimer rieseln.

Und jetzt erzählst du mir etwas über Lottchen und deren Beziehung zu Poff!

Ohne zu zögern begann er. »Ich kenne Poff erst, seitdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war. Er war mit Lottchen zusammen, mehr weiß ich nicht.«

Sag mir, was du von Lottchen willst!

Rudi gähnte. Mit den Fingerspitzen massierte er abwechselnd Augen und Schläfen.

»Ich will Lottchen…«

Genau in dem Augenblick meldete sich Evis Handy zum dritten Mal.

Sie fasste in ihre Handtasche und wühlte darin herum, doch sie fand es erst nach wenigstens einer halben Minute Sprechgesang einer amerikanischen Feministin. Sie stöhnte auf vor Ärger, als sie schon wieder Doris ruft an las und drückte eilig weg, doch es hatte schon zu lange gedauert. Rudis Lider klappten gerade zu, und sein Kopf fiel vornüber.

»Nicht!«, rief sie und sprang hoch. So gut es ihre Hände zuließen, packte sie ihn bei den Schultern und rüttelte daran. »Rudi! Nicht einschlafen! Wir sind noch nicht fertig!«

Doch Rudi hatte keine Lust mehr.

*

23.30 Uhr, zurück nach Mänzelhausen

»Da ist sie«, rief Doris und wies mit dem Finger auf die Frau am Straßenrand.

»Gott sei Dank ist ihr nichts passiert.« Sie hielt, und Evi stieg ein.

»Das hat ja ewig gedauert«, schimpfte sie. »Fahren Sie los! Ich habe seit zehn Minuten nicht geraucht. Mir ist, als halluziniere ich bereits.«

Doris tat wie geheißen und gab Gas. »Was war da los?«, fragte sie.

»Wieso bist du mit dem Kerl abgehauen?«, wollte Herbert wissen, und Reinhold setzte nach: »Wieso sind Sie nicht ganz normal durch die Vordertür hinausgegangen? Dann hätten wir Sie sehen und Ihnen folgen können, aber so haben Sie uns in Angst und Schrecken versetzt.«

»Das wäre ja nicht aufregend genug gewesen«, stichelte Margot. »Frau Bandeisen wollte ein wenig für Spannung sorgen, damit ihr Einsatz uns noch lange im Gedächtnis bleibt.«

Nichts an ihren Worten erinnerte mehr an die Sorgen, die sie sich vor weniger als einer halben Stunde noch um die Schneiderin gemacht hatte.

»Was reden Sie denn für einen Unsinn?«, entrüstete sich Evi, »und wieso hacken Sie jetzt alle auf mir herum? Ich habe über eine Stunde mit diesem Holzkopf zugebracht und musste ihm jedes verdammte Wort einzeln aus der Nase ziehen.«

»Der Wirt hat aber was ganz anderes gesagt«, widersprach Herbert. »Er soll geredet haben wie ein Wasserfall.«

»Das hat er, aber Sie sollten vielleicht mal fragen, was er geredet hat, das war nämlich alles nur Müll, weil meine geistigsuggestiven Kompetenzen leider unter einer Funktionsstörung litten.«

»Red nicht so geschwollen«, beschwerte sich Herbert. »Du hast es vermasselt, sonst gar nichts.«

»Dann haben Sie überhaupt nichts erfahren?«, fragte Doris besorgt.

»Nichts, was wir nicht schon wussten.« Evi fasste plötzlich an ihren Hals und begann zu hecheln. »Ich brauche eine Zigarette, sonst kann ich für nichts garantieren. Fahren Sie schneller, Doris. Mir wird schlecht.«

Kaum dass sie auf schneeglatten Straßen mehr ins Dorf hineingerutscht, als gefahren waren und Doris den Wagen vor Evis Haus zum Stehen gebracht hatte, sprang die Schneiderin hinaus. Zwei Minuten später saß sie wieder im Auto, zwischen ihren Lippen eine glühende Zigarette. Als sie nach zwei Zügen den Stummel aus dem Fenster schnippte, hauchte sie: »Das war knapp!«

Ihre Freunde ließen erlöst die Schultern sacken, denn sie hatten schon einmal miterlebt, wie Evi aufgrund von Nikotinmangel das Bewusstsein verloren hatte.

»Ich schlage vor, dass wir zur Villa fahren, wo Sie uns alles ganz genau schildern werden, einverstanden?«

»Was bleibt mir übrig, Frau Vorsitzende? Sie lassen ja doch nicht locker.«

Es war weit nach Mitternacht, als sie vor der Villa hielten.

»Reinhold, Sie können bei mir übernachten, wenn Sie wollen. Oder ruft das Geschäft morgen früh?«

»Das Geschäft ruft immer, liebe Freundin. Mein Angestellter wird sich bitter über mich beklagen, wenn ich ihm schon wieder die ganze Arbeit aufbürde. Ich werde einen Extrabonus zahlen müssen. Dabei hatte ich ihm schon eine beachtliche Weihnachtsgratifikation überwiesen. Was mich diese Angelegenheit noch kosten wird…«

»Ich dachte, du bist Großunternehmer, aber jetzt redest du wie ein Krämer«, rüffelte Herbert und marschierte an ihm vorbei ins Haus.

Reinhold räusperte sich und folgte ihm. Evi und Margot warteten schon im Wohnzimmer.

Doris war in die Küche gegangen. Sie nahm zwei Flaschen Champagner aus dem Kühlschrank, füllte den Kühler mit Eis und ließ etwas Wasser hinzulaufen. Ein Blick in die Speisekammer erinnerte sie daran, dass sie schon wieder vergessen hatte, einzukaufen. Aber im Brotkörbchen lagen noch Milchbrötchen und zwei Laugenbrezel. Sie stellte alles auf den Servierwagen und rollte ihn ins Wohnzimmer.

Herbert hatte der Schneiderin ein Glas Likör gereicht, das diese dankbar entgegennahm. »Sie sind ein Schatz«, sagte sie und kippte den kupferfarbenen Sirup mit einem Schluck hinunter.

Margot schaute pikiert, und Herbert wurde rot, aber Evi wedelte schon wieder mit der Zigarettenschachtel.

»Dass Sie sich nicht auf Lorbeeren ausruhen, Klöbelschuh. Nehmen Sie eine raus und dann Feuer, bitte.«

Nach einem Zug war nur noch ein Stummel übrig, den sie im Aschenbecher ausdrückte. Herbert hatte der Schachtel schon die nächste Zigarette entnommen und schob sie zwischen ihre Lippen. Wieder flammte das Feuerzeug auf, und Evi inhalierte so gierig, dass sich die obere Reihe ihrer Zahnprothese abzeichnete.

Margot schüttelte ihren Kopf und murmelte: »Wie ist es nur möglich, dass so etwas die Möglichkeit ist, also, so etwas Unmögliches hält man kaum für möglich.«

»Evi, bitte!«, sagte Doris. »Wir platzen gleich vor Ungeduld.«

Die Schneiderin klopfte, begleitet von einem kleinen Hüsteln, zweimal auf ihre flache Brust, dann endlich begann sie.

»Als ich eintrat, befand sich außer dem Wirt nur noch ein Mann im Schankraum. Er war lang und dürr, und ungepflegt ist gar kein Ausdruck. Sein fettiges Haar reichte wie beim Wirt bis auf die Schultern. Seine Kleidung erinnerte mich an die von Poff, und ich fragte mich, ob die Modepolizei hier überhaupt noch etwas ausrichten könnte. Dennoch hoffte ich, dass es sich um meine Verabredung handelte.

Ich setzte mich an einen der hinteren Tische, damit uns der Wirt, sollte es zu einem Gespräch kommen, nicht belauschen konnte. Es dauerte eine Weile, bis der Typ endlich von seinem Hocker rutschte und sich zu meinem Tisch bequemte.

Wie Lottchen sehen Sie nicht gerade aus, sagte er. Ich antwortete nicht, sondern bedeutete ihm, sich zu setzen. Das tat er. Wie heißen Sie, fragte ich, und er antwortete Rudi Böhm. Ob er Lottchen kenne, wollte ich wissen. Er antwortete nicht gleich, sondern schien zu überlegen, ob es nicht klüger sei, den Mund zu halten, aber offenbar war die Neugier größer als die Vorsicht, und so nickte er.

Der Wirt mit dem Namen Rolex-Jonny kam an den Tisch und fragte, was ich trinken wolle. Ich bestellte und zündete mir eine Zigarette an, worauf er mich anschnauzte, dass Rauchen hier nicht gestattet sei. Schweigend schob ich einen fünfzig-Euro-Schein über die Tischplatte. Er grapschte danach und brachte den Aschenbecher.

Rudi starrte mich an und schien auf eine Erklärung zu warten. Doris‘ Idee, sich als Lottchens Sekretärin auszugeben, kam mir jetzt noch absurder vor. Ich musste mir also etwas einfallen lassen, Rudi von der Frage nach meiner Identität abzubringen. Doch je mehr ich mich anstrengte, meine Konzentration auf die höchstmögliche Stufe zu treiben und ihn dabei zu fokussieren, umso deutlicher spürte ich seinen Widerstand.«

»Aber warum sagte der Wirt, dass Rudis Mund gar nicht mehr stillstand und das ganz gegen seine Gewohnheit?«, fragte Margot.

»Wie ich schon sagte, redete er nur Müll. Über sein Leben zum Beispiel und vor allem über seine zahlreichen Jobs. Demnach hat er in einer Gemüseabfüllfabrik gearbeitet, dann war er Taxifahrer, dann Bauarbeiter und zuletzt Fahrer in einem Auslieferungslager, aber er begann eine Affäre mit der Frau des Chefs und wurde gefeuert. So ging das eine geschlagene Stunde lang, und ich kam einfach nicht durch. Über Lottchen verlor er kein Wort.«

»Warum haben Sie ihn denn nicht frei und frank gefragt?«

»Herrje, Margot. Das Risiko, ihn durch eine gezielte Frage nach ihr misstrauisch zu machen, war viel zu groß. Aber auf die telepathische Art wollte es nicht klappen, weil er - wie soll ich sagen? Nun, es war, als befände er sich hinter einer Mauer, und ich stand davor. Und außerdem heißt es frank und frei.«

»Aber wieso hat er Sie nach Hause zu sich eingeladen? Hatten Sie denn keine Angst, einem Wildfremden in seine Wohnung zu folgen?«, setzte Margot nach und schloss mit der Feststellung: »Ihr Leichtsinn ist so was von leichtsinnig.«

»Er hat mich nicht eingeladen, also nicht direkt. Der Wirt war schuld. Er wollte auf einmal Feierabend machen. Ich schlug Rudi vor, ein anderes Lokal aufzusuchen, aber er kannte keins, das noch geöffnet hatte. Da kam er auf die Idee, die Unterhaltung in seiner Wohnung fortzusetzen. Anscheinend hatte er Geschmack an mir gefunden. Ich willigte ein, denn er hatte ja überhaupt noch nichts Brauchbares von sich gegeben.

Bevor wir gingen, suchte ich noch die Toilette auf, was ich sofort wieder bereute, denn einen grauenhafteren Ort wie diesen hatte ich in meinen vierundsiebzig Lebensjahren noch nicht betreten. Böhm war mir durch den Gang gefolgt und hatte einen ähnlichen Verschlag mit dem Hinweis Männer aufgesucht.

Nachdem das erledigt war, zog er mich durch den Gang hinaus bis in einen Hinterhof und von dort durch eine Durchfahrt, die auf eine kaum beleuchtete Straße hinausführte. Da wurde mir klar, dass er schon die ganze Zeit geplant hatte, die Zeche zu prellen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie unangenehm mir das ist, denn nun stehe ich ebenfalls als Zechprellerin da. Einfach nur peinlich.«

Sie verdrehte ihre Augen, und erst, als Herbert sie anstieß und ihr eine glimmende Zigarette reichte, sprach sie weiter.

»Wie gerufen tauchte ein Taxi auf, in das er mich hineinstieß. Beeilung, schrie er, worauf der Fahrer zurückschrie, was das denn für ein ungeheuerliches Benehmen sei, und überhaupt transportiere er keine Betrunkenen, die kotzten ihm nur den Wagen voll, aber Rudi schnauzte ihn an, endlich loszufahren, weil einer hinter ihm her sei, einer von der ganz üblen Sorte, und er könne nicht garantieren, dass der Typ nicht den ganzen Wagen samt Insassen auseinandernehmen würde. Das genügte, um den Taxifahrer zu überzeugen, denn er drückte das Gaspedal durch, als sei tatsächlich der Teufel hinter uns her. Ich protestierte lauthals und verlangte, dass er augenblicklich anhalten solle, aber Rudi saß vorne und machte Dampf.

Als wir ankamen, sprang Böhm aus dem Wagen und ließ mich mit dem Fahrpreis sprichwörtlich sitzen. Ich verbarg meinen Ärger und zahlte, um den Taxifahrer davon abzuhalten, seine Drohung wahrzumachen und die Polizei zu verständigen. Rudi war schon im Haus und wartete auf mich.

Als ich das Treppenhaus betrat, schwante mir, wohin ich geraten war. Es war zum Fürchten. Wohin ich auch blickte, überall vollgekritzelte Wände, Briefkästen ohne Türchen, und in den Ecken türmten sich Berge von zerfetzten Werbezetteln. Ein zerbeulter Kinderwagen stank nach den Hinterlassenschaften ganzer Generationen von Babys und deren Erziehungsberechtigten gleich mit. Trostlos ist gar kein Ausdruck für das, was sich dem Auge bot, und so war es nur logisch, dass der Lift außer Betrieb war. Als habe Rudi meine Gedanken erraten, sagte er: Im fünften!«

»Sie Ärmste«, unterbrach Doris.

»Das konnte doch niemand voraussehen«, dämpfte Margot das Mitgefühl der Lehrerin.

»Sie sind sehr mutig, Evi«, würdigte Reinhold den Einsatz. »Wie damals während unserer Geiselhaft.«

»Wie ich’s gesagt habe«, schloss Herbert. »Die Schneiderin steckt alle in den Sack.«

Evi wehrte mit erhobenen Händen ab und verlangte anstelle von noch mehr Huldigungen einen neuen Schub Nikotin, und nach ein paar Zügen ging es weiter. »Oben angekommen, schloss er die Wohnungstür auf, ein morsches Ding, das aus den Angeln zu fallen drohte. Seine Wohnung ähnelte ganz dem Treppenhaus.«

Sie blickte Margot an. »Sie hätten dort für wenigstens ein Jahr einen festen Job.«

»Nicht nötig«, antwortete Margot spitz. »Ich habe bereits einen.«

»Er schob mich in die Küche und forderte mich auf, am Tisch Platz zu nehmen. Er setzte sich mir gegenüber und musterte mich solange, bis meine Hände feucht wurden vor Unbehagen. Ich konnte seine Frage hören, noch ehe er sie gestellt hatte. In meinem Kopf überschlug sich alles. Würde ich am Ende doch nicht umhinkommen, den Grund meines Erscheinens zu erklären? Dass eine von uns den Anruf angenommen hat und Lottchen gar nichts davon weiß? Dass wir erfahren wollen, was er gemeint hat mit, wir müssen uns dringend noch mal unterhalten, worüber wirst du dir denken können, weil wir glauben, dass etwas Böses dahintersteckt?

Ich musste mir eingestehen, dass meine Gabe offenbar Grenzen hat. Deine Mission ist gescheitert, sagte ich mir. Geh, und vergiss die ganze Sache. Was gehen mich Lottchen an, der Anruf, ihr toter Ex und vor allem dieser Kerl vor mir. Schleunigst raus hier, bevor er mir eventuell gefährlich werden kann. Ich stand auf und sagte, dass ich ihn nun verlassen werde, doch dann…«

»Was?«, fragten alle wie aus einem Mund.

Evi antwortete nicht. Stattdessen begann ihr ganzer Körper zu beben.

»Was ist los, Schneiderin?«

»Eine Zigarette, Klöbelschuh! Und zwar fix!«

»Selbstverständlich fix. Für dich doch immer.« Herbert grinste, und gleich darauf wiederholte sich der Ablauf, den alle schon tausendmal beobachtet hatten: Evi inhalierte und entspannte sich.

»An der gegenüberliegenden Wand hing ein Plakat. Darauf waren zwei mit knappen Höschen bekleidete und barbusige Frauen abgebildet, die allem Anschein nach einen Ringkampf nachahmten, wobei sie sich mit grotesk verzerrten Gesichtern gegenseitig an ihren langen, platingefärbten Haaren rauften. Diese Darbietung beinhaltete so ziemlich alle sexistischen Klischees, die es über Frauen überhaupt nur geben kann.

Doch es kam noch schlimmer! Am unteren Rand des Bildes stand ein derart unerhörter Satz, wie ihn selbst die übelsten Frauenfeinde während meiner Zeit als aktive Feministin nicht gewagt hätten, öffentlich zu äußern. Wer schon einmal richtigen Ärger verspürt hat, weiß, wie viel Kraft er einem verleihen kann. So war es auch in diesem Fall. Wie kannst du es diesem Nichtsnutz erlauben, dass er dir Angst macht, fragte ich mich, und im Nu gelang es mir, wieder Herrin der Lage zu werden.

Ich probierte es zunächst mit leichten Übungen. So forderte ich ihn auf, eine weggeworfene Kippe vom Boden aufzunehmen und einen Finger in die Nase zu stecken. Ich atmete auf, als beides problemlos funktionierte. Auch meinem Befehl, den Aschenbecher zu leeren, befolgte er ohne zu zögern, und als ich Durst verspürte, holte er Bier aus dem Kühlschrank und schenkte ein. Doch ich war alarmiert. Auf keinen Fall durfte ich riskieren, die Kontrolle ein weiteres Mal zu verlieren und konzentrierte mich nur noch auf einen einzigen Gedanken, der, so hoffte ich, alle anderen Fragen gleich mitbeantworten würde: Sag mir, was du von Lottchen willst!«

Sie zog an der Zigarette und sah von einem zum anderen.

»Nun reden Sie schon!«, erscholl es im Chor.

Sie schreckten zurück, als Evi plötzlich ihre Stimme erhob und Doris anblaffte: »Alles, was er sagen konnte, war: Ich will Lottchen… Und wissen Sie warum? Weil Sie genau in dem Augenblick anrufen mussten, wo ich auf dem besten Wege war, ihm den Rest des Satzes aus der Nase zu ziehen.«

»Was? Sie haben mich ja weggedrückt, und zwar gleich dreimal hintereinander«, verteidigte sich die Lehrerin.

»Richtig, unglaubliche dreimal! Sie können stolz auf sich sein, Doris, weil Sie es geschafft haben, meiner Geisteskraft sprichwörtlich den Stecker rauszuziehen. Er ist vor meinen Augen eingeschlafen, bevor ich auch nur noch ein Wort mehr erfahren konnte! Die ganze Aktion war für die Katz‘, und ich hoffe, Sie wissen, was das heißt. Wir müssen die Bedeutung Ich will Lottchen von Lottchen Kääsig persönlich erfahren und sie erneut einladen.«

»Ja glauben Sie denn, sie wird ein zweites Mal kommen?«

»Eine ganz ausgezeichnete Frage, Margot. Die Antwort ist: Höchstwahrscheinlich nicht! Wir haben sie wegen des Mantels aufgezogen, und Reinhold machte nicht nur eine abfällige Bemerkung über ihren Umgang mit Poff, sondern stieß sie auch noch auf den Boden, nachdem wir sie dazu verleiteten, sich zu betrinken, weil Doris der Meinung war, dass sie so schneller ihren Mund aufmachen würde.«

»Immerhin haben wir dadurch von Böhm und dessen verdächtigen Anruf erfahren, und überdies diente der Stoß dazu, meinen Anzug zu schützen«, verteidigte sich Reinhold.

»Dieser verdächtige Anruf wird uns in Bezug auf Lottchens Vertrauen endgültig zum Verhängnis werden, denn sie wird sicher schon entdeckt haben, dass ein Anruf bei ihr eingegangen ist, den jemand angenommen hat, nur nicht sie selbst. Wie wollen Sie ihr das denn erklären? Doch was das Schlimmste ist: Böhm wird sich wieder bei ihr melden. Lottchens Gesicht möchte ich sehen, wenn sie von dem Treffen mit der Alten mit einem Blumentopf auf dem Kopf erfährt.«

»Dann sagen wir ihr die Wahrheit. Das ist immer noch besser, als sich in Lügen zu verstricken«, schlug Doris vor.

»Wir sind bereits in Lügen verstrickt«, entgegnete Evi schroff.

»Wir sind in Sorge um sie gewesen, weil der Anrufer sie offenbar bedrohte«, schlug Margot vor. »Deswegen haben wir die Sache für sie in die Hand genommen. Aus reiner Nächstenliebe.«

Evi verdrehte erst die Augen und tippte dann mit einem Zeigefinger an Margots Stirn. Diese reagierte mit einem Schlag auf Evis Hand, in der sich wie immer eine Zigarette befand. Sie flog in hohem Bogen durch die Luft direkt in Reinholds Glas. Ein Zischen beendete ihr Leben - immerhin in erstklassigem Champagner.

»Ich hole Ihnen ein neues Glas«, sagte Doris und ging seufzend hinaus.

Als sie wieder zurück war und Reinhold das Glas reichte, sagte sie: »Es ist nun nicht mehr zu ändern, und ich gebe Margot recht. Wir werden Lottchen erklären, dass wir auf ihrer Seite sind und uns um sie sorgen, nur deshalb habe ich ihr den Anruf verschwiegen, denn sollte es sich dabei um Erpressung handeln, könne sie schnell überfordert sein, es sei denn, sie habe gute Freunde, die ihr zur Seite stehen.«

»Ach du liebe Zeit«, erwiderte Evi. »Ich hatte nicht den Eindruck, als sei sie auf unsere Freundschaft erpicht. Außerdem kann ich sie nicht leiden. Für meinen Begriff ist sie eine ziemlich verschlagene Person, die sich unter anderem mit Verbrechern verlobt.«

»Sie hat sich nur mit einem verlobt.«

Evi verzog ihren Mund. »Immer das letzte Wort, was, Margot? Das hatte schon Beatrice so an Ihnen geschätzt.«

Margot schnappte nach Luft, doch Evi ignorierte ihre Entrüstung.

»Abgesehen davon wäre unser Hilfsangebot schon wieder eine glatte Lüge. Wenn wir ehrlich sind, interessieren wir uns für Lottchen nur, weil wir ihr nicht trauen und ihr unterstellen, in etwas verwickelt zu sein. Und um zu erfahren, in was, horchen wir sie aus und spionieren ihr nach.«

»Also ich unterstelle ihr nichts«, entgegnete Margot.

»Und wieso sollten wir ihr nicht trauen?«, fragte Reinhold. »Mir scheint sie Opfer einer Verschwörung zu sein.«

»Na ja«, sagte Doris. »Evi hat bestimmt nicht ganz unrecht. Ihr Umgang mit ganz miesen Typen spricht nicht gerade für Empfindsamkeit.«

»Sie hegen Vorurteile, Doris«, antwortete Reinhold. »Sie sprach von einem Lokal mit miesen Typen, aber nicht davon, dass sie mit ihnen verkehrte. Poff ausgenommen.«

»Poff als Bankräuber reicht für zehn«, konterte Doris. »Und im Übrigen möchte ich daran erinnern, dass Sie es waren, der sich bezüglich der miesen Typen herablassend geäußert hat. Lottchen fühlte sich angegriffen und wehrte sich mit der Feststellung, dass Sie ja ein ganz besonders toller Hecht seien.«

Reinhold zuckte mit den Achseln. Anscheinend rechnete er sich keine Chancen aus, bei der Vorsitzenden ein Umdenken zu erreichen und wandte sich mit einer neuen Idee an Evi: »Sie könnten ihr doch befehlen, den Anruf von ihrer Liste zu streichen. Sie braucht nur löschen zu drücken.«

Evi kreischte auf vor Lachen und nahm dem Bestatter sofort den Wind aus den Segeln. »Damit können Sie aber nicht verhindern, dass Böhm sich erneut bei ihr melden wird. Und das wird er, das sagt mir meine Gicht.«

»Ich will Lottchen«, unterbrach Margot die Kontroverse. »Das kann nur eines heißen.«

»Und was bitte?«, fragte Evi.

»Das fragen ausgerechnet Sie?«, wunderte sich Klöbelschuhs Frau. »Soviel Begriffsstutzigkeit hätte ich gerade von Ihnen nicht erwartet, wo Sie doch sonst nicht so zimperlich sind, was schlüpfrige Angelegenheiten angeht. Ich will Lottchen bedeutet natürlich, sie in sein Bett zu kriegen. Dazu würde die Aufforderung passen, sich etwas Hübsches anzuziehen.«

Doris nickte. »Vielleicht liegen wir völlig daneben, und Lottchen ist gar nicht abgeneigt von dem, was Böhm nach Margots Ansicht von ihr will. Sie ist wieder Single, warum sollte sie nicht Gefallen an einem neuen Freund finden?«

»Das ist doch Unsinn«, widersprach Evi. »Haben Sie vergessen, was er sagte? Dass sie schon wisse, worüber sie sich noch einmal unterhalten müssten. Das klingt mir nicht nach einem Flirt am Telefon. Sagten Sie nicht selbst, dass es sich um eine Drohung handele? Böhm will etwas von ihr, meinetwegen auch Sex, aber das ist nicht alles. Es muss etwas wirklich Großes dahinterstecken.«

»Der Meinung bin ich auch«, schmatzte Herbert. Margot verstand und füllte wortlos sein trockenes Glas.

»Lottchen ist dabei, ihrer Vergangenheit lebe wohl zu sagen«, sprach Evi weiter. »Da passt ein schmieriger Typ wie Böhm nicht hinein, und sie lässt ihn abblitzen.«

Bedrücktes Schweigen trat ein, und es schien, als seien sie mit ihrem Latein am Ende, aber dann streckte Reinhold plötzlich einen Finger in die Höhe. »Wir könnten vielleicht doch noch verhindern, dass Böhm Lottchen wieder anrufen wird.«

»Dann lassen Sie mal hören«, sagte Evi schlecht gelaunt.

»Was halten Sie davon, wenn wir uns morgen gleich in der Frühe auf den Weg zu Böhms Wohnung machen, wo Sie, verehrte Frau Bandeisen, ihn als Erstes anweisen, Lottchens Nummer aus seiner Kontaktliste zu löschen. Zweitens suggerieren Sie ihm, dass er ein Lottchen gar nicht kennt, sie noch nie gesehen hat, dass er überhaupt keine Ahnung hat, wer das sein soll. Dann reden Sie ihm aus, dass er gestern Abend eine Verabredung hatte. Er war nicht im »Handtuch«, sondern saß brav zu Hause vorm Fernseher. Alsdann verhexen Sie Lottchen, die uns sagen wird, was er von ihr wollte.«

Alle horchten auf und blickten den Bestatter mit Mienen an, die Überraschung und Dankbarkeit zugleich ausdrückten, denn die Idee schien ihnen Hoffnung zu geben auf einen glücklichen Ausgang der peinlichen Angelegenheit.

»Gar nicht schlecht«, sagte Margot als Erste.

»Nicht schlecht? Die Idee ist brillant«, rief Doris begeistert aus.

»Das ist das Beste, was Totengräber heute zum Besten gegeben hat«, bestätigte auch Herbert, und Margot beeilte sich hinzuzufügen: »Das Beste stets zum Schluss!«

»Was sagen Sie dazu?«, fragte Reinhold und sah die Schneiderin erwartungsvoll an.

Evi war gerade damit beschäftigt, mit gespitzten Lippen die letzten Nikotinreste aus den noch verbliebenen fünf Millimetern ihrer Zigarette herauszusaugen. Anstelle einer Antwort vernahmen sie nur ein genuscheltes: »Augenblick, ich…«

In ihrem Mund hatten sich Tabakbrösel angehäuft, die sie mit Daumen und Zeigefinger diskret von ihrer Zungenspitze ablas.

»Wenn das kein Ja bedeutet!«, jubelte der Bestatter.

»Damit wir morgen hellwach und ausgeruht sind, gehen wir jetzt am besten zu Bett«, schlug Doris vor. »Sie können alle hier übernachten, das spart Zeit.«

»Auf keinen Fall«, sagte Evi. »Glauben Sie, ich ziehe zweimal hintereinander dasselbe Kleid an?«

Doris seufzte. »Natürlich nicht.«

Margot blickte abschätzig auf das verschrumpelte Gebäck im Körbchen. »Wir gehen auch nach Hause. Ohne vernünftiges Frühstück bin ich kein Mensch.«

»Ganz wie Sie wollen«, antwortete Doris und wandte sich an Reinhold. »Dann bleiben wenigstens Sie hier. Ich habe ein hübsches Gästezimmer.« Sie blickte auf ihre Armbanduhr und machte hm. »Es ist jetzt zwei Uhr. Wie wäre es mit neun? Bis dahin sollten wir ausgeruht sein für einen Besuch bei Rudi Böhm. Einverstanden?«

Die anderen nickten Zustimmung und marschierten hinaus.

Reinhold stand da wie bestellt und nicht abgeholt und hatte sich bereits mehrere Male geräuspert.

»Was haben Sie denn?«, fragte Doris. Sie ging zu ihm und hakte sich bei ihm ein. »Gehen wir doch hinauf, oder fürchten Sie, ich könnte Sie verführen?«

»Würden Sie denn?«

»Das hängt ganz von Ihnen ab.«

Tu, was ich denke!

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