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Kapitel 5

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Lottchen - Mittwoch, 26. Dezember 2012

Der Arbeitseinsatz, wie Evi die geplante Aushorchaktion bezeichnet hatte, war im Sande verlaufen. Bei allem Eifer hatten sie außer Acht gelassen, dass sie an den Feiertagen weder Erika noch Gabi in ihren Läden antreffen würden. Herbert war es immerhin gelungen, Uschi zwischen Küche und Service ein paar Fragen zu Lothar und dessen mutmaßlichem Bruder zu stellen, doch die Wirtin hatte ihn nur verständnislos angeschaut und gemeint, dass sie ja noch nicht einmal Lothar richtig kannte, geschweige denn seinen Bruder. Zu guter Letzt hatte dann auch noch Reinhold gepasst.

»Bitte halten Sie mich nicht für einen Drückeberger, aber alleine der Gedanke, mit einem Sargkatalog und einer Flasche Champagner vorgeschwindelte Werbung für mein Unternehmen zu machen, und das bei einer noch so jungen Frau, erscheint mir derart befremdlich, dass ich darauf bestehen muss, von dieser Aufgabe entbunden zu werden.«

Nach dieser Erklärung hatte Doris ein Einsehen gehabt und die Sache selbst in die Hand genommen.

Mit Erfolg, wie alle sehen konnten, denn Lottchen hatte Doris‘ telefonische Einladung angenommen und war am zweiten Weihnachtstag pünktlich um 15 Uhr erschienen.

Kaum dass sie in einem grünen, bis zu den Waden reichenden Lodenmantel neben Reinhold Platz genommen hatte, war Doris schon mit einem Glas Champagner zur Stelle. Sie stellte es vor Lottchen auf den Tisch und lächelte sie freundlich an.

Keiner vom Club hatte Lottchen seit ihrer Ankunft im Dorf aus der Nähe gesehen, und jetzt verstanden sie, was Olaf Keck vor kurzem in seiner Gaststube über sie zu berichten gewusst hatte. Schön sei sie, aber nicht nur schön. Irgendwie natürlich schön, also schön natürlich. Mit anderen Worten: Lottchen Kääsig war so schön, dass man ihre Schönheit mit schönen Worten überhaupt nicht schön beschreiben konnte.

Umso befremdlicher erschienen ihnen nun Rede und Benehmen der charismatischen Besucherin.

»Sekt am Nachmittag?«, fragte sie schnippisch.

»Das ist kein Sekt«, antwortete Herbert. »Wir trinken hier nur Champagner. Schon mal was gehört davon?«

Lottchen gab keine Antwort, sondern nahm das Glas und trank es in einem Zug leer. Sie hickste und wischte anschließend mit dem Handrücken über ihren Mund.

»Ganz gut«, sagte sie und hielt Doris ihr Glas hin. »Gleich noch mal, wenn ich bitten darf.«

Reinhold hatte sein Gesicht verzogen und war ein Stück von ihr abgerückt. Wie immer, wenn eine Situation ihm zu schaffen machte, betrachtete er seine Hände und schwieg.

»Diesen Mantel haben Sie aber nicht bei Gabi gekauft?«, fragte Evi und drückte ihre Zigarette aus.

»Bei Gabi gibt’s doch nur Bademäntel«, lachte Herbert, »aber dieses grüne Ding könnte als einer durchgehen.«

Lottchen stutzte und blickte verärgert von einem zum anderen.

»Was sind Sie denn für ein Verein? Sich Leute einladen und dann über sie lästern?«

»Wir sind ein Club und kein Verein«, stellte Herbert klar. »Vereine sind was für Kaninchen- und Taubenzüchter.«

»Club?«, wiederholte Lottchen stirnrunzelnd. »Ich kenne nur Club-Jacken und Club-Cola. Von Club-Zigaretten hab ich noch nie gehört, aber ich hab schon mal ein Club-Sandwich an einer Autobahnraststätte gegessen.«

Sie blickte auf die Zigarettenschachteln, die Evi zu zwei fünfstöckigen Türmen aufgebaut hatte.

Die Schneiderin bemerkte es und sagte: »Das ist schwarzer Tabak in Maispapier, so etwas kriegen Sie hierzulande normalerweise gar nicht zu kaufen. Leider geht mein Vorrat zur Neige. Diese Sorte wird nicht mehr hergestellt. Schon seit Jahren nicht. Die wenigen hier sind die letzten ihrer Art. Ein Jammer, aber leider nicht zu ändern.«

Lottchen zuckte mit den Achseln. »Champagner, Maiszigaretten, Club. Was hab ich damit zu tun? Was wollen Sie eigentlich von mir?«

Doris begriff allmählich, dass sie mit der Mitgliedschaftsnummer nicht weiterkamen. »Wir wissen, dass die Polizei bei Ihnen war«, preschte sie daher vor. »Wegen dieses Kerls, der letztens hier war und sich vor Ihrem Haus und der Bäckerei ausgezogen hat. Frau Bandeisen hatte ihn zufällig dabei beobachtet.«

Sie warf Evi einen Blick zu. »Wir wissen zwar nicht, warum er das tat, aber wir glauben zu wissen, dass es sich um Lothar Bölkers Bruder handelt. Lothar lebte bis vor einem Jahr auch hier im Dorf. Er ist gestorben, und sein Bruder hieß Holger Bölker.«

»Ach der«, sagte Lottchen. »Der von der Kripo hat mich auch schon nach dem gefragt.«

»Er wurde ermordet«, erklärte Doris. »Letzten Freitag in Perlstetten. Wir waren zufällig in der Nähe. Evi hat seine Leiche gesehen und ihn wiedererkannt. Es war derselbe Mann, der sich vor Ihrem Haus entkleidet hat und dann verschwunden ist. Wir würden gerne wissen, ob Sie den Mann kannten und was Hauptkommissar Beckergsell von Ihnen wollte.«

»Ich habe keine Ahnung, wer Holger Bölker war. Der Mann vor meinem Haus hieß Bertram Poff und war mein Verlobter, und der in Perlstetten war auch Bertram Poff und auch mein Verlobter. Als dieser Beckergsell mit seiner Schnapsfahne mir das Leichenfoto zeigte, wusste ich natürlich sofort Bescheid.«

Evi bekam einen roten Kopf und räusperte sich.

»Das ist unmöglich.«

»Was ist unmöglich?«

»Der Ermordete ist Holger Bölker.«

»Ich werde ja wohl wissen, wie mein Verlobter aussieht.« Lottchen griff wieder nach ihrem Glas, doch es war leer.

»Wenn Sie noch ein Gläschen hätten, könnte ich Ihnen vielleicht mehr erzählen. Aber im Moment hab ich so einen trockenen Hals.«

Sie räusperte sich und massierte ihren Kehlkopf. »Richtig unangenehm ist das.«

Herbert stöhnte leise, als er eine neue Flasche öffnete. Sein Gesichtsausdruck verriet Widerwillen. Er kann sie nicht leiden, dachte Doris. Lottchen wird niemals Mitglied werden, dafür würde er schon sorgen.

Außer Lottchen trank niemand mehr. Ihnen war der Appetit vergangen.

»Mein Verlobter, also ehemaliger Verlobter, hatte einen Ausweis und einen Führerschein bei sich, die beide auf den Namen Holger Bölker ausgestellt waren«, fuhr sie wie versprochen fort. »Unglaublich, dass niemandem von der Polizei aufgefallen ist, dass sie sich überhaupt nicht ähnlich sehen.«

»Mich wundert das nicht«, lästerte Evi. »Auf Beckergsells Augen hat schon so manche Tomate geruht.«

»Dann war der Striptease-Kerl also wirklich Ihr Verlobter?«, fragte Margot.

»Wie ich schon sagte.«

»Und wieso haben Sie ihn fortgejagt, anstatt ihn hineinzubitten?«

»Weil ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, deshalb.«

»Und wieso?«

»Wieso, wieso. Das scheint wohl Ihr Lieblingswort zu sein, was? Ich konnte ihn nicht mehr leiden. Er jammerte immer rum und hatte nie Geld. Außerdem saß er mal im Gefängnis, ziemlich lange sogar.«

»Na, das ist doch eine Neuigkeit!«, rief Reinhold und ließ von seinen Händen ab. »Dann wissen Sie doch sicher auch, weshalb er dort war?«

»Er hat mit irgendeinem Typ eine Bank ausgeraubt, aber als sie das Geld hatten, fing der Filialleiter an zu heulen. Poff hat das nicht ausgehalten, psychisch, meine ich. Anstatt so schnell wie möglich abzuhauen, heulte Bertram mit und entschuldigte sich. Tja, so war er.«

»Und der andere?«, fragte Herbert. »Hat der auch geheult?«

»Der konnte mit dem Geld abhauen. Er wurde nie geschnappt.«

»Wie hieß er?«, fragte Doris.

»Sie werden es nicht glauben, aber Poff weigerte sich standhaft, seinen Namen zu verraten. Das nennt man wohl Ganovenehre.«

»Ich glaube, das nennt man Berechnung«, sagte Reinhold. »Hätte man ihn geschnappt, wäre das Geld erst recht futsch gewesen. Lieber schwieg er in der Hoffnung, später doch noch zu seinem Anteil zu kommen.«

»Kann schon sein, dass er das gehofft hat«, antwortete Lottchen lahm.

»Wie lange war er im Gefängnis?«, fragte Doris.

»Wie ich schon sagte. Ziemlich lange.«

»Kannten Sie ihn da schon?«

»Zum Glück nicht, sonst hätte ich ihn im Knast besuchen müssen.« Sie tippte an ihre Stirn. »Besten Dank auch.«

»Wie lernten Sie ihn kennen?«, fragte Reinhold.

»In einer Kneipe in Perlstetten. Ich weiß selbst nicht mehr, wie ich da überhaupt reingekommen bin. Das war so ein richtig mieser Schuppen mit richtig miesen Typen drin.«

Sie senkte ihren Kopf und zog die Mundwinkel an, so als wolle sie ihnen deutlich machen, wie unbegreiflich ihr die Bekanntschaft mit diesem Taugenichts selbst vorkam.

»Und in diesem miesen Schuppen mit all den miesen Typen begegneten Sie Bertram, Ihrem späteren Verlobten.«

Lottchen hob ihren Kopf und musterte den Bestatter von der Seite. »Sie scheinen ja ein ganz besonders toller Hecht zu sein«, sagte sie und wedelte mit den Händen wie zur Unterstreichung ihrer hohen Meinung über ihn.

»Wieso war er so ungepflegt, und wieso trug er Gummistiefel?«, wollte Evi wissen.

»Ich sagte doch gerade, dass er kein Geld hatte«, antwortete Lottchen mit zunehmender Gereiztheit. »Haben Sie schon mal einen gepflegten Habenichts gesehen? Also ich nicht.«

Evi schüttelte ihren Kopf. »Ich auch nicht.«

»Haben Sie eine Idee, wieso er nach Mänzelhausen kam?«, fragte Margot.

»Ich hatte mit ihm Schluss gemacht. Damit hatte er natürlich nicht gerechnet. Er dachte allen Ernstes, ich würde das ewig mitmachen, ich meine, so wie er lebte. Aber da hatte er sich geschnitten. Jedenfalls rief er einen Tag vorher an und sagte, dass er unbedingt mit mir sprechen muss. Er ließ nicht davon ab, und ich war schon in hellster Aufregung, bevor er überhaupt angekommen war. Als ich ihn dann sah, halbnackt, ist mir der Kragen geplatzt. In dem Moment war er für mich endgültig gestorben.«

»Was er zwei Tage später tatsächlich war«, sagte Reinhold nicht ohne Mitgefühl.

»Haben Sie ihn in den zwei Tagen bis zu seiner Ermordung noch einmal irgendwo gesehen oder getroffen?«, fragte Doris.

»Nein«, antwortete Lottchen knapp.

»Weshalb sind Sie eigentlich nach Mänzelhausen gezogen?«, fragte Margot.

»Weshalb? Deshalb!«, schnauzte Lottchen. »Das hat mich die Schmontz auch schon gefragt.«

»Wundert Sie das? Unser Dorf hat einer schönen Frau wie Ihnen doch gar nichts zu bieten«, meinte Doris.

»Was hat denn was zu bieten mit Schönheit zu tun?«, blaffte Lottchen zurück. »Ich brauche nichts und niemanden, das oder der mir was bietet. Ich wohne hier. Sie doch auch.«

Misstrauisch sah sie von einem zum anderen. »Wenn das alles war, werde ich jetzt gehen. Der Champagner war gut, aber ich krieg allmählich einen sauren Magen.«

»Oh, Sie Ärmste!«, rief Evi und legte eine Hand auf ihre Brust. »Sodbrennen ist eine Heimsuchung, das kann ich nur bestätigen. Sobald ich auch nur eine Champagnerflasche ansehe, beginnt mein Magen zu rebellieren. Daher nehme ich nur Likör zu mir, aber selbstverständlich nicht jeden.«

Sie wies auf ihre Flasche. »Feinster italienischer Mandellikör. Möchten Sie mal probieren?«

Lottchen griff nach der Flasche und betrachtete das Etikett. »Hoffentlich wird mir nicht schlecht, aber wie soll ich das herausfinden, wenn ich nicht probiere?« Sie lachte laut und wedelte dabei mit der Flasche über ihrem Kopf.

Doris war augenblicklich aufgesprungen und zum Gläserschrank geeilt. Zurück kam sie mit einem Likörglas, das sie vor Lottchen auf den Tisch stellte. Evi schenkte ein.

»Ihr Verlobter Bertram Poff besaß also die Ausweispapiere von Holger Bölker. Wieso? Ich meine, warum?«, fragte Doris.

»Ich weiß es nicht. Dieser Bölker oder irgendein anderer hat sie ihm vielleicht gegeben, kann aber auch sein, dass Poff sie gefunden und eingesteckt hat.«

»Hat Beckergsell Ihnen gesagt, wieso er glaubt, dass Holger Lothars Bruder ist? Es hätte doch auch ein anderer gewesen sein können, der zufällig ebenfalls Bölker hieß.«

»An so eine Frage erinnere ich mich nicht. Ich hab ihm nur gesagt, dass ich die Typen nicht kenne, und dass einer von beiden mal hier gelebt hat, weiß ich erst seit letzten Donnerstag.«

»Haben Sie einen Verdacht, wer Ihren Verlobten getötet haben könnte?«, fragte Doris. »Vielleicht Holger Bölker?«

Lottchen antwortete mit einem heftigen Schluckauf. Ihr Likörglas war leer. Sie konnten hören, wie sie den Zucker von ihrer Zunge wegschmatzte, dann wischte sie mit einer Hand ihren Mund sauber und danach dieselbe Hand an ihrem Rock.

Ganz langsam erhob sie sich, doch sie schwankte und suchte Halt an den Schulterpolstern von Reinholds gut und gerne tausend Euro teurem Maßanzug. Sie krallte sich daran fest wie seinerzeit Lothar an Evis Kleid, als diese seinen großen Zeh durchbohrt hatte.

»Entschuldigung«, lallte sie, doch der Bestatter machte nicht den Eindruck, als wolle er sich damit zufriedengeben. Angewidert stieß er sie von sich und löste damit einen fürchterlichen Tumult aus, denn Lottchens Mantelschöße fegten nicht nur alle Gläser vom Tisch, sondern auch Evis bis oben hin mit gelben Kippen gefüllten Aschenbecher.

Alle sahen, wie sie eine Hand auf ihren Mund legte und mit den Augen rollte. »Oh Gott, ist mir schlecht.«

Im Fallen riss sie den Flaschenkühler mit sich, der zu gut einem Drittel mit Eiswürfeln und Wasser gefüllt war. Sie schrie auf vor Schreck, als die eisige Welle über ihren Rücken schwappte und die Eiswürfel über ihren Kopf hinwegkollerten. Sie selbst war auf allen vieren gelandet und zwischen Reinholds Sofa und dem abgeräumten Tisch steckengeblieben. Herbert hatte schließlich das einzig Vernünftige getan, nämlich sie bei den Händen gepackt und sprichwörtlich aus der Klemme gezogen.

Als sie wieder auf ihren Beinen stand, glichen ihre Bewegungen denen eines betrunkenen Matrosen, aber Doris und Herbert kamen ihr zu Hilfe und führten sie hinaus. In der Halle knöpften sie ihren Mantel zu, schnappten sich je einen Arm und schleiften sie so im Laufschritt über die verschneiten Straßen bis zu ihrem Haus. Dort wühlten sie in ihren Taschen nach dem Schlüssel, fanden ihn und schlossen auf. Drinnen machten sie Licht, und dann zogen und schoben sie Lottchens schlaffen Körper die steile Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer, wo sie mit einem tief aus ihrer Kehle vernehmbaren, schaumig gluckernden, ich glaub, ich muss kotzen rücklings auf ihr Bett fiel und keinen Mucks mehr von sich gab.

»Da haben wir was Schönes angerichtet«, sagte Doris und blickte schuldbewusst auf die Betrunkene. »Sie scheint keinen Alkohol zu vertragen. Dabei waren es höchstens eineinhalb Flaschen, und das bisschen Mandellikör kann doch unmöglich solch eine Wirkung haben. Ich schlage vor, dass einer bei ihr bleibt, bis sie wieder nüchtern ist.«

Herbert schüttelte seinen Kopf und schritt bereits zur Tür.

»Das dachte ich mir«, sagte Doris gereizt, während sie sich abmühte, die Bettdecke unter Lottchens Körper hervorzuziehen. »Dann sagen Sie wenigenstens den anderen Bescheid. Wir treffen uns dann morgen wieder.«

Herbert brummte irgendetwas in seinen Bart und war im nächsten Moment verschwunden. Doris schaute auf ihre Uhr. Es war kurz nach sechs. Das wird eine lange Nacht werden, dachte sie. Ihr war kalt, aber ein Ofen, geschweige denn eine Zentralheizung gab es in dem Raum mit der gefährlich tief durchhängenden Balkendecke und dem vereisten Sprossenfenster nicht.

Sie sah sich um und entdeckte in einer Ecke ein tragbares Heizgerät mit einer Spirale, die rot aufglühte, nachdem sie das Gerät vor sich gestellt und eingeschaltet hatte. Schon nach wenigen Minuten fühlte sich die Luft warm an. Sie entspannte sich und lockerte die Schultern.

Das Schlafzimmer war winzig im Vergleich zu den weiten Räumen der Villa und entsprach mit ungefähr zwölf Quadratmetern der Größe von Doris‘ Badezimmer.

Das Bett, in dem Lottchen gerade ihren Rausch ausschlief, bestand nur aus einem Metallgestell, auf dem die Matratze lag. Über dem Kopfende war mit Reißzwecken ein Poster festgemacht. Es zeigte eine Rockgruppe bei einem Live-Konzert.

Das Haus hatte einmal Paul und Luise Perlmann gehört. Sie hatten zwei Söhne, Frank und Stefan.

Die Perlmanns waren ganz normale, unauffällige Leute gewesen. Niemand im Dorf hatte je etwas Negatives über die Familie zu sagen gehabt, doch dann geschah etwas, das mit einem Schlag alles veränderte: Frank war verschwunden. Zwei Tage später fand ihn der Hund eines Spaziergängers tot im Wald. Angeblich hatte er sich das Leben genommen. Jedoch munkelte man damals, dass er in Wirklichkeit an einer Überdosis Rauschgift gestorben sei, die sein jüngerer Bruder ihm mit einer Nadel verabreicht haben sollte. Stefan, der dies weder bestätigt noch geleugnet hatte, beging einen Tag später Selbstmord, und die Eltern brachten sich gleich nach der Doppelbeerdigung ihrer Söhne mit Tabletten um.

Bis zu Lottchens Einzug hatte das Haus jahrelang leergestanden.

Sie erinnerte sich an Lothars Bemerkung damals, als er über Beatrice sprach. Dass es noch zwei andere Immobilien im Dorf gab, die besser zu ihr gepasst hätten als das alte Forsthaus.

Passte dieses Haus zu Lottchen? Eines, indem einmal Selbstmörder und vielleicht sogar ein Mörder gelebt hatten? Doris wusste es nicht. Dazu kannte sie Lottchen zu wenig.

Für den Kleiderschrank hingegen hätte es keinen passenderen Ort geben können. Er verstellte beinahe eine ganze Wand bis hoch zur Decke. Er war alt, von grober Machart und hässlich. Wahrscheinlich ein Erbstück der Urgroßeltern. Doris konnte sich vorstellen, wie abstoßend solch ein Monstrum im eigenen Zimmer auf einen Jugendlichen wirken musste.

Im Schlüsselloch der rechten Tür steckte ein Schlüssel, der gleichzeitig als Griff diente.

Doris überlegte, ob sich ein Blick hinein vielleicht lohnen könnte. Sie schaute hinter sich aufs Bett. Lottchen lag auf dem Rücken. Ihr Atem ging gleichmäßig, nur hin und wieder gab sie ein paar glucksende Laute von sich.

Doris ging zum Schrank und drehte den Schlüssel ganz vorsichtig nach rechts. Erstaunt stellte sie fest, wie einfach und geräuschlos er sich bewegen ließ. Vielleicht hat sie das Schloss geölt, dachte sie und öffnete die Tür. Die Scharniere knarzten ein wenig, doch Lottchen blieb ruhig.

Als Doris vorsichtig ihren Kopf ins Innere steckte, schlug ihr ein Geruch von wurmstichigem Holz und ungelüfteten Kleidern entgegen. An einer Holzstange hingen auf Bügeln eine struppige Pelzjacke mit Kapuze, ein schwarzes Stretch-Minikleid, ein Norwegerpullover mit quer über der Brust eingestrickten Rentiermotiven und an einem in die Wand eingedrehten Haken eine durchlöcherte Jeans. Auf dem Boden stand ein Paar Turnschuhe. Mehr gab es nicht.

Doris stellte sich Evis Gesicht vor. Die Schneiderin würde beim Anblick dieser Auswahl ohne zu zögern die Modepolizei verständigen.

Sie vergaß den Schrank und ging zurück zum Bett, wo sie ihre Aufmerksamkeit auf den Nachttisch richtete. Er hatte zwei Schubladen und ein kleines Türchen mit einem Holzknopf zum Öffnen.

Tagebücher, Liebesbriefe, Fotos! schoss es ihr durch den Kopf, gefolgt von Schlagwörtern, wie: Hinweise, Spuren, Verdächtige!

Ohne Lottchen aus den Augen zu lassen, setzte sie sich vorsichtig auf die Bettkante.

Selbstverständlich war es ihr zuwider, in fremdem Besitz zu wühlen, aber in diesem Fall - immerhin war ein Mord geschehen, und Lottchen kannte das Opfer - hielt sie es praktisch für fahrlässig, es nicht zu tun. Bei dem Gedanken an die Schätze, die sich in der Schublade eventuell befanden, begannen ihre Finger zu zucken, doch sie wurde enttäuscht.

Bis auf ein abgegriffenes Taschenbuch war die obere Lade leer. »Baronesse lässt bitten«, las sie und verzog ihr Gesicht. Der Titel erinnerte sie an Beatrices Buch »Am seidenen Faden«, ein höchst dramatischer Schicksalsroman, der auf unbegreifliche Weise ein Bestseller geworden war.

Sie legte das Buch zurück und zog die andere Lade auf. Zwei Visitenkarten waren alles, was sich darin befand. Sie nahm sie heraus und las Gaststätte »Zum schmalen Handtuch«, Perlstetten. Dazu gab es noch eine Anschrift mit Telefonnummer und eine linkische Zeichnung eines auf einer Wäscheleine hängenden Handtuchs, das nicht breiter war als ein Strumpf. Vielleicht war das der miese Schuppen, wo ihr Bertram Poff zum ersten Mal begegnet war.

Auf der anderen Karte stand Weinstube »Zum himmlischen Tröpfchen«, Tuchmachergasse 23, Knaufberg.

Sie kannte Knaufberg zumindest vom Namen her. Vielleicht hatte Lottchen dort gelebt. Woher sie eigentlich kam, wussten sie nicht, auch nicht, ob sie einen Beruf hatte oder irgendwo eine Familie existierte.

Sie legte die Visitenkarten zurück und schob die Lade zu.

Lottchen hatte sich ein wenig gedreht und dabei Doris ihr Gesicht zugewandt. Wie alt mochte sie sein? Vierzig, vielleicht einundvierzig? Umso befremdlicher empfand es die über zwanzig Jahre ältere Clubvorsitzende, dass eine Frau sich in einem so wunderbaren Alter so bäurisch kleidete. Mit dem Lodenmantel, der mit wenigstens zwei Nummern Übergröße unter der Decke hervorschaute, hatte sie auf den ersten Blick eher ver- als bekleidet gewirkt; für Herbert jedenfalls Anlass genug, sich halb totzulachen. Unter dem Mantel war ein altmodischer Glockenrock in schwarzrotem Karomuster zum Vorschein gekommen, und der beigefarbene Pullover, dessen wagenradgroßer Rollkragen Lottchens vermutlich schlanken Hals einmummte, war ein grobgestricktes Ding, das aussah wie das Erstlingswerk einer Handarbeitsschülerin. Zur Vervollständigung ihres rustikalen Looks hatte sie wollene Strümpfe gewählt, die um diese Jahreszeit ihre Beine wenigstens vor der Kälte schützten sowie knöchelhohe, gefütterte Schnürschuhe aus dunkelbraunem Leder.

Ihr Kleidungsstil war furchtbar und so ganz ohne Geschmack, doch was kümmerte dies bei einem Gesicht wie dem von Lottchen.

Dass sie gerade ihren Rausch ausschlief und morgen früh einen schrecklichen Kater haben würde, hätte bei ihrem Aussehen niemand für möglich gehalten.

Sie besaß einen ganz außergewöhnlich zarten, olivfarbenen Teint, der nichts von seiner jugendlichen Frische verloren hatte. Wie hatte sie es geschafft, dem Altern bis heute so erfolgreich entkommen zu sein?

Doris war nicht besonders gut im Beschreiben von Gesichtern. Hohe Wangenknochen, weiche Züge und markantes Kinn waren Begriffe aus Büchern und Zeitschriften, die so abgenutzt klangen wie der Titel von Beatrices Bestseller lachhaft war. Trotzdem unterschied sich Beatrices Stil ganz erheblich von so manch anderem Liebesdrama. Doris erinnerte sich deutlich an eine Passage, in der ein außenstehender Betrachter den Mund der weiblichen Hauptfigur beschreibt:

»Die vollen, rotleuchtenden Lippen zogen jeden Betrachter automatisch in ihren Bann. Besonders die Oberlippe mit ihrem messerscharfgeschnittenen Amorbogen besaß eine so ungeheure Anziehungskraft, dass man verleitet war, den Finger auszustrecken und mit der Spitze an den wie gegossen wirkenden Konturen entlangzufahren. Die Unterlippe ließ wie ihre kleinere Schwester nichts an Sinnlichkeit zu wünschen übrig, im Gegenteil setzte sie noch ein weiteres, nicht minder verführerisches Signal, nämlich eine exakt in der Mitte bestehende, kaum wahrnehmbare Kerbe, die aber trotz oder gerade wegen ihrer Winzigkeit eine Art heimlichen Durchschlupf ins Mundinnere erahnen ließ, eine Vorstellung, die an Erotik kaum zu überbieten war.

Evi hatte das Buch nie gelesen. Sie hätte es sonst den Flammen in Doris‘ Kamin anheimgegeben und genüsslich dabei zugesehen, wie jede einzelne Seite zu Asche zerfallen wäre. Doch ganz egal wie kitschig oder sexistisch es sich anhören mochte: Bei Lottchens Mund traf es genau ins Schwarze.

Zu diesem Mund durften selbstverständlich die braunen, warmen Augen nicht fehlen, auch nicht die schön geschwungenen Brauen, geschweige denn die langen Wimpern und die hohe Stirn. Nicht zu vergessen die aristokratische Nase sowie die ebenmäßigen, schneeweißen Zähne. In Lottchens Gesicht fehlte kein einziges dieser Merkmale. Es war einzigartig, unvergleichlich, beispiellos, oder mit einem Wort: Perfekt!

Doris konnte sich Lottchens Wirkung auf Männer gut vorstellen, ganz besonders an einem Ort wie dem »Schmalen Handtuch«, wo die mutmaßlich miesen Typen verkehrten, von denen sie gesprochen hatte.

Sie dachte wieder an Beatrice und fragte sich, ob es Zufall war, dass ein Jahr nach deren Tod eine neue, schöne Fremde in Mänzelhausen aufgetaucht war.

Hatte Lottchen auf Margots Frage nach dem Grund Ihres Herkommens nicht übertrieben barsch reagiert? Wieso machte sie daraus ein Geheimnis? Ihr musste doch klar sein, dass das Interesse des Clubs jetzt in Neugier umgeschlagen war. Vielleicht aber steckte gar nichts dahinter, und außerdem: Wieso sollte sie einer Handvoll Unbekannten Details aus ihrem Leben erzählen? Immerhin aber wussten sie jetzt Bescheid über ihre Verlobung mit dem Ermordeten.

Es war wirklich allerhand, dass Beckergsell den Mann auf dem Foto nicht von Bertram Poff hatte unterscheiden können, sondern am nächsten Tag darauf aufmerksam gemacht werden musste. Wer weiß, ob er es jemals von sich aus bemerkt hätte.

Sie stand auf und ging dank der erwärmten Luft zum inzwischen eisfreien Fenster, von dem aus sie die Bäckerei sehen konnte. Die Leuchtreklame war an einigen Stellen ausgefallen. Bei Schmontz waren die ersten drei Buchstaben dunkel, und bei Klingelpeltz fehlte das dritte l. Erika ist müde geworden, dachte sie. Ein erleuchteter Buchstabe mehr oder weniger hatte wohl keine Bedeutung mehr für den Erfolg ihres Geschäftes.

Plötzlich vernahm sie neben sich ein melodisches Summen. Sie wandte sich um und ging zurück zum Bett, denn von dort kam das Geräusch.

Es summte weiter, doch Lottchen schien es weder zu hören noch zu spüren. Als es nicht aufhörte, beugte Doris sich über die Schlafende und lüftete ein wenig die Decke. Das Summen konnte nur von einem Handy stammen, das allem Anschein nach in einer der Manteltaschen steckte. Doris schob vorsichtig ihre Hand hinein und zog es heraus. Mit einem geflüsterten Ja? nahm sie den Anruf entgegen.

»Hallo Lottchen«, antwortete die vergnügte Stimme eines Mannes. Im Hintergrund war Gläserklirren zu hören, begleitet vom Lärm anderer männlicher Stimmen.

»Wir sollten uns dringend noch mal unterhalten. Worüber, wirst du dir ja denken können. Morgen um 22 Uhr im »Handtuch«, und zwar pünktlich, wenn ich bitten darf. Ach ja, zieh dir was Hübsches an.«

Tu, was ich denke!

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