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Kapitel 2

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Ein unwillkommenes Weihnachtsgeschenk - Mittwoch, 19. Dezember 2012, 19 Uhr bis Mitternacht

Die Weihnachtsfeier in Beckergsells Büro sollte um 19 Uhr beginnen. Um 18.30 Uhr waren die vier Mänzelhäuser Clubfreunde mit Doris‘ Wagen losgefahren.

Sie hatten zunächst Reinhold in seinem Institut abgeholt und sich dann gemeinsam zum Präsidium begeben.

Herbert trug schwer an einem Korb mit Champagnerflaschen. Reinhold dagegen begnügte sich mit einer Tüte Knabbergebäck, die in seiner Hand bei jedem Schritt lässig vor und zurückschwang.

Evi hatte eine Stange Zigaretten mitgebracht.

»Ich komme nur, wenn ich rauchen darf«, hatte sie gedroht und nach Beckergsells Absage ihm die Erlaubnis erst nach langem Hin und Her doch noch abgerungen.

Bereits nach wenigen Minuten war der Raum so mit Qualm erfüllt, dass dem Hauptkommissar nichts anderes übrigblieb, als mit viel Aufwand seine Efeutöpfe beiseitezuschieben und ein Fenster zu öffnen. Als die eisige Luft hereinströmte, hagelte es Protest seitens seiner Kollegen. Besonders einer, der dem Club als Kriminaloberkommissar Schlupp und Beckergsells Teamkollege vorgestellt worden war, tat sich hervor. Den fünf war schon nicht entgangen, dass er den Champagner wie Wasser in sich hineinschüttete, doch jetzt baute er sich mit einem fetten Grinsen vor der in ein taubenblaues Etuikleid im chinesischen Stil gekleideten Schneiderin auf und musterte sie von oben bis unten.

»Wenn Sie etwas sagen wollen, überlegen Sie sich gut, was«, riet Evi und blies ihm nach einem ihrer berüchtigten Züge eine mächtige Qualmwolke mitten ins Gesicht. Der Schnösel wich zurück und kämpfte wenigstens fünf Minuten lang mit einem Hustenanfall ganz ähnlich dem von Herbert vor einem Jahr, als ein steinhartes Brezelstück in seinem Hals steckengeblieben war. Der Husten hatte erst aufgehört, als der Brocken nach einem Schlag auf den Rücken in hohem Bogen aus seinem Mund herausgeschossen und direkt im Eiswasser des Champagnerkühlers gelandet war.

Beckergsell hob die Raucherlaubnis wieder auf und ordnete an, dass die Fenster unverzüglich zu schließen seien. Das Verbot betraf somit auch Reinhold, der eine Cohiba aus der Brusttasche seines Sakkos gezogen hatte und gerade dabei war, sie anzuzünden. Der rüde Ton des Hauptkommissars musste dem Bestatter derart gegen den Strich gegangen sein, dass er Evi aufforderte: »Jetzt zeigen Sie mal, was Sie sonst noch draufhaben.«

Evi nickte und warf ihm einen verschlagenen Blick zu. »Dann passen Sie mal auf.«

Gespannt beobachteten sie, wie Kriminalhauptkommissar Beckergsell damit begann, sich langsam im Kreis zu drehen.

»Was tut er?«, fragte Reinhold.

»Ganz einfach«, antwortete Evi. »Er sucht eine Antwort auf die Frage: Weiß zufällig jemand, was mit mir los ist?«

Doch keiner seiner Kollegen beachtete ihn. Von den vielen Umdrehungen musste ihm schwindlig geworden sein, denn er fasste sich an den Kopf und schwankte leicht von einer auf die andere Seite. Plötzlich entdeckte er auf seinem Schreibtisch die Flasche mit dem Eierlikör, und das Schwanken hörte auf. Er ging hin, packte die Flasche am Hals und marschierte damit zu Oberkommissar Studz, seinem zweiten Teamkollegen.

Leo Studz war ein kleingewachsener, schüchterner Junge von siebenundzwanzig Jahren. Wie so mancher, der stets darauf bedacht war, bei seinem Chef gut dazustehen, hatte er damit zu kämpfen, viel zu häufig als Blitzableiter für Beckergsells schlechte Laune herzuhalten.

Gerade unterhielt er sich mit Margarete, der langjährigen Putzfrau, die von allen nur Maggie genannt wurde. Im Nebenjob hatte sich die fünfzig Jahre alte Perlstettenerin als Lebensberaterin einen Namen gemacht. Studz hatte ihre diskrete Art schnell zu schätzen gelernt und zählte inzwischen zu einem ihrer treuesten »Patienten«. Diesem Umstand war sein Beiname »Mädchen« geschuldet, dem ein Kollege von der Sitte ihm verpasst hatte.

Dieser konnte sich glücklich schätzen, dass Evi davon nichts wusste. Das weibliche Geschlecht verunglimpft zu wissen, erzeugte bei der Schneiderin jedes Mal höchst gefährliche Gewaltbereitschaft. Nur ihre Freunde wussten, dass sie einen Eintrag im Bundeszentralregister hatte. Während der alljährlich stattfindenden Perlstettener Modewoche hatte sie einem Model-Grapscher mit dem Pfennigabsatz ihres Pumps beinahe ein Loch in den Kopf gehauen. Die Affäre ging glimpflich aus, denn der Kerl hatte einen Schädel so hart wie eine Kokosnuss, weswegen Evi mit einer Geldstrafe davongekommen war.

Ins Gespräch vertieft, erweckten Studz und Maggie den Eindruck äußerster Vertraulichkeit. So schienen sie nicht zu bemerken, dass Beckergsell mit dem Eierlikör im Anmarsch war. Erst als es zu spät war, gewahrte der Oberkommissar das Verhängnis.

Beckergsell schüttelte erst die Flasche, dann drehte er sie auf den Kopf und beobachtete vergnügt, wie die sämige, hellgelbe Soße gemächlich von der rechten Schulter abwärts über den weinroten Skipullover seines Oberkommissars floss. Masche für Masche des grobgestrickten Meisterstücks füllte sich mit der cremigen Masse, die schließlich im Stoff des darunter hervorblitzenden Flanellhemdes versickerte.

Doch Beckergsells Coup sollte nicht ohne Folgen bleiben, denn Evi hatte als Nächsten Studz selbst ins Visier genommen.

»Gleich werden Sie erleben, wie unterhaltsam Rache sein kann«, flüsterte sie.

»Gott sei Dank«, flüsterte Reinhold zurück. »Ich befürchtete schon, dass Sie ihm keine Gelegenheit für Satisfaktion geben würden.«

Davon konnte indes keine Rede sein, und Reinhold sollte nicht enttäuscht werden.

Am Fenster standen die neuen Praktikanten Krepp und Blinke. Beide machten einen betrunkenen Eindruck. Eigentlich eine Ungeheuerlichkeit in Anbetracht ihrer niedrigen Stellung.

Studz gesellte sich zu ihnen und sprach sie an.

Es schien, als habe er für sein Vorhaben genau die Richtigen angeheuert, denn kaum dass er ihnen seine Anweisung eingeflüstert hatte, waren ihre Hände auch schon in Beckergsells Fensterschmuck aus Efeu verschwunden. Sie wühlten und zerrten, es knirschte, knackste und raschelte, bis nach einem kraftvollen Ruck die Gardinenstange nachgab und ihnen die von Staub umwölkten Schlinggewächse lawinenartig entgegensausten. Jetzt brauchten sie nur noch die Blumentöpfe abzuräumen und alles zusammen, die meterlangen Ranken und die fleckigbraunen Töpfe, hinaus auf die, dem Himmel sei Dank, menschenleere Straße zu werfen.

Wie auf Knopfdruck verstummte das Gewieher des Hauptkommissars. Sprachlos und mit ausgestreckten Armen näherte er sich dem Fenster mit den blinden Scheiben. In seinen Augen standen Bestürzung und Trauer geschrieben. Wer wollte es ihm verübeln, wo doch kein einziges Blättchen der seit Jahren liebevoll gepflegten Begrünung mehr vorhanden war.

Als Studz die wässrigen Augen seines Chefs gewahrte, biss er, ob aus Scham oder Reue, so fest in seine Faust, dass die obere Zahnreihe einen millimetertiefen Abdruck in den Handrücken hineinstanzte.

Doch Beckergsell, der die Lust auf Vergeltung schon seit seiner Jugendzeit als ein Überbleibsel primitivster menschlicher Urinstinkte geißelte, hatte seinen Kummer schnell vergessen. »Gut gemacht!«, sagte er. »Ich konnte dieses blöde Gestrüpp sowieso nicht mehr sehen.«

Evi nickte zufrieden und gab Reinhold ein Zeichen: »Jetzt kommt das Beste.«

Oberkommissar Hannes Schlupp stellte auf einmal sein Glas beiseite. Wer den 30-jährigen Perlstettener im blau-weißen Ringelpulli und beiger Cordjeans sah, konnte glauben, dass er ein wenig zu viel getrunken hatte, doch sein fröhliches Kopfwackeln hatte noch einen anderen Grund.

Er stellte sich an Beckergsells Schreibtisch und griff nach dem Telefonhörer. Als Nächstes wählte er eine Nummer, die er von einem kleinen Zettel ablas, der mit einem Klebestreifen am Telefon befestigt war.

Er legte einen Finger auf seine Lippen und bedeutete seinem Publikum, still zu sein.

Inzwischen musste sich am anderen Ende ein Teilnehmer gemeldet haben, denn Schlupp holte tief Luft, und als er sie wieder abließ, wurden alle Anwesenden Zeugen dessen, was der junge Oberkommissar laut und deutlich in den Hörer sprach: »Herr Staatsanwalt, Sie sind der größte Depp auf Gottes Erden!«

Kaum dass er den Hörer aufgelegt hatte, brachen alle in tosendes Gelächter aus. Er selbst lachte am lautesten, wobei er die Schulterklopfer und Püffe der Kollegen gnädig über sich ergehen ließ.

Doch plötzlich läutete das Telefon, und jäh war der Spaß vorbei.

In Beckergsells Augen stand die nackte Angst geschrieben, weil er blitzschnell begriffen haben musste, zu welcher Torheit sich der junge Kollege hatte hinreißen lassen.

Aus dessen Mund erscholl mit einem Mal ein derart jämmerliches Wehklagen, dass Reinhold besorgt ins Ohr der Schneiderin raunte: »Er wird sich doch nichts antun?«

Schlupp rang seine Hände und flehte Beckergsell an, ihn nicht zu verraten. Der Hauptkommissar hüstelte in seine hohle Hand und sagte nach einigem Zögern: »Ich übernehme die volle Verantwortung!«

Entschlossen griff er nach dem Hörer und meldete sich mit seinem Namen. Während Schlupp mit eingezogenem Kopf und gefalteten Händen dastand und das Vater unser herunterleierte, waren die Gesichter seiner betrunkenen Kollegen von Schadenfreude überzogen.

Beckergsell hielt den Hörer zu und fauchte: »Seien Sie doch still, Schlupp! Man versteht ja sein eigenes Wort nicht.«

Doch dann hellte sich seine Miene auf, und Schlupp hörte auf zu beten. »Was ist denn?«, winselte er hoffnungsfroh.

Als Beckergsell nicht antwortete, kam er dicht heran und reckte seinen Hals bis zum Hörer. Doch der Hauptkommissar stieß ihn zur Seite und knallte den Hörer auf.

»Die Party ist beendet!«, donnerte er. »Wir haben eine Leiche!«

*

22.15 Uhr, Tatort Pelikanstraße

Der Mord war acht Fahrminuten vom Präsidium entfernt in der Pelikanstraße geschehen. Es war eine schmale Einbahnstraße im Stadtteil Adlerhorst. Zur Entstehung dessen Namens gab es eine uralte Geschichte, die bis in die Gegenwart den Einwohnern von Perlstetten so geläufig war wie das Kleine Einmaleins einem jeden Erstklässler.

Der Überlieferung nach hatten sich hier im 14. Jahrhundert ein Adler und eine Taube niedergelassen. Kaum angekommen, begann der Adler einen Horst zu bauen, der über ein ganzes Hausdach hinweg gereicht haben soll. Nach einer Weile legte die Taube ein Ei in das Nest. Tag und Nacht hockte sie auf dem Ei, aber auch nach Wochen war kein Küken geschlüpft. Vom langen Brüten geschwächt, verlor sie die Besinnung und fiel vom Dach direkt vors Maul eines chronisch hungrigen Tanzbären.

Evi fand die Geschichte lehrreich, machte sie doch eines deutlich: Allein das Streben nach Mutterschaft konnte tödlich sein.

Der Club war Beckergsell und seinen Gehilfen nach draußen gefolgt. Vor dem Gebäude torkelten sie ihrem Chef bis zum Dienstwagen nach. Beckergsell, der schon am Steuer saß, schrie Beeilung! Die Türen schlugen zu, und schon brausten sie davon. Evi hatte bereits ein Taxi angehalten.

»Folgen Sie diesem Wagen!«, befahl sie, »aber mit Tempo, wenn ich bitten darf!«

»Mit Tempo«, wiederholte der Fahrer. »Wird gemacht, Muttchen.«

Doris auf dem Beifahrersitz war zusammengezuckt und blickte nach hinten, wo sie trotz der schummrigen Beleuchtung im Fond Evis geweitete Augen erkannte. Sie schaute wieder nach vorne und wartete. Niemand sprach ein Wort, und nichts geschah.

Bald sahen sie vor sich das Blinken des Blaulichts, das typisch rotweiße Band, das den Tatort absperrte, und davor zahlreiche Menschen.

»Anhalten!«, rief Evi. Sofort stoppte der Wagen. Doris fragte nach dem Preis, doch der Fahrer wollte kein Geld. Er stieg ebenfalls aus und ging um den Wagen herum auf Evi zu.

»Gnädige Frau«, flötete er wie ein Operettensänger, »es war mir eine Ehre, Sie in meinem bescheidenen Gefährt transportiert haben zu dürfen.«

Evi nickte und hielt ihm eine Hand hin, wie es sonst nur Filmdiven, Königinnen und der Papst zu tun pflegen. Der Mann hatte die Bedeutung ihrer Geste offenbar sofort begriffen und nahm entzückt die Hand, die er mit der Routine eines Gentlemans küsste. Dies währte so lange, bis Herbert schnauzte: »Schluss jetzt mit der Handleckerei. Setz dich in dein Auto und verschwinde!«

»Wie Sie wünschen, mein Herr.« Er verbeugte sich ein letztes Mal vor seinen Fahrgästen, stieg seufzend ein und rauschte davon.

Reinhold schüttelte seinen Kopf, Herbert stöhnte Mann, oh Mann, und Margot stellte fünfmal hintereinander die Frage, wie so etwas denn nur möglich sei.

»Fragen Sie Evi«, antwortete Doris und hob fröstelnd ihre Schultern.

Doch Evi war schon weg. Sie hatte sich durch eine Traube von Neugierigen hindurchgeschlängelt, bis sie am Absperrband angelangt war. Von hier konnte sie den gesamten Tatort überblicken.

»Typisch«, vernahm sie hinter sich plötzlich die Stimme eines Mannes. »Diese alten Schachteln sind die schlimmsten Gaffer von allen.«

Evi wandte sich um und blickte einem Enddreißiger in die frech dreinblickenden Augen. Nur zwei Sekunden später hob der schlaksige Kerl das Absperrband und kroch darunter hindurch. Mit großen Schritten eilte er auf die Stelle zu, wo sich Beckergsell und ein anderer Mann über einen am Boden Liegenden beugten und miteinander sprachen.

Der Mann war schon fast am Ziel, als ein Beamter in Uniform Halt! schrie. Als sein Befehl keine Wirkung zeigte, stellte er sich dem Eindringling in den Weg, doch zu seiner Verblüffung erhielt er nicht nur einen Schlag auf den Kopf, sondern auch einen Tritt in den Allerwertesten.

Wie aus dem Nichts schossen zwei weitere Uniformierte auf den mutmaßlich Geistesgestörten zu und bogen seine Arme auf den Rücken.

»Abführen!«, befahl ein vierter, und schon war der Mann in einem Polizeifahrzeug verschwunden. Evis entspanntem Gesichtsausdruck war abzulesen, dass sie nichts anderes erwartet hatte.

Ihre ganze Aufmerksamkeit galt jetzt der Leiche, die keine fünf Meter von ihr entfernt im Rinnstein lag. Sie stutzte und traute ihren Augen nicht. War das nicht…? Nein, unmöglich. Solch einen Zufall konnte es nicht geben. Oder doch?

Beckergsell war weg, aber der andere Mann, vermutlich der Gerichtsmediziner, hockte noch neben dem Toten und betrachtete ihn schweigend.

Plötzlich sah sie Reinhold und Beckergsell. Sie sprachen miteinander, und kurz darauf war der Bestatter verschwunden. Inzwischen waren auch Doris, Margot und Herbert an das Band getreten.

»Erst war die Lehrerin ganz verrückt danach, Detektivin zu spielen, und jetzt fängst du damit an«, maulte Herbert.

»Ich hab so ein komisches Gefühl«, erwiderte Evi mit gerunzelter Stirn.

»Was denn für ein Gefühl?«, fragte Margot, die vor Kälte von einem Fuß auf den anderen trat. »Ich will nach Hause. Die Weihnachtsfeier war schon sterbenslangweilig und jetzt auch noch ein Mord.«

»Das ist ja Reinhold mit seinem Leichenauto«, rief Doris und wies auf den Bestatter, der gerade ausgestiegen war und nun die Heckklappe der über fünf Meter langen Bestattungskarosse öffnete. Er blickte in die Runde und gewahrte Doris, die mit einer Hand winkte.

»Reinhold«, rief sie ihm zu, »brauchen Sie Hilfe?«

Er nickte heftig, ein Zeichen, dass er verstanden hatte.

Die vier quetschten sich am Band entlang durch die Menge der Schaulustigen, was nicht ohne Rempeleien, Püffe in den Rücken und Stöße auf die Hüfte abging. Herbert fluchte Schock, schwere Not!, Margot schrie Aua!, und Doris war den Tränen nahe.

»Herbert«, rief der Bestatter schon von weitem. »Helfen Sie mir, den Sarg herauszunehmen. Mein Mitarbeiter ist nicht erreichbar.«

Herbert kam näher und schaute auf das graue Behältnis aus Kunststoff, das auf einer metallenen, herausziehbaren Ladefläche mit Schienen befestigt war.

»Wieso denn ich?«, fragte er schlecht gelaunt. »Soll die Schneiderin mit anfassen. Wo sie doch so ein G e f ü h l hat.«

»Herbert!«, rief Margot erbost. »Evi in ihren wackligen Schuhen kann doch so einen schweren Kasten nicht heben.«

»Soll sie die Dinger eben ausziehen. Das ist sowieso kein Schuhwerk für alte Schachteln.«

Ein Blick von Evi genügte, um Herbert das Fürchten zu lehren.

»Vor nicht mehr als fünf Minuten hat schon ein anderer Flegel versucht, mich zu beleidigen«, sagte sie und wies mit dem Zeigefinger auf das Polizeifahrzeug. »Der schmort jetzt da drin.«

Herbert hatte offenbar kein Interesse daran, zu erfahren, wie er dort hineingekommen war und machte Anstalten, den Sarg aus dem Wagen zu ziehen, doch Evi kam ihm zuvor.

»Gehen Sie weg!«, fauchte sie. »Sie werden hier nicht gebraucht.«

Herbert zuckte mit den Schultern und machte Platz.

Reinhold trug gemeinsam mit Evi den Sarg zu der Stelle, wo sich der Leichnam befand. Man hatte ihn inzwischen mit einem weißen Tuch bedeckt, aber unten schauten die Füße heraus. Sie steckten in Gummistiefeln.

»Reinhold«, sagte sie. »Nehmen Sie mal das Tuch weg. Ich hab so ein komisches Gefühl.«

Evi holte tief Luft und wartete, bis das Tuch entfernt war. Als sie das Gesicht des Toten erblickte, das zweireihige Jackett und die schmutzige Jeans, brauchte sie nicht lange zu überlegen.

»Ich weiß, wer das ist. Es ist der Kerl von neulich. Der halb nackte vor Lottchens Haus.«

Sie blickte auf den leblosen Körper, der aussah, als sei er in roter Farbe gebadet worden. Nur dass es sich nicht um Farbe, sondern um Blut handelte.

»Ich hab den Mund zu voll genommen«, sagte sie und hob bedauernd die Schultern. »Ich fürchte, er ist zu schwer für mich, und dann zusammen mit dem Sarg…«

»Natürlich«, sagte Reinhold. »Sie gehen zu Beckergsell und sagen ihm, was Sie entdeckt haben. Herbert wird mir helfen.«

Beckergsell machte ein finsteres Gesicht, als er Evi auf sich zukommen sah.

»Was machen Sie denn hier? Sie wollen doch nicht etwa schon wieder Polizeiarbeit übernehmen? Falls ja, muss ich Sie enttäuschen. Wir haben gerade keine Stellen für Hobbydetektive frei.«

»Was könnte ich denn sonst noch von Ihnen wollen, Hauptkommissar Beckergsell?«

»Sagen Sie’s mir.«

»Ich möchte eine Aussage machen.«

»Eine Aussage? Ich bin ganz Ohr.«

»Auch auf die Gefahr hin, dass Sie mich wegen Beamtenbeleidigung verhaften, Herr Hauptkommissar, so sag ich’s trotzdem: Sie sind ein überhebliches Ekel. Ich konnte Sie vom ersten Augenblick an nicht leiden.«

»War das die Aussage?«

»Nein. Die Aussage ist, dass der Typ, ich meine den Toten, vor zwei Tagen bei uns im Dorf war. Außer mir gibt es noch zwei Personen, die ihn sahen.«

»Wie heißen die?«

»Lottchen Kääsig und Erika Schmontz von der Bäckerei Klingelpeltz-Schmontz.«

»Hm.« Beckergsell sah Evi einen Moment schweigend an. »Sie sind also ganz sicher, dass es dieser Mann war?«

»Natürlich bin ich sicher, oder sehen Sie auf meinen Augen irgendwo Tomaten?«

»Was wollte er in Mänzelhausen?«

»Vielleicht jemanden besuchen.«

»Wen zum Beispiel?«

»Als ich ihn sah, befand er sich gerade vor Lottchens Haus. Aber er könnte auch zu Erika gewollt haben, weil ihr Laden kaum zwanzig Meter entfernt ist. Am besten aber, Sie fragen beide selbst.«

»Und was tat er vor…? Wie heißt die Frau?«

»Sie heißt Lottchen, wahrscheinlich eine Verniedlichung.«

»Und? Was tat er?«

»Er hat seine Sachen ausgezogen und sie über den Zaun geworfen.«

»So, so. Über den Zaun also.«

Der Hauptkommissar holte einmal tief Luft und ließ sie mit einem Donnerschlag wieder ab: »Sagen Sie mal, wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

»Keineswegs.«

»Dann zum letzten Mal: Was wollte der Kerl?«

»Das sagte ich doch gerade. Entweder einen Besuch machen oder bei Erika einkaufen. Sonst fällt mir kein Grund ein, sich freiwillig nach Mänzelhausen zu begeben.«

»Gut«, meinte Beckergsell. »Wenn wir hier fertig sind, begleiten Sie mich ins Präsidium, wo Oberkommissar Schlupp Ihre Aussage aufnehmen wird. Solange bleiben Sie hier in der Nähe.«

»Ganz wie Sie wünschen, Herr Hauptkommissar.« Damit machte Evi kehrt und spazierte zurück zu den anderen, von denen nur noch Margot und Doris übrig waren. Reinholds Wagen stand nicht mehr da, und auch Herbert war weg.

»Reinhold bringt die Leiche gerade zur Gerichtsmedizin, und Herbert begleitet ihn, weil er mal sehen will, was die da so machen«, erklärte Margot.

Doris kam Evis Lachanfall zuvor, indem sie schnell fragte: »Was wollten Sie denn von Beckergsell?«

Evi berichtete von ihrer Entdeckung und der Unterhaltung mit dem Hauptkommissar und dass sie noch einmal ins Präsidium müsse. Doch es dauerte noch eine viertel Stunde, bis Beckergsell endlich das Zeichen zur Abfahrt gab.

Nach weiteren dreißig Minuten im Präsidium war Evi fertig und setzte sich zu Doris und Margot ins Auto. Herbert gab Bescheid, dass er inzwischen in Reinholds Institut sei, und verlangte, abgeholt zu werden.

Als sie endlich zu Hause in Mänzelhausen ankamen, schlug es im Kirchturm gerade Mitternacht.

»Weiß Beckergsell, wieso der Tote sich ausgezogen hat?«, fragte Doris, als sie Evi vor ihrem Haus absetzte.

»Nein«, antwortete die Schneiderin. »Ich will ihm die Antwort auf die Frage ersparen, wieso er Blumenerde isst.«

Tu, was ich denke!

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