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Die griechische Weisheitstradition

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Spätestens für die nachexilische Zeit ist noch ein weiterer Kulturraum in den Blick zu nehmen, der die alttestamentliche Weisheitsliteratur beeinflusst haben könnte, nämlich die griechische Welt, die spätestens seit Alexander dem Großen und der folgenden Epoche des Hellenismus ihren Einfluss auf den Vorderen Orient ausübte. Aufgrund der nachweisbaren Kontakte zwischen dem östlichen Mittelmeerraum und der syro-palästinischen Küste muss man allerdings annehmen, dass es auch schon vor der hellenistischen Epoche, also vor dem 4. Jh. v. Chr., einen kulturellen Austausch gab, der infolge wirtschaftlicher Verbindungen letztlich nicht ausbleiben konnte. Es ist hier natürlich nicht möglich, einen philosophiegeschichtlichen Abriss über das griechische Denken zu geben; einige wenige Hinweise müssen an dieser Stelle genügen.

moira und tyche

Zunächst zu zwei wichtigen griechischen Begriffen, die nicht nur als abstrakte Termini, sondern auch in der konkreten Gestalt von Schicksalsgöttinnen in der gesamten Antike bekannt waren: moira und tyche. moira bezeichnet im Griechischen einen Anteil, vorrangig einen Anteil am Los des Lebens; tyche lässt sich am ehesten mit dem deutschen Begriff ,Schicksal‘ übersetzen, ohne dass damit freilich alle Dimensionen des griechischen Wortes erfasst wären. Hinter beiden Begriffen steht die griechische Vorstellung einer unberechenbaren, undurchschaubaren und wohl letztlich auch über den (olympischen) Göttern stehenden Macht, die mehr und mehr personal aufgefasst wurde. Während die moira dabei gelegentlich auftritt und vor allem in den homerischen Epen eine bedeutende Rolle spielt, hatte die – bei Homer übrigens nicht belegte – tyche als Schicksalsgöttin hohe Popularität52. An beiden Begriffen bzw. Gestalten wird etwas Typisches greifbar, das die griechische mit der altorientalischen Welt verbindet und damit den östlichen Mittelmeerraum als einen zusammenhängenden Kulturraum ausweist: Welt und Wirklichkeit werden als ein von Göttern und göttlichem Handeln bestimmter Zusammenhang verstanden. Religion ist keine Frage des Glaubens oder des Für-wahr-Haltens, sondern eine schlichte Gegebenheit, der man sich ein- und unterzuordnen hat – auch dann, wenn das Wirken des Religiösen und Mythischen in Form von Göttern und Schicksalsmächten sich dem Einzelnen nicht als sinnvoll oder begründet erschließt.

logos

Neben diesem mythischen Denken kam allerdings bereits im 6./5. Jh. v. Chr. im griechisch beeinflussten Kulturraum, also nicht nur im Mutterland, sondern auch und zunächst vor allem in den kleinasiatischen Kolonien, eine Denkbewegung auf, die sich vom Mythischen löst und andere Faktoren als die Welt bewegend zu benennen versucht. Man hat diesen Übergang gelegentlich als einen vom Mythos hin zum logos beschrieben. Damit wird der Prozess allerdings nur unzureichend erfasst, denn das Mythische wurde nie ganz durch ein logos-bestimmtes Weltbild ersetzt – vielmehr stehen auch bei den großen griechischen Denkern der Mythos als eine an die Vorzeit und Urzeit erinnernde und die Gegenwart fundierende Erinnerungsfigur und der logos als ein Versuch der eigenständigen, ,rationalen‘ Durchdringung des Weltzusammenhangs nebeneinander53.

Vorsokratiker

Vor den großen Lehrern der griechischen Philosophie – Sokrates, Platon und Aristoteles – traten Gelehrte auf, die gelegentlich als Naturphilosophen oder aber schlicht als ,Vorsokratiker‘ bezeichnet werden. Als unmittelbare Quellen stehen für diese Philosophen nur Fragmente zur Verfügung54. Bei den Vorsokratikern spielt vor allem die Frage nach dem Ursprung, dem Urgrund von Welt und Wirklichkeit eine Rolle; ähnliche Themen werden in den alttestamentlichen Texten in den Schöpfungsberichten oder Texten wie Ps 104 reflektiert.

Neben den Ansätzen der Vorsokratiker tritt im 5. Jh. v. Chr. im griechischen Kulturraum ein Interesse an politischen, sozialen und auch rhetorischen Fragen hervor. Das hängt wohl auch mit der Einführung der Demokratie zusammen, die die Rede und die Überzeugungskraft zu wichtigen Faktoren im gesellschaftlichen Leben gemacht hatte. In dieser Zeit ziehen die Sophisten – benannt nach dem griechischen Wort für Weisheit, sofia, – als bezahlte Lehrer von Stadt zu Stadt55.

Sokrates und Platon

In Streitgesprächen mit diesen Sophisten entwirft der Athener Platon (427–347 v. Chr.) das Bild seines Lehrers Sokrates, der keine eigenen Schriften hinterlassen hat, nach Platons Darstellung sein Wissen aber dialogisch entwickelte. Dementsprechend liegen die Werke Platons in Form von Dialogen vor, in denen sehr häufig Sokrates als einer der Gesprächspartner auftritt. Dabei steht die Ideenlehre im Zentrum der platonischen Philosophie56. Ausgangspunkt der Ideenlehre ist die Geometrie57: Platon stellt sich die Frage, was die offensichtlich nicht materialen Figuren der Geometrie eigentlich sind; er kommt zu dem Schluss, dass es sich bei ihnen um Ideen handelt58. Die jeweiligen fehlerhaften Realisierungen machen dem Geometriker nichts aus, weil es ihm nicht um die konkret gezeichneten Figuren geht, sondern um die ihnen zugrunde liegenden Ideen. Zu einem ausgebildeten System wird die Ideenlehre dann dadurch, dass sich Urbild und Abbild derart verselbstständigen, dass die sichtbare Welt nur noch als Abbild der Ideenwelt verstanden wird – aus der geometrisch-methodischen Unterscheidung wird somit eine ontologische Differenz. In der Folge werden die Ideen hierarchisiert: An der Spitze steht eine alle anderen Ideen transzendierende Idee des Guten. Die Idee des Guten schafft aus sich heraus die anderen Ideen und macht sie erkennbar. Es ist umstritten, ob die hellenistische Kultur auch populäre Formen dieses platonischen Denkens in den Vorderen Orient brachte; es ist aber nicht auszuschließen, dass man auch in Jerusalem im 3./2. Jh. v. Chr. vom platonischen Idealismus gehört hatte59.

Aristoteles

Während Platons Idealismus sich von der Erfahrung konkreter Wirklichkeit entfernt, steht für seinen Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.) die Erfahrung am Anfang des Denkens60. Aristoteles ist zwar von der modernen Naturwissenschaft weit entfernt, doch wie diese trägt er Beobachtungen zusammen, um die konkrete Welt durch die Erkenntnis gemeinsamer Strukturen rational durchschaubar zu machen. Die aristotelische Naturphilosophie mündet in eine philosophische Theologie: Nach Aristoteles ist ein höchstes Sein, ein unbewegter Beweger der Ursprung aller Bewegung und zugleich der Mittelpunkt aller Naturphänomene61.

Epikur

Der Philosoph Epikur (341–270 v. Chr.) wurde auf der Insel Samos geboren, wo er wahrscheinlich die vorsokratische Naturphilosophie kennenlernte. Die Werke Epikurs sind in weiten Teilen verloren, so dass man auf sekundäre Quellen angewiesen ist62. Diesen zufolge war Epikurs Ethik eine Theorie des menschlichen Glücks, das seiner Ansicht nach aus einem Höchstmaß an Freude besteht. Die Empfindungen der Freude und des Schmerzes sind nach Epikur die einzigen Handlungsorientierungen, die die Natur dem Menschen mitgegeben hat. Diese Handlungsorientierung bedeutet aber nicht, dass man immer nur Freude zu suchen und Schmerz zu meiden habe; vielmehr können auch langfristige Strategien sinnvoll sein, etwa einen Schmerz auf sich zu nehmen, um danach umso glücklicher sein zu können63. Ob die Trägergruppen des Predigerbuches mit epikureischem Denken vertraut waren, lässt sich in letzter Konsequenz nicht entscheiden; einige Maximen Kohelets gehen aber in ähnliche Richtungen wie die Lehren Epikurs.

Stoa

Zenon aus Kition (332–262 v. Chr.), Kleanthes von Assos (331–233 v. Chr.) und Chrysippos aus Soloi (281–208 v. Chr.) prägten die philosophische Schule der Stoa64. Die Welt wird hier als vernünftig strukturiert und nach unabänderlichen Gesetzen geordnet verstanden. Der Mensch realisiert die ihm gegebene Freiheit dadurch, dass er sich in die vorgegebene Ordnung einfügt. Der Kosmos als organische Einheit ist für die Stoiker Ausdruck eines lückenlosen Determinismus65; dennoch bleibt ein gewisser Freiraum, der sich in der Möglichkeit, dem Welt- und Naturgesetz zuzustimmen oder es abzulehnen, realisiert. Ein Ziel der Philosophie ist es nach der Lehre der Stoa ,secundum naturam vivere‘ – also in Übereinstimmung mit dem Naturgesetz zu leben66.

Man muss sich vor Augen halten, dass die antiken Denkansätze aus Griechenland in derselben Zeit entstanden, in der auch weite Teile der alttestamentlichen Weisheitsliteratur abgefasst wurden. Auch wenn die Gelehrten aus dem Juda der nachexilischen Zeit die philosophischen Ideen, die im Mittelmeerraum aufkamen, nicht aus erster Hand gekannt haben sollten, so hatten sie doch Teil am hellenistic way of life, denn ihr Lebensraum lag spätestens seit dem Ende des 4. Jh. v. Chr. im Einflussbereich hellenistischer Kultur und Bildung. In der aktuellen Forschungsdebatte hat vor allem Otto Kaiser auf die Verbindungen zwischen alttestamentlicher Weisheit und griechischer Philosophie aufmerksam gemacht und damit für die alttestamentlichen Weisheitsschriften einen intellektuellen Rückraum erschlossen, den die ältere Weisheitsforschung nicht in dieser Deutlichkeit im Blick hatte67.

Einführung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur

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