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1. Aus Sachsen in die Welt Herkunft und Geburt

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Aus der pulsierenden Reichshauptstadt Berlin hatte es den Bankprokuristen Otto Rauff mit seiner jungen Frau und den beiden Kleinkindern im Jahr 1902 nach Köthen, in die anhaltinische Provinz verschlagen. Anlass dazu war ein in der Vorstandsetage der „Anhalt-Dessauischen Landesbank“ gefällter Beschluss, eine bislang in Berlin existente Filiale zu schließen, den dort seit Jahren als Leiter fungierenden Rauff abzuziehen und ihm stattdessen die Verantwortung der Köthener Dependance anzuvertrauen.1 Ein solcher Ortswechsel muss für einen Bewohner Berlins eine gehörige Umstellung bedeutet haben. Noch bis 1847 war die 20 Kilometer südwestlich von Dessau und 140 Kilometer entfernt von Berlin gelegene beschauliche Kleinstadt Hauptsitz eines unabhängigen Herzogtums gewesen. Im 18. Jahrhundert hatte Köthen es unter Fürst Leopold von Anhalt-Köthen zu bemerkenswerter kultureller Blüte gebracht. Als dieser nämlich einen neuen Kapellmeister benötigte, kam gegen Ende des Jahres 1717 Johann Sebastian Bach aus Weimar nach Anhalt. Fast sechs Jahre blieb der Virtuose in der Stadt und komponierte in dieser Zeit zahlreiche seiner Werke. Knapp dreihundert Jahre später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zählte Köthen 22.000 Einwohner. Eine bedeutende Industrie war dort allerdings nicht ansässig.2

Als Neubürger der Kleinstadt bezog die Familie Rauff zuerst eine Mietwohnung im ersten Stock eines gutbürgerlichen Hauses in der Theaterstraße 1. Da die neue Arbeitsstelle aber kein kurzzeitiges Intermezzo darzustellen versprach und der junge Bankmanager seiner Familie ein eigenes Heim bieten wollte, kaufte er im März 1904 von einem ortsansässigen Privatier ein schmuckes Haus in der Augustenstraße 66, in dem sich die Familie bald darauf häuslich einrichten konnte. Der Kaufpreis von 13.000 Mark verdeutlicht die damaligen finanziellen Möglichkeiten der Rauffs. Das zweistöckige Gebäude ist geräumig, aber keineswegs repräsentativ; es war das Zuhause eines gutverdienenden Bankangestellten, keineswegs jedoch die Stadtvilla eines Bankiers.3 Im neuen Heim brachte Ehefrau Anna Rauff am 19. Juni 1906 ihr drittes Kind zur Welt. Den Sohn tauften die Eltern auf den Namen Hermann Julius Walther. Die beiden ersten, in Erinnerung an die Urgroßväter väterlicherseits ausgewählten Vornamen kamen bei dem Säugling allerdings nie richtig in Gebrauch. Vielmehr setzte sich von Beginn an der auf Wunsch der Mutter gewählte dritte Vorname „Walther“ als Rufname durch. Der Junge war kerngesund und konnte dank des Vaterberufs einer bürgerlichen, ökonomisch abgesicherten Zukunft entgegenblicken. Gerade erst in der jüngeren Vergangenheit hatten die Rauffs jedoch lernen müssen, sich mit einem Rückgang des ökonomischen Erfolges zu arrangieren.4


Abb. 1. Historische Ansichtskarte von Köthen.

Die Wurzeln der Familie lassen sich seit mehreren Generationen in Berlin nachweisen. Zwar wirkte ein unmittelbarer Vorfahre noch im 18. Jahrhundert als Dienstknecht, andere Familienangehörige sind zur gleichen Zeit aber schon in ungleich angeseheneren und auch ökonomisch einträglicheren Tätigkeiten als Seidenfabrikanten, Mediziner und Brauereibesitzer festzustellen.5 Der im Revolutionsjahr 1848 in Berlin geborene Wilhelm Rauff, zukünftiger Großvater des kleinen Walther, erkannte bereits in jungen Jahren die Zeichen der Zeit und ergriff zusammen mit einem Geschäftspartner die Initiative zur Gründung des Bankhauses „Rauff & Knorr“. Noch Jahrzehnte später wurde in der Familie erzählt, wie die beiden Bankdirektoren von dem mitten im Berliner Zentrum in der Mauerstraße 35/36 unweit des Prachtboulevards „Unter den Linden“ gelegenen Stammsitz des Hauses im Gehrock mit Zylinder täglich zur Berliner Börse gingen, um dort ihre Finanzgeschäfte abzuwickeln. Bei gutem Wetter legten die beiden Herren am Berliner Opernhaus regelmäßig einen Zwischenstopp ein, um dort mit den Balletttänzerinnen zu flirten, die in der Sonne eine Probenpause genießen durften.6 Wie damals schon üblich hatte die Privatbank „Rauff & Knorr“ einen finanzkräftigen Geschäftspartner, die „Anhalt-Dessauische Landesbank“, die das kleinere Geldinstitut finanziell absicherte und kurzfristig zusätzliche Rücklagen garantierte. Bald nach der Gründung prosperierte das noch junge Geldhaus, und der Bankier Wilhelm Rauff kam zu einigem Wohlstand.7

In der kurz nach der Reichseinigung allgemein als „Gründerkrach“ in Erinnerung gebliebenen Finanzkrise von 1873 kam das Bankhaus „Rauff & Knorr“ dann aber infolge von riskanten Börsenspekulationen in eine gefährliche Schieflage. Die jähe Ernüchterung, die bald nach der Euphorie der Reichsgründung und der damit einhergehenden ökonomischen Hausse einsetzte und tausende von Sparern in den Ruin trieb, wurde in der Presse vehement diskutiert.8 Auch „Rauff & Knorr“ werden in dem Zusammenhang genannt. So interessierte sich in jenen Jahren der Journalist Otto Glagau für die Geschäftspolitik des Hauses. Sich gerade zu jener Zeit vom Liberalismus abwendend, erwähnte der später als einflussreicher Stichwortgeber des modernen Antisemitismus bekannt gewordene Glagau Wilhelm Rauff und seine Bank mehrmals in dem 1876 erschienenen Buch „Der Börsen- und Gründerschwindel in Berlin“.9

Mitten in den für das Bankhaus so schwierigen Krisenjahren wurde dem Direktor am 3. November 1873 in Berlin der zweite Sohn Otto geboren. Er wuchs in einem großbürgerlichen Elternhaus heran, das sämtliche Charakteristika einer traditionellen, konservativen Wertevermittlung aufgewiesen haben dürfte. Schon der Erstgeborene hatte eine standesgemäße Erziehung genossen, hatte nach dem unvermeidlichen Militärdienst Chemie studiert und es schließlich bis zum Chefchemiker beim aufstrebenden Darmstädter Pharmaunternehmen Merck gebracht. Hätte Otto wie sein älterer Bruder die Möglichkeit zur freien Berufswahl gehabt, wäre er seinem Herzenswunsch nachgegangen und Berufsoffizier bei der kaiserlichen Marine geworden. Doch der Vater versagte ihm diese Perspektive. Im Bankhaus fehlte ein Nachfolger und hatte noch der Erstgeborene das Recht bekommen, sein Glück in die eigenen Hände zu nehmen, war Otto als zweiter Sohn vom Vater mit einigem Nachdruck dazu gebracht worden, in die Fußstapfen des Familienoberhaupts zu treten und eine Ausbildung als Bankier im Stammsitz der Familie zu beginnen.10

Kurz nach der Durchsetzung der beruflichen Weichenstellung für den jüngeren Sohn erkrankte Wilhelm Rauff an einer Nierenentzündung und verstarb bald darauf nicht einmal 46-jährig im Oktober 1894.11 Otto war mit 21 Jahren aber noch deutlich zu jung, um das Bankhaus eigenverantwortlich zu übernehmen. Deshalb fungierte vorerst der ursprüngliche Partner Knorr als alleiniger Leiter des Geldhauses, doch der war offenbar aus gesundheitlichen Gründen drei Jahre später plötzlich ebenfalls nicht mehr in der Lage, die Geschäfte weiterzuführen. Damit übernahm im Januar 1898 die bereits seit längerem als stille Teilhaberin operierende „Anhalt-Dessauische Landesbank“ die Geschäfte. Die neuen Besitzer führten das ehemals eigenständige Stammhaus fortan als Berliner Filiale weiter. Durch den frühen Tod des Vaters war Otto Rauff nun faktisch vom designierten Nachfolger des Familienunternehmens zum bloßen Angestellten einer fremden Bank degradiert worden.12

Abgesehen von dieser wenig erfreulichen Entwicklung war dem Bankier zumindest privates Glück beschieden. Im September 1898 heiratete der damals 24-jährige die ein Jahr jüngere Luise Anna Bauermeister. In Friedenau, im wohlhabenden Berliner Süden, gründeten beide einen gemeinsamen Haushalt. Im Juni des Folgejahres wurde mit Ernst-August das erste Kind des jungen Paares geboren. Im Januar 1902 kam auch ein Mädchen auf die Welt und wurde von den Eltern auf den Namen Ilse getauft. Noch im gleichen Jahr hieß es für die Kleinfamilie dann Abschied von der Metropole zu nehmen und in das 140 Kilometer entfernte Köthen zu ziehen, wo Otto Rauff in der dortigen Filiale seines Arbeitgebers die Anstellung als Prokurist antrat. Zwar lässt die Personalentscheidung der Direktoren der „Anhalt-Dessauischen Landesbank“ auf deren grundsätzliches Vertrauen in die Kompetenz ihres Angestellten schließen, jedoch wird die Tätigkeit als Filialleiter in einer Kleinstadt wenig mit dem zu tun gehabt haben, was Otto Rauff sich im Zusammenhang mit der vom Vater aufgenötigten Berufswahl einst als Lebensalltag vorgestellt haben dürfte. Zu groß war da schlicht die Spanne zwischen dem Habitus des Direktors eines eigenständigen Bankhauses und dem Prokuristen einer Provinzfiliale.13

Walther, der jüngste Sohn der Rauffs, kam in einer bewegten Zeit zur Welt, die als „Belle Époque“ in Erinnerung geblieben ist. Das Deutsche Reich befand sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mitten in einer höchst dynamischen Entwicklung. Politische wie ökonomische, erhebliche soziale sowie demographische Veränderungen bedingten sich gegenseitig und lösten in Deutschland einen tiefgreifenden Wandel aus. Nur wenige Jahre nach der Reichsgründung von 1871 hatte die Phase der Hochindustrialisierung mit allen Begleiterscheinungen gesellschaftlicher Modernisierung eingesetzt. So stieg allein in den beiden Jahrzehnten zwischen 1895 und 1913 die Kohleförderung von 41 auf 110 Millionen Tonnen. Eine vergleichbare Steigerung gab es auch bei der Eisen- und Stahlproduktion zu verzeichnen.14 Im gleichen Zeitraum erzielten Industrie und Handwerk eine Verdopplung der Produktion. Weil die reine Binnennachfrage schnell befriedigt war, stieg das Deutsche Reich zu einer der führenden Exportnationen auf. Im Jahr 1913 lag Deutschland nur mehr knapp hinter Großbritannien auf Platz zwei der Exportländer und hatte gerade im Chemiesektor und der Elektroindustrie einen unangefochtenen Spitzenplatz auf dem Weltmarkt erobert.15 Gutausgebildete Chemiker wie der Onkel des jungen Walther Rauff entwickelten synthetische Farbstoffe, künstliche Düngemittel, neue Metalllegierungen oder Medikamente. Ähnlich bahnbrechende Neuerungen ergaben sich mit der Nutzbarmachung der Elektrizität und der Entwicklung des Elektromotors als massenhafte, hocheffiziente Energiequelle. In den Städten hielt elektrisches Licht Einzug und eroberte schon bald auch private Haushalte, während die allgegenwärtigen Pferdekutschen allmählich von elektrischen Straßenbahnen abgelöst wurden.16

Für die Menschen im Reich hatten die Neuerungen tiefgreifende Auswirkungen. Intensiver als bisher wurde deren Leben vom Rhythmus der Arbeit bestimmt, auf der anderen Seite führten die Verbesserungen bei der medizinischen Versorgung und den hygienischen Zuständen zu einer rapide gestiegenen Lebenserwartung. Starben um 1871 Männer im Durchschnitt mit 35,6 und Frauen mit 38,5 Jahren, lebte man in Deutschland um 1910 etwa zehn Jahre länger. Gerade die Kindersterblichkeit ging zurück, wovon auch ein Säugling wie der kleine Walther Rauff aufgrund der mittlerweile erhältlichen besseren Medikamente profitiert haben wird.17 Während dieser Phase der Hochindustrialisierung stieg die Reichsbevölkerung von 41 auf 65 Millionen Menschen an. Einher ging das demographische Wachstum mit einer massiven Verstädterung. Bewohner in Orten von mindestens 5000 Einwohnern stellten noch 1871 nur etwa ein Viertel der Bevölkerung. Dieser Anteil verdoppelte sich innerhalb von nur vier Jahrzehnten. Mit Abstand die größte der deutschen Städte war Berlin, wo um 1910 gut zwei Millionen Menschen lebten. Zweitgrößte Stadt war Hamburg mit 932.000 Einwohnern, gefolgt von der bayrischen Metropole München mit ihren 596.000 Bewohnern. In Magdeburg, dem kommenden Lebensmittelpunkt der jungen Familie Rauff, lebten zu der Zeit 279.000 Menschen.18


Abb. 2. Rauffs Geburtshaus in Köthen.

Einhergehend mit der Landflucht und einem an den Industriestandorten rapide wachsenden Bedarf an Arbeitskräften verschärfte sich die soziale Frage im wilhelminischen Kaiserreich. Zwar kam es in den Jahrzehnten der Hochindustrialisierung zu kontinuierlichen Lohnsteigerungen, die 1913 um immerhin 25 Prozent über dem Stand des Jahres 1895 lagen, dennoch bewegten sich die Einkommen der Arbeiter nur knapp über dem Existenzminimum. Ein Verlust des Arbeitsplatzes, Krankheit oder sogar Arbeitsunfähigkeit konnten schnell eine existentielle Katastrophe für ganze Familien auslösen.19 Bereits seit 1890 war die SPD die von den meisten Wählern gewählte politische Partei im Reichstag. In dem zu Preußen gehörenden Wohnort der Familie Rauff galt aber auch im frühen 20. Jahrhundert noch immer das antiquierte, nach Steuerklassen definierte Dreiklassenwahlrecht, das unteren Einkommensstufen kaum politische Partizipation ermöglichte.20

Mit der Entstehung des Proletariats in Deutschland hatte sich gleichzeitig eine Mittelschicht herausgebildet, deren Wohlstand vom industriellen Wachstum, dem boomenden Bankensektor und von zunehmendem Handel herrührte. Wie die Masse der Arbeiterschaft warteten aber auch Angehörige der Mittelschicht wie die Rauffs auf adäquate politische Partizipation, denn das Deutsche Reich blieb eine autoritär-monarchisch geprägte Gesellschaftsordnung, in der der Adel innerhalb der politischen Elite massiv überrepräsentiert war. Zumindest für die Loyalität des Bürgertums hatte die ungenügende politische Repräsentanz vorerst jedoch kaum negative Folgen. Verbreitet identifizierte man sich mit dem herrschenden Adel, kopierte dessen Lebensstil sowie die wesentlichen Wertvorstellungen und genoss im Alltag die Konsumangebote oder die verschiedenen Facetten kulturellen Lebens in den rasant wachsenden Städten.21

Die boomende Wirtschaft und die stabile innenpolitische Situation standen im Kontrast zum hektischen außenpolitischen Kurs des wilhelminischen Deutschlands. Nach seiner territorialen Einigung verlangte das von Kaiser Wilhelm II. geführte Reich nun auch nach einer Anerkennung seiner vehement gestiegenen Bedeutung durch die übrigen Großmächte. Im Zeitalter des Imperialismus hechelte Deutschland jedoch Mächten wie Großbritannien oder Frankreich verhängnisvoll hinterher. Verfügbare Kolonialgebiete auf dem afrikanischen Kontinent oder im Fernen Osten waren größtenteils vergeben, und so agierte Berlin bei dem Versuch, sich den beanspruchten „Platz an der Sonne“ zu sichern, im Rahmen einer Gesamtlage, die für eine aussichtsreiche Machtpolitik nur mehr ein geringes Maß an Handlungsspielraum aufwies. Versuche, entsprechende Ansprüche dennoch durchzusetzen, mussten das Reich in bedrohliche Konfliktsituationen mit anderen Großmächten bringen. Der Soziologe Max Weber beschrieb die außenpolitische Lage bereits 1889 mit den Worten, er habe „den Eindruck, als säße man in einem Eisenbahnzuge von großer Fahrgeschwindigkeit, wäre aber im Zweifel, ob auch die nächste Weiche richtig gestellt werden würde“.22 Unmissverständlich wiesen außenpolitische Konflikte wie die beiden Marokkokrisen von 1905 und 1911 darauf hin, dass der gefährliche Kurs des Deutschen Reiches in einen Krieg der europäischen Großmächte münden könnte. Diese angedeuteten außenpolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren sollten das Leben des kleinen Walther Rauff weit über dessen erste Lebensjahre hinaus mitbestimmen.

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