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1 Ein kontrastreicher Horizont 1.1 Am Ursprung von Bergoglios Denken: Gaston Fessard und die Theologie des »als ob«

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Als der junge Bergoglio am 11. März 1958 im Alter von 21 Jahren in das Noviziat der Gesellschaft Jesu eintrat, erfreuten sich weder das jesuitische Studium noch die Riege der Dozenten eines besonders guten Rufs. Die neuscholastisch orientierten Handbücher waren voller schwerer, lebensferner Phrasen. Im Interview bemerkte Franziskus gegenüber Pater Spadaro Jahre später lapidar: »So dürfen wir zum Beispiel nicht die Genialität der thomanischen Theologie mit dem dekadenten Thomismus verwechseln.«1 Dieses Urteil spricht Bände. Es wäre jedoch falsch, darin Kritik am Denken des Thomas von Aquin erkennen zu wollen. Im Vorwort zu Enrique Ciro Bianchis Werk über Rafael Tello, einem der Vertreter der argentinischen Volksreligiosität, schrieb Bergoglio, er sei beeindruckt, wie viel Thomas in Tellos Denken stecke. »In einer Zeit, in der die Summa theologica gerne über Bord geworfen wurde, und man die Lehrer, die sich auf die Summa beriefen, als vorsintflutliche Exoten betrachtete, blieb die Summa der Bezugspunkt seines Denkens. Mehr als alle anderen erfasste er die Tiefe und Originalität des heiligen Thomas von Aquin.«2 Tatsächlich sollte die thomistische Prägung bei Bergoglio einen bleibenden Eindruck hinterlassen; sein gnoseologisch-metaphysischer Realismus und seine Aufwertung der spürbaren Welt haben hier ihren Ursprung.

Das Studium des jungen Jorge sah zwei Jahre Noviziat, ein Jahr Juniorat (d.h. ein Jahr geisteswissenschaftlicher Studien), drei Jahre Philosophie, drei Jahre Lehrtätigkeit, drei Jahre Theologie und ein Jahr Terziat vor. Insgesamt studierte er also dreizehn Jahre lang, von 1958 bis 1971. Das Studium der Philosophie und der Theologie absolvierte er am Colegio Máximo San José in San Miguel in der Provinz Buenos Aires. Über die Dozenten von damals gibt es kaum noch Aufzeichnungen. Austen Ivereigh stellt fest, dass »fast alle Professoren betagt waren, aus dem Ausland kamen und für eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Welt nicht vorbereitet waren.«3 In den Lehrveranstaltungen wurden einzig die abgedroschenen Inhalte einer längst aus der Zeit gefallenen Denkschule wiederholt. »Wann also ist ein Denkausdruck nicht gültig?«, sagte Franziskus im Interview gegenüber Antonio Spadaro. »Wenn ein Gedanke das Humanum aus den Augen verliert oder wenn er das Humanum gar fürchtet oder wenn er sich über sich selbst täuschen lässt. Das in die Irre geführte Denken kann als Odysseus vor dem Gesang der Sirenen dargestellt werden oder als Tannhäuser, der umgeben ist von Satyrn und Bacchanten oder als Parsifal im zweiten Akt der Wagner-Oper am Hof von Klingsor. Das Denken der Kirche muss wieder Genialität gewinnen und muss immer besser begreifen, wie der Mensch sich heute versteht, um so ihre eigene Lehre besser zu entwickeln und zu vertiefen.«4

Doch seine Studienzeit hatte auch positive Seiten. Während seines Theologiestudiums am Colegio Máximo (1967 bis 1970) lernte er Pater Miguel Ángel Fiorito kennen, der dort sein Professor für Philosophie war. Die von Fiorito verfolgte Erneuerung der ignatianischen Idee beeinflusste den späteren Papst nachhaltig. »Der Kreis um Fiorito nahm die Idee des ressourcement sehr ernst, einen Prozess der Erneuerung, der eine Rückkehr zum ›ursprünglichen Charisma‹ der ersten Jesuiten vorsah und dieses an die modernen Zeiten anpasste. Dieser Ansatz unterschied sich grundlegend von jener anderen Form der Erneuerung, die das Vermächtnis des Ignatius als ›überkommen‹ ablehnte und zeitgenössische Vorstellungen unkritisch übernahm.«5 Dass Ignatius und der Wert der Geistlichen Übungen für die Gegenwart so unterschiedlich verstanden wurden, machte den Unterschied aus zwischen Bergoglio und den Älteren auf der einen Seite, die auf einer formelhaften Wiederholung der jesuitischen Tradition bestanden, und den »Modernen« auf der anderen Seite, die sich von neuen soziologischen Erkenntnissen aus Amerika und Europa leiten ließen und die »Spiritualität« der jesuitischen Gründungstexte als archaisch und überkommen empfanden. Die Kirche zu reformieren bedeutete für den jungen Bergoglio nicht, sie unkritisch zu modernisieren; in seinen Augen galt es, die Lehre und das Zeugnis des Ignatius wohlüberlegt und unter Berücksichtigung der Umstände und Gegebenheiten der Gegenwart wiederaufzunehmen.6 Es war das Zweite Vatikanum, das ihn an eine Haltung heranführte, die zugleich katholisch und offen war und den Wert der Vergangenheit anerkannte.

Wie viele Vertreter der neuen Generation argentinischer Katholiken las Bergoglio regelmäßig den Criterio, eine von Pater Jorge Mejía in Buenos Aires herausgegebene Zeitschrift. Diese war das Sprachrohr der neuen aus Frankreich kommenden Denkströmungen.7 Zwei junge Professoren des Seminars, die einstmals zu Kardinälen ernannt werden sollten, veröffentlichten regelmäßig im Criterio: Eduardo Pironio, ein späterer Mitarbeiter Pauls VI., und Antonio Quarracino, der Johannes Paul II. dazu bewegen sollte, Bergoglio zum Kardinal zu erheben. Zu den Mitarbeitern der Zeitschrift gehörten ferner Jorge Luis Borges, Homero Manzi, Francisco Luis Bernárdez, Baldomero Fernández Moreno, Leonardo Castellani, Ernesto Palacio, Manuel Gálvez, Ignacio B. Anzoátegui, Julio Irazusta, Julio Meinvielle, Basilio Uribe und José Luis Romero. Der Criterio veröffentlichte zudem Beiträge bedeutender Autoren wie Gilbert K. Chesterton, Hans Urs von Balthasar, Gerardo Diego, Eduardo Frei Montalva, Jean Guitton, Jacques Maritain, Julián Marías und Gabriela Mistral.

Und noch eine weitere Zeitschrift war für den jungen Bergoglio ein Fundus von Ideen und Anregungen: die dreimal im Jahr erscheinende Jesuitenzeitschrift Christus, die seit 1954 in Frankreich von P. Maurice Giuliani herausgegeben wurde.8 In einer Audioaufnahme erinnerte sich Franziskus folgendermaßen daran:

Die Lektüre der Zeitschrift Christus, unter der Leitung von Pater Giuliani. Da gab es viele Artikel, die in den ersten Jahren – später änderte sich die Ausrichtung der Zeitschrift –, aber in den ersten Jahren, den Jahren von P. Giuliani, gab es dort viele Artikel, die mich inspirierten. Ich denke, dass man in der Geschichte der katholischen Spiritualität und vor allem der postkonziliaren Spiritualität die Arbeit der Zeitschrift Christus nicht vergessen sollte, die P. Arrupe und das von ihm gegründete Zentrum für Spiritualität sich gewünscht hatten und die von Pater Luis Gonzalez geleitet wurde, der für die Erneuerung der Gesellschaft Jesu so viel Gutes getan hat. Gestatten Sie mir hier einen Exkurs. Als P. Arrupe gewählt wurde, befand sich die Gesellschaft in einem Zustand solcher Uniformität, dass sich die Unterscheidung darauf beschränkte, zwischen Gut und Böse zu wählen, aber nicht zwischen Gut und Besser. Das stärkste Symbol dieser Reduzierung zur Uniformität war für mich die Epitome der Gesellschaft, unter der Leitung von P. Dóchowski. Als er es dem Abtprimas der Benediktiner vorlegte, sagte dieser zu ihm: »Damit haben Sie die Gesellschaft getötet, Sie haben ihr die Mobilität genommen.« Denn alles war vorausgesehen, die Quellen der Gesellschaft, ihre Regeln. Die gesetzliche Struktur der Gesellschaft hat drei Quellen: [erstens] die Formula Instituti, die unantastbar sind, weil sie die ignatianischen Eingebungen enthalten. Zweitens die Konstitutionen, die je nach Ort, Zeit und Personen angewandt werden müssen und daher angepasst, aktualisiert und inkulturiert werden können. Drittens helfen die Regeln dabei, gewisse Aufgaben zu erledigen, doch sie haben keinen universellen und bleibenden Wert. Das einzige, was wirklich zählt, sind die Formula Instituti. In der Epitome war alles zusammen drin, vermischt. Alle Unterschiede wurden globalisiert, wodurch ihnen jegliche Spannung genommen wurde, so etwa die Spannungen in den Konstitutionen zwischen Ort, Zeit und Personen. P. Arrupe nahm sich nun P. Jansen und organisierte nach dem Krieg die Leitung neu. Nach seiner Wahl bediente sich P. Arrupe zahlreicher Werkzeuge, nutzte vor allem aber die beiden folgenden: das Zentrum für Spiritualität und die Zeitschrift Christus, um jene Spannung wiederzufinden, die die Gesellschaft wachsen lässt. Ich habe das miterlebt und es ist in mir drin. Vielleicht kommen diese Dinge daher.9

Dieses wichtige Zeugnis verschafft uns einen Einblick ins »Laboratorium« des Denkens des jungen Bergoglio. Die im Christus erschienenen Artikel halfen der Gesellschaft Jesu, ihren Horizont zu erweitern und sich aus der Unbeweglichkeit zu befreien, die die Epitome ihr auferlegt hatte. Darauf kam Franziskus auch im Interview mit der Civiltà Cattolica zu sprechen: »Es hat in der Gesellschaft Zeiten gegeben, in denen ein strenges, geschlossenes, eher instruktiv-asketisches als ein mystisches Denken gelebt wurde; diese Entstellung hat die Epitome Instituti hervorgebracht.«10 Als Leser der Christus lernte Bergoglio einen Jesuiten kennen, der es später noch zu Berühmtheit bringen sollte: Michel de Certeau, dessen Beiträge zur jesuitischen Mystik und besonders zu Pater Faber von großer Bedeutung für den späteren Papst waren. Von Faber wird zu einem späteren Zeitpunkt noch die Rede sein. De Certeaus Beiträge halfen Bergoglio, die authentische ignatianische Spiritualität besser zu verstehen. Sie boten zudem Miguel Ángel Fioritos Bemühungen hinsichtlich der Übungen Raum, um sich zu entfalten. Es ist also unverkennbar, dass Bergoglios intellektuelle Bildung innerhalb der intellektuellen Welt der Jesuiten begann.

Bergoglios Lehrer – damit sind nicht die gemeint, deren Lehrveranstaltungen er besuchte, sondern vielmehr seine »geistigen« Lehrer – waren Intellektuelle, Philosophen und Theologen aus dem Jesuitenorden. Einer von ihnen hinterließ besonders nachhaltige Spuren im Denken des späteren Papstes (und im Übrigen auch bei Alberto Methol Ferré): der Franzose Gaston Fessard. 1956 hatte Fessard bei Aubier den ersten Band von La Dialectique des »Exercices spirituels« de Saint Ignace de Loyola veröffentlicht.11 Dieses Werk nahm großen Einfluss auf Bergoglios intellektuelle Bildung. »Der erste Kontakt [mit Fessard] fand vielleicht zwischen 1962 und 1964 statt«, erinnerte er sich später.12 Von ihm übernahm er das Modell eines dialektischen, antinomischen, in seiner Idee der Synthese von Gegensätzen zutiefst »katholischen« Denkens, das eine zentrale Rolle innerhalb seines Denksystems einnehmen sollte. Seltsamerweise verweist Franziskus nur selten explizit auf ihn, doch dass Fessard ihm den Impuls gab, die Probleme innerhalb der Gesellschaft Jesu und in der Kirche, aber auch die damaligen politischen Probleme in Argentinien anzusprechen, ist evident.

Gaston Fessard, ein in Anführungsstrichen »hegelianischer« Autor – der nicht hegelianisch ist, auch wenn er als solcher erscheinen mag – hat mich stark beeinflusst. Ich habe La dialectiqe des »Exercices spirituels de Saint Ignace de Loyola« mehrere Male gelesen und auch andere Sachen von ihm. Viele Elemente davon habe ich übernommen, die sich später vermischt haben.13

Dieses Bekenntnis ist höchst bedeutsam, denn Bergoglio nannte hier den für seine intellektuelle Bildung zentralen Autor. Der Jesuit aus der Schule von Lyon war eng mit Henri de Lubac befreundet und hatte sich intensiv mit Hegel und seiner Dialektik auseinandergesetzt – was für einen katholischen Denker der 1930er- und 1940er-Jahre gewiss ungewöhnlich ist. In den Jahren 1926 bis 1929 übersetzte er die Vorrede der Phänomenologie des Geistes, die er mit Jean Wahls Unterstützung in der Revue philosophique veröffentlichen wollte. Dazu kam es jedoch nie, was ihn aber nicht daran hinderte, Hegels Standpunkt ganz neu zu formulieren und ihn auf die historische Gegenwart zu beziehen. Diese Bemühungen erklären auch seine enge Freundschaft mit Alexandre Kojève, jenem brillanten Interpreten von Hegels Phänomenologie, der in den 1930er-Jahren die Crème de la Crème der philosophischen Intelligentsia seiner Zeit an seinem Lehrstuhl an der Pariser École Pratique des Hautes Études versammelte.14 Fessards Austausch mit Kojève und seine Hegelstudien mündeten nicht nur in besagtem Band über die Übungen des heiligen Ignatius, sondern führten ihn auch dazu, in De l’actualité historique eine dreifache Dialektik (Herr/Knecht, Mann/Frau, Jude/Heide) zu entwickeln, auf die später eingegangen werden soll.15 Augusto Del Noce bezeichnete letztgenanntes Werk als »unübertreffliches Modell einer philosophisch-theologischen Analyse der heutigen Zeit und eine Kritik von innen«,16 da Fessard darin eine historische Methode zur »Lösung von Antinomien« einführte, die Del Noce selbst in seinem Buch Il problema dell’ateismo anwandte.17 Die Parallelen zwischen Fessard und Hegel sowie die Tatsache, dass beide auf eine dialektische Methode zurückgriffen, dürfen uns aber nicht täuschen. Denn wie Papst Franziskus richtig festhält, war Fessard kein »Hegelianer«, auch wenn er einem ungeschulten Auge als solcher erscheinen mag. Tatsächlich liegt der Ursprung seines dialektischen Denkens noch vor Hegel: Wie Giao Nguyen-Hong richtig festhält, war Maurice Blondel, der katholische Philosoph der Action, Fessards »Hauptinspirationsquelle«: »Mit den Übungen befasste er sich im Wesentlichen unter dem Einfluss Blondels.«18 Der gleichen Meinung ist Peter Henrici: »Hinsichtlich seines Werkes Dialectique des Exercices Spirituels de Saint Ignace hatte mir P. Fessard einige Jahre zuvor persönlich mitgeteilt: ›Im Grunde genommen war es Blondel und nicht Hegel, der mich inspirierte‹«.19 Fessard selbst bekannte: »Vom ersten Moment an faszinierte mich die Phänomenologie des Geistes aufgrund der konzeptuellen Ähnlichkeit mit Maurice Blondels L’Action20 Ebenso wie sein Mitbruder de Lubac war Fessard Blondelianer und nicht Hegelianer. Er ist zu den jésuites blondéliens der Schule von Lyon zu zählen.21 Henrici befindet: »Doch Blondels Einfluss zeigt sich deutlich in der Struktur von Fessards Dialektik, die sich mit dem Vorher und Nachher der ignatianischen Unterscheidung befasst; dies entspricht der von Blondel gewählten Option.«22 Und so hat das dialektische Modell, das Bergoglio später neu denken sollte, über Fessard seine Wurzeln bei Blondel. Dieses Puzzleteil ist wichtig, um die Genese von Bergoglios Denken zu verstehen, ein Denken, das dem Blondelismus der jesuitischen Schule von Lyon, der Schule Fessards und de Lubacs, viel zu verdanken hat.23 Die Frage, die es nun zu klären gilt, ist die nach seinem Ursprung: Wer erweckte das Interesse des jungen Bergoglio an Fessards Buch? Gewiss war es keine leichte Kost für einen jungen Studenten. Dass es sein Philosophieprofessor Miguel Ángel Fiorito war, der ihm das Werk nahebrachte, ist sehr wahrscheinlich. Juan Carlos Scannone war der erste und bisher auch der einzige, der in einem Aufsatz von 2015 die These aufstellte, dass es hinsichtlich der Inspiration Bergoglios eine Konvergenz zwischen Fessard und Fiorito gebe:

Dass Gaston Fessards Interpretation der Übungen mit der des argentinischen Jesuiten Miguel Ángel Fiorito übereinstimmt, ist allgemein bekannt (und beide haben dies zumindest mündlich bestätigt); bekannt ist auch, dass Bergoglio letztgenannten verehrte und dass er aufgrund seines Wissens über die ignatianische Spiritualität in der argentinischen Jesuitenprovinz von allen als »der Meister« bezeichnet wurde.24

Scannone liegt hier zwar richtig, doch er verkennt, welch zentrale Rolle Fessard in der intellektuellen Biographie Bergoglios einnimmt, die er vielmehr (aufgrund einer Reihe von Ähnlichkeiten zwischen den beiden) Blondel, Fessards Lehrer, zuschreibt.25 Doch tatsächlich beeinflusste Blondel Bergoglio nur indirekt. Fessard inspirierte ihn mit seiner dialektischen Methode; und Fiorito machte Bergoglio mit Fessard bekannt. In einem Artikel von 1981 verwies der spätere Papst in einer Anmerkung auf zwei Artikel Fioritos, nämlich »La opción personal de S. Ignacio« von 1956 und »Teoría y práctica de G. Fessard« von 1947.26 Letztgenannter Artikel befasste sich mit einem Kommentar zur Grabinschrift des heiligen Ignatius: »Non coerceri a maximo, conteneri tamen a minimo divinum est« – »Nicht eingegrenzt sein vom Größten und dennoch umschlossen sein vom Kleinsten, das ist göttlich!«27 Bergoglio erläuterte diese folgendermaßen: »Wir könnten ihn auch so übersetzen: Ohne sich von dem abzuwenden, das höher ist, sich bücken, um das zu ergreifen, was augenscheinlich klein ist im Dienste Gottes, oder: Wir müssen gleichzeitig aufmerksam bleiben für das, was weit von uns entfernt ist, und uns darum kümmern, was uns nah ist. Dies wird auf die religiöse Disziplin angewandt… und ist notwendig, um die ignatianische Spiritualität (im Sinne Fessards) als dialektisch zu bezeichnen.«28 Dieses ignatianische Motto, das Fessard in La Dialectique des »Exercises spirituels« de Saint Ignace de Loyola analysierte, wurde für Bergoglio zum Inbegriff der polaren Spannung, die die Spiritualität des heiligen Ignatius beseelt.29 Maßgeblich für diese Erkenntnis war ein Artikel Fioritos von 1957 mit dem Titel »Teoría y práctica de G. Fessard«, in dem die Grabinschrift im Lichte von Fessards dialektischem Modell interpretiert wurde:

Im (sogenannten) Epitaph des heiligen Igantius finden wir zwei komplementäre Sätze […] Der erste Satz (non coerceri a maximo, contineri tamen a minimo, divinum est) will eine Grundeigenschaft der ignatianischen Spiritualität hervorheben […], weil er die Grunddynamik der heiligen Seele des Ignatius dialektisch – d.h. durch eine Gegenüberstellung von Gegensätzen – zum Ausdruck bringt: Ignatius weist stets auf das höchste Ideal, auf Gott, hin, bleibt aber gleichzeitig aufmerksam für die winzigsten Details des königlichen Plans. […] Im zweiten Satz (coelum, animo, Roma corpori: illi … aliquid summo maius attribuit; huic … modum posuit mediumque virtutis) wird die ganze Welt, die Ignatius mit seinem Tun durchdringen wollte, der römischen Stadt gegenüberstellt, in der nach seinem Willen sein Leib bestattet werden sollte. Dieser zweite Satz hebt damit eine Besonderheit seiner Spiritualität hervor, nämlich die romanità des ignatianischen Geistes. Diese offenbart sich nicht durch eine dialektische Gegenüberstellung, sondern durch die Zusammensetzung von Elementen: die Liebe Gottes, die beim heiligen Ignatius keine Grenzen kennt, und deren Umsicht, die nicht seiner Liebe Grenzen setzt, sondern ihrer Realisierung innerhalb der Kirche. […] Die Grabinschrift offenbart also in diesen beiden fundamentalen Sätzen das ignatianische magis und dessen spezielle Anwendung. Gleichzeitig verweist sie auf das Ideal der grenzenlosen Liebe, das Gott ist, und die konkrete Art und Weise der Umsicht in Liebe, die die Kirche Roms ist.30

Bergoglio erinnerte immer wieder an die ignatianische Maxime, mit der sich sowohl Fessard als auch Fiorito befasst hatten. Als Papst sagte er:

Mich hat immer eine Maxime betroffen gemacht, mit der die Vision des Ignatius beschrieben wird: Non coerceri maximo, contineri tamen a minimo, divinum est. Über diesen Satz habe ich auch im Blick auf die Leitung, auf die Erfüllung des Amtes des Superiors viel nachgedacht: sich nicht vom größeren Raum einnehmen zu lassen, sondern imstande zu sein, im engsten Raum zu bleiben. Diese Tugend des Großen und des Kleinen ist die Großmut, die uns aus der Stellung, in der wir uns befinden, immer den Horizont sehen lässt, tagtäglich die großen und die kleinen Dinge mit einem großen und für Gott und für die anderen offenen Herzens zu erledigen. Das heißt: die kleinen Dinge wertzuschätzen innerhalb des großen Horizonts, jenes des Reiches Gottes.31

Die Dialektik des Großen und des Kleinen, diese Spannung, die den Glauben und die Spiritualität des Ignatius bestimmte, wurde zu einem Fixpunkt von Bergoglios Denken. Durch Fiorito wurde Fessards La dialectique des »Exercices spirituels« de saint Ignace de Loyola für den jungen Studenten zu einem festen Bezugspunkt seines Denkens. Fessards Werk eröffnete ihm den Weg zu weiteren Werken, die für seine intellektuelle Bildung entscheidend waren. Fiorito und Fessard führten ihn an die »Polarität« heran, an die Gegensätze, die die ignatianische Seele leiten. Auf diese Erkenntnis folgte dann alles andere. In der Audioaufnahme vom 29. Januar 2017 sagte er darüber:

In der ignatianischen Spiritualität gibt es immer diese bipolare Spannung. Ich erinnere mich daran, dass mir ein kleines, auf Deutsch verfasstes Büchlein geholfen hat, das ich um 1968 herum gelesen habe: Über die Theologie des »als ob«. Darin ging es um die Spannung des »als ob«. Der heilige Ignatius zum Beispiel sagt dem Übenden in der Kontemplation der Exerzitien, er solle sich die Szene aus dem Evangelium so vorstellen, als nehme er selbst daran teil. Der Autor bietet ein paar schöne Überlegungen zur Theologie, die dahinter steht. Der Titel ist Über die Theologie des »als ob«. Auch Gaston Fessard hat mir sehr geholfen.32

In der Erinnerung des Papstes besteht also eine Verbindung zwischen dem Werk Über die Theologie des »als ob« und Fessards dialektischen Überlegungen. Er verortet die Lektüre des deutschen Werkes in den 1960er-Jahren – also nachdem er den ersten Band von La Dialectique des »Exercises spirituels« de Saint Ignace de Loyola gelesen hatte. Da er sich an den Namen des Autors nicht erinnern konnte, führte der Papst ein weiteres Werk an, das er während seiner Studienjahre gelesen hatte: einen Aufsatz des Jesuiten Karl-Heinz Crumbach von 1969 mit dem Titel »Ein ignatianisches Wort als Frage an unseren Glauben«.33 In der Audioaufnahme vom 13. März betonte der Heilige Vater:

Dieser Text [Über die Theologie des »als ob«] war ebenso wie der Text Crumbachs für mich und mein Denken wichtig, weil er mir dabei geholfen hat, jene in den Übungen erkennbare Spannung, auf die der heilige Ignatius beständig verweist, neu zu denken. Diese Art zu denken hat sich unbewusst entwickelt. Ich habe es nicht bemerkt, bis zu dem Moment, in dem ich diese Idee der bipolaren Spannungen erläutern konnte.34

Der erste Keim für die Idee einer »dialektischen Polarität«, die der Kern von Jorge Mario Bergoglios Denkens ist, wurde also in den 1960er-Jahren gelegt. Den Band zur Theologie des »als ob« glaubte er als Papst noch vor dem Aufsatz Crumbachs gelesen zu haben.

Ich bin mir sicher, dass ich ihn zuerst gelesen habe. Sicher, weil ich 1969 zum Priester geweiht wurde und diesen [Text] habe ich in den Jahren gelesen, in denen ich Philosophie studiert habe, oder aber im ersten Theologiejahr. Aber es stimmt, das Thema ist das gleiche … Doch das war alles vor 1969.35

Diese Erinnerungen des Papstes sind sehr wichtig, denn sie ermöglichen es uns, den Beginn seines Denkens zu lokalisieren und zu ermitteln, welche Bedeutung die von zwei jesuitischen Autoren vorgelegte Interpretation der ignatianischen Übungen dabei hatte. Diese erklärte Bergoglio mithilfe der Kategorie des »als ob« jene polare Spannung, auf der die gesamte ignatianische Theologie fußt. Mit der Philosophie des Als Ob des neukantianischen Philosophen Hans Vaihinger hat dies alles freilich nichts zu tun.36 Es ging hier nicht um den Wert der Erkenntnis, sei sie nun wahr oder bloß eine Illusion, sondern um die grundlegende Dialektik zwischen der Gnade Gottes und der Freiheit des Menschen. Crumbach befasste sich in seinem Artikel mit einer Maxime Gabriel Hevenesis von 1705, eines Jesuiten aus dem 18. Jahrhundert.

Der ungarische Jesuit Gabriel Hevenesi veröffentlichte im Jahre 1705 eine Sammlung ignatianischer Maximen für jeden Tag des Jahres, die »Scintillae Ignatianae«. Eine der tiefgründigsten dieser »Tagesdevisen« lautet in wörtlicher Übersetzung: »Vertraue so auf Gott, als ob der Erfolg der Dinge ganz von dir, nicht von Gott abhinge; wende dennoch dabei alle Mühe so an, als ob du nichts, Gott allein alles tun werde«. Vertrauen auf Gott und menschliches Tun durchdringen sich gegenseitig: gerade das größte Vertrauen auf die Tat Gottes hat zur inneren Bedingung die äußerste Anstrengung von seiten des Menschen, und diese wieder geht auf ihrem Höhepunkt über in das unerschütterliche Vertrauen und Wissen, daß »du nichts, Gott allein alles tun werde«. Schon von seinem inneren Aufbau her ist der Satz zum Zerreißen gespannt. Ein solcher Satz stößt das Denken an, das dazu neigt, ihn ausgleichend zu entschärfen und in eine »erträgliche« Form zu bringen. Die abenteuerliche Geschichte des Verses bildete mehrere Versionen aus, die dies vorzüglich leisteten. Die wichtigste lautet: »Vertraue so auf Gott, als ob du nichts, Gott allein alles tun werde; wende dennoch dabei alle Mühe so an, als ob der Erfolg der Dinge ganz von dir, nicht von Gott abhinge«.37

Diese Lesart sei irreführend, so Crumbach, und beraube Hevenesis Maxime jeglicher »Spannung«. In seinem Aufsatz heißt es weiter:

Ganz anders G. Fessard. Er geht in seinem Buch über die Dialektik der ignatianischen Exerzitien in genauen Analysen auf die Quellen zurück, aus denen Hevenesi die Formel gebildet hat, und weist nach, daß die »verschränkte« und »verschraubte« Form trotz allem am besten den ignatianischen Quellen entspricht, ja, daß sie in ihrer Dichte die ganzen Exerzitien in sich konzentriert. H. Rahner stimmt diesem Urteil zu, fügt ihm nur die Beobachtung an, daß Hevenesi selbst die Formel schon 1714 geglättet habe.38

Crumbach, der Hevenesis Maxime ebenso auslegte wie Fessard es im ersten Band von La Dialectique des »Exercises spirituels« de Saint Ignace de Loyola tat, interessierte sich nicht für die historisch-philologische Frage. »Uns genügt die Feststellung, daß es wohl die ›schwierigere‹ Formel ist, die am ehesten der Theologie und dem geistlichen Ringen des Ignatius entspricht und so eine Frage an uns stellt, die unser geistliches Bemühen in Bewegung zu bringen vermag.«39 Die »schwierigere« sei die, die die Spannung hält, anstatt sie in einem aus zwei voneinander getrennten Ebenen bestehenden Dualismus aufzulösen, sozusagen auf zwei parallel verlaufenden Linien, die sich nie treffen. Ein solches Modell rufe nach einem

Vertrauen, als ob alles von Gott abhinge – Handeln, als ob alles vom Menschen abhinge. Doch beide stehen unverbunden nebeneinander in einer Art »Stockwerkstheologie« des »koordinierten Zusammenspiels« von Gott und Mensch. Das Vertrauen auf Gott genügt ganz sich selbst, will sich im ersten Ansatz vollenden in absolutem Vertrauen. Auch die menschliche Tat ist letztlich ganz sich selbst überlassen, versteht sich aus sich selbst, »als ob alles nur von ihr abhinge«. Nebensatz und Hauptsatz katapultieren sich gegenseitig ins Grenzenlose und verlieren sich im unendlichen Maß von Glauben und Vertrauen einerseits und menschlicher Tat anderseits. Die absolute Selbst-Behauptung des Glaubens wie die des menschlichen Tuns schweben in der Luft, sind ohne Verbindung: hier der absolute Glaube – dort die radikale menschliche Aktivität, hier Begegnung mit Gott, dort der in sich gesehene Bereich menschlicher Möglichkeiten, hier Sonntag – dort Werktag. Beide Sätze bleiben ohne Anspruch, weil sie den Menschen aus seiner endlichen Erfahrung herausführen. Das Problem ist aufgelöst und stillschweigend verlassen: Vertrauen auf Gott und Freiheit des Menschen stehen in verschiedenen Ordnungen wie zwei Länder, die die diplomatischen Beziehungen abgebrochen haben. Wird im ersten Satz (»Vertraue, als ob alles von Gott abhinge«) der Primat des absoluten Glaubens feierlich proklamiert, ohne wirksam zu werden für die menschliche Tat, kann die menschliche Freiheit (»Mühe dich, als ob alles von dir abhinge«) in ihrem Bereich eine totale Autonomie beanspruchen, die nicht mehr gebunden ist an ihren gläubigen Ursprung. Man wird nicht leugnen können, daß eine solche Nebenordnung von »Natur und Gnade« bis heute, wenn auch nicht mehr so sehr die Theologie, so doch heimlich und kaum bemerkt die Mentalität und Praxis vieler Christen beeinflußt.40

Die »abgeflachte« Formel führe zu einem »Dualismus« zwischen Gnade und Natur, der die Spannung zwischen den beiden Konstituenten abbaue. »Hier zeigt sich der ungeheure Wert der ersten Formel: Das Verhältnis von Gnade und Freiheit, göttlicher und menschlicher Tat, erweist sich lebendig nur als Frage, nicht aber als glatte Formel. Diese Frage muß gelebt werden. Wir verstehen, wie bedeutsam es ist, daß nach dem Urteil des Historikers nur die erste Form im Blick auf die Quellen das besagt, ›was einen der tiefsten Grundzüge der ignatianischen Gnadentheologie darstellt‹«.41 Das Verhältnis von Gnade und Freiheit, göttlicher und menschlicher Tat, erweist sich nur als Frage lebendig, nicht aber als glatte Formel – eine Überzeugung, die Jahre später einen zentralen Ort innerhalb Bergoglios Denksystem einnehmen sollte: Seine Kritik am »Doktrinarismus«, am abstrakten Dogmatismus, an der »Versteinerung« der Offenbarung hat hier ihren Ursprung; hier, in der Vorstellung, dass der Glaube nicht zuerst eine Antwort, sondern eine Frage ist, eine Öffnung des Herzens gegenüber der Gnade. Diese Frage muss gelebt werden, sie muss zur Erfahrung werden, zum Beweis für die reale Beziehung zwischen dem Menschen und Gott auf dem Schauplatz der Geschichte.

Glaube lebt nicht, indem er bei sich bleibt. […] Glaube weist über sich hinaus. Nur so kann er sich bewahren, nur so kann er sich auch bewahrheiten, verifizieren. Der Glaube wird leibhaftig in Erwartungen, die die Wirklichkeit betreffen. Im »als ob alles von dir abhinge« sollen die Erwartungen des Glaubens in die Wirklichkeit des Lebens eingreifen »und müssen ihre Bedeutung in Lebensformen ausbuchstabieren«. Der Glaube muß sich vor einer Welt verantworten, in der verständliches Verhalten nur möglich ist durch Praxis.42

Glaube lebt nicht, indem er sich verschließt, sondern indem er sich öffnet. Als Papst sollte Bergoglio Jahre später sagen, dass die Kirche erst dann lebe, wenn sie die eigene »Selbstbezogenheit« hinter sich lasse. Diesen Gedanken entdeckt man bereits in Crumbachs Aufsatz von 1969. Die Sphäre der Immanenz zu verlassen, ist jedoch nicht allein dem menschlichen Handeln überlassen. Crumbach hält fest:

Bedeutet Glauben nun etwa einfach: Sieh zu, alles hängt von dir ab? Dann würde sich der Glaube auflösen in eine Beschäftigungstherapie, die sich, dispensiert vom Glauben, selbst genügte. Wenn wir unseren Satz genauer ansehen, wird deutlich, daß wir das »Als ob« beachten müssen. Das »Als ob« zeigt sich als Entwurf des Glaubens selbst, der Glaube entwirft ein Verhältnis zur Welt, »als ob« alles von mir abhinge. Wir erkennen hier die Denkform der Hypothese. Eine Hypothese muß ihre Bewährung offenlassen, da sie zum Teil wahr und zum Teil falsch sein kann. Indem sie sich einläßt auf das Abenteuer ihrer Bewährung, ermöglicht sie den Vorgriff auf neue Erfahrungen. Der Glaube steht also nicht neben oder jenseits unserer Erfahrung, er bringt sie auch nicht zum Abschluß, sondern ermöglicht dem Menschen Erfahrung und eröffnet in ihr den Raum, in dem er zur Bewährung kommt. Der Glaube hält uns offen auf immer neuer Erfahrungen und verweigert entschieden, daß unser Suchen und Mühen zur Ruhe gelangt. Erst so ist er auch offen für die überraschende und unverfügbare Erfahrung Gottes. Kraft meines Glaubens ist mein Wille aufgerufen sein Äußerstes zu tun, »als ob alles von mir, nicht von Gott abhinge«. Die Hypothese setzt allerdings voraus, daß der Erfolg der Dinge »zum Teil« von Gott abhängt, sie ist eindringliche Mahnung, in meinem Tun meine realen, endlich bleibenden Möglichkeiten nicht zu überschätzen. Doch kann man den »Anteil« Gottes und den des Menschen am Erfolg der Dinge nicht verrechnend aufteilen. Das Verhältnis von göttlicher Tat und menschlichem Handeln ist keine starre Formel, die mein Handeln überfremdet, sondern wird selbst erst durch die Geschichte, auf die sich der Glaube einläßt, an den Tag gebracht. Wir können nicht sagen: Bis hierher gehen die menschlichen Kräfte, und dann muß Gott eingreifen, sondern der Mensch muß seine letzten Möglichkeiten ausschöpfen, und nur so kann er der Tat Gottes begegnen. Darin liegt die Wahrheit der Hypothese, daß sie mich von der Illusion befreit zu glauben, ich könne mich im Vertrauen total Gott in die Arme werfen, ohne daß ich vorher alles mir Mögliche tue, um die Welt zu verändern. Doch eins bleibt: Der Glaube läßt im »Als ob« die Zukunft der göttlichen Allmacht offen, weist sie nicht aus dem Bereich unserer Erfahrung aus. Das Sicheinlassen auf unsere menschlichen Möglichkeiten kann sich am Ende erweisen als Sicheinlassen auf die überraschenden Möglichkeiten des göttlichen Handelns, auf seine Zukunft der Welt. Eines steht also fest: Der Glaube fordert unser Eingehen auf die Probleme unserer Welt und unsere äußerste Anstrengung, sie zu bewältigen, ohne aber die Abhängigkeit unseres Tuns vom Glauben an die Macht der göttlichen Gnade zu lockern.43

Dies erkläre die Dialektik, die Gabriel Hevenesis Formulierung innewohnt: »Vertraue so auf Gott, als ob der Erfolg der Dinge ganz von dir, nicht von Gott abhinge; wende dennoch dabei alle Mühe so an, als ob du nichts, Gott allein alles tun werde.« Mit seiner Formulierung wich Hevenesi nicht von der ignatianischen Formulierung ab, ja, im Gegenteil: Er veranschaulichte deren spirituelle Spannung.

Der unschätzbare Wert unserer ignatianischen Formel liegt darin, daß sie eine Deutung unserer Erfahrung bietet, aber auch darin, daß sie diese in Unruhe versetzt und Fragen an sie stellt. Der Glaube an Gott fordert das Mühen und Ringen um die Beseitigung aller Nöte, das sich in der eigenen Dynamik vollendet im absoluten Vertrauen auf den Herrn der Welt und so dem Gesetz begegnet, nach dem es angetreten war. Sowohl H. Rahner wie auch G. Fessard sehen in dem Spruch eine Kurzformel der ignatianischen Spiritualität und der Exerzitien. Man mag hier denken an die Spannung von »Fundament« und »Betrachtung zur Erlangung der Liebe« in den Exerzitien. Auch das »Fundament« leitet uns an, aus dem Glauben heraus im Gebrauch unserer natürlichen Fähigkeiten ein Maximum zur Ehre Gottes zu erreichen. Die »Betrachtung zur Erlangung der Liebe« läßt alle menschliche Aktivität wieder übergehen in das »Suscipe«, das Gebet des absoluten Vertrauens auf Gott, in das Geständnis, daß ich nichts, »Gott allein alles tun werde«. In diese Spannung eingelassen ist aber das »Mehr«, das den Rhythmus der Exerzitien beherrscht. Das »Mehr« erweist sich für unsere Frage als »Grundwort des von Gott, dem ›immer Größeren‹ ergriffenen Menschen«, der sich immer wieder überfordern läßt in der Annahme des Kreuzes alltäglicher Mühen. Der Spruch aus ignatianischem Geist, den Hevenesi in so einmaliger Weise formulierte, kann für den Christen ebenso wie das »Magis« gelten als »das von Christus selbst aufgedeckte Axiom seines Lebens«, das ihm Elan und Richtung verleihen kann.44

Die Interpretation der Übungen des heiligen Ignatius, die Karl-Heinz Crumbach und der Autor von Über die Theologie des »als ob« vorlegten, bilden die Grundlage von Bergoglios Denken. Der Einfluss Gaston Fessards und Hugo Rahners sollte darüber hinaus ebenfalls als maßgeblich erachtet werden.45 Die ignatianische Dialektik hält die beiden Enden der Kette zusammen: das Handeln des Menschen und die Gnade Gottes. Es vereint sie auf eine Weise, die Henri de Lubac als paradox bezeichnete: »Vertraue so auf Gott, als ob der Erfolg der Dinge ganz von dir, nicht von Gott abhinge; wende dennoch dabei alle Mühe so an, als ob du nichts, Gott allein alles tun werde.« Das christliche Denken beruht auf einem Paradox, auf einer dialektischen Spannung, für die das Handeln, als ob alles vom Menschen abhinge, gleichzeitig impliziert, so zu handeln, als wenn der Mensch nichts und Gott alles täte. Diese Dialektik ist eindeutig »mystisch«; die beiden Pole, Gott und der Mensch, interagieren in einem Geheimnis, das Gnade und Freiheit zugleich vereint und unterscheidet. Das christliche Leben ist Spannung, es ist Drama. Es ist eine beständige Frage an Gott und gleichzeitig ein unermüdlicher Einsatz für die Welt. Es ist Kreuz und Auferstehung. Hier liegt der Ursprung der Idee eines spannungsgeladenen Denkens, eines Denkens, das, wie Bergoglio sagen würde, nicht ideologisch oder in abstrakte Formeln gekleidet ist, sondern das immer gespannt, um das magis Gottes, die Öffnung Gottes in der Immanenz der Welt zu verstehen.46

Papst Franziskus

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