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PEDERSAND

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Draußen wird es langsam dunkel. Jetzt viel früher als mir lieb ist. Zu dieser Zeit würden die Tiere heimkommen von der Weideinsel. In diesem Jahr kommen sie nicht. Ich müsste Mads beim Überholen helfen, aber er kann nicht riskieren, dass ich einen Fuß von der Insel setze.

Der Wind heult ums Haus und schlägt die Stalltür auf und zu, was Mads völlig kalt lässt. Die letzten Blätter der Kastanie tanzen wie volltrunken vor den Fenstern und wirbeln unter den Dachfirst, wo sie sich im Reet verfangen. Dieses Wetter treibt Mensch wie auch Tier zurück zwischen schützende Wände.

Was für ein Leben? Kein Leben! Nur ein ständiges Warten. Worauf?

Seit Kurzem weiß ich, worauf ich warte. Endlich. Und es lohnt sogar, den richtigen Moment selbst zu zelebrieren. Er wird kommen, dieser passende Moment. Und dann? Dann ist nichts mehr wie es war, all die Jahre hier in der Einsamkeit von Pedersand, dem Eiland, das seit Generationen den Pedersens gehört.

Ich habe mich im letzten Herbst und im Winter jeden Tag aufs Neue auf den Abend gefreut, wenn ich am Tisch sitzen und mir meinen Frust von der Seele schreiben konnte, von dem Mads nichts ahnt, nie geahnt hat. Es gibt solche Menschen, die rein gar nichts verstehen, nichts verstehen wollen von den Dingen, die in uns liegen. Was Mads nicht sieht oder hört, das ist nicht.

Er ist so durchschnittlich. Durchschnittlich schlecht, wie auch durchschnittlich gut. Aber er tut nichts dafür, das Gute zu pflegen. Könnte er seinen Verstand auf die inneren Werte eines anderen Menschen ausrichten, wenigstens auf den einzigen Menschen, den er hat — mich —wäre die Welt eine andere. Er ist der Mann, und der Mann hat seit Generationen das Sagen, da können die Feministinnen Kriege anzetteln, wie sie wollen. Das bleibt so bis in alle Ewigkeit.

Nicht auf Pedersand. Nicht mehr lange, mein lieber Mads. Nicht mehr lange.

Seit ich mein Werk fast vollendet und minutiös durchexerziert habe, weiß ich genau, wie es mit uns weitergehen kann. Und es wird genauso weitergehen, wie es auf dem Papier steht. Das alles hätte längst passieren sollen, aber der Sommer hatte mich abgehalten, mein Werk in die Tat umzusetzen. Zuerst wollte ich noch, dass alles glimpflich ausgeht — für Mads. Ich dachte: Für die Heimkehr der Tiere braucht er mich. Zugleich wusste ich auch: Wenn meine Flucht von hier nicht klappen sollte, sieht es schlecht für mich aus. Die zweite Idee, war: Ich muss ihn überzeugen, das Boot zu Wasser zu lassen, das er bewacht wie den Schatz von Fort Knox. Einen guten Grund dafür zu finden, den er mir auch abnimmt, ist nicht leicht, aber was ist noch leicht für eine wie mich?

Es ist ruhig wie zuletzt immer hier im Haus auf Pedersand. Zu ruhig. Ich schlage die dicht beschriebenen Seiten zu. Ein beachtlicher Stapel, den mein Leben hergab. Das Beste ist, ich konnte bei der Wahrheit bleiben, auch wenn sie hart ist und weh tut. Mads wird das Papier nicht anrühren. Seine Fantasie bewegt sich in exakt den Grenzen der verhassten Insel, auf der er mich gefangen hält. Niemand wird mein Werk anrühren, weil auf diesem öden Eiland keine Menschenseele mehr lebt, die lange Texte liest. Keine, seit Eltje unter der Erde liegt…

Mads sitzt seelenruhig im alten Lehnstuhl, in dem seine Mutter Eltje so gerne gesessen hatte, als sie krank wurde und uns bald verlassen musste. Danach beanspruchte sein Vater Villads den Platz, und jetzt ist es Mads. Sein Kopf lehnt auf dem speckigen Polster, er döst nur noch dahin. Nicht einmal das ebenso öde Fernsehprogramm fesselt seine verkümmerten grauen Zellen. Kann es auch nicht bei dieser miesen Auswahl. Nur noch Krimis und Liebesfilme in allen Schattierungen. Die Höhepunkte: Geld oder Liebe und die ewigen Wiederholungen der holländischen Heiratsshow, die ohnehin gestellt daherkommt.

Wenn die Arbeit getan ist, könnte Mads doch ein Buch lesen. Das habe ich ihm tausendmal vorgekaut. Und ich habe mich tausendmal erregt, wenn er abschätzig wurde und das Bücherlesen als Zeitverschwendung abtat. Bei uns zuhause — meine Heimat gibt es nicht mehr — wurde immerzu gelesen. Jeden Abend kam einer der Eltern in unser Zimmer und las uns eine Geschichte vor. Später prügelten wir drei Geschwister uns um den begehrten Lesestoff, den es in der Ausleihe gab — gratis, wohlgemerkt. In meiner Heimat gab es vieles gratis oder für wenige Groschen.

Mein Fünf-Pfennig-Brötchen-Land, deine Bürger haben nichts geachtet, den größten Vorteil nicht. Dieser Vorteil hat die Heimat kaputtgemacht, genau wie der größte Nachteil sie letztlich zu Fall brachte. Wer wüsste das besser als ich, eine Verführte aus dem untergegangenen Land. Damals, da wusste ich nichts von alldem, aber die Erinnerung ist immer richtig. Die Heimat liegt einem so tief im Herzen, dass man daran krank werden kann, wenn man sie verloren hat. Ich habe sie verloren, und ich trage daran die Schuld. Nur daran. Nicht daran, was in den Jahren hier im fremden Land, hier auf dieser gottverlassenen Insel, hier mit Mads und mit seinem Vater Villads, mit dem ständigen Wind und der latenten Angst vor der Flut aus mir geworden ist.

Das alles und noch viel mehr steht jetzt schwarz auf weiß auf beinahe dreihundert Seiten. Ob es mir hilft, mit mir selbst ins Reine zu kommen, wenn geschehen ist, was geschehen muss, das weiß keiner. Ich kenne ein gutes Versteck für Papier, aber ich werde es nicht brauchen. Mads hat keinen Sinn für Lesestoff. Wenn er etwas kann, dann ist es, den Tieren und mir seinen Willen aufzuzwingen.

Nicht mehr lange mein Freund. Nicht mehr lange…

Ich werde es tun. Bald. Mein Plan ist gut und er verspricht viel. Auf dieses Eiland wird es ohnehin nie wieder einen Menschen verschlagen. Nie wieder. Darin hat Mads — darin hatte schon sein Vater Villads — vermutlich Recht. Das Klima leidet, und die Vadehavsoer, wie man hierzulande sagt, werden verschwinden. Alle. Und Mads‘ Überreste werden mit Pedersand untergehen.

Ich werde mir jetzt einen Cognac genehmigen und dann zu Bett gehen. Wir schlafen getrennt. Nur wenn Mads betrunken ist und nicht mehr weiß, wie es zwischen uns steht, kommt er angekrochen. Bisweilen schlägt er dann mit der Tür und stampft siegessicher auf. Dann macht er nicht lange Federlesen.

Ein Cognac reicht nicht. Gleich wird er mich missbilligend anschauen und ich werde schadenfroh zurückgrinsen. Warte nur ab, du wirst dich noch wundern.

Was also macht es aus, wenn ich seinen Cognac leere. Er braucht ihn bald nicht mehr…

Wenn geschehen sein wird, was geschehen muss, werde ich sein Boot bei Flut hinaus aufs Meer steuern und dort wie herrenlos treiben lassen. Ich werde jammern, wenn jemand kommt und es zurückbringt. Ich werde zetern, er sei ertrunken. Ihn aber werde ich hier auf dieser einsamen Insel, auf der niemals wieder einer leben möchte, in Tiefschlaf bringen, ihn ersticken und anschließend vergraben. Und niemand wird es je erfahren…

Aber was, wenn er das Boot nicht zum Ufer bugsiert, weil er nie mehr etwas zu meinem Gefallen gemacht hat in letzter Zeit. Nie mehr.

Ich grabe meine verschüttete Intelligenz heraus, die mit den Jahren soweit gediehen ist, dass sie neue Zweifel gesät hat: Was, wenn jemand Lunte riecht, wenn sie mit Spürhunden kommen…?

Verflucht sei das Boot. Besser wäre gleich die Jauchengrube, in die steckt kein Hund seine Nase, und Spuren hinterlässt eine Leiche auch nicht…

Gefangen auf der Insel vor dem Wind

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