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IN DER BANK

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Erst vor wenigen Jahren war das Bankgebäude inmitten der Stadt errichtet worden, schon ist es als Prestigeobjekt zu klein und man muss noch einen Flügel anbauen. Wie günstig, dass der Laden nebenan, der lange Zeit Farben, Lacke und allerlei Sortimente für die Renovierung von Wohnungen verkaufte, schließen musste. Ein nachfolgendes Matratzengeschäft überlebte ebenso nicht und schloss schließlich auch, weil das schäbige Gebäude saniert werde sollte. Im Handumdrehen gehörte es zur Bank. Inzwischen ist das triste Gemäuer mit der bröckelnden Fassade nicht mehr erkennbar hinter dem teuren Marmor zwischen den großen, blau schimmernden Fensterfronten.

»Schön war es ja wirklich nicht«, flüstert Ida Ben zu, als sie in der kleinen Sesselgruppe vor einem riesigen Fernsehbildschirm sitzen und auf Jens Wegener warten, ihren Bankberater. Idas Blick geht zum neuen Innenhof zwischen den Gebäudeflügeln, der mit plätschernden Springbrunnen und edlen Gehölzen ebenso edel anmutet wie alles hier. Der feine Regen glitzert auf dem Marmorbrunnen und den teuren Bodenplatten und lässt alles wie blank poliert erscheinen. Auch Ben schaut in dieselbe Richtung.

»Jeder denkt, die Banken sind für die Rettung der Unternehmen da. Hier rettet man offenbar lieber sein Prestige.«

Sie erwartet von Ben keine Antwort. Eigentlich spricht sie viel zu oft mit sich selbst. In der Nähe von Menschen, die Ben nicht einschätzen kann, spricht er nur selten und wenn, dann sehr leise. Vielleicht ist das ein Erbe aus jener Zeit, als man noch fürchten musste, wegen eines falschen Zungenschlags in Misskredit zu rutschen.

Solange sie still nebeneinander sitzen, geht es ihr durch den Kopf: Sie gehen jedes Jahr hierher. Noch nie hatte sie — auch nicht in ihrem Inneren — den Bau in seiner Vollkommenheit einer Verkommenheit gleichgesetzt, aber die Zeiten wollen nicht, dass man sie gutheißt. Ben muss ähnliches durch den Kopf gehen, wie sie vernimmt.

»Schau es dir nur gut an, damit du weißt, wo dein Geld steckt«, sagt er leise. Vermutlich hatte er ihren Blick verfolgt. »Bei diesen Investitionen werden für uns wohl bald Minuszinsen herauskommen.«

»Wenn er uns das anbietet, lege ich mein Geld in den Safe«, entfährt es Ida ein wenig lauter als gewünscht. Ein kleiner Stich durchfährt sie. Mein Geld, hatte sie gesagt. Mein Geld. Natürlich haben sie ein gemeinsames Konto und das ist der bedeutende Unterschied zu ihrer Art, Tee zu kochen oder Kaffee zu trinken. Die wirklich hochgradigen Dinge verstehen sich noch immer als ihre gemeinsamen. Dazu gehören auch ihre Urlaube. Sie sind sich ja nicht fremd und schon gar nicht feind, aber irgendetwas fehlt seit Jahren in ihrer Ehe, und das sieht Ben totsicher ebenso. Sie hatten beide keine Lust mehr darüber zu reden, den Verlust ihrer Leidenschaft zum Gegenstand von Grundsatzdebatten zu machen, das führte noch nie zu einer Lösung. Seit Langem grübelt sie, warum die Wärme zwischen ihnen verlorengegangen ist. Bisweilen war sie zu dem Schluss gekommen, er kann mit ihrem Erfolg, mit ihrer Popularität, nur schlecht umgehen. Vielleicht wünscht er sich eine Frau, die ihm die Pantoffeln reicht, die ihm alles mundgerecht serviert. Das kann sie nicht mehr. Das will sie auch gar nicht. Nur manchmal, im Urlaub vielleicht, macht sie es aus purem Zeitvertreib.

Der Urlaub. Noch haben sie keine Planung, aber sie weiß es schon im Voraus. Ben zieht es ans Meer. Seit es ihnen uneingeschränkt möglich ist, fahren sie an die Ostsee-Küste und mieten sich eine der vielen modernen Ferienwohnungen, die von Kapital zeugen, über das ein hiesiger kaum verfügt.

Einmal hatten sie es an der Nordsee probiert. Seitdem klingt das Wort aus Bens Mund wie ein Schimpfwort, dem sofort eine Bemerkung folgt: Wenn ich ans Meer fahre, will ich Wasser sehen, keinen Schlamm.

»Hallo Familie Winter. Ich grüße Sie.« Die freundliche Stimme kommt aus dem ebenso freundlichen Gesicht der seriösen Erscheinung von Jens Wegener, ihrem langjährigen Berater. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, Tee, oder Saft. Wasser vielleicht? «

Ben verneint und auch Ida weiß, dass sie mit jedem Ja die Zeit ihres Treffens unnötig verlängert, die Jens Wegener ständig und unnötigerweise auf eine Stunde ausdehnt. Das würde auch heute so sein, obwohl Ben noch zur UNI muss und es auch unumwunden erklärt.

Solange der Mann im dunklen Anzug und schmaler Krawatte die Lage der Banken erklärt, was für Ida schier undurchsichtig ist, aber für Ben nicht minder nebulös sein kann, gedulden sich die beiden. Sie kennen die Rituale und fügen sich. Leider läuft die lange Rede darauf hinaus, die lächerlichen Zinsen zu begründen, die man dem Sparer seit dem letzten Bankenskandal zumutet.

Zu guter Letzt reden nur noch die Männer darüber, welches Auto noch seinen Preis verdient und wohin man demnächst in den Urlaub fliegt. Unter den Malediven läuft heutzutage kein Vorschlag mehr ab, den ein Banker macht. Mit ihrem Status — was immer er darunter versteht — müsse man diese einmalige Welt erkunden, solange sie noch bestehe.

Ida schüttelt ohne es zu merken den Kopf. Sie ist beileibe keine Umweltfanatikerin, aber sie glaubt fest daran: Wenn alle Empfehlungen für Urlaubsreisen zu diesen Langzeitflügen tendierten, ist es ja kein Wunder, dass diese Inseln nicht mehr lange Bestand haben werden. Und das sagt sie auch in das erstaunte Gesicht des jungen Mannes. Schiebt aber lächeln nach: »Wir haben uns im vorigen Jahr neue E-Bikes gekauft. Die sind wesentlich gesünder für uns und die Umwelt. «

Ben rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum. Ob es daran liegt, dass ihm die Zeit davonläuft, oder ob er mit ihrer Art zu kontern wiedermal ein Problem hat, erkennt sie nicht. Schließlich hat er sich darum auch nicht geschert, als es zwischen den Männern viel zu lange um Autos ging.

»Uns genügt die freie Natur«, sagt sie mit kleinem Triumph in der Stimme. »Wir könnten durchaus auf einer einsamen Insel leben, sofern sie keine Weltreise erfordert und genug Bewegung erlaubt. «

Das müde Lächeln von Jens Wegener kränkt sie, aber Ben scheint zufrieden zu sein, dass sein Gegenüber durch Idas Bemerkung seinen Redefluss gestoppt hat und endlich die Papiere zur Vertragsverlängerung zu ordnen beginnt, um sie zur finalen Unterschrift zu übergeben.

Auf ihrem Weg zurück nachhause sind sie sich vermutlich einig: In dieser Welt wird nichts mehr besser. Jeder hängt still seinen Gedanken nach. Sie haben beide keine Lust, über die Methoden der Banken zu lamentieren, über das unüberschaubare Geflecht des Finanz-Schacherns und wie es bis auf jeden einzelnen Angestellten herunter bricht, auch auf den sehr angenehmen Jens Wegener.

Erst zuhause, als Ida die Unterlagen in den Ordner heftet, sagt sie zu Ben: »Ich glaube, man sollte unter diesen Umständen auch den Vertrag zur Sparlotterie rückgängig machen. Ob die Beträge immer einem guten Zweck zugeführt werden, weiß sowieso keiner.«

Ben, der durch den Flur läuft und noch damit beschäftigt ist, seine Tasche für die UNI zu füllen, bleibt abrupt stehen, als muss er überlegen. Dann sagt er, was sie ohnehin erwartet hat: »Mein Gott, was sind die paar Euro? Die machen uns auch nicht reicher. «

Das stimmt, gibt sie unumwunden ihrem Mann Recht, obwohl sie weiß, dass sich Ben damit nur vor der peinliche Konsequenz zu schützen versucht, einmal sagen zu müssen, wir wollen das nicht mehr.

Ida hat indessen ein Problem damit, von ihrem Mann subtil behandelt zu werden, als wäre sie das perfekte Medium für raffinierte Verführungen. Für sie war die Sache mit der Sparlotterie von Anfang an eine Methode zur verkappten Gewinnmaximierung. Freilich werden bisweilen winzige Gewinnsummen ausgeschüttet, um den Sparer bei Laune zu halten, aber wohin das Gros des eingezahlten Geldes fließt, wird nirgends offengelegt. Allein die Tatsache, dass der Sparer am Jahresende einen Teil der eingezahlten Summe rücküberwiesen bekommt, macht manch einen Bankkunden ebenso glücklich, als wäre es ein passabler Gewinn.

Als sie am Tag darauf erwacht, wirft das Licht der Morgensonne die zarten Schatten der Gardine an die Wand. Es hat sie nicht gedrängt, das Bett zu verlassen, und Ben muss erst gegen elf Uhr zur UNI. Jetzt aber zieht sie eine magische Kraft hinauf. Sie schaut nach Ben. Der liegt ruhig atmend neben ihr, ein Bild, das sie bisweilen merkwürdig milde stimmt. In den früheren Jahren hätte sie ihn wachgeküsst. In den früheren Jahren hätten sie sich noch geliebt. Ben liebte es mehr als sie selbst, wenn der Tag damit anfing, dass er ihren Körper besaß, ihre Liebe, die sie ihm schenkte. Sie wendet sich ab von ihren Gedanken und von Ben. Früher ist nicht heute.

Auf leisen Sohlen schleicht sie sich aus dem Zimmer. Ihr Blick aus dem Wohnzimmerfenster bringt ihr das Gefühl von überwältigender Sehnsucht nach Sommer, nach Meer und nach nackten Füßen. Am Himmel ist keine einzige Wolke zu sehen. Nur am Horizont zieht ein schwacher Streifen dunstiger Bläue. Ida mag es lieber, wenn der Himmel mit weißen Wolken übersät ist, aber nach dem verregneten Vortag fühlt sich die gewaltige, wie Kobaltglas schimmernde Kuppel einfach nach Urlaub an, nach Freiheit von allen Zwängen, nach jener tiefen Zufriedenheit, die sie aus unerklärlichen Gründen im Urlaub noch immer gemeinsam empfinden, irgendwo auf Usedom oder Rügen.

Gleich heute wird sie sich dranmachen, ein schönes Apartment zu buchen.

Sie frühstücken gemeinsam, hören dabei die Nachrichten und reden über unbedeutende Dinge. Der Sicherheitsdient im Haus. Der dauernd kränkelnde Aufzug. Der Einzug der vielen Studenten und der Ausländer in den begehrten Wohnkomplex mitten in der Stadt. Nur hin und wieder huscht ihr Blick zu Ben. Sie findet, er ist ein Anderer, seit die Kinder aus dem Haus sind. Immerhin trägt er alles mit, was sie tut, wenn auch ohne die gewünschte Begeisterung.

Er hat davon auch seinen Nutzen. Sie muss schließlich nicht mehr zwingend das Haus verlassen, kann ihre Zeit auf ihn einstellen, was sie zumeist auch bewerkstelligt. Leider hat Ben dafür kein Gespür, glaubt womöglich, ihre Planung für den Tag sehe ohnehin alles genauso vor. Sie trägt es ihrerseits mit Fassung, was die Melancholie, die sie deswegen bisweilen empfindet, nicht mindert.

Als Ben aufbricht, weiß sie nicht einmal, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein soll. Die Rituale in ihrer Ehe sind seit Jahren dieselben. Warum sollte sie also enttäuscht sein.

Weil es nicht stimmt, geht ihr auf. Früher, als sie noch täglich zur Arbeit ging, kam ihr Ben stets wie ihr Beschützer vor, wie ihr Fels in der Brandung. Erst nach und nach änderte sich seine Position zu ihr. Genau genommen, seit sie Bücher schreibt. Nicht sofort. Es änderte sich parallel zu ihrem Erfolg, zu ihrer Anerkennung durch die Öffentlichkeit. Irgendetwas gefällt ihm daran nicht, aber er offenbart sich ihr nie. Manchmal sieht es so aus, als sei er noch immer eifersüchtig, wegen ein paar Komplimenten, die auch mal von Männern kommen. Dann wieder hat sie das Gefühl, er misst sich mit ihr und glaubt, sein Status sei dadurch unterbewertet.

Das Telefon läutet. Auf der Anzeige eine bekannte Nummer. Noch ehe sie abhebt, glaubt sie, Jens Wegener, ihr Bankberater, habe gestern etwas vergessen.

Eine Frauenstimme redet überschwänglich, wie froh sie sei, dass es endlich mal jemanden treffe, dem sie es wirklich gönnt. Es ist Vera Böllmann, die PR-Chefin der Bank.

Wie sich herausstellt, hat die bankeigene Sparlotterie den diesjährigen Hauptgewinn ermittelt, und das sind ausgerechnet sie, Ida und Dr. Benjamin Winter.

»Wohin soll es gehen?«, fragt Ida, noch immer ungläubig.

»Auf eine einsame Insel in Dänemark…«

»In Dänemark!« Es war etwas zu schrill, das merkt sie sofort, aber ihr Erstaunen ist echt. In Anbetracht der bisherigen Minibeträge, die bisweilen ausgeschüttet werden, hätte man, wenn man schon mal das Glück hat, mit einem Kurzurlaub in der näheren Umgebung rechnen können. Niemals aber mit dem Ausland.

»Wir haben uns erkundigt und wissen, dass es unbedingt etwas für Sie ist. Deshalb freue ich mich aufrichtig für Sie.«

Daher also. Erst gestern hatten sie mit Jens Wegener dieses Thema angeschnitten, und ausgerechnet heute… ! Irgendetwas muss faul sein an der Sache. Hatte bisher ein anderer Sieger abgelehnt?

»Erst einmal bin ich natürlich überrascht«, sagt sie ehrlich, »aber ich werden nachher mit meinem Mann reden und rufe zeitnah zurück. «

Verstehen will Vera Böllmann Idas Zögern nicht. Das nötigt ihr eine weitere Erklärung ab: Die einzigen Bewohner der Insel würden zu dieser Zeit nicht zuhause sein. Sie hätten also völlige Freiheiten — ganz ohne Verpflichtung.

Genau so sagt es Ida am späten Nachmittag auch Ben. Wie sie erstaunt sie am Morgen war, ist es Ben momentan. Auch er sieht einen Zusammenhang zu Idas Bemerkung bei Jens Wegener, aber anfreunden kann er sich mit dem Gedanken nicht sofort.

»Wer will schon in die Einöde«, sagt er. »Ich wette, die suchen schon lange nach einem Dummen, dem sie den Gewinn andrehen können. Vielleicht war es ein allzu günstiges Angebot von dort. Wie sagtest du, heißt die?«

»Petersland, oder so. «

»Na, dann wollen wir doch mal sehen…«

Ben setzt sich an den Computer und Ida hört fast eine halbe Stunde nichts von ihm. Als er kommt, trägt er einen verschwommenen Ausdruck mit sich, auf dem ein winziges Pünktchen mit einem Stift eingekreist ist. Vermutlich musste er den Kartenausschnitt bis zu dieser Unkenntlichkeit vergrößern, aber zu erkennen ist die Insel deswegen nicht. Sei Finger tippt auf den Kringel.

»Genau kann ich es nicht sagen, aber das hier könnte sie sein — Pedersand.«

Nach dem Abendbrot reden sie über die Sache mit dem Urlaub. Begeistert sind sie beide nicht, aber Ida hatte zumindest etwas länger Zeit, darüber nachzudenken und war zu dem Schluss gekommen: Ein Abenteuer in der Abgeschiedenheit würde ihrer Ehe neue Impulse verleihen. Alleine dafür lohne es sich, in die Einsamkeit zu ziehen.

Erst nach vielen Worten hin und her und nach reiflicher Bedenkzeit willigt Ben ein.

Viel später — als sie schon auf Pedersand sind — wird ihr klar, warum ihr Mann letztlich eingewilligt hat. Er trägt ein ganzes Bündel Akten mit sich. Hier kann er in Ruhe diverse wissenschaftliche Arbeiten angehen.

Gefangen auf der Insel vor dem Wind

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