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AUF DER INSEL VOR DEM WIND

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Sie sind noch keinen vollen Tag hier, schon gehört alles, was Ida bisher gedacht und erlebt hat, einem anderen Leben an. In der endlosen Weite und der steten Brise, die frisch, aber sauber und gesund ist, scheint es Ida, als schmelzen auch die Tage dahin, die sie einst als normal betrachtet hat, die ihr jetzt merkwürdig enteilen, als haste das Leben vor ihr davon. Sie schaut in die Runde und über die Endlosigkeit des neuen Seins, das sie schon heute nicht mehr als öde, als trist oder gar tötend ansieht. Sogar Ben gefällt es, auch nach dem Frühstück noch ebenso eins mit ihr zu sein, wie seit Jahren davor. So verschieden ihr inneres Leben auch abläuft, sie wachen noch nach vielen Jahren gemeinsam auf, als würde die Liebe noch so groß, noch so tief sein, dass man spürt, wenn der andere sich regt, wenn sein Atem einen anderen Rhythmus bekommt, wenn man glaubt, im nächsten Moment verlassen zu werden, weil man als schlafend gilt und weil der andere Rücksicht nimmt. Rücksicht ist die neue Liebe, hatte sie einmal gedacht, als sie sich mehr von Ben gewünscht hatte, als dass er nur rücksichtsvoll war.

Wie die Kinder laufen sie ungewohnt einträchtig Hand in Hand nach Nordwest am windschiefen Gattertor vorbei, das einen Teil der Wiese begrenzt. Die ganze Insel scheint schräg zu sein. Dort, wo das Land zum Meer hin abbricht, ragt es höher hinaus als auf der Gegenseite. Gerade dort hatte Ida am Vortag Blumen zwischen dem kargen Gras erkannt, das überall auf der Insel wächst. Sie liebt Blumen auf ihrem Tisch, aber sie ist klug genug, sie nicht unnötig dem Kleingetier vorzuenthalten, das ohne die Blüten nicht leben kann. Zudem haben Wildblumen in einer Vase keine so lange Überlebenszeit wie Zuchtpflanzen.

»Schau mal, wie schön die Grasnelke auf diesem kargen Sand blüht«, freut sie sich, aber Ben hat längst ihre Hand losgelassen, steht an der Abbruchkante und schaut angestrengt über das Wasser, das ruhig liegt. Nur winzige Wellen kräuseln sich und werfen das Sonnenlicht zurück, was die Welt um sie herum ganz silbern macht.

Ida interessiert die Welt zu ihren Füßen viel mehr. Hier an der Kante, die noch höher liegt als das Haus, das die Vorfahren vorausschauend erhöht gebaut haben, ist die einzige Stelle, wo Blumen blühen. Überall auf den Wiesen ist nur das dicke Salzwiesengras zu sehen.

Schön, denkt Ida. Ebenso schön findet sie den gelben Hornklee, der sich an die Abbruchkante duckt. Weiter hinten blüht ein Strauch mit Strandflieder und rundherum eine Nesselart in kräftigem Pink.

Sie streift weiter durch das Gras. An ihren bloßen Waden kitzeln die wippenden Spitzen vom Schlangenmoos.

Auch Ben hat seine Jeans hochgekrempelt. Er geht heute wie sie nur in einfachen Pantinen ohne Strümpfe. Als sie das Haus verlassen haben, hatte er etwas gemurmelt, was sie nicht hinterfragt hat, was sich aber so anhörte wie: Wenn er schon mal die Freiheit habe…

Hier an der Abbruchkante gibt es eine Stelle aus dichtem Gras, die wie geschaffen ist zum Verweilen. Ida setzt sich auf das weiche Polster, Ben führt seine Hand wieder an die Stirn und schaut hinaus in die Weite, aus der man sie hierher gebracht hat. Dass es ein Trugschluss war, erkennt Ida erst viel später, schließlich liegt das Festland östlich, wo auch die unbekannte Insel mit dem Schiffsanleger liegen muss.

Während sie so sitzt, den Wind im Gesicht spürt, die Schuhe auszieht und die Zehen in den losen Kies drückt, überdenkt sie ihr Glück, wie sie zu diesem kleinen Paradies gekommen sind: Wie die Jungfer zum Kind. Über diese Plattitüde beginnt sie zu kichern. Jeder andere Schreiberling würde sie für einen solch platten Satz schelten.

In ihren Gedanken vergisst sie, dass Ben noch immer hinter ihr steht. Vermutlich wäre es ihr sonst nicht entfallen, dass auch er von etwas träumt: Von seinem kleinen Paradies, das er verloren zu haben glaubt und das er hier, genau hier, wo das Leben keine Ablenkung bringt, wieder neu erobern könnte?

Gerade nimmt Ida sich etwas fest vor: Wenn sie zurück im Haus ist, wird sie sofort ihre seltenen Eindrücke von diesem Stück Land aufschreiben, bevor sie von unbedachten Worten oder ganz Anderem überlagert werden. Genau das passiert ihr oft, und wenn sie für ihr Setting das Besondere braucht, kann sie es nicht mehr so klar und präzise rekonstruieren.

Kaum zu Ende gedacht, spürt sie Bens Arm um ihre Schultern. Sein Kopf nickt zum offenen Meer: »Wäre das nicht Stoff für einen neuen Roman. Die kleine Insel im Wind? «

Ida hält den Atem an. Wann denkt Ben je daran, worüber sie schreibt? Was ist mit ihm?

»Für mich liegt die Insel noch vor dem Wind«, sagt sie in der Gewissheit, Ben würde sofort ein Gegenargument anführen. Sie irrt sich nicht zum ersten Mal.

Ben sitzt dicht bei ihr und lässt seine Hand von ihrer Schulter tiefer sinken, aber fester streicheln. Ida liebt es, wenn seine Haut auf ihrer Haut liegt, egal wo und warum. Er scheint dasselbe zu wollen und hebt ihren locker über den Gürtel fallenden Pulli an, schiebt seine Hand darunter und streicht zärtlich über ihren nackten Rücken und die Lende. Sie legt ihren Kopf auf seine Schulter wie früher. Über das Meer zieht ein Schwarm Schwäne, sehr tief, gefährlich tief, wie Ida glaubt. Die Luft ist klar, klarer als befürchtet. Irgendwer hatte einmal gesagt, wenn ein sonniger Tag diesig ist, bleib auch der nächste schön. Heute ist er alles andere als diesig. Aber gerade in seiner Klarheit ist er so besonders — für ihr Herz ist er schön, denkt sie, und sie denkt, wie dumm wir doch beide sind. Wir leben aneinander vorbei, jeder für seinen Job. Das kann nicht das Leben sein. Nicht das. Wenn nicht hier, wann dann, können sie sich wiederfinden?

Ob es ein Leben für sie wäre zwischen Kühen und Koppeln, zwischen Hühnern und Kaninchen…? Mit Trinkwaser aus einem Behälter und mit Brauchwasser aus einem anderen. Am schlimmsten aber ist für sie das Klo, das in einer Jauchegrube endet. Ein ganz furchtbarer Gedanke …

Ida muss ihn nicht zu Ende denken. Bens Hand wandert um ihre Flanke herum bis zu ihrer rechten Brust. Erst zärtlich, rücksichtsvoll, dann fordernd. Unmerklich schiebt sie den Körper näher zu Ben. Es ist noch immer etwas Einzigartiges, wenn sie Bens Begehren spürt. Es ist wie damals als Kind, als sie ihre Puppe wiedergefunden hatte und vor Freude zu weinen begann und alles um sich herum vergaß, bis sie die Mutter daran erinnerte, was sie zu tun habe. Als erstes käme bei aller Freude immer die Pflicht.

Noch am letzten Gedanken hängend, stöhnt Ida auf.

»Mein Gott«, schreit sie beinahe, »wir sollten doch gleich am Morgen die Hühner füttern und herauslassen… Und die Kaninchen…«

Bens Griff lockert sich, was sie zutiefst bereut, aber nun nicht mehr ändern kann. Verstohlen schaut sie ihm ins Gesicht. Seine gerade noch ebenmäßig entspannte Miene scheint zu versteinern, sein Haar bewegt sich leicht, als schüttelte sein Kopf einen gerade gefassten Gedanken wieder ab.

Jeder für sich laufen sie zurück zum Haus.

»Geh schon hinein, ich mach das«, sagt er zu Ida. Mal wieder geht seine Enttäuschung ohne ein weiteres Wort einher, aber mit so deutlichen Gesten, dass es ihr wehtut. Er will sie jetzt, wo sie ihm etwas verdorben hat, für eine Weile nicht sehen, sie hat vermasselt, was für beide gut gewesen wäre. Warum?

Sie kann es nicht mehr ändern und sie weiß, dass sich genau diese Dinge, wo einer die Erwartung des anderen durchkreuzt, durch ihr Leben ziehen. An dieser Entwicklung ist sie nicht schuldlos. Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein. C‘ est la vié.

Wenn er da draußen diese ungewohnten Dinge tut, wird er abgelenkt von dem, was war, abgelenkt durch Hühner und Kaninchen. Ähnlich jedenfalls geht es ihr zumeist selbst, und genau das ist der Grund, warum sie beide ihr gemeinsames Problem der schleichenden Entfremdung nicht aufarbeiten, nicht im Guten, aber zum Glück auch nicht im Bösen.

Zurück ins Haus kommt Ida gerade noch rechtzeitig, um die Stimme eines Mannes zu erfassen, die aus dem Gerät kommt, das im Flur steht, das sie aber nicht beherrschen würde, müsste sie jetzt etwas tun.

»Hallo«, versteht sie, und auch den Namen »Vincent«, sagt die Stimme in einem Akzent, der sich mehr platt als dänisch anhört. Und dann sagt er, er käme in den nächsten Tagen nicht, was immer das bedeutet. Zwischen halbem Deutsch und halbem Dänisch hört sie etwas, was nach Sturmflut klingt. Und er schiebt nach, jemand — den Namen versteht sie nicht ganz, er klang nach Fritsch oder ähnlich — habe gesagt, ihr wisst, was zu tun ist!

Eine halbe Stunde später erscheint Ben mit Heufäden am Pullover und mit ebenso bestaubten Händen, wie die Kleider der Frau bestaubt waren, gestern, was vermutlich von dem Trog herrührt, in dem das Trockenfutter lagert.

Eine Zeit lang prüft sie unmerklich, wie seine Laune ausfällt. Sie kennt den Grund für Bens Verstocktheit stets genau, heute sie akzeptiert sie ihn sogar. Ober ohne ein Wort wendet sie sich dem Gemüse für den Auflauf zu, das zu putzen und zu schneiden sie sich vorgenommen hatte. Sie prüft die beiden Herde, von denen einer mit Strom, der andere mit Gas funktioniert. Sie entscheidet sich für den mit Stromanschluss, weil ihr Gas im Haus schon seit Jahren gefährlich erscheint.

Erst als sie die Formen in den etwas nostalgischen Herd schiebt und die Hitze aus der Röhre ihr Gesicht zu röten scheint, erinnert sie sich an den Anruf.

»Da war einer«, sagt sie vorsichtig, »Da draußen … Er sagte etwas von Sturm und dass wir wüssten, was zu tun ist. «

Ida und Ben wissen es natürlich nicht. Aber Ben verspricht, nach dem Gerät zu schauen, ob er den Anruf wiederherstellen kann. Das tut er ausnahmsweise sofort und vermutlich sehr gern. Damit ist er für eine weitere Zeit wieder aus ihrem Blickfeld und sie müssen nicht über die verunglückte Annäherung da draußen reden.

Während des Essens sitzen sie stumm beieinander. Sie spürt, wie er ständig nach ihr schielt, aber sie hat nichts zu sagen. Was auch?

»Ich konnte den Anruf nicht wieder aktivieren, muss mich erst mit dem Gerät vertraut machen«, sagt Ben kurz und so abschließend, dass sie keinen Anlass sieht, etwas zu erwidern. Dann lehnt er sich auf der Sitzbank zurück, nimmt sein Mobiltelefon in beide Hände und sucht nach einer Anleitung für das, was er Funkgerät nennt.

Zum Glück, denkt Ida, hat er sich das neueste iPhon von Apple geleistet, das er auch seinen Kindern stolz präsentiert hat. Erst vor einem Jahr war diese Neuerung auf den Markt gekommen. Ben ist in diesen Dingen eher konservativ, wartet, was die Kritiken sagen, aber in diesem Fall hat er Weitsicht bewiesen, sofern ihn nicht purer Besitzerstolz erfasst hat.

Nachdem Ida mit dem Spülen fertig ist, dasselbe Bild, bis Ben sagt: »Verdammt. Es wäre doch gelacht, dass wir es das nächste Mal nicht besser machen können.« Das kann man so oder so sehen, denkt Ida. Entweder er kommt mit dem, was er vorhat, nicht voran, oder es war mal wieder eine versteckte Anspielung auf sie und ihre ungeschickte Reaktion. Und sie denkt: Dann mach es doch besser! Herrgott…! Bei der wortkargen Frau hatte sie nur einen einzigen Handgriff gesehen, wie bei jedem Telefon.

Tief atmend steht Ben wieder auf und geht ins Nebenzimmer. Auf der Plüsch-Couch nimmt er jene Pose ein, die ihr auch zuhause sagt: Stör ihn jetzt bloß nicht. Und das kommt ihr sogar recht.

Da steht sie nun mit einem fast zu Tode verletzten Herzen und mit brennendem Vorwurf, alles vermasselt zu haben. Sie wollte alles dafür tun, dass ihre Ehe wieder einen Aufschub bekommt. Jetzt wird sie wohl alles tun müssen, den Ehefrieden zu retten, auch wenn sie den noch keinen Tag infrage gestellt hat. Sie wollte mit diesem einsamen Urlaub sehnlichst erreichen, dass alles wieder wird wie früher, und dann fallen ihr im ungeeignetsten Moment die dämlichen Hühner fremder Leute ein. Wie idiotisch ist sie denn? Wer hätte sie hier — wobei auch immer — beobachten können? Wie weit wäre Ben gegangen? Sicher nicht bis zum Äußersten, bei aller Abgeschiedenheit. Hier ist man verraten und verkauft, vergessen und begraben…

Nach dieser Selbstbezichtigung sucht sie krampfhaft auch nach seinem Anteil, um sich besser zu fühlen: Warum fällt ihm auch ausgerechnet dort ein, dass es noch etwas wie Körperlichkeit gibt zwischen zwei Eheleuten. Haben wir keine andere Gelegenheit? Und wie oft ging es mir ähnlich und er hatte noch eine wichtige Sache am Laufen.

Am zweiten Tag müssen beide denselben Vorsatz getroffen haben, sie wollen alles besser machen. Es scheint, als wäre die alte Harmonie aus dem Nichts zurückgekehrt, nur mit Bens Berührungen sieht es spärlicher aus als erhofft. Sie erkunden die Insel und sie spüren die Wirkung des Klimas und die Wirkung der Abgeschiedenheit, die ihnen sagt: Nur du und dein Mann sind hier und wir müssen uns aufeinander verlassen.

So geht auch der zweite, ein ebenso klarer Tag aber mit deutlich mehr Wind ohne Probleme zu Ende.

Ida sagt: »Es war doch ein schöner, ein fast aufregender Tag.« Dieselbe Ansicht glaubt Ida auch bei Ben zu fühlen. Jedenfalls war der Tag nicht so öde, nicht so gegenseitig abweisend wie befürchtet, und es werden all die weiteren Tage, die sie hier verbringen wollen, nicht mehr öde, nicht mehr abweisend sein. Das nimmt sie sich vor. Es liegt an ihnen, an niemand sonst.

Sie ist schon vorausgegangen und räkelt sich in den ländlich bunten Kissen. Ben braucht, wie auch zuhause, für einen Mann ziemlich lange bei seiner Abendtoilette.

Als er kommt, schielt sie nach ihm. Er duftet, anders als daheim, nach Mandelseife. Seine gut gebräunten Arme mit den hervorstehenden Adern glänzen, und die Härchen auf der Haut um seinen Hals sind hochgerichtet, als reckten sie sich wie ein erektiles Glied. Wie erotisch er noch ist, wie er sie noch elektrisieren kann. Ida wünscht sich, dass sie bei ihm noch ebensolche Gefühle erzeugen könnte, was ihr nach ihrem Verhalten am Ufer nur noch schwer fällt zu glauben. Als er seine Hand nach ihr ausstreckt, hält sie den Atem an. Er beugt sich noch einmal zu ihr herüber und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Sie spürt, dass er näher bei ihr liegen bleibt als zuhause, zögernd vielleicht, was er tun soll. In dieser Atmosphäre von tiefer Nähe, von erhoffter Intimität, die sie kaum noch so erlebt hat, hat sie das Gefühl, unter der Decke nach Ben greifen zu müssen, genau dort, wo er so sehr erregbar ist, dass er noch nie widerstanden hat. Aber sie tut es nicht, wartet, dass er wie immer den Anfang macht.

Und dann … nicht lang danach erlebt sie das Gefühl streichelnder Hände über ihrer Haut, über ihrer Brust, über Bauch und Schenkel. Ihr beider Atem vermischt sich zu einem und ihre Hand spielt in den wundervollen Haaren ihres Geliebten Benjamin Winter von der Abi-Klasse. Wie lange ist das her? Undenkbar lange.

An diesem Abend erlebt sie wieder wie einst, wie sich ihr Schweiß vermischt, wie sich ihre Körper ergeben in dem Gefühl, den anderen zu brauchen, noch immer verrückt nach ihm zu sein und es ewig zu bleiben.

Ben ist so voller Begierde, dass er gar nicht merkt, im nächsten Moment wie ein Hengst über sie herzufallen. Es ist wie verhext. Heute genießt sie seine Unerbittlichkeit mit Wonne. Trotz seiner Heftigkeit reagiert auch sie mit viel zu starken Gefühlen auf ihn. Diese Augenblicke, die sie männliche Besessenheit nennt, hat sie bis gestern nicht gemocht an ihm, aber wenn sie ehrlich ist, braucht sie gerade jetzt Bens Zuwendung, Bens Anerkennung, Bens Geflüster, mit dem er ihr die Ewigkeit verspricht. Sie hat sie schon immer gebraucht, erst dann fühlte sie sich wirklich geliebt. Und wenn ihn nichts anderes zu diesen Bekenntnissen bringt, dann eben auch ihr Nachgeben auf seine Unerbittlichkeit.

In dieser Nacht bricht das Eis, das nur vom Stress gezeugt hat, redet sie sich ein. Heute erdulden die meisten Business-Leute zu viel Stress und können daher keine Kraft mehr für die schönen Seiten des Lebens aufbringen.

Nachdem sich beide vom Zustand höchster Erregung ausgeruht haben, kugeln sie noch einmal kichernd übereinander her, als waren sie und blieben sie nun für immer in dieser vollkommenen Übereinstimmung ihrer Gefühle. Wie nur selten liebkost Ben ihre Lippen, leckt ihre Haut wie eine junge Katze ihre Milch, dann lacht er leise und steigert seine Lust zu einem unhaltbaren Ausbruch.

Ben hat seine Vorstellungen von den Urlaubsnächten mit Ida zu verwirklichen begonnen. In Ida indes bleibt etwas zurück, was sie sich trotz höchster eigener Zufriedenheit, nicht erklären kann. Noch niemals zuvor hatte sie Gedanken wie diese, wenn sie sich geliebt haben. Warum stellt sie sich heute ein Szenario vor, das so weit weg liegt wie Kimbuktu.

Wie muss es sein, ein ungeliebter Mann zwingt dich zu dem, was du Ben freiwillig gegeben hast. Und was wäre, du müsstest unfreiwillig empfangen, was du von einem Scheusal zu empfangen befohlen bekommen hast?

In den meisten Jahren zuvor hatte sie bisweilen einen inneren Widerstand gegen Bens unverhofften Ausbruch gehegt, weil sie seine Liebe bei Tage vermisst hatte. Das war zwar Fakt, aber sie hat trotzdem seinen Willen zugelassen, was als einvernehmlich gilt. Freilich wäre sie glücklicher, seine Liebe außerhalb des Bettes deutlicher zu spüren, gerne würde sie auch abseits jeglicher körperlicher Erwartung von ihm Worte geflüstert bekommen, die ihr schmeicheln. Daraus dürfte er dann gerne neue Sehnsucht schöpfen, neue Erwartung an sie, neue Gier.

Sie lieben sich noch einmal, nicht mehr so heftig, mit mehr Ruhe und Tiefe, dann schläft Ben ein. Sie bleibt wach wie stets, wenn sie erregt ist, egal wovon.

Auf einmal ist es ihr, als sterbe ihre eigene Sehnsucht, als bliebe ihr Körper leer und ihr Herz kalt und verlassen zurück.

In ihre vielen Gedanken mischt sich wie so oft die ernüchternde Erkenntnis, dass Bens Hingabe nicht das bedeutet, was sie braucht. Die Liebe eines Mannes ist nur die Belohnung der Frau für das, was sie ihm schenkt. Alles, was nach Liebe duftet, dient nur diesem einen Ziel. Ist das erreicht, ist es vorbei mit lieben Worten, mit tausend Schwüren. Erst recht mit jeglichem Verständnis für das, was die Frau an seiner Seite anders macht, anders denkt als er.

Ein Urlaub wie dieser kann schön sein, aber die Zeit ihrer grauen Einsamkeit tief in ihr drin wird wiederkommen und dann hilft ihr nur, die Zähne zusammenzubeißen und sich in ihre Texte zu vergraben, die Enttäuschungen zu vergessen und sich einzubilden, sie lägen einzig an ihrer eigenen übertriebenen Erwartung an die Liebe. Nur so hat sie die Jahre überstanden, und nur so wird sie die kommenden überstehen.

Bei Tage roch die Luft nach Weite, nach Schlamm und nach Fisch. Nur an den Koppeln stach der bekannte Duft nach frischem Gras heraus. Dennoch waren ihr die fremden Dünste nicht unangenehm, wie sie fremde Dünste in der Stadt gewöhnlich empfindet.

Jetzt hat sich etwas verändert. Wind heult ums Haus und es scheint sogar, dass Regen an die Fenster peitscht. Unter diesem dicken Dach kann sie die Geräusche nicht so gut ausmachen wie zuhause in ihrer Wohnung, wo sie jeden Mucks vom anderen unterscheidet. Zudem liegen die Fenster hier oben so weit hinter der vorspringenden Wulst aus Reet, dass es die Regentropfen schwerhaben könnten.

Ida kann jetzt kein Auge zumachen. Sie lauscht in die Nacht. Dabei geht ihr merkwürdigerweise durch den Kopf, dass sie den Namen der Leute gar nicht kennen würde, wäre er nicht auf den Stein geritzt worden. Von der wortkargen Frau haben sie ihn schließlich nicht erfahren, und in ihrem Glückwunschschreiben stand nur der Name der Insel. Sie denkt an den Anruf von gestern: Fritsch oder ähnlich hatte der Anrufer gesagt. Aber ein F stand nicht auf dem Stein, nur M. und H. Peterson.

Fast schläft sie darüber ein. Nicht lange, und sie hat das Gefühl, sie liege auf schwankenden Schiffsplanken. Das kann kein Wind mehr sein, denkt sie, und greift behutsam nach Ben. Der aber schläft tief und befriedigt, wie Männer danach wohl alle sind.

Auf nackten Füßen schleicht sie zum Fenster. Der Regen verhindert jede Sicht in die Ferne. Gerade noch kann sie schleierhaft erkennen, wie sich der Busch hinterm Haus und der Baum daneben gespenstisch biegen. Wenn sie jetzt Ben wach macht, lacht er sie aus.

Irgendetwas schlägt hart auf. Immer wieder. Sie schleicht die schmale Treppe hinunter. Irgendwo muss ein Fenster offenstehen, sie spürt den stürmischen Atem der See. Und sie fröstelt sogar, ob vor Angst oder ob es wirklich so kühl geworden ist, kann sie nicht sagen.

Im Halbdunkel stolpert sie über einen Gummistiefel, der, wer weiß woher herausgefallen sein muss. Am Abend stand da keiner. Irgendwann weckt sie Ben, versucht es jedenfalls. Noch im Halbschlaf nimmt er sie in seine Arme, zieht sie unter seine Decke und presst seinen Körper, der noch nicht wieder bekleidet ist, an ihre Seite.

»Schlaf jetzt«, murmelt sein Mund, der nur ganz flüchtig einen Kuss auf ihre Schläfe drückt. »Da hat doch jemand von Sturm geredet«, hört sie ihn lallen, und sie fühlt, wie er sie fester an sich drückt, dass sie seine Männlichkeit spürt: »Ich habe alles niet- und nagelfest gemacht.« Kaum sind seine Worte vom Kissen verschluckt, wird seine Arm auf ihrer Lende schwerer und sein Atem in ihrem Nacken noch tiefer, noch stärker als zuvor. Seit Langem liegen sie wieder wie früher zusammen in einem Bett. Sie rundgerollt wie ein Baby, er mit seinem Bauch an ihrem Rücken, was für beide etwas Erotisches hätte, wäre Ben nicht zu erschöpft von der Liebe.

Sie ergibt sich seinem Wunsch, still zu halten, und sie hofft, schnell einschlafen zu können. Diese Bauernhäuser stehen seit ewiger Zeit und trotzen den Unbilden der Natur. Warum sollte heute etwas passieren, ausgerechnet jetzt, wenn sie hier sind. Das wäre in der Tat nicht logisch, und logisch war sie noch immer.

Bevor sie langsam hinüber driftet, taucht eine Erinnerung aus längst vergessener Kinderzeit nebelhaft in ihr Gedächtnis. Es waren ähnliche Worte, wie sie ihre Mutter gebrauchte, wenn die kleine Ida bei einem Gewitter ins Bett der Mama gekrochen kam und sich fest an sie kuschelte: Dir kann gar nichts passieren. Ich bin ja bei dir. Als ob ein Blitz nur dort einschlägt, wo es einsame Kinder gibt. Als ob man einen Donner weniger hört, wenn die Mama neben einem liegt.

Merkwürdig, dass sie sich gerade jetzt wieder wie ein Kind fühlt, das in Zärtlichkeit gehüllt von allen Sorgen enthoben werden soll. Wann gab es das zuletzt? Nicht von Ben, seit Langem nicht mehr.

Gefangen auf der Insel vor dem Wind

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