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AUF NACH PEDERSAND

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Allein die Fahrt ab dem Festland, wo sie ihr Auto zurücklassen mussten, ist abenteuerlich. Eine Fähre bringt sie bis zu einem Anleger auf einer Insel im Nirgendwo. Ein überkluger Passagier erklärt mit ausladenenden Gesten, wo Manö liege, wo Römö und wo Fanö, was immer die Namen bedeuteten und wie immer man sie aussprach. Ida weiß beides nicht. Allein am Gehabe des Mannes erkennt sie, dass er sie als Deutsche identifiziert hat und dass er sie womöglich für marklose Landratten hält.

Als Ida glaubt, endlich am Ziel zu sein und die Fähre hoffnungsvoll verlässt, steht ein Boot bereit, auf dem einer eine Schild hochhält, das ihren Namen und den Namen der Insel zeigt: Pedersand.

Solange sie ihr Gepäck verstauen, deutet ihnen der Skipper mit einer missbilligenden Geste an: Die Zeit sei nicht gut gewählt. Der Mann, der sich als Postbote entpuppt, schiebt emotionslos ein einziges Wort nach, als spräche er zu seinesgleichen: »Ebbe.«

Warum er so zur Eile mahnt, ahnen die Landratten nicht.

Die Luft ist süßlich, modrig fremd. Aber die frische Brise tut gut, sehr gut. Das findet auch Ben.

Weit hinten im Nichts sind bald schemenhaft graugrüne Konturen zu sehen. Je näher sie kommen, kann Ida auf einer deutlichen Schräge ein paar Gebäude und wenige Bäume erkennen. Langsam formt sich vor ihren Augen etwas, was wie eine grüne Eisscholle anmutet, die nördlich auf einer anderen Scholle aufliegt.

Das kleine Eiland gleicht südöstlich einer flachen Hallig, nordwestlich scheint es eine mannshohe Steilküste zu haben. Nur einen bäuerlich anmutenden Dreiseitenhof kann man von Weitem erkennen. Davor breiten sich Wiesen und Koppeln aus, die von windschiefen Gattern gezäunt sind. Vieh ist nicht zusehen. Aber ein zerschundener Bollerwagen steht am Weg für ihre Koffer bereit, gleich hinter dem Anlegesteg. Der Mann vertraut ihnen auch noch die Post an, die er in seiner Tasche hatte. Dann fährt das Boot zurück.

An einem Holzpflock am Rande der Wiese hängt ein flach behauener Stein, um den sich eine Kette aus Hühnergöttern rankt.

Hier wohnen H. und M. Peterson. Vielsagend schaut Ida zu Ben und tippt auf Peterson: »Peterson auf Perdersand, wie kann es anders sein. Vermutlich hat hier jede Insel den Namen der einzigen Bewohner.«

Die Gummiräder des Bollerwagens knirschen im Sand, sonst ist nichts zu hören als ein leises Säuseln des Windes.

Auf dem schmalen Kiesweg hin zu den Gebäuden begreift Ida die Ruhe und den Frieden, die über dem Leben der Menschen liegen mag, die es hierher verschlagen hat. Sie selbst hat nie nach Aufregung gedürstet, nach Action, wie man neudeutsch sagt. Sie hat schon viel von einsamen Inseln gelesen, zumeist von den Hallig-Inseln, aber niemals wirklich verstanden, dass man sich damit verbunden fühlen kann wie mit seinem Baby, das an der Nabelschnur hängt.

Die Gebäude auf dem seichten Hügel sehen intakt aus, was Ida beruhigt. Das Haus, das sie als Wohnhaus ausmacht, scheint sich zu ducken vor Wind und Wetter, aber es hat etwas Märchenhaftes, etwas Nostalgisches oder eben Unerwartetes für sie.

Zwei seitliche Gebäude rahmen das Haus ein, ein drittes ist ein hölzerner Schuppen, schon etwas windschief hinter dem Haus gelegen. Vermutlich längst ungenutzt. Alles hat einen morbiden Charme, der sie ebenso belustigt, wie auch neugierig macht.

Zugegeben, sie folgt sonst gerne Bens Urlaubswünschen nach Komfort, nach moderner Ausstattung, nach Bequemlichkeit und Nähe zu allem, was man im Urlaub braucht. Aber einmal im Leben kann man auch anders die Zeit verbringen. Anderenfalls wäre es ein grober Widerspruch zu ihrer Aussagen, sie könnten auch auf einer einsamen Insel leben. Ihr ist bewusst, dass sie diese Worte nur gewählt hatte, um zu belegen, wie wenig sie andere Menschen brauchen, wie sehr sie sich noch selbst genügen.

Je weiter Ida den Fuß auf dem leicht ansteigenden Sandweg setzt, desto mehr ist ihr, als müsse sie aus einem unwirklichen Traum erwachen und jemand sagt ihr, dass sie nun aufstehen muss und der Pflicht zu folgen hat. Noch kann sie sich nicht einlassen auf die Zeit, an der das pulsierende Leben, das sie normalerweise umgibt, an ihr vorbeiläuft, sie unberührt lässt, das sie vielleicht sogar vergisst.

Noch ist kein Mensch zu sehen, aber das Boot, das sie von einer der unbekannten Inseln bis hierher chauffiert hat, ist längst außer Rufweite. Was, wenn hier gar keiner ist? Nicht selten fallen in dieser Zeit Gutgläubige auf einen Nepper herein. Das allerdings dürfte ihnen unter den Umständen, wie sie zu der Reise gekommen sind, nicht passieren.

Nun also sind sie auf Pedersand, was immer das Wort bedeutet und was der Ort an Bedeutung für sie bringen soll.

Der Skipper hatte während der Fahrt telefoniert, wortkarg, aber nicht mürrisch. Verstanden hat sie ihn nicht, an seiner Reaktion hat es Ida abgelesen, es muss jemand daheim sein.

Ben zieht die Schultern an, dann klopft er zwar an die Tür, aber er drückt sofort genervt die Klinke herunter, was Ida beschämt, obwohl Bens forsches Vorgehen in dieser Lage verständlich ist.

»Hallo!«, ruft er. »Familie Winter ist hier.«

Kein Laut ist zu hören, erst nach Minuten ratlosen Herumstehens an der offenen Haustür kommt eine Frau mittleren Alters aus dem Anbau geschlurft. Über ihren Schuhen trägt sie Gummigaloschen, auf ihrer Jacke kleben Fäden aus Heu und Stroh. Das hellbraune Haar hängt in zwei Strähnen von ihrer Stirn, der Rest ist nachlässig zu einem Knoten verwirbelt, der tief im Nacken sitzt. Die schmalen, etwas mandelförmigen Augen sind das einzig Markante, was Ida auffällt, aber freundlich sehen sie nicht aus.

»Da kommen Sie ja doch noch«, sagt das Gesicht, das ebenso gereizt wirkt wie Ben, bestenfalls gestresst. Ben sagt später, dass es für ihn eher abweisend, fast feindselig ausgesehen habe.

»Wir warten seit Montag«, sagt sie, und das ist kein guter Einstieg in ein Gespräch, das normalerweise zwischen Gast und Vermieter geführt wird.

»Wieso?«, stammelt Ida. »Wir kommen wie ausgeschrieben am 7.7. und der ist heute, oder irre ich da?«

»Ich weiß«, erwidert das undurchschaubare Gesicht. »Ich habe schon nachgefragt … Der Fehler liegt bei der Bank. «

Verstehen kann Ida den vermeintlichen Fehler nicht, aber schlimmer geht es Ben. Der ist so grantig, dass er sich nur noch im Hintergrund hält. Hoffentlich, denkt Ida, sucht Ben den Lapsus nicht bei mir.

Nach einer alles beendenden Geste und mit abgehackten Worten werden Ida und Ben Winter von der Frau durch den Flur des Hauses geführt, das alt, aber nicht baufällig ist und in dem sich auch hier drinnen alles zu ducken scheint. Dennoch wirkt es geräumiger als von außen gedacht. Die Geste der Frau, das Gepäck an der Treppe stehen zu lassen, ist ebenso sparsam wie alles an ihr. Sie ist offenbar eine Deutsche, oder sie hat sich das Deutsch hervorragend angelernt. Dennoch kommt kein anheimelndes Gefühl in Ida auf, wie gewöhnlich, wenn sie im Ausland auf Deutsche trifft, was in der Tat nicht immer beglückend ist. Hier wäre es ihr angenehm, schließlich wird man sich über einiges verständigen müssen, bevor das Ehepaar für die Zeit ihrer Anwesenheit die Insel verlässt, wie es Vera Böllmann von der Bank gesagt hatte.

Das Merkwürdige an der Frau entschuldigt Ida vor sich selbst mit den abgeschiedenen Bedingungen, unter denen das Paar lebt. Einen Mann bekommen sie jedoch gar nicht zu sehen.

Ida mag es, wenn Menschen zurückhaltend sind. Leider schwingt bei dieser Frau etwas Ungewisses mit, etwas von Unmut und etwas von Machtlosigkeit. Abgesehen von der leicht verstaubten Kleidung macht sie einen soliden Eindruck. Ihr Haar ist mit feinen Silberfäden durchzogen, ihre Augen, nichtmehr so scheu, aber noch immer distanziert, ergänzen die Körpersprache, die Sachlichkeit verrät.

Später spricht die Frau mit großer Konzentration. Ihre Gesten sind knapp und doch sehr deutlich. Sogar, als sie den Gästen ihr Zimmer zeigt — zuvor hatte sie wie selbstverständlich nach einem Gepäckstück gegriffen, um es die Stufen hinaufzutragen — scheint es Ida, als habe diese Frau eine unerschöpfliche Kraft in sich.

Ein solcher Mensch, auch eine solche Frau, würde immer die Möglichkeit haben, sich aus eigener Kraft allen Widrigkeiten der Natur zu widersetzen, auch denen böser Mächte. Für ersteres würde sie hier diese Kraft wohl sehr gut gebrauchen können.

Das Lächeln ist merkwürdig sparsam, aber der schmale Mund erklärt sehr klar, sehr einfach, wie das Leben auf der Insel für sie beide die nächst verbleibenden Tage funktioniert.

Der Haushalt habe alles, was man braucht. Das Gras sei gemäht und um Vieh müssten sie sich nicht sorgen, das sei bereits fort. Lediglich die Hühner und die Kaninchen, die sie ihnen noch zeigen werde, sollten sie regelmäßig füttern. Und falls es Probleme gebe, stehe ihnen — die Eier sowieso — das Fleisch der Rammler zu. »Nur der Rammler!«, betont sie, die seien ansonsten nutzlos.

Nutzlos erachten später sowohl Ben als auch Ida genau diesen Hinweis der Frau. Wie sollten sie wissen, was ein Rammler ist und was eine Häsin? Und warum sollte es Probleme geben?

Das Haus hat zwei Stockwerke, aber auch oben macht es einen erstaunlich geräumigen Eindruck. Am Abend lädt sie die Frau zum gemeinsamen Essen ein. Gegessen werde in der geräumigen Küche im Parterre. Das bleibe auch während ihrer Abwesenheit so. Das Haus gehöre ab jetzt vollständig ihnen, nur ihr Schlafzimmer bliebe verschlossen, alle anderen Räume stünden offen.

Von einem Hausherrn ist keine Spur. Aber der Tisch ist gedeckt, als würde sich sogleich noch einer zu ihnen gesellen. Ohne viele Worte hat die Frau aus allem, was verfügbar schien, etwas gezaubert. Eier, Kaninchenfleisch, Fisch, Käse und ein grüner, gemischter Salat. So abgeschieden diese Menschen hier leben, an Hunger leiden sie nicht, und bescheiden sehen ihre Mahlzeiten vermutlich nie aus.

Ida besteht darauf, nach dem Essen das Geschirr spülen zu helfen. Eine Arbeit, die sie seit Langem nicht mehr erledigen muss. Aber es liegt ihr viel daran, ein paar Worte mehr mit der Frau zu wechseln, die besonders in Bens Anwesenheit abweisend wirkt.

Da man sie schon am Montag erwartet habe, sei ihr Mann schon voraus. Wohin, das sagt die Frau, die Peterson heißt, nicht. Als die aber später erfährt, dass Ida Buchautorin ist, sagt sie doch etwas mit merkwürdigem Blick: »Falls es … ich meine, falls es langweilig wird oder Sie nicht aus dem Haus können…« Sie stockt, aber dann ergänzt sie merkwürdig lächelnd, fast entschuldigend: »…ach was. Dann wird eine Autorin doch vermutlich etwas zum Lesen dabei haben. «

Idas Frage nach ihrem Mann, die ihr auf den Lippen brennt, beantwortet die Frau nicht. Ob das gewollt ist, kann sie nicht ergründen, weil just in diesem Moment das Funktelefon anschlägt.

Die Antworten, die die Frau gibt, sind ebenso einsilbig, wie sie auch zu ihnen beiden ist. Das beruhigt Ida in gewisser Weise. Und ebenso sieht es Ben.

Am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück verlässt jene Frau, die Ida und Ben Winter nur als M. oder als H. Peterson kennen, mit ziemlich viel Gepäck aus Kisten und Kartons auf dem Bollerwagen den Hof in Richtung des Anlegers, von dem ihr schon der Postbote vom Vortag geschäftig entgegen gelaufen kommt.

Gefangen auf der Insel vor dem Wind

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