Читать книгу Sophienlust Paket 3 – Familienroman - Patricia Vandenberg - Страница 15

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Dominik stellte seine Schultasche hin und schlich auf Zehenspitzen durch die Diele. Er hatte draußen den Wagen von Dr. Baumgarten stehen sehen und war nun sehr gespannt, was er diesmal über Henriks Befinden sagen würde.

Auf Gut Schoeneich herrschte, ebenso wie in Sophienlust, seit zwei Wochen eine trübselige Stimmung, denn Henrik, der Jüngste der Schoeneckers, war an einer schweren Angina erkrankt. So krank war nie eines der Kinder gewesen, und deshalb machten sich alle große Sorgen. Am meisten natürlich Denise von Schoenecker. Sie selbst war blass und schmal geworden während dieser schweren Tage, die sie in Angst um ihren Kleinen verbracht hatte.

Dominik lauschte aufmerksam, was Frau Dr. Frey seiner Mutter zu sagen hatte, denn tapfer, wie Denise war, hatte sie allen verbergen wollen, wie schlimm es um Henrik wirklich gestanden hatte.

Sie mussten nahe bei der Tür stehen, denn Dominik konnte deutlich vernehmen, wie Frau Dr. Frey sagte: »Ein Aufenthalt an der See würde dem Jungen guttun, und Ihnen auch, glauben Sie es mir.«

»Ich kann doch jetzt nicht weg. Die Ferien fangen erst in drei Wochen an, und es ist Erntezeit«, sagte Denise.

»Dann müssen Sie eben alleine fahren. Warum sollte es denn nicht gehen? Es muss einfach möglich zu machen sein. Nick kann doch nachkommen.«

»Nein, wenn es sein muss, Frau Doktor, werde ich es schon selbst tun. Aber meinen Sie nicht, dass die Luft an der See zu rau ist?«

»Sie werden staunen, wie schnell er sich erholt«, sagte Frau Dr. Frey, und dann tat sich die Tür auch schon auf, bevor Dominik – kurz Nick gerufen – noch zurückweichen konnte.

»Da bist du ja schon, Nick«, sagte Denise von Schoenecker. »Guten Tag, mein Junge.« Sie gab ihm einen zärtlichen Kuss. Das vergaß sie selbst in ihrem Kummer nicht.

»Wie geht es Henrik?«, erkundigte sich Nick.

»Es geht aufwärts«, erwiderte Dr. Frey, »aber ich habe deiner Mutter eben gesagt, dass ein Aufenthalt an der See dringend anzuraten ist.«

»Warum ausgerechnet an der See?«, fragte er.

»Weil Henrik Luftveränderung braucht und die Meeresluft gerade bei Erkrankungen der Atmungsorgane am heilsamsten ist. Meinst du nicht, dass ihr ein paar Wochen ohne eure Mami zurechtkommt, Nick?«

Der Junge konnte es sich zwar nicht vorstellen, denn Denise hatte sich nie von ihnen getrennt, aber er nickte tapfer.

»Wenn es gut für Henrik ist, muss es sein«, sagte er vernünftig. »Papi wird das bestimmt auch sagen, Mami, auch wenn jetzt Erntezeit ist.«

»Und eure Mami muss auch einmal dringend ausspannen«, fuhr Dr. Frey fort. »Ich werde Dr. Harald Gottschalk schreiben. Er ist ein guter Freund von mir. Bei ihm seid ihr nicht nur gut aufgehoben, sondern auch gleich unter ärztlicher Aufsicht. Seine gute Mintje ist eine ausgezeichnete Köchin.« Sie verabschiedete sich.

Nick überwand sich und sagte: »Nimm doch keine Rücksicht auf uns, Mami. Denk an Henrik und auch an dich. Dr. Frey weiß schon, was gut für euch beide ist.«

Und weil Alexander von Schoenecker der gleichen Meinung war, geschah es, dass Denise zum ersten Mal in ihrer Ehe sich von ihrem Mann, von Nick und von Sophienlust trennte.

Für Denise war es ein schwerer Entschluss. Würde auch alles seinen Gang gehen? Würden die Kinder ihre Ordnung haben und richtig versorgt werden? Alexander und Nick gaben sich redliche Mühe, zuversichtliche Mienen zu zeigen, als sie sie zum Flugplatz brachten.

In Bremen wollte Dr. Gottschalk sie abholen. Sie hatten schon miteinander telefoniert, aber persönlich kannte Denise Frau Dr. Freys Freund noch nicht.

»Sie hat gesagt, dass es dort sehr schön sein soll«, sagte Henrik leise, und als sie in sein schmales, blasses Gesichtchen blickte, gewann sie ihre Haltung zurück. Henrik brauchte sie jetzt am nötigsten. Sie legte ihren Arm um ihn und sagte: »Bestimmt ist es schön dort, mein Kleiner, und die Hauptsache ist, du wirst schnell wieder ganz gesund.«

*

Denise wusste sofort, dass der große, breitschultrige, sonnengebräunte Mann Dr. Harald Gottschalk war. Er überragte die anderen Wartenden um eine halbe Kopfeslänge.

»Du wirst ihn gleich erkennen«, hatte Dr. Anja Frey gesagt. »Er sieht aus wie ein Wikinger.«

Ja, so sah er aus, aber auch er schien keine Schwierigkeiten zu haben, sie aus den Passagieren herauszufinden, die dem Ausgang zuströmten. Bevor sie es sich versah, trat er auf sie zu. »Frau von Schoenecker?«, sagte er.

»Und du bist Henrik«, sagte Harald Gottschalk, sich zu dem Jungen herabbeugend. »Soll ich dich nicht lieber tragen?«

»Nein, ich kann schon wieder gehen«, sagte Henrik.

Dr. Gottschalks Auto sah recht mitgenommen aus, wie Henrik skeptisch, wenn auch wortlos zur Kenntnis nahm.

»Und nun sind wir bald daheim, Henrik.«

»Wir sind in Schoeneich daheim«, sagte der Junge.

Dr. Gottschalk lächelte flüchtig. »Ich hoffe, dass du dich auch bei uns wohl fühlst«, sagte er mit seiner tiefen, warmen Stimme.

Mintje kam aus dem Haus. Sie war klein und rund. So lang wie breit, würde Nick wohl sagen, aber Henrik sah nur ihr freundliches Lächeln. »Da ist ja das Jungchen«, sagte sie, und dann machte sie vor Denise einen Knicks, was Henrik komisch fand.

»Mintje hat Sie gleich ins Herz geschlossen, gnädige Frau«, sagte Dr. Gottschalk zu Denise.

»Lassen wir die gnädige Frau beiseite«, sagte Denise. »Sind wir Ihre einzigen Gäste?«

»Nächste Woche kommen noch ein paar. Ich habe sozusagen eine Miniklinik«, erwiderte er lächelnd.

*

Das Haus war sehr geräumig, die Zimmer groß und luftig. Selbst in den Betten war der herbe Geruch des Meeres.

»Riecht das gut, Mami«, sagte Henrik und atmete tief. »Und das Essen war fein. Magda würde schön staunen, wie gut Mintje kochen kann. Schreiben dürfen wir es nicht, sonst ist sie beleidigt! Aber ein paar Rezepte müssen wir ihr schon mitnehmen, meinst du nicht?«

»Ich bin froh, wenn es dir schmeckt, mein Kleiner«, sagte Denise zärtlich.

»Und wie, Mami! Hier bekommt man Appetit. Schön wäre es ja, wenn Papi und Nick auch bei uns wären.«

In Gedanken sind sie bei uns, dachte Denise, und sie war in Gedanken bei ihnen, bevor der Schlaf sie umfing.

Das Rauschen des Meeres war wie Musik und wurde ihr zum Wiegenlied. Henrik war sofort eingeschlafen.

Träume kamen und gingen. Es waren schöne Träume, und nach einem langen erquickenden Schlaf kam ein köstliches Erwachen.

»Von meinem Fenster aus kann man das Meer sehen, Mami«, sagte er. »Es sieht aus, als ob es fortläuft.«

»Die Flut geht zurück«, erklärte Denise. »Schau doch mal, ob du es von meinem Fenster aus auch sehen kannst.«

Er konnte es, und Denise sprang aus dem Bett und dehnte wohlig ihre Arme.

Mintje hatte den Frühstückstisch auf der Veranda gedeckt. Rund und rosig strahlte ihr Gesicht, als Denise und Henrik kamen.

»Wir sind rechte Langschläfer«, sagte Denise freundlich.

»Das ist gut. Sie sollen sich doch erholen. Die Luft ist stark, und ein Klimawechsel macht müde«, sagte Mintje. »Der Doktor ist schon über Land. Frau Stormsen bekommt ihr Baby. Da hat er früh aus den Federn müssen.«

»Er ist wohl der einzige Arzt weit und breit?«, fragte Denise. Sie wollte nicht neugierig erscheinen, aber so schien es Mintje auch nicht aufzufassen. Sie nickte.

»So schnell findet sich keiner, der das Leben hier auf sich nimmt. Die Ärzte sind doch heutzutage alle aufs Geldverdienen aus, und da ist hier nicht viel zu holen.«

Ohne Geld wird Dr. Gottschalk auch nicht leben können, dachte Denise, aber das Haus wirkte nicht so, als würde es ihm daran mangeln.

»Die Urahnen vom Doktor waren schon in Ostfriesland ansässig«, sagte sie, »und er ist hierher zurückgekehrt.«

Mit flinken Schritten eilte sie in die Küche und brachte für Denise und Henrik ein wahrhaft üppiges Frühstück.

Mintje verschwand, nachdem sie guten Appetit gewünscht hatte, und Henrik schenkte sich schon die zweite Tasse Kakao ein.

»Schmeckt lecker, Mami«, stellte er fest und schleckte sich die Lippen ab.

Denise hatte ihre Gedanken schnell heimwandern lassen. Sie stellte sich Alexander vor, wie er allein sein Frühstück einnahm. Sie meinte erst, trotz all dieser Köstlichkeiten keinen Bissen über die Lippen zu bringen, aber dann kam der Appetit.

Drinnen im Haus war eine Zeitlang alles ruhig, doch plötzlich vernahm sie Mintjes Stimme.

»Bekommst gleich was, Hannibal«, sagte sie, und nun lauschte Henrik natürlich.

»Du verwöhnst ihn, Mintje«, sagte eine Kinderstimme. »Er tut immer so, als würde er bei uns nichts bekommen. Benimm dich, Hannibal. Reiß Mintje nicht gleich um.«

»Darf ich mal gucken, wer das ist, Mami?«, fragte Henrik neugierig.

»Du wirst es noch erwarten können«, bemerkte Denise lächelnd, doch da erschien schon ein kleines Mädchen auf der Veranda.

Zwei klare hellgraue Augen blickten Denise aus einem süßen Gesichtchen an.

Das Kind mochte fünf Jahre alt sein und war bekleidet mit einem rosa Leinenhöschen und einer passenden rosa-weiß gestreiften Bluse. Seidiges blondes Haar umgab das gebräunte Gesicht.

»Ich bin Dodo«, sagte sie, und dann erschien hinter ihr ein Hund, der seine Schnauze auf ihre Schulter legte, als wolle er demonstrieren, dass er da sei, um sie zu bewachen.

»Und das ist Hannibal«, sagte Dodo. »Guten Morgen.«

»Guten Morgen«, wünschten auch Denise und Henrik wie aus einem Mund. Henrik ging auf das Kind zu und streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich bin Henrik, und das ist meine Mami«, erklärte er. »Du hast einen sehr schönen Hund.«

»Ja, er ist schön und klug«, sagte Dodo, »aber wenn er zu Mintje kommt, ist er nur verfressen. Onkel Harald hat mir erzählt, dass ein Junge zu Besuch kommt. Ich wollte mal schauen, wie er aussieht.« Nun bedachte sie auch Henrik mit einem langen, forschenden Blick. »Du gefällst mir«, erklärte sie dann. »Wenn du willst, können wir zusammen spielen.«

»Ich hab’ schon von deinem Großvater gehört«, sagte Henrik. »Das ist doch der Käpt’n, nicht wahr?«

»Ja, das Großväterchen ist der Käpt’n«, erwiderte Dodo. »Die Freys waren vorigen Sommer da. Es war eine schöne Zeit.« Sie sagte es mit seltsam ernstem Nachdruck.

»Möchtest du dich nicht ein bisschen zu uns setzen, Dodo?«, fragte Denise.

»Ich möchte schon«, erwiderte das Kind, »aber ich muss nach Hause, sonst ängstigt sich Großväterchen. Ich muss ihm erst sagen, wo ich bin.«

Henrik sah seine Mutter fragend an. »Darf ich Dodo begleiten?«, bat er.

»Darf er?«, schloss sich Dodo an.

Denise nickte zustimmend.

»Wenn Großväterchen euch kennt, wird er erlauben, dass ich euch die Gegend zeige«, sagte Dodo, »aber er muss euch erst kennen. Aber gefallen werdet ihr ihm schon, das weiß ich.«

Mintje kam mit dem Tablett. »Dodo ist ein liebes Kind«, erklärte sie. »Sie freut sich, wenn sie Gesellschaft hat. Sie lebt allein mit dem alten Brodersen.«

»Hat sie keine Eltern mehr?«, fragte Denise.

»Nein«, erwiderte Mintje, aber sie gab keine weitere Erklärung.

Vom Strand herauf kam ein knorriger alter Mann in hohen Gummistiefeln. »Das ist Krischan«, sagte Mintje. »Er bringt den Mund nicht auf. Nehmen Sie es ihm nicht übel, Madame.«

Aber als Krischan näher kam, sagte er: »Mor’n«, was wohl soviel wie guten Morgen heißen sollte, und wenn es auch kurz war, so riss Mintje doch überrascht die Augen auf.

In Kapitän Brodersens Haus tat sich für Henrik eine Wunderwelt auf. Mit offenem Mund bestaunte er Schiffsmodelle verschiedenster Art, sie standen auf der langen Vitrine, die sich über die ganze Wand erstreckte. Exotische Masken und Waffen hingen an den Wänden, Skulpturen, Vasen, Schalen, Elfenbeinschnitzereien – Henrik wusste nicht, wohin er zuerst schauen sollte.

»Hat Großväterchen alles von seinen Reisen mitgebracht«, erklärte Dodo, und da stand Kapitän Brodersen schon selbst in der Tür.

»Das ist Henrik, der mit seiner Mami jetzt bei Onkel Harald ist, Großväterchen«, sagte Dodo. Henrik wich respektvoll zurück.

»Brauchst nicht auszureißen, ich beiße nicht«, sagte Käpt’n Brodersen mit tiefer, dröhnender Stimme.

»Ich wollte nicht stören«, sagte Henrik schüchtern.

»Du störst nicht«, sagte Dodo, »wenn Großväterchen nicht reden will, redet er nicht. Lässt du Henrik durch dein Fernrohr schauen? Damit kannst du nämlich bis zu Mintje in die Küche schauen, Henrik.«

Das glaubte er nun doch nicht, denn das Doktorhaus lag sehr weit entfernt. Aber er konnte sich überzeugen, dass Dodo nicht übertrieben hatte. Das Fernrohr stand auf der Veranda. Es war riesengroß und stammte wohl aus einer Zeit, in der sich die Seefahrer noch nicht auf elektronische Geräte verlassen konnten. Zuerst konnte Henrik überhaupt nichts sehen, aber mit geschickten Fingerchen drehte Dodo daran, und da sah er tatsächlich in Mintjes Küche hinein. Sie saß mit einem alten Mann am Tisch, der eine Suppe löffelte. Sogar das konnte Henrik erkennen.

»Mintje hat Besuch«, sagte er.

»Lass mich mal gucken, wer das ist«, sagte Dodo.

Sie war kleiner als Henrik und musste sich auf eine Fußbank stellen. »Ach, der Krischan«, sagte sie. »Ob er einen guten Fang gehabt hat? Was meinst du, Großväterchen?«

»Ich denke schon«, erwiderte der alte Mann.

»Er ist nämlich Fischer«, erklärte Dodo. Dann schwenkte sie das Fernrohr mit einiger Kraftaufwendung herum.

»Da ist deine Mami«, rief sie aus. »Sie geht ins Wasser. Großväterchen, ist es gut, wenn sie jetzt schon ins Wasser geht?«

»Wenn es ihr nicht zu kalt ist«, brummte der Käpt’n.

»Sie wird doch nicht zu weit hinausschwimmen?«, meinte Dodo besorgt. »Willst du nicht lieber mal die Sirene heulen lassen?«

»Mami kann sehr gut schwimmen«, sagte Henrik. »Sie ist auch vorsichtig. Aber Sirenen kann sie einfach nicht leiden. Sie denkt dann immer, dass es brennt.«

»Das Meer kann tückisch sein«, sagte Dodo. »Es behält manchmal die Schiffe und die Männer.« Ihr Gesichtchen hatte jetzt einen bekümmerten Ausdruck.

»Jetzt ist Ebbe, da kann nicht viel passieren«, sagte Wilm Brodersen und seine sehnige braune Hand legte sich leicht auf den blonden Scheitel des Kindes.

»Mein Muttichen kommt aber wieder, nicht wahr, Großväterchen?«, flüsterte Dodo.

Der alte Mann wandte sich ab und ging in das Zimmer zurück. Dodo nickte tiefsinnig. »Ich habe es ja gesagt, wenn er nicht reden will, redet er nicht. Du brauchst dir nichts dabei zu denken, Henrik. Gehen wir jetzt mal ans Meer und schauen nach deiner Mami?«

Henrik wusste nicht, warum sie so besorgt war, viel besorgter als er. Er ging gar nicht gern wieder fort aus diesem Haus und hätte sich viel lieber all diese Dinge angesehen.

»Du kannst noch oft zu uns kommen«, sagte Dodo, als ahne sie seine Gedanken. »Großväterchen wird uns dann auch Geschichten erzählen von seinen Reisen. Er war überall in der Welt, auf allen Meeren und in allen Ländern.«

»In allen Ländern?«, fragte Henrik staunend, »auch in Indien und Afrika und am Nordpol?«

»Und am Südpol«, sagte Dodo, »überall.«

Hier konnte es ihm bestimmt nicht langweilig werden, dachte Henrik, wenn man auch kaum einen Menschen traf und es außer Dodo keine Kinder zu geben schien.

»Bist du das einzige Kind hier?«, fragte er.

»Nein, es gibt eine ganze Menge«, erklärte sie, »aber die haben keine Zeit zum Spielen. Die müssen helfen.«

»Was müssen sie helfen?«

»Auf den Feldern und beim Fischen. Die Mädchen müssen auf die kleinen Geschwister aufpassen. Das ist hier so.«

»Habt ihr keinen Kindergarten?«, erkundigte er sich.

»Einen Kindergarten? Nein. Einen Garten haben alle Leute.«

»Wir haben ein Kinderheim«, erzählte er voll Stolz.

»Was ist ein Kinderheim?«

»Ein großes Haus, wo viele Kinder leben können.«

»Habt ihr denn so viele?«

»Es sind doch nicht alle unsere eigenen.«

»Und warum sind sie bei euch?«

»Manchmal, weil sie keine Eltern haben, oder die Eltern haben keine Zeit sich um sie zu kümmern, oder ihre Mütter sind krank. Dann kommen sie nach Sophienlust.«

»Sophienlust, das klingt schön«, sagte Dodo. »Aber mein Großväterchen würde mich nie hergeben.«

Schweigend gingen sie eine Weile. Mit großen Sprüngen folgte ihnen Hannibal und sprang dann übermütig um sie herum.

»Er will, dass ich ihm Holz ins Wasser werfe«, erklärte Dodo. »Dann holt er es. Er wird auch mit großen Wellen fertig. Ich verstehe einfach nicht, dass er stärker sein soll als ein Segelboot.«

Henrik wusste wieder nicht, was sie damit sagen wollte, aber irgendetwas hinderte ihn, sie danach zu fragen.

Denise kam schon aus dem Wasser zurück. Sie schüttelte sich und lachte, als sie die Kinder erblickte. Sie hüllte sich in ihren Bademantel. »Es ist kalt, aber schön«, sagte sie.

»Mittags wird es wärmer«, erklärte Dodo. »Dann kann man sich in den Sand einbuddeln. Das ist gesund. Aber es ist besser, wenn man in der Bucht badet, da sind keine Strudel.«

»Dodo wollte schon, dass ihr Großvater die Sirenen heulen lässt, damit du nicht zu weit hinausschwimmst, Mami«, sagte Henrik. »Sie hatte Angst.«

»Ja, ich habe Angst«, sagte Dodo leise. »Wen das Meer verschlingt, den gibt es nicht mehr her.«

Denise kroch ein Frösteln über den Rücken. »Gehen wir jetzt lieber zurück. Ich möchte mich umziehen«, sagte sie.

Dodo nickte. »Man soll nicht in nassen Sachen bleiben, da kann man leicht krank werden«, sagte sie. »In der Bucht haben wir eine Hütte, da kannst du dich umziehen.« Sie sah Denise an. »Wie darf ich dich nennen?«

»In Sophienlust sagen die Kinder Tante Isi zu mir«, erwiderte Denise mit weicher Stimme.

»Tante Isi«, wiederholte Dodo andächtig. »Ich mag dich.«

Und so war schon am ersten Tag eine innige Freundschaft zwischen ihnen geschlossen.

*

Dr. Gottschalk war zurückgekommen und stärkte sich erst einmal richtig.

»Bleiben Sie sitzen«, sagte Denise fröhlich, als er aufspringen wollte. »Ist das Baby gut angekommen?«

»Ach, Mintje hat es schon erzählt«, sagte er lächelnd. »Ja, es ist ein gesunder Junge. Es hat ein bisschen lange gedauert. Sie waren doch nicht etwa schon im Wasser?«

»Nicht schimpfen! Es war so verlockend. Jetzt ziehe ich mich rasch um.«

Dodo kletterte zu Harald Gottschalk aufs Knie. »Bekomme ich ein Häppi, Onkel Harald?«, fragte sie schelmisch.

»Freilich«, erwiderte er zärtlich und schob ihr ein Häppchen in den Mund.

»Bekommt Henrik auch eins?«

»Ich habe schon soviel gegessen«, sagte Henrik. »Ich bin ganz satt.«

»Ich habe auch keinen Hunger«, sagte Dodo, »aber Onkel Haralds Häppis sind so gut. Du hast genug, Hannibal«, ermahnte sie den Collie, der seinen Kopf ebenfalls auf Harald Gottschalks Knie legte. »Ach, er ist sicher beleidigt, weil ich ihm keine Hölzer ins Wasser geworfen habe. Sagst du Tante Isi, dass sie nicht so weit ins Meer schwimmen soll, Onkel Harald?«

»Ja, ich sage es ihr, Dodo.« Er drückte ihr schnell einen Kuss auf die Stirn.

»Auf dich muss sie hören«, erklärte Dodo.

Mintje brachte Milch für die Kinder. »Wir haben vorhin mit dem Fernrohr in deine Küche geschaut, Mintje«, verriet Dodo mit schelmischem Lachen.

Mintje stemmte die Arme in die Hüften. »Solange ihr mir nicht ins Bett schaut, mag es ja angehen«, sagte sie.

»Da hast du ja immer die Gardinen zu«, sagte Dodo. »Ist Krischan nicht mehr da?«

»Er flickt seine Netze«, erwiderte Mintje. »Der alte Brummbär.«

»Hat er dich wieder geärgert, Mintje?«, fragte Dodo. »Hat er wieder die Stiefel nicht ausgezogen?«

»Dann käme er mir nicht mehr in die Küche. Das Fleisch wäre zäh, hat er gesagt.«

»Er soll sich neue Zähne machen lassen«, meinte Dodo. »Das kann man nämlich, weißt du das, Henrik?«

»Das sag du ihm mal«, meinte Mintje, bevor Henrik etwas erwidern konnte. »Ich halte lieber meinen Mund.«

»Ich sage es ihm schon. Dein Fleisch ist nie zäh, Mintje. Na, bei uns wird es heute wohl wieder Fleisch geben. Ich muss jetzt gehen.« Mit einem schweren Seufzer sagte sie es.

»Kannst ja bei uns essen«, schlug Mintje vor.

»Dann ist Großväterchen allein, dann hat er auch keinen Appetit. Nachher komme ich noch mal und zeige euch die Bucht. Los, Hannibal!«

Hannibal erhob sich gemächlich, warf Mintje noch einen erwartungsvollen Blick zu, der ihm aber diesmal nichts einbrachte, und trottete dann hinter Dodo her.

Denise kam gerade die Treppe herunter. Dodo blieb stehen und sah sie gedankenverloren an.

»Du siehst sehr hübsch aus, Tante Isi«, sagte sie leise. »Mein Muttichen ist auch so hübsch. Sie hat nur blonde Haare.«

Denise sah Harald Gottschalk fragend an, nachdem Dodo verschwunden war und Henrik mit ihr.

»Sie glaubt immer noch, dass ihre Mutter zurückkommt«, sagte er leise. »Sie meint, dass die See nur Männer behält. Ihre Eltern sind mit einem Segelboot umgekommen.«

»Der Jörn hätte es wissen müssen«, sagte Mintje rau. »Die See war stürmisch.«

»Dodo lebt am Wasser, und sie hat Angst vor dem Meer«, bemerkte Denise verwundert.

»Weil es ihr die Eltern genommen hat«, erwiderte Harald Gottschalk. »Es wäre gut für Dodo, wenn sie in einer anderen Umgebung aufwachsen würde.«

»Es würde Wilm Brodersen das Herz brechen«, warf Mintje ein.

*

Denise lernte ihn am Nachmittag kennen. Er begleitete sie zur Bucht. Die Kinder liefen mit Hannibal voraus. Manchmal drehte Dodo sich um und winkte ihnen zu, als wolle sie sich vergewissern, dass sie auch folgten.

»Es ist schön für das Kind, dass sie einen Spielgefährten hat«, sagte Wilm Brodersen.

Eine Zeit spielten die Kinder dann im Sand und begannen eine Burg zu bauen. Denise blinzelte ab und zu zu ihnen herüber, aber dann umfing sie eine wohlige Müdigkeit. Sie musste wohl für kurze Zeit eingeschlafen sein, wurde aber gleich munter, als Dodo mit ihrem Großvater sprach.

»Henrik hat in seinem Kinderheim einen Papagei, der sprechen kann, Großväterchen. Er heißt Habakuk. Er kann richtig sprechen, nicht bloß krächzen. Er sagt alles nach.«

»Du möchtest ihn wohl kennenlernen?«, fragte Wilm Brodersen.

Dodo überlegte. Unter halbgeschlossenen Lidern beobachtete Denise das Kind.

»Es ist ja so weit. Da kommen wir nicht hin«, sagte Dodo. »Da muss man mit dem Flugzeug fliegen.«

»Man kann sicher auch mit dem Auto fahren«, sagte der Kapitän.

»Vielleicht im Winter?«, fragte Dodo nachdenklich. »Henrik, spricht dein Papagei auch im Winter oder hält er da Winterschlaf?«

»Er redet andauernd«, erwiderte Henrik.

»Es muss sehr schön sein in Sophienlust«, meinte Dodo, »aber ich kann mir ein Kinderheim gar nicht vorstellen. Soviel anders als bei uns kann es doch gar nicht sein, Großväterchen. Aber Henrik sagt, dass es ganz hohe Berge gibt. Da liegt im Winter viel Schnee und da können sie – was könnt ihr da, Henrik?«

»Skifahren«, erwiderte er.

»Kannst du das auch, Großväterchen?«, fragte Dodo.

»Nein, das kann ich nicht.«

Es schien Dodo zu befremden, dass ihr Großvater etwas nicht konnte. Sie versank in Schweigen und ging dann mit Henrik wieder ins Wasser.

Denise richtete sich auf. Sie bemerkte, dass Wilm Brodersen wieder zu ihr herüberblickte.

»Dodo kennt wohl nur die Küste?«, fragte sie.

Er nickte. Denise scheute sich, noch weitere Fragen zu stellen, aber plötzlich rückte er näher zu ihr heran.

»Ich will nicht aufdringlich sein, Madame«, begann er stockend. Er sagte auch ›Madame‹, wohl weil Mintje sie so anredete. »Würden Sie mir bitte von dem Kinderheim erzählen?«

Sie begann von Sophienlust zu erzählen, von dem Erbe Sophie von Wellentins, das diese ihrem Urenkel Dominik hinterlassen hatte und das Denise seither verwaltete. Sie sprach von den Kindern, die dorthin kamen und wieder gingen, auch von denen, die geblieben waren.

Schweigend hörte ihr der alte Mann zu. »Ich langweile Sie hoffentlich nicht«, sagte Denise, besorgt, dass er sie zu redefreudig finden könnte.

»Ganz im Gegenteil. Ich höre gern zu«, erwiderte er. »Sie behalten also dann und wann auch Kinder, bis sie erwachsen sind?«

»Ja, in einigen Fällen ist das so, wenn die Kinder keine Angehörigen mehr haben. Wie bei Pünktchen zum Beispiel. Sie kam zu uns, als sie vier Jahre alt war. Sie wird auch bleiben. Sie gehört ganz zu uns«, sagte sie mit einem weichen Lächeln.

»Dodo wäre auch ganz allein, wenn ich dieser Welt Lebwohl sagen muss«, sagte Wilm Brodersen leise. »Ich möchte Sie fragen, ob Sie Dodo auch aufnehmen würden, Frau von Schoenecker.«

Sein Tonfall stimmte Denise traurig. Das beklemmende Gefühl, dass dieser Mann von Todesahnungen gequält wurde, ließ sie nicht mehr los. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie konnte nur zustimmend nicken.

»Man muss daran denken«, fuhr er fort. »Man kann es nicht wegreden. Ich muss für Dodo sorgen. Sie ist noch so klein. Finanziell ist das Kind gesichert. Aber was nützt Geld, wenn sie keine Liebe hat? Dodo braucht Liebe, sehr viel Liebe. Sie will nicht glauben, dass ihre Mutter nicht mehr zurückkommt. Sie hat die seltsame Vorstellung, dass nur Männer auf See sterben. Krischan hat ihr erzählt, dass der Seemannstod der schönste sei. Die Menschen hier sprechen vom Tod genauso wie vom Leben. Nun ja, sterben muss ein jeder. Und wenn man alt ist –« Er sah Denise durchdringend an. »Versprechen Sie mir, dass Sie Dodo aufnehmen, Frau von Schoenecker?«

»Ich verspreche es Ihnen«, erwiderte Denise mit belegter Stimme.

»Und wenn Sie das Kinderheim nun einmal auflösen?«

»Das wird nie der Fall sein. Mein Sohn Dominik wird es weiterführen, wenn er erwachsen ist.«

»Sie ist doch noch keine fünf Jahre«, sagte Wilm Brodersen leise. »Und ihre Eltern sind nun schon ein Jahr tot. Jörn hat sich wohl nicht überlegt, dass das Kind eines Tages ganz allein sein wird.«

Die rätselhafte Bemerkung gab Denise zu denken, aber da Wilm Brodersens Gesicht sich verschloss und seine Augen zum Wasser schauten, ahnte sie, dass er mehr nicht sagen wollte.

»Sie wird nicht allein sein«, sagte sie leise.

»Dann werde ich meine Verfügungen treffen«, erklärte er.

Ein Boot näherte sich, dem ein alter Mann entstieg. Er mochte noch älter sein als Kapitän Brodersen, auch noch älter als Krischan.

Er legte die Hand an seine Mütze, als er den Kapitän gewahrte. »Er war einmal Maat auf meinem Schiff«, sagte Wilm Brodersen leise. »Er ist nicht ganz richtig im Kopf und ein Spökenkieker. Man darf nicht alles wörtlich nehmen, was er sagt, aber er ist trotzdem ein guter Kerl.«

»Hinnerk«, rief Dodo laut und lief auf ihn zu. Ein breites Lächeln ging über das Gesicht des alten Mannes.

»Die kleine Dodo«, brummte er.

»Warst du weit draußen, Hinnerk?«, fragte Dodo.

»Ganz weit, Lütte.«

»Aber Muttichen hast du wohl nicht gesehen?«, fragte Dodo, und Denise rann ein kalter Schauer über den Rücken, obgleich die Sonne heiß herniederbrannte.

»Wird wohl bald kommen«, sagte Hinnerk. »Wird bald kommen, lütte Deern.« Dann aber blickte er schuldbewusst zu Kapitän Brodersen, legte seine Hand wieder an die Mütze und steckte seine Pfeife in den Mund. So ging er auf steifen Beinen weiter.

»Hast du es gehört, Großväterchen«, sagte Dodo ganz aufgeregt. »Hinnerk hat gesagt, dass Mutti bestimmt bald kommen wird. Ihn hat die See ja auch zurückgegeben, und er ist ein Mann.«

Kleine Schweißtropfen erschienen auf Wilm Brodersens Stirn, und sein Atem ging schwer. Während Dodo wieder unbeschwert davonsprang, sagte er zu Denise: »Hinnerk war bei Sturm über Bord gegangen. Er konnte gerettet werden, hatte dann aber sein Gedächtnis verloren. Man muss nachsichtig sein. Der Doktor hat ihn wieder ganz schön hingekriegt. Er ist ein guter Doktor, der Harald, und wenn er eine Frau hätte, würde er Dodo wohl behalten. Aber sie soll etwas lernen. Sie soll nicht immer nur das Meer sehen und warten, vergeblich warten. Es tut nicht gut.«

*

Denise nahm sich vor, einmal mit Harald Gottschalk über Kapitän Brodersen zu sprechen, auch über Hinnerk und Dodos Eltern. Aber erst ein paar Tage später bot sich Gelegenheit dazu, denn Dr. Gottschalk war viel unterwegs und kam abends so spät zurück, dass Denise ihn damit nicht auch noch aufhalten wollte.

Viel Post kam nun in das Doktorhaus, nicht nur von Alexander und Nick, auch von den beiden schon erwachsenen Schoenecker-Kindern Andrea und Sascha. Und auch von den Kindern in Sophienlust.

An dem Nachmittag des Tages, an dem Denise mehr über Dodos Eltern erfahren sollte, bat Wilm Brodersen sie zum Tee in sein Haus. Zum ersten Mal betrat sie das Zimmer, von dem Henrik soviel zu erzählen wusste, und auch sie konnte sehen, wie viel Schätze es barg.

Hatten diese für Henrik einen abenteuerlichen, geheimnisvollen Reiz, so sah Denise in erster Linie, welche Kostbarkeiten hier angesammelt waren. Staunend stand sie und fand keine Worte.

»Suchen Sie sich etwas aus«, sagte Wilm Brodersen. »Ich möchte, dass Sie eine Erinnerung mitnehmen.«

»Das kann ich nicht«, sagte Denise. »Jedes einzelne Stück ist wertvoll.«

»Ich möchte es. Ich bitte Sie darum«, erklärte er. »Was Ihnen am meisten gefällt, sollen Sie haben. Nehmen Sie sich Zeit. Ich bereite den Tee.«

Er bereitete ihn in einem indischen Teekessel. Man konnte es als eine Zeremonie bezeichnen, und der Duft, der den Raum erfüllte, versetzte Denise in eine andere Welt. Ihr Blick fiel auf eine Malachitschale, und immer wieder kehrte er zu dieser zurück, während sie in dem Zimmer umherging.

Wilm Brodersen musste sie wohl beobachtet haben, denn plötzlich nahm er die Schale und reichte sie ihr.

»Sie haben eine gute Wahl getroffen«, sagte er, bevor sie sich äußern konnte. »Sehen Sie diese arabischen Schriftzeichen? Sie bedeuten, dass dem Besitzer Glück beschieden sein soll ein Leben lang.«

»Und das wollen Sie herschenken?«, fragte Denise, sich zu einem leichten Ton zwingend.

»Ihr Leben wird länger währen als meines«, sagte er. »Der Tee ist fertig, Frau von Schoenecker.«

Es war der köstlichste Tee, den Denise je in ihrem Leben getrunken hatte, und sie sagte es ihm.

Ein Lächeln voll Wehmut war in seinen Augen. »Radima hat es mich gelehrt«, sagte er leise. »Sie wurde meine Frau. Sie war die Mutter meines Sohnes. Sie war Inderin. Es ist seltsam, Jörn glich äußerlich nur mir, aber die Seele hatte er von seiner Mutter, und auch Dodo hat etwas von ihr. Ich habe Radima früh verloren.«

*

»Großväterchen kocht Tee für deine Mami«, sagte Dodo zu Henrik. »Er hat noch nie für jemand Tee gekocht in dem Kessel, nur für sich allein. Er muss deine Mami sehr gern haben.«

Henrik fand nichts dabei. Alle Menschen hatten seine Mami gern. Er wusste es nicht anders, und warum sollte ausgerechnet der Kapitän eine Ausnahme machen?

Er wollte auch gern in dem Zimmer sein, aber Dodo hielt ihn zurück. »Das ist feierlich«, sagte sie, »da darf man nicht stören.«

»Gehen wir zu Mintje«, schlug er vor. »Die gibt uns etwas zu essen und zu trinken.«

Damit war Dodo einverstanden. Hannibal hatte den Namen Mintje gehört und rannte schon mit weiten Sprüngen voraus.

»Was machst du eigentlich den Winter über?«, fragte Henrik Dodo.

»Ich lerne«, erklärte Dodo.

»Was lernst du?«, fragte Henrik verblüfft.

»Lesen und schreiben.«

»Du gehst doch noch gar nicht zur Schule«, staunte er.

»Großväterchen lernt mit mir«, erklärte Dodo. »Man kann nicht früh genug damit anfangen. Im Winter gehe ich sicher schon in die Schule. So schlau wie die anderen Kinder bin ich auch.«

Sie sagte es ohne Überheblichkeit.

»Nehmen sie dich denn schon? Bei uns gehen die Kinder erst in die Schule, wenn sie sechs Jahre sind. Manchmal auch ein bisschen früher. Na ja, in Sophienlust lernen sie auch schon, aber noch nicht lesen und schreiben.«

»Warum nicht?«, fragte Dodo.

»Weil es dann langweilig wird, wenn man in der Klasse sitzen muss.«

»Mir wird es nicht langweilig, wenn ich lernen kann«, erklärte Dodo. »Ich kann schon deinen Namen schreiben. Willst du es sehen?«

Sie nahm ein dünnes Stöckchen und schrieb seinen Namen in den Sand. Dann wartete sie einen Augenblick, bis er sich von seinem Staunen erholte und schrieb dahinter ›und Dodo‹.

Henrik musterte das winzige Persönchen, das er fast um Haupteslänge überragte, ehrfürchtig.

»Mintje kann nicht so schön schreiben wie ich«, sagte Dodo. »Das meint sie wenigstens. Aber sie muss ja nur wenig schreiben, und Briefe kriegt sie auch keine. Ihr kriegt viele Briefe. Der Krischan hat es mir erzählt.«

Krischan brachte die Post, und er staunte natürlich über die vielen Briefe, die er jetzt ins Doktorhaus tragen musste.

»Der Sommer ist zu kurz«, fuhr Dodo gedankenvoll fort. »Wie viel Tage bleibt ihr noch?«

»Ich weiß nicht genau«, sagte Henrik.

»Fünf Tage seid ihr schon hier, ich habe es gezählt«, sagte Dodo. »Es waren kurze Tage.«

Henrik sah sie aufmerksam an. »Im Sommer sind die Tage lang«, widersprach er.

»Aber seit ihr da seid, sind sie kurz. Sie vergehen so schnell.« Das klang traurig.

»Frag doch deinen Großvater, ob du mit zu uns kommen kannst«, schlug Henrik vor. »Er kann auch mitkommen.«

Dodo schüttelte betrübt den Kopf. »Er geht nicht mehr weg von hier. Er war so lange auf See, jetzt will er hierbleiben. Und ich kann auch nicht fort, weil jetzt bald mein Muttichen kommt. Was meinst du, wie lange man schwimmen muss, wenn man ganz weit draußen auf dem Ozean war, Henrik?«

Solche Fragen brachten Henrik in Bedrängnis. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange man da schwimmen musste, und er konnte sich gar nicht vorstellen, dass man durch das weite Meer schwimmen konnte.

»Da muss ich meine Mami fragen«, wich er aus.

»Dann frage ich sie lieber selbst«, erklärte Dodo. »Hinnerk ist einen ganzen Tag und eine ganze Nacht geschwommen, bis sie ihn gefunden haben.«

»Kann man so lange schwimmen?«, fragte Henrik.

»Mit einer Schwimmweste schon. Schwimmwesten hatten sie bestimmt mit und Rettungsringe auch.«

»Wer?«, fragte er betroffen.

»Meine Eltern«, erwiderte Dodo. »Krischan sagt, dass sie nicht wiederkommen, aber Hinnerk sagt, dass Mutti bald kommt.«

Henrik hielt nichts von Hinnerks Reden. Mintje hatte ihm erklärt, was ein Spökenkieker ist. Der sah Dinge, die andere nicht sehen konnten, die irgendwo in der Zukunft lagen und nie Wahrheit wurden.

Aber sie hatten daheim in Sophienlust die Hubermutter, die konnte in die Zukunft sehen, und das traf dann auch meist ein. Vielleicht war das bei Hinnerk auch so. Ob er Dodo von der Hubermutter erzählen sollte?

Mintje brachte den Kindern Kakao und Streuselkuchen auf die Veranda.

Dodo schnupperte. »Es riecht nach Sturm«, sagte sie.

»Sturm kann man doch nicht riechen«, meinte Henrik.

»Das kann man«, versicherte sie. »Siehst du, wie grün das Meer am Horizont ist?«

»Der Himmel ist aber blau«, stellte Henrik fest.

»Jetzt noch«, sagte Dodo. »Tunk mal den Kuchen in den Kakao, das schmeckt gut.«

Darin war er wieder einer Meinung mit ihr. Dodo hob lauschend den Kopf. »Hinnerk ist beim Doktor«, sagte sie. »Es wird ihm doch nichts fehlen? Er muss da sein, wenn der Sturm kommt. Er muss Leuchtsignale geben.«

Henrik konnte nicht begreifen, dass sie immer vom Sturm redete, da doch gar keine Anzeichen dafür vorhanden waren.

Aber dann kam Hinnerk mit dem Doktor aus dem Haus. »Macht die Luken dicht, wenn es losgeht«, sagte er. »Ich rieche das Wetter schon.«

»Siehst du, er riecht es auch«, sagte Dodo.

*

An diesem Abend sollte Henrik erleben, wie es war, wenn der Sturm über die Küste brauste. Ganz plötzlich wurde es nachtdunkel, zu einer Stunde, da sonst noch die Sonne schien. Denise war zur rechten Zeit ins Haus gekommen.

Henrik klammerte sich an seine Mutter und sah Dr. Gottschalk ängstlich an.

»Sie werden doch gut nach Hause kommen?«, fragte er bange.

»Ein alter Seebär wie Wilm Brodersen weiß, wann es Zeit ist«, erklärte Dr. Gottschalk beruhigend.

»War Dodos Vater kein Seebär?«, fragte Henrik. »Warum ist er mit dem Segelboot aufs Meer gefahren in dem Sturm?«

»Manchmal kann man den Sturm nicht voraussehen, Henrik.«

»Aber riechen kann man ihn. Dodo und Hinnerk können ihn riechen.«

Dr. Gottschalk und Denise tauschten einen langen Blick. Sie äußerten sich nicht dazu.

Mintje kam ins Zimmer und deckte den Tisch. »Gebe Gott, dass heute Nacht kein Kind geboren wird«, sagte sie seufzend. Da läutete das Telefon.

Aber es war nicht für den Doktor. Es war Alexander von Schoenecker, der die Stimme seiner Frau hören wollte.

Die Verständigung war schlecht. Ausgerechnet heute musste er anrufen, und Denise musste ihm erklären, dass die Störungen von dem Sturm kämen.

»Bei uns zu Hause regnet es seit drei Tagen«, sagte sie dann zu Henrik, und das tröstete ihn so sehr, dass er aller Unbill zum Trotz ins Bett ging und auch bald einschlief.

*

Denise hätte nicht schlafen können. Sie dachte an Wilm Brodersen und an Dodo. Die Malachitschale hatte sie in ein Seidentuch gehüllt und in ihrer Reisetasche verstaut. Sie wollte nicht, dass Henrik fragte, warum Kapitän Brodersen sie ihr geschenkt hatte.

Sie setzte sich zu Harald Gottschalk an den Tisch.

»Ein Grog ist jetzt recht«, sagte Mintje und stellte Gläser auf den Tisch.

»Nur zwei?«, fragte Denise. »Und Sie, Mintje?«

»Ich gehe schlafen«, erwiderte sie.

»Sind Dodos Eltern in einer solchen Nacht umgekommen?«, fragte Denise, nachdem sie an dem heißen Grog genippt hatte. Er war noch zu heiß, aber schon nach diesem kleinen Schluck strömte das Blut heißer durch ihre Adern.

»Ja, in einer solchen Nacht«, sagte Harald Gottschalk. »In einer Nacht, die einem strahlend schönen Sommertag folgte. Vor einem Jahr.«

»Warum sind sie hinausgefahren? Hat niemand sie gewarnt?«

»Jörn wusste, dass der Sturm kommen würde, und Frauke wusste es auch. Es ist seltsam, dass es sich beinahe auf den Tag wiederholt. Hinnerk wird auf dem Leuchtturm stehen und daran denken. Er wollte sie zurückholen. Er wollte sie retten. Er wusste nicht, dass sie sterben wollten.«

»Mein Gott«, flüsterte Denise, »so ist das.«

»Frauke war krank. Unheilbar krank. Ich wusste es. Ich habe ihr nichts gesagt, aber sie muss es wohl geahnt haben. Ich habe einen großen Fehler gemacht. Ich sagte es Jörn.« Blicklos sah er Denise an. »Es ist so schwer, wenn ein Mensch mit ansehen muss, wie der andere, den er am meisten liebt, zugrunde geht, Frau von Schoenecker. Das langsame Sterben Fraukes wäre Jörg unerträglich gewesen. Er hat sie so sehr geliebt, und sie waren so glücklich.« Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen, und Denise sah, dass diese kraftvollen Hände zitterten. »Ich sagte es Jörn, damit er begreifen sollte, wenn Frauke sich ver­änderte. Aber ich konnte nicht ahnen, dass Jörn auch nicht mehr leben wollte, weil Frauke sterben musste. Deshalb fuhren sie beide hinaus in den Sturm. Mein Gott, warum erzähle ich es Ihnen? Es ist doch nur eine Ahnung, und Wilm darf es nie erfahren.«

»Vielleicht ahnt auch er es«, sagte Denise leise.

»Es ist also fast auf den Tag genau ein Jahr her«, sagte sie sinnend. »Was war mit Hinnerk?«

»Er wurde an Land getrieben. Er war mit seinem Boot hinausgefahren. Er hatte die Schwimmweste an und klammerte sich auch noch an einen Rettungsring. Es war der Ring von der Frauke. So hieß Jörns Boot. Auch das habe ich Wilm nicht gesagt. Aber es ist gut, mit einem Menschen darüber sprechen zu können.«

»Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen«, sagte Denise.

»Ich mache sie mir, weil Dodo bald ganz allein sein wird. Auch Wilms Tage sind begrenzt. Ich muss mich immer wieder fragen, warum Jörn nicht an sein Kind dachte.«

Und es quält ihn, dass er ihm die Wahrheit sagte, ging es Denise durch den Sinn.

»Ist Wilm Brodersen krank?«, fragte sie.

»Sein Herz macht nicht mehr mit. Er weiß es genau, obgleich ich mich diesmal hüten werde, auch nur ein Wörtchen zu sagen.«

»Ja, er weiß es genau«, sagte Denise. »Sie werden Dodo zu uns bringen, wenn die Zeit gekommen ist, Dr. Gottschalk, nicht wahr?«

Über den Tisch hinweg streckte sie ihm die Hand entgegen, und er ergriff sie, senkte seinen Kopf und berührte sie leicht mit seinen Lippen.

*

Der Sturm flaute ab, und Denise sank in einen Dämmerschlaf. In den Kleidern war sie auf ihr Bett gesunken, nachdem sie hinaufgestiegen war in ihr Zimmer. Wirre Bilder gaukelten vor ihren Augen. Sie sah die tosende See und auf den Wellen ein Segelboot, das hin und her geworfen wurde. Sie sah zwei Menschen, die sich umschlungen hielten. Dieses Bild folgte ihr in den Traum, und plötzlich erwachte sie von seltsamen Lauten.

Sie hörte eine Stimme, hohl wie aus einem Megaphon.

Sie richtete sich auf und lauschte. »Frauke – Frauke«, schallte es an ihr Ohr.

Sie sprang, plötzlich hellwach, aus dem Bett. Wachte oder träumte sie? Momentan wusste sie es nicht, doch vernahm sie es wieder: »Frauke – Frauke!«

Sie griff nach ihrem Mantel, den sie achtlos über einen Stuhl geworfen hatte und zog ihn über. Leise eilte sie die Treppe hinab. Unten, in der Tür seines Zimmers, stand Dr. Gottschalk. Aus müden, wehmütigen Augen blickte er sie an.

»Es ist Hinnerk«, sagte er leise. »Er ruft immer, wenn Sturm ist.«

»Warum ruft er denn nach Frauke?«, fragte Denise. »Warum nicht nach Jörn?«

»Sein Geist ist verwirrt.«

Sie ging zur Haustür. Harald Gottschalk wollte sie zurückhalten. »Man muss doch nach ihm sehen«, sagte Denise.

»Es ist sinnlos«, sagte er. »Bitte, gehen Sie nicht. Er will allein sein.«

Hinnerks Stimme war verstummt. Als Denise die Treppe wieder hinaufstieg, überfiel sie eine jähe Angst.

Sie wartete und ging dann wieder hinab. Diesmal blieb Harald Gottschalks Tür geschlossen. Ungehört und ungesehen gelangte sie ins Freie.

Sie schlug den Mantelkragen hoch und vergrub die Hände in den Taschen. Die Wolken jagten unter dem Himmel dahin, doch ab und zu gaben sie den Mond frei, und sein kaltes Licht erhellte den Strand. Denise sah dort einen dunklen Schatten, bewegungslos blieb er an seinem Platz. Sie ging darauf zu, wie unter einem Zwang. Dann blieb sie neben Hinnerk stehen, der wie ein Geist wirkte, das hagere Gesicht von dem Südwester überschattet.

Er schien sie nicht wahrzunehmen, und sie wagte nicht, ihn anzusprechen. Aber er sprach.

»Ich sehe sie doch. Ich sehe sie, wie sie Dodo in den Armen hält«, sagte er. Er warf den Kopf herum und sah Denise an. »Ich bin nicht verrückt«, stieß er hervor. »Ich sehe, wie sie Dodo in den Armen hält. Sie werden es auch sehen, Madame.«

»Ja, Hinnerk, es ist gut. Gehen Sie jetzt heim«, sagte Denise.

»Hier bin ich zu Hause. Das Meer – hören Sie, wie es singt.« Das Meer schien eine unheilvolle Anziehungskraft für ihn zu besitzen.

»Sie standen engumschlungen an der Reling«, fuhr Hinnerk leise fort. »Ich sah sie zum Greifen nahe. Frauke warf mir den Ring zu. Sie muss doch kommen. Am Morgen wird sie kommen.«

»Kommen Sie, Hinnerk«, bat Denise. Sie wollte nach seinem Arm greifen, doch er riss sich los und verschwand im Dunkeln. Zutiefst aufgewühlt von dieser Begegnung ging Denise zurück.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen nicht gehen«, empfing sie Dr. Gottschalk.

»Wollen sie ihn sterben lassen?«, fragte sie bebend.

»Seine Zeit ist gekommen. Er hat ein ganzes Jahr gelitten, Frau von Schoenecker. Vor einem Jahr konnte ich sein Leben retten, aber was war das für ein Leben! Für ihn blieb es in jener Nacht stehen. Bitte, gehen Sie jetzt, ich werde Krischan holen.«

»Meinen Sie, er ist tot?«, fragte sie bebend.

»Vielleicht hat er endlich Frieden gefunden«, erwiderte Dr. Gottschalk.

Als Denise mit tränenblinden Augen in das Haus taumelte, vermeinte sie noch immer Hinnerks Stimme zu hören, die rief: »Frauke – Frauke!«

Es war, als würde auch der Himmel trauern mit all den andern, die an Hinnerks Grab standen. Denise war an diesem Tag mit den beiden Kindern allein. Dodo hätte es nicht begriffen, dass Hinnerk auf dem Friedhof bestattet wurde wie die anderen Toten. Sie glaubte fest daran, dass Hinnerk ein Seemannsgrab gefunden hätte, und niemand sagte ihr etwas anderes.

Sie saßen unten in der Bucht, nachdem Dodo einen Strauß Sommerblumen ins Meer gestreut hatte, die die Ebbe mit sich nahm. Henrik hatte kein Wort dazu gesagt, obgleich es ihm unheimlich war, mit welch feierlicher Miene sie dies tat.

»Tschüs, Hinnerk«, sagte sie, als spreche sie zu einem Lebenden, und dann blickte sie den Blumen nach, die von den Wellen fortgetragen wurden.

Und noch einer stand nicht an Hinnerks Grab: Krischan. Er war mit seinem Boot hinausgefahren und nahm auf seine Weise Abschied von dem alten Freund.

Der Wind trug den Klang der Kirchenglocken ans Meer. Denise wusste, dass Hinnerks Sarg nun der Erde übergeben worden war.

Wenige Minuten später brach die Sonne aus den Wolken. Dodo blickte empor zum Himmel.

»Jetzt ist Hinnerk beim lieben Gott«, sagte sie. »Er hat die Wolken weggeblasen, damit uns die Sonne wieder scheinen kann.«

Ganz langsam entfernte sie sich ein Stück von ihnen, kniete am Wasser nieder und ließ ihre Hände von den Wellen umspielen.

»Es wird mir immer ganz bange, wenn Dodo so redet, Mami«, flüsterte Henrik. »Sie haben doch Hinnerk begraben. Mintje und Onkel Harald sind zum Friedhof gegangen.«

»Sag es ihr nicht, Henrik«, bat Denise. »Sie soll ruhig glauben, dass Hinnerk auf See gestorben ist.«

»Warum soll sie das glauben, Mami?«

»Sie meint, es müsste so sein, weil auch ihre Eltern draußen geblieben sind.«

»Aber sie glaubt ganz betimmt, dass ihre Mutti zurückkommt«, sagte er bekümmert.

Hinnerk hatte auch daran geglaubt in seinem verwirrten Geist. »Sie hält Dodo in den Armen, ich sehe es«, hatte er gesagt. Seine Worte tönten in Denises Ohren fort. Sie hätte jetzt mit der Hubermutter sprechen mögen, die soviel mehr wusste als andere Menschen. Aber Denise wusste, dass Frauke Brodersen heute nicht mehr leben würde, auch wenn das Meer sie und ihren Mann nicht behalten hätte.

»Es wäre gut, wenn Dodo zu uns käme, dann würde sie nicht soviel denken. Bei uns ist kein Meer, Mami«, sagte Henrik einfühlsam.

»Vielleicht wird sie einmal zu uns kommen«, sagte Denise.

Dodo stand noch immer am Wasser, die Hand über die Augen gelegt. »Krischan kommt zurück«, rief sie, und da lief auch Henrik hinunter. Stumm fasste der alte Mann die Kinder bei den Händen.

»Es wird noch mal ein schöner Sommer«, sagte er.

*

An diesem Tag waren die Kinder in Sophienlust außer Rand und Band. Die Ferien hatten begonnen. Alle hatten gute Zeugnisse heimgebracht, auch Nick.

»Da wird Mami sich freuen«, sagte Alexander. »Du machst dich, mein Junge. Wie ist es, willst du nun an die See fahren?«

»Lohnt es sich denn noch, Papi?«, fragte Nick. »Wenn ich so Mamis Briefe lese, meine ich fast, dass sie ganz gut ohne uns zurechtkommen. Henrik hat Dodo und Hannibal und Mami tut es sicher gut, wenn sie mich nicht auch noch auf der Pelle hat.«

Es war nicht so, dass Nick keine Sehnsucht nach seiner Mutter und seinem Bruder hatte, aber das, was in den Briefen stand, die sie bekamen, stimmte ihn nachdenklich.

Nach seiner Meinung passte es nicht zu fröhlichen Ferien, wenn nette, alte Leute starben, und die Stille und Einsamkeit, von der Denise in ihren Briefen schrieb, wollte ihm auch nicht so recht behagen. Und dann war da natürlich auch noch Jonka, die goldbraune Stute, die er selbst mit aufgezogen hatte. Ausgerechnet dann sollte er nicht daheim sein, wenn sie ihr erstes Fohlen bekam?

»Die zehn Tage werden wir schon noch überstehen, Papi«, sagte er.

Alexander hatte Sehnsucht nach Denise. Ihm kam die Zeit unendlich lang vor, und ihn tröstete nur der Gedanke, dass Henrik sich so gut erholte.

In Sophienlust wäre man auch sehr enttäuscht gewesen, wenn Nick sie verlassen hätte. Besonders Pünktchen hätte ihn sehr vermisst. Ganz kritisch schaute sie drein, als er sie beiseite nahm und ihr zuflüsterte, dass er ihr etwas sagen müsse.

»Ich bleibe hier, ich fahre nicht weg«, sagte er ihr ins Ohr.

Ihre Augen leuchteten auf, ihr feines Näschen kräuselte sich, als sie lächelte.

»Jonka würde auch große Sehnsucht nach dir haben, Nick«, sagte sie, weil sie nicht zugeben wollte, dass auch sie Sehnsucht nach ihm haben würde.

Es hatte wirklich seine Zeit gebraucht, mit diesem herben Menschenschlag vertraut zu werden, aber Denise war es nicht so schwergefallen. Sie hatte Umschau gehalten. Sie war mit Harald Gottschalk durch die Marschen gefahren, durch die Dörfer und an den Feldern vorbei, die der Ernte entgegenreiften. Sie hatte nicht nur die Kühe und Pferde gesehen, die hier prächtig gediehen, sie hatte auch mit den Menschen gesprochen, die nicht viel Worte machten.

Wenn der Doktor kam, nahmen sie sich sogar ein paar Minuten Zeit. Harald Gottschalk war einer von ihnen, das spürte man.

Und während Denise Land und Leute kennenlernte, erzählte Wilm Brodersen den Kindern Geschichten aus seinem abenteuerlichen Leben.

Eines Abends kam Henrik mit der Kogge heim, die bislang auf der Vitrine in Wilm Brodersens Zimmer gestanden hatte.

»Der Käpt’n hat sie mir geschenkt«, erklärte er voll Stolz. »Er hat sie selbst gebaut. Nick wird staunen. Solch ein schönes Geschenk hat er noch nie bekommen.«

Und nun wusste Denise endgültig, dass Wilm Brodersen schon Abschied nahm von dieser Welt. Deshalb wurde ihr der Abschied von ihm besonders schwer, als die Stunde dann schlug.

Für Henrik war es ein Abschied von Dodo und Hannibal und einem herrlichen Sommer, der nur kurze Zeit von Hinnerks Tod getrübt worden war. An den Sturm dachte er schon gar nicht mehr.

Für Denise war es ein schmerzlicher Abschied, obgleich sie ganz genau wusste, dass ihr ein Wiedersehen mit Dodo bevorstehen würde. Sie saß bei Mintje in der Küche, und sie sah, dass Mintje geweint hatte.

»Es war eine schöne Zeit, Madame«, sagte Mintje. »Sie haben dem Doktor den Glauben an die Frau zurückgegeben.«

»Hatte er ihn verloren, Mintje?«, fragte Denise.

»Warum wäre er wohl hier, bei all seinem Wissen?«, sagte Mintje leise. »Ich sollte nicht davon reden, aber es gab eine, die er gern hatte. Viel zu gern. Sie hat es nicht verdient. Die Menschen hier brauchen ihn. Diese Menschen sind ohne Falsch. Ich bin gern hier. Es ist meine Heimat geworden. Ihre Heimat würde ich auch gern einmal sehen, Madame. Sie ist bestimmt voll Wärme. Wilm Brodersen weiß, wem er seine Dodo anvertraut.«

»Woher wissen Sie das, Mintje?«, fragte Denise.

»Er trinkt so oft mit Ihnen Tee. Das hat er mit keinem andern getan«, erwiderte Mintje.

Und zum letzten Mal trank Denise Tee bei Wilm Brodersen. Ganz still saß er in seinem Sessel, und sein Blick ruhte unverwandt auf ihr.

»Es sollte wohl so sein, dass ich Sie kennenlernte. Ich bin dem da droben dankbar dafür.« Bevor Denise etwas sagen konnte, erhob er sich. »Möchten Sie einmal durch mein Fernrohr schauen, Frau von Schoenecker?«, fragte er.

Ganz automatisch folgte ihm Denise, weil sie jetzt schon wusste, dass alles, was er sagte, einen tieferen Sinn hatte.

Das Fernrohr war zum Meer gerichtet, aber ganz dicht, als stünden sie vor ihr, sah sie Henrik, Dodo und Hannibal. Henrik strich Dodo mit der Hand über die Wange, und Hannibal drängte seinen Kopf zwischen die Kinder.

»Sie wissen noch nicht, dass sie sich wiedersehen werden«, sagte Wilm Brodersen. »Wäre auch für Hannibal Platz in Sophienlust?«

»Darüber sollten Sie sich keine Gedanken machen, Käpt’n«, erwiderte Denise. »Es ist doch selbstverständlich.«

Sie wusste nur zu gut, dass er nicht wollte, dass sie seine Gedanken wegredete, und sie fühlte auch, dass sie Dodo schon bald wiedersehen würde.

»Ich bin auch glücklich, Sie kennengelernt zu haben«, sagte sie leise, und dann umarmte sie ihn impulsiv. »Ich habe ja etwas, was mich immer an diese Tage erinnern wird, auch wenn ich schon dort angelangt bin, wo Sie heute sind.«

»Viel, viel Glück wünsche ich Ihnen«, sagte der alte Mann mit erstickter Stimme, und Denise wusste, dass sie jetzt gehen musste.

*

Ein rührender Anblick bot sich Denises Augen, als sie an den Strand kam. Hannibal lag ausgestreckt an der Sandburg. Henrik saß unweit von Dodo und redete auf sie ein. Er war so vertieft, dass er seine Mutter nicht kommen hörte.

»Im Winter besucht ihr uns dann, Dodo«, sagte er. Seine Stimme klang verdächtig nach Tränen. »Mami wird es deinem Großväterchen noch einmal sagen. Vielleicht könntet ihr auch schon im Herbst kommen.«

Dodo hielt die Augen weiterhin fest geschlossen. »Man kann ja nicht mit dem Schiff zu euch fahren«, schluchzte sie auf und presste ihre sandigen Fäustchen an die Augen.

Schnell kniete Denise nun bei ihr nieder, nahm die Händchen herunter, putzte sie mit ihrem Taschentuch ab und danach auch das sandverschmierte kleine Gesicht.

»Nicht weinen, mein Kleines«, sagte sie zärtlich. »Man kann auch mit dem Auto zu uns gelangen.«

»Der Doktor kann euch bringen«, warf Henrik eifrig ein. »Oder wenn er keine Zeit hat, holen wir euch. Mir tut es ja auch leid, dass der Sommer so schnell vergangen ist, Dodo.«

Noch längst war der Sommer nicht zu Ende, doch die Kinder empfanden es so. Auch Hannibal seufzte schwer, und seine schönen, feuchten Augen sahen Denise bittend an.

Denise nahm Dodo in ihre Arme, Henrik nahm ihre Hand. So saßen sie eine Weile ganz still.

»Ich will jetzt lieber zu Großväterchen gehen«, flüsterte Dodo, »sonst muss ich weinen. Liebe Tante Isi, vergiss deine Dodo nicht.« Dann umarmte sie Henrik. »Du bist mein allerbester Freund. Es war so ein schöner Sommer.«

Und nun weinte sie doch, und auch Henrik rollten die Tränen über die Wangen. Hannibal jaulte leise.

Denise kraulte ihm den Kopf. »Pass gut auf Dodo auf, Hannibal«, sagte sie.

»Nächstes Jahr kommen wir wieder, dann bringen wir Papi, Nick und Pünktchen mit«, versprach Henrik, und dann hielt Denise Dodo noch ein letztes Mal im Arm.

Sie wusste, dass es kein Abschied für immer war und dass sie Dodo vielleicht bald wiedersehen würde, aber dieser Gedanke war schon von einem Hauch Trauer durchweht.

*

Henrik saß bei Mintje in der Küche, als der Abend hereinbrach. Er musste noch die Koch- und Backrezepte aufschreiben, die er Magda mitnehmen wollte. Aber seine Gedanken waren nicht so recht bei der Sache. Immer wieder wanderten sie zu Dodo.

»Meinst du, dass Dodos Mutti wiederkommt, Mintje?«, fragte er.

»Nein, Henrik.«

»Aber sie glaubt es.«

»Sie ist ein kleines Kind.«

Henrik senkte bekümmert den Kopf. Er konnte Dodo so gut verstehen. Er konnte sich nicht vorstellen, ohne seine Mami zu sein. Eine schreckliche Angst überfiel ihn plötzlich, dass er sie verlieren könnte. Er wollte sich gleich überzeugen, dass sie da war und gesund.

Sie saß mit Dr. Gottschalk im Wohnraum. Er hörte ihre Stimmen, und ein eisiger Schrecken durchzuckte ihn, als er seine Mami fragen hörte: »Wie viel Zeit wird dem Käpt’n noch bleiben, Harald?«

Sie waren dazu übergegangen, sich beim Vornamen zu nennen, wie gute Freunde es taten.

»Es kann sehr rasch gehen«, erwiderte Harald Gottschalk. »Er macht sich keine Illusionen darüber. Er hat alles geregelt.«

Henrik zitterte. Obgleich die Worte nicht so klar waren, begriff er sie doch.

Er schlich wieder in die Küche. Mintje saß jetzt am Tisch und sah in das Heft, in dem Henrik geschrieben hatte.

»Schön kannst du schreiben«, sagte sie.

»Dodo kann auch schön schreiben«, flüsterte Henrik. »Mintje, wie alt ist der Käpt’n eigentlich?«

»So gute siebzig wird er schon auf dem Rücken haben«, erwiderte sie. »Vielleicht noch mehr. Der Krischan geht auf die achtzig zu.«

»Und er fährt noch immer zum Fischen«, sagte Henrik nachdenklich.

»Wer rastet, der rostet«, meinte Mintje.

»Wer kümmert sich denn um Dodo, wenn der Käpt’n krank wird?«, fragte Henrik leise.

»Wir sind auch noch da, Jungchen«, erwiderte Mintje.

»Onkel Werner hat gesagt, dass man mit den Leuten hier nur langsam Freund wird, aber bei uns war das nicht so, nicht wahr, Mintje? Wir sind ganz schnell Freunde geworden.«

»Ja, mein Jungchen, und wir werden euch sehr vermissen.«

»Wir werden Sie sehr vermissen«, sagte auch Harald Gottschalk zu Denise. »Es tut gut, wenn man über die Dinge sprechen kann, die in der Welt vor sich gehen.«

»Vermissen Sie diese Welt nicht doch, Harald?«, fragte sie.

»Ich will nicht darüber nachdenken. Damals, als ich hierher ging, wollte ich nichts mehr davon wissen. Ich war enttäuscht und verbittert.«

»Von den Menschen überhaupt oder von einer Frau?«, fragte sie jetzt leise.

»Es ist lange vorbei«, erwiderte er ausweichend. »Aber solange es Frauen wie Sie gibt, sollte man versöhnlich gestimmt sein.«

»Ich bin doch eine von vielen«, sagte Denise verlegen.

»Das sind Sie ganz gewiss nicht«, erwiderte er voll Wärme. »Es war ein schöner Sommer, Denise.«

Auch er redete schon so, als wäre der Sommer nun vorbei, und als sie dann am anderen Morgen nach Bremen fuhren, hatte es den Anschein, als wolle das Wetter es bestätigen. Es blies ein kühler Wind, und der Himmel war wolkenverhangen.

Sehnsüchtig blickte Henrik noch einmal über die Marschen zum Haus des Käpt’n. Insgeheim hatte er wohl gehofft, dass Dodo und Hannibal noch einmal kommen würden, aber sie ließen sich nicht blicken.

Dodo stand am Fernrohr. »Jetzt fahren sie, Großväterchen«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.

»Du wirst sie wiedersehen, mein Liebling«, sagte er. Er zog sie zu sich aufs Knie und bettete ihren Kopf an seine Brust, in dem sein müdes Herz schmerzhaft pochte. »Du wirst sie bestimmt wiedersehen – bald«, wiederholte er.

*

In Frankfurt am Flughafen warteten Alexander und Nick schon ungeduldig. Wenig später konnten sie Denise und Henrik in die Arme schließen. Bei Henrik war das nicht so einfach, denn er trug seine Kogge vor sich her und achtete sehr darauf, dass daran nichts beschädigt wurde.

Nick war voll Bewunderung. »Die ist ja toll«, staunte er.

»Die ist nicht toll, sie ist ein Kunstwerk«, erklärte Henrik. »Der Käpt’n hat sie selbst gebaut.«

»Da musst du aber einen Stein bei ihm im Brett gehabt haben«, meinte Nick.

In Henriks Augen blinkten Tränen. Nick sah ihn verwundert an. »Du scheinst dich gar nicht zu freuen«, sagte er beleidigt. »Du kommst doch wieder nach Hause.«

»Es war ein schöner Sommer mit Dodo und Hannibal«, sagte Henrik.

»Es ist noch lange Sommer«, sagte Nick. »Bei uns fängt er jetzt erst richtig an. Bis jetzt war richtiges Mistwetter.«

»Bei uns war es immer schön. Jeden Tag schien die Sonne.«

»Ich denke, dass mal mächtiger Sturm war«, meinte Nick.

»Der war schnell vorbei, aber heute Morgen war es trüb und windig. Hoffentlich kommt nicht wieder Sturm.« Seine Gedanken waren noch immer in dem Fischerdorf an der Küste. »Kann man eigentlich durch das ganze Meer schwimmen, Nick?«

Nick sah ihn betroffen an. »Das schafft doch keiner«, sagte er.

»Auch nicht mit Schwimmweste und Rettungsring? Wie lange würde das wohl dauern? Ich meine nur so. Was würdest du wohl sagen, wie lange man braucht?«

Er begriff nicht, was Henriks Frage bedeuten sollte.

»Vielleicht segeln sie um die Erde«, sagte Henrik nachdenklich.

»Wovon redest du überhaupt?«, fragte Nick nun bestürzt.

»Von Dodos Eltern«, erwiderte Henrik.

Nick wollte die offenen Fragen lieber seiner Mutter stellen. Nun spürte er, dass mehr hinter ihnen steckte.

*

Nun war zwar ein gesunder Henrik nach Sophienlust zurückgekehrt, dafür jedoch ein sehr stiller. Wenn die anderen Kinder herumtollten, stand er oft da und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Manches Mal ertappte ihn Denise, wie er die Muscheln an seine Ohren hielt, um das Rauschen des Meeres zu hören, das in ihnen gefangen sein sollte. Aber sie wusste sehr gut, dass er weniger an das Meer dachte als an Dodo.

Er hatte ihr gleich eine Karte geschrieben, und das wollte etwas heißen, denn Henrik war freiwillig nicht gern bereit, etwas zu schreiben.

Heimlich und mit Rührung las Denise die fein säuberlich gemalten Buchstaben: »Ich denke immer an dich und Hannibal, und wie geht es dem Käpt’n?«

Die Kogge hatte einen Ehrenplatz in seinem Zimmer bekommen. Niemand durfte sie berühren. Er nahm sie auch nicht mit nach Sophienlust, worüber sich vor allem Nick wunderte.

Es kam auch bald eine Karte von Dodo. Eine Ansicht von des Käpt’ns Haus war darauf und nur die paar Worte ›Deine Dodo und Hannibal‹, aber sie hatte es selbst geschrieben und wenn Denise bedachte, wie mühsam ihre kleinen Finger diese sauberen Buchstaben zusammenbrachten, traten ihr Tränen in die Augen. Von Dr. Gottschalk hatte sie schon die Nachricht bekommen, dass Wilm Brodersens Zustand sich zusehends verschlechterte, und es schien so, als verließe ihn nun, da er eine Zuflucht für seine Dodo gefunden hatte, die Kraft. Doch darüber sprach sie mit Henrik nicht.

Doch dann kam der Tag, an dem das Telegramm eintraf mit der traurigen Botschaft, dass Wilm Brodersen seine Augen für immer geschlossen hatte. Denise weinte.

»Warum weinst du, Mami?«, fragte er bebend.

Sie legte den Arm um ihn. »Der Käpt’n ist gestorben, Henrik.«

Ganz blass wurde sein Gesicht. »Und Dodo, was ist mit Dodo?«, schluchzte er.

»Sie wird jetzt zu uns kommen«, sagte Denise. »Dr. Gottschalk wird sie bringen.«

»Hannibal auch?«

»Ja, Hannibal auch.«

»Und sie wird immer bei uns bleiben, wie eine kleine Schwester, Mami?«

Denise nickte.

Dodo saß bei Mintje in der Küche, während Dr. Gottschalk den Kollegen, der ihn vertreten sollte, in seine Pflichten einwies.

»Ich gehe gern zu Tante Isi und Henrik«, sagte sie leise, »aber wird mein Muttichen mich finden, Mintje?«

Mintje schluckte schwer. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Schnell drehte sie sich um und tupfte sich die Tränen aus den Augen.

»Ihr glaubt nicht, dass mein Muttichen wiederkommt«, sagte Dodo. »Aber ich glaube es ganz fest. Großväterchen ist im Himmel. Er hat mir nie gesagt, dass Mutti auch im Himmel ist. Ist der Himmel überall gleich, Mintje?«

»Überall«, sagte Mintje heiser.

»Und überall sind die gleichen Sterne?«

»Ja, Dodo, überall sind die gleichen Sterne.«

»Aber so weit kann ich mit dem Fernrohr nicht gucken, dass ich zu dir in die Küche schauen kann, wenn ich in Sophienlust bin?«

»Nein, soweit kann man damit nicht gucken.«

»Aber wir nehmen es doch mit, hat Onkel Harald gesagt.«

Es war drei Tage her, dass Dodo morgens mit Hannibal herübergekommen war und gesagt hatte: »Großväterchen wacht heute gar nicht auf, Mintje. Er ist jetzt immer so müde.«

Und dann hatte Dr. Gottschalk ihr sagen müssen, dass der Käpt’n nie mehr aufwachen würde. Aber er hatte ihr dann auch gleich gesagt, dass er sie nun nach Sophienlust bringen würde, und das hatte ihren Kummer gemildert.

»Großväterchen hat gesagt, dass ich nicht weinen soll, wenn er einmal nicht mehr bei mir ist«, hatte sie gesagt und war sehr tapfer gewesen. Sie ging nicht mehr zum Meer hinunter. Sie saß lange still vor dem Haus und dann bei Mintje. Nun war sie den letzten Tag hier. Morgen Früh wollten sie fahren.

»Henrik hat gesagt, dass wir schon im Herbst kommen könnten«, sagte sie gedankenverloren. »Jetzt ist Herbst, nicht wahr, Mintje?«

»Er beginnt.« Sie musste sich sehr zusammennehmen, damit sie dem Kind nicht zeigte, wie schwer ihr der Abschied fiel.

*

Nur widerwillig hatte Hannibal am nächsten Morgen auf dem Rücksitz des Wagens Platz genommen.

Dr. Gottschalk sorgte dafür, dass die letzten Minuten des Abschieds schnell vorübergingen.

»Im Sommer komme ich wieder«, sagte Dodo. »Hör auf Mintje, Krischan, und geh nicht mehr soviel zum Fischen.«

Sie drehte sich nicht mehr um. Sie blickte geradeaus. Hannibal gab einen kurzen klagenden Laut von sich, als der Motor ansprang, und Harald Gottschalk sah, wie Mintje schnell ins Haus eilte.

Ihm war es auch schwer ums Herz. Der Gedanke, sich von Dodo nun für immer trennen zu müssen, war schwer zu ertragen.

»Die Leute werden sich nicht an den fremden Doktor gewöhnen«, sagte Dodo, als sie schon eine Weile gefahren waren. »Aber vielleicht gewöhnen sie sich doch an ihn, und du kannst dann auch nach Sophienlust kommen, Onkel Harald.«

Er schwieg. Was hätte er auch sagen sollen?

»Mintje kann doch auch mitkommen«, fuhr Dodo fort, und damit verriet sie, dass sie niemand missen wollte.

Hannibal hatte gehört, dass sie von Mintje sprach, richtete sich plötzlich auf und legte seinen Kopf auf die Rücklehne des Vordersitzes.

»Dir wird es schon gefallen in Sophienlust, Hannibal«, sagte Dodo.

Bis auf etwa hundert Kilometer waren sie schon an Sophienlust herangekommen, als Harald durch merkwürdige Geräusche seines Motors aufgeschreckt wurde. Er tuckerte, dann knallte es, und der Wagen stand.

»Was ist jetzt los, Onkel Harald?«, fragte Dodo erschrocken.

»Der Motor streikt«, erwiderte er seufzend. »Ich habe so was befürchtet.«

Während sich Harald Gottschalk noch umschaute, nahte ein Wagen. Er hielt auf gleicher Höhe an, und ein blonder Kopf kam zum Vorschein.

»Kann ich helfen?«, fragte eine weibliche Stimme.

Dodos Kopf fuhr herum, ihre Augen wurden ganz weit, und dann schrie sie plötzlich: »Muttichen, mein Muttichen!« Sie sprang aus dem Auto, lief blindlings über die Straße, stolperte über einen Stein und fiel gegen den hellblauen Wagen.

Die junge Dame stieg kalkbleich aus ihrem Wagen. Harald hatte Dodo schon aufgehoben, aber sie hatte durch den Aufschlag das Bewusstsein verloren.

»Mein Gott, ich wollte doch nur helfen«, stammelte die junge Dame. Verwirrt sah Harald sie an. Sie hatte, bis auf das blonde Haar, kaum eine Ähnlichkeit mit Frauke Brodersen, sie war auf eine andere Art schön, aber nicht so durchsichtig zart, wie Frauke es gewesen war.

Ihr Gesicht war tief gebräunt, und ihre Augen schimmerten wie dunkler Bernstein. Er begriff nicht, dass er dies alles wahrnehmen konnte in wenigen Sekunden, und er brachte kein Wort über die Lippen.

»Ich wohne dort – im nächsten Haus«, sagte die junge Dame. »Bringen Sie das Kind dorthin. Ach nein, Ihr Wagen streikt ja. Legen Sie Ihr Töchterchen in meinen.«

Aber da war Hannibal schon zur Stelle und drängte sich an Harald, klagende Laute ausstoßend.

»Sei brav, Hannibal«, sagte Harald, »die Dame hilft uns.«

»Ich heiße Julia Pahlen«, sagte sie. »Nun überlegen Sie doch nicht lange. Wir können doch das Kind nicht auf der Straße versorgen!«

Hannibal hatte ihren Vorschlag anscheinend schneller begriffen, denn wie der Wind drängte er schon in ihr Auto.

»Du darfst natürlich auch mit«, sagte Julia Pahlen mit einem flüchtigen Lächeln, das ihre Gesichtszüge wieder entspannte. »Ich werde auch gleich unseren Arzt anrufen.«

»Ich bin selbst Arzt«, sagte Harald, während er Dodo behutsam auf den Rücksitz bettete. »Dodo kommt schon wieder zu sich.«

»Was meinte sie eigentlich, als sie rief?«, fragte Julia Pahlen.

»Ich erkläre es Ihnen später«, flüsterte er, und schon wieder stammelte Dodo: »Muttichen, mein Muttichen!«

*

Julia Pahlen war eine geistesgegenwärtige junge Frau, die nicht lange fragte.

Die kurze Entfernung zu ihrem Haus war schnell zurückgelegt. Julia schloss die Tür auf, und Harald trug Dodo hinein. Hannibal folgte ihm auf dem Fuß. Er setzte sich und sah Julia an.

»Du bist ein braver Hund«, lobte sie ihn, und darauf rieb er seinen Kopf an ihrer Hand.

Julia öffnete eine Tür. »Legen Sie das Kind auf das Bett«, sagte sie zu Harald, »und dann sagen Sie mir, was Sie brauchen.«

»Nur ein feuchtes Tuch vorerst«, erwiderte er.

Dodo blinzelte benommen. »Muttichen, nicht wieder weggehen«, flüsterte sie.

Julia sah Harald fragend an. Er folgte ihr rasch zur Tür. »Dodo hat ihre Mutter verloren«, flüsterte er ihr zu. »Sie bildet sich ein …« Er kam nicht weiter, denn Dodo begann zu weinen.

»Ich komme gleich wieder, Kleines«, sagte Julia.

Sie war schnell zurück mit dem feuchten Tuch, das Harald auf Dodos Stirn legte. Als Dodo nun wieder »Muttichen« flüsterte, schob Julia ihn sanft zur Seite und setzte sich an den Bettrand.

»Tut das Köpfchen weh?«, fragte sie weich.

»Ein bisschen«, sagte Dodo. Ein zitternder Seufzer hob ihre kleine Brust. »Hinnerk hat immer gesagt, dass du wiederkommst. Ich muss dich erst mal befühlen.«

»Ich hole meinen Koffer«, sagte Harald beklommen.

Julia nickte stumm. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Kind, das die Augen wieder geschlossen hatte.

»Diesmal träume ich nicht«, flüsterte Dodo. »Ich kann dich wirklich fühlen.«

»Wie geht es Ihrem Kind?«, fragte Julia.

»Es ist nicht mein Kind«, erwiderte er geistesabwesend.

Diese seltsame Situation und all ihre Begleitumstände wurden ihm erst viel später bewusst. Er untersuchte Dodo gründlich, konnte aber keine weiteren Verletzungen als die kleine Kopfwunde feststellen.

»Ich bin so froh, Onkel Harald, dass Muttichen mich gefunden hat«, flüsterte sie, und dann schlief sie ein.

*

»Habe ich mich Ihnen überhaupt schon vorgestellt?«, fragte Harald etwas später verlegen. »Verzeihen Sie, aber ich bin ziemlich durcheinander.«

»Ich auch«, erwiderte sie mit einem leisen Lächeln.

Nun erfuhr sie, dass er Harald Gottschalk hieß und wohin er Dodo bringen wollte.

»Dodo hat keine Angehörigen mehr«, sagte sie nachdenklich. »Und Sie?«

»Käpt’n Brodersen war mein Patient und mein Freund.«

Er konnte es mit dieser kurzen Erklärung nicht bewenden lassen, und so begann er stockend zu berichten.

»Ich bin Psychologin«, warf sie mit einem flüchtigen Lächeln ein, als er eine Pause machte. »Von Berufs wegen«, fügte sie hinzu. »Ich schreibe augenblicklich an meiner Doktorarbeit. Es interessiert mich ungemein, was Sie mir da über Dodo erzählen.«

Die Beklemmung fiel von ihm ab. Sie hatte ihm eine Brücke geschlagen, die er nun beschreiten konnte. Es fiel ihm nicht schwer, von Frauke Brodersen und Jörn zu erzählen, von Hinnerk und dem alten Wilm Brodersen, in dessen Welt der Erinnerung Dodo aufgewachsen war, fern der Wirklichkeit, in die sie nun hineingestellt werden musste.

»Wilm Brodersen hat ihr niemals Bilder von ihrer Mutter gezeigt«, sagte er mit schwerer Stimme. »Sie erinnert sich wohl nur an ihr blondes Haar, das dem Ihren glich. Nichts ist schwieriger, als die Vorgänge in einer kindlichen Seele zu erforschen. Schwer wird es nur sein, ihr begreiflich zu machen, dass Sie nicht Ihre Mutter sind.«

»Das überlassen Sie mir«, sagte Julia leise, »es wird mir schon gelingen.«

Aber sie kennt Dodo nicht so gut, wie ich sie kenne, dachte Harald Gottschalk.

»Sie kennen Dodo von Geburt an«, bemerkte Julia Pahlen. »Bestand keine Möglichkeit, dass Sie Dodo bei sich aufnehmen?«

»Ich bin nicht verheiratet«, erwiderte Harald. »Ich habe lange nachgedacht. Natürlich hätte ich sie gern behalten, aber es ist wohl besser, wenn sie in eine andere Umgebung kommt, weg von dem Meer, das ihr die Eltern nahm.«

»Ja, das ist richtig«, sagte Julia nach kurzem Überlegen. »Andererseits mag diese Begegnung mit mir eine Konfliktsituation heraufbeschwören.«

»Und Sie denken darüber nach, wie dieser Konflikt zu lösen ist«, sagte Harald.

»Ja, das bereitet mir Sorgen«, gab sie zu.

Ein langes Schweigen war zwischen ihnen. Julia dachte über ihn nach. Warum ist ein Mann wie er allein, überlegte sie und wurde sich dabei bewusst, dass sie ihn sehr sympathisch fand.

»Ich möchte nicht, dass Sie denken, ich würde Dodo als ein Studienobjekt betrachten«, sagte sie, »aber ich würde es für falsch halten, wenn ich sie ganz abrupt darüber aufkläre, dass ich nicht ihre Mutter bin. Vielleicht ergibt sich morgen alles von selbst, wenn Dodo ausgeschlafen ist.« Sie versank wieder in Schweigen.

»Nun sind wir noch zu einem Problem für Sie geworden«, sagte Harald verlegen.

»Sagen Sie das bitte nicht. Ich finde Dodo bezaubernd. Sie ist ein richtiges Wunschkind. Ihre Eltern müssen sich sehr geliebt haben.«

»Jörn liebte Frauke so sehr, dass er ohne sie nicht leben wollte«, sagte Harald verhalten. »Er konnte sie nicht leiden sehen und wollte mit ihr sterben.«

Julias Lider senkten sich. Die langen Wimpern warfen Schatten auf ihre Wangen. »Und er dachte nicht an sein Kind«, sagte sie. »Haben Sie jemals eine Frau so geliebt?«

Das Blut stieg ihm bei dieser direkten Frage in die Stirn.

»Nein«, erwiderte er heiser, um dann hastig das Thema zu wechseln. »Würden Sie mir bitte sagen, wo die nächste Telefonzelle ist? Ich muss Frau von Schoenecker verständigen.«

»Sie können doch von hier aus anrufen«, erklärte Julia.

»Könnten Sie mir auch ein Hotel empfehlen?«

Momentan war sie unsicher, aber dann lächelte sie. »Wir haben genügend Platz im Haus. Ich denke, es ist besser, wenn Sie in Dodos Nähe bleiben.« Sie sagte es, als sei es ganz selbstverständlich, dass Dodo hier bliebe.

*

Alexander von Schoenecker kam von einer geschäftlichen Besprechung aus der Kreisstadt zurück. Er begrüßte seine Frau wie immer mit einem zärtlichen Kuss, stellte dann aber fest, dass sie betrübt aussah.

»Ist Dodo noch immer nicht da?«, erkundigte er sich.

»Harald hat angerufen. Er hat unterwegs eine Panne und muss den Wagen erst reparieren lassen.«

»Er kann doch einen Leihwagen nehmen, oder wir holen die beiden, wenn es nicht zu weit ist.«

»Es ist nicht weit, aber es hat sich da etwas ergeben, was nicht vorauszusehen war.« Sie erzählte ihrem Mann, was Harald Gottschalk ihr berichtet hatte.

»Was es nicht alles gibt«, meinte Alexander kopfschüttelnd.

»Mehr weißt du darauf nicht zu sagen?«

»Was soll man dazu schon sagen? Wir wissen doch, wie Kinder sind, und nach euren Erzählungen ist Dodo ein sehr phantasievolles Kind. Ich wäre dafür, sie schnellstens zu holen, bevor es Komplikationen gibt.«

»Frau Pahlen ist Psychologin, wie Harald mir sagte.«

»Du liebe Güte. Will sie die Seele des Kindes erforschen? Hier wird Dodo den Zwischenfall schnell vergessen, dafür werden wir schon sorgen.«

»Ich weiß nicht, Alexander. In ihrer Vorstellung hat Dodo sich ein Bild von ihrer Mutter geschaffen. Ihre echten Erinnerungen sind nur verschwommen. Der Tod ihres Großvaters belastet ihre kindliche Seele zusätzlich. Ich mache mir Sorgen.«

»Wenn du keine hast, dann machst du dir welche«, sagte Alexander gutmütig. »Wenn es eine gute Psychologin ist, wird sie es Dodo geschickt beibringen, dass sie nicht ihre Mutter ist. Und wenn dein Harald ein guter Arzt ist, wird er sich nicht bei der Psychologin einnisten, sondern schnellstens mit Dodo herkommen.«

»Er ist nicht mein Harald«, konterte Denise. »Er ist ein guter Arzt und ein guter Mensch. Er wird dir auch gefallen.«

Harald gefiel Julia immer mehr. Sie war betroffen darüber, denn eigentlich hatte ihr bisher nur ein Mann gefallen, und den wollte sie heiraten. Er hieß Franco Gilles und war Journalist, und als sie nun auf die Uhr blickte, fiel ihr ein, dass er bald kommen müsste. Sie wusste nicht so recht, wie sie ihm die Anwesenheit eines fremden Mannes erklären sollte. Sie konnte Harald Gottschalk doch nicht einfach in das Gästezimmer schicken und zu ihm sagen: »Hören Sie, mein Verlobter kommt. Ich möchte mit ihm allein sein.«

Sie wollte das nämlich gar nicht, und als sie sich dessen bewusst wurde, errötete sie. Wenn wenigstens Felicia hier wäre, dachte sie, aber da läutete es schon. Franco kam.

Harald vernahm die Männerstimme. Julia sprach sehr leise. Er konnte nicht verstehen, was sie sagte. Ein Unbehagen überfiel ihn bei dem Gedanken, dass es in ihrem Leben einen Mann gab, und er konnte sich dieses Unbehagen nicht erklären. Er fühlte sich hier sehr überflüssig und es war ihm ausgesprochen peinlich, diesem Mann zu begegnen.

Julia stellte ihn nicht als ihren Verlobten vor. Auch sie war unsicher, Franco Gilles jedoch in keiner Weise.

Er sah sehr gut aus und war überaus charmant. »Julia hat mich schon von Ihrem Missgeschick unterrichtet«, sagte er leichthin. »Auf diese Weise lerne ich auch mal einen Mann aus dem hohen Norden kennen.«

Seinem eigenen Aussehen nach musste er aus einem südlichen Land stammen. Harald erfuhr auch sogleich, dass er Spanier sei. Allerdings sprach er ein fast akzentfreies Deutsch. Er bestritt die Unterhaltung allein, und Harald fragte sich immer wieder, wie Julia Pahlen und dieser Mann zueinander standen, wie eng sie miteinander verbunden wären. Etwas in ihm wehrte sich gegen diese Vorstellung, und jäh begriff er, dass er ihm Julia nicht gönnte.

Dodos Anwesenheit hatte Julia Franco noch nicht erklärt, und sie fand einfach keine Gelegenheit dazu. So lebhaft hatte sie Franco noch nie gesehen, und sie fragte sich, ob er wohl demonstrieren wolle, welche Rolle er in diesem Haus und in ihrem Leben spielte.

Und da rief Dodo laut nach ihr, mit diesem Wort, das ihr schon so vertraut war: »Muttichen!«

Francos Augen weiteten sich verblüfft.

»Erklären Sie es ihm, Dr. Gottschalk«, sagte Julia rasch. »Ich gehe zu Dodo.«

*

Dodo streckte die Arme nach ihr aus. Julia hatte die Tischlampe brennen lassen, sie aber abgedunkelt. Sie konnte sehen, wie sehnsüchtig die Augen des Kindes leuchteten.

»Ich höre eine fremde Stimme«, sagte Dodo. »Ist Besuch da?«

»Ja, ein Bekannter«, erwiderte Julia.

»Großväterchen hatte fast nie Besuch. Nur Tante Isi hat manchmal mit ihm Tee getrunken. War das anders, als du noch bei uns warst, Muttichen?«

»Dodo, mein Kleines, ich war nie bei euch«, sagte Julia mit belegter Stimme.

Dodo reagierte ganz anders, als sie erwartet hatte. Ein sinnender Ausdruck kam in ihre Augen.

»Du hast es vergessen«, sagte sie leise. »Es wird so gewesen sein wie bei Hinnerk. Er hatte auch sein Gedächtnis verloren. Frag Onkel Harald. Er hat ihn wieder gesund gemacht. Hinnerk konnte sich auch an nichts mehr erinnern, als er an Land geschwommen war, und du bist viel länger geschwommen. Wie lange eigentlich?«

Julias Kehle wurde eng. Mit Tatsachen konnte sie Dodo nicht beikommen, das fühlte sie. Das Kind war zu sehr verstrickt in ihre Gedanken. Sie suchte für alles, was sie sagen würde, eine eigene Erklärung. Aber vielleicht ließen sich die Probleme lösen, wenn sie darauf einging.

»Nein, ich kann mich an nichts erinnern, Dodo«, erklärte sie.

»Auch nicht an mich?«

»Nein, auch nicht an dich.«

»Hinnerk hat mich zuerst auch nicht erkannt. Er wollte mich erst gar nicht sehen. Du wirst dich an alles erinnern, wenn du das Haus wieder

siehst, Großväterchens schöne Sachen und das Meer. Oder willst du das Meer nicht wiedersehen? Bist du deshalb nicht zurückgekommen? Ich habe auch immer ein bisschen Angst vor dem Meer gehabt, aber nur, weil ich geglaubt habe, dass es dich verschluckt hat. Hinnerk hat immer gesagt, dass nur Männer auf See sterben.«

»Manchmal auch Frauen, Dodo«, sagte Julia.

»Nie ist bei uns eine Frau auf See gestorben«, sagte Dodo sehr bestimmt. »Und du hattest doch eine Schwimmweste. Ich weiß, dass du eine hattest und auch einen Rettungsring. Du wirst dich schon wieder an alles erinnern«, fügte sie zuversichtlich hinzu.

Eine lähmende Angst überfiel Julia. Sie nahm Dodo in die Arme und drückte sie an sich. »Ich heiße Julia Pahlen und lebe schon lange hier«, sagte sie fast beschwörend, spürte aber zu ihrem Erschrecken, dass ihre Stimme gar nicht überzeugend klang.

»Mir ist es ganz gleich, wie du heißt«, sagte Dodo, »und wenn du dich auch gar nicht mehr erinnern kannst, ist es mir auch gleich. Ich habe dich wieder.«

Eine Ahnung keimte in Julia, dass ihr Leben fortan mit dem des Kindes verstrickt sein würde, denn sie konnte sich nicht von dem Bann befreien, in dem sie gefangen war, als die weichen Lippen sich an ihre Wange pressten.

»Du bist noch viel schöner als früher«, flüsterte Dodo, »aber dein Haar ist noch genau so.«

*

»Na, Muttichen?«, fragte Franco ironisch, als sie wieder das Zimmer betrat. Julia sah nicht ihn an, sondern Harald, und sie bemerkte, wie sich sein Gesicht versteinerte.

»Spotte nicht«, sagte sie ungehalten. »Mir ist nicht danach zumute.«

»Du darfst es nicht auch noch komplizieren, Julia«, sagte Franco mahnend. »Dr. Gottschalk hat mir die Geschichte erzählt. Ich begreife dein Mitgefühl mit diesem kleinen Geschöpf, aber…« Er unterbrach sich.

»Aber!«, fragte Julia. »Nun weißt du wohl auch nicht weiter? Ich auch nicht. Ich habe versucht, Dodo begreiflich zu machen, dass ich nicht ihre Mutter bin, aber sie nimmt es nicht zur Kenntnis.« Sie sah wieder Harald an, dessen Wangenmuskeln in unterdrückter Erregung zuckten. »Sie hat von Hinnerk gesprochen, der sein Gedächtnis verloren hatte«, fuhr sie fort. »Und nun meint sie, dass ich mein Gedächtnis auch verloren habe.«

»Ein interessanter Fall«, warf Franco ein. »Die Psychologin fühlt sich auf den Plan gerufen.«

Julia warf ihm einen flammenden Blick zu. »Nicht die Psychologin. Die Frau«, erwiderte sie.

Francos Gesicht verdüsterte sich. »Julia ist eine Kindernärrin«, sagte er zu Harald. »Da haben Sie eine fatale Situation heraufbeschworen.«

»Er hat gar nichts«, sagte Julia kühl. »Es wäre besser, wenn du mich mit Dr. Gottschalk allein lassen würdest, Franco.«

»Wie du wünschst«, sagte Franco lässig. »Ich denke, dass du wieder vernünftig werden wirst, wenn dein Besuch morgen fort ist.«

»Ich bedaure das alles sehr«, sagte Harald gequält. »Ich sollte mit Dodo lieber in ein Hotel gehen.«

»Aber nein«, sagte Franco leichthin. »Julia würde es mir nie verzeihen, Sie verjagt zu haben.«

»Das kannst du nicht. Es ist mein Haus«, erklärte Julia aggressiv.

Es kam ihr vor, als hätte sie Franco noch nie so nüchtern betrachtet wie jetzt, und was sie sah, gefiel ihr plötzlich nicht mehr.

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und Harald sagte: »Es tut mir wirklich leid.«

Julia warf den Kopf zurück. »Herrgott, können Sie nichts anderes sagen, als dass Sie es bedauern und es Ihnen leid tut, hier zu sein?«

»Ich bereite Ihnen nur Unannehmlichkeiten«, sagte er schwerfällig.

»Weil Franco in seiner männlichen Eitelkeit gekränkt ist, über meine Entscheidungen nicht bestimmen zu dürfen?« Sie lachte auf. »Ich bin nicht mit ihm verheiratet. Und selbst dann würde ich meine Entscheidungen selbst treffen.«

»Aber Sie wollen ihn doch heiraten«, stieß Harald hervor.

Ihre Augen verdunkelten sich. »Vielleicht«, erwiderte sie ausweichend. »Dodo ist jetzt wichtiger. Sie werden sich entschließen müssen, mir alles zu erzählen.«

»Ich werde morgen mit Dodo Ihr Haus verlassen«, sagte Harald. »Wozu wollen Sie sich noch mehr mit dem Schicksal des Kindes belasten?«

»Sie sind Arzt«, sagte Julia betont, »und wenn ich auch noch nicht viel praktische Erfahrung in meinem Beruf habe, so weiß ich doch soviel, dass Dodo einen seelischen Knacks davontragen könnte, der nicht wieder zu beheben ist, wenn ich sie einfach gehen lasse, wenn ich sie von mir schiebe, als wäre nichts gewesen. Wir müssen das verhindern. Wir beide gemeinsam, Herr Dr. Gottschalk, wenn Ihnen etwas an diesem Kind liegt.«

»Wie stellen Sie sich das vor?«, fragte er leise.

»Noch weiß ich es nicht. Wie lange kennen Sie Dodo?«

»Seit ihrer Geburt.«

»Dann erzählen Sie mir alles von diesem Tag an, jede Kleinigkeit, an die Sie sich erinnern können.«

Sie hätte ihm nicht erklären können, warum sie dies alles wissen wollte.

*

Harald konnte sich nicht erinnern, jemals soviel geredet zu haben wie an diesem Abend, der nun schon längst in die Nacht überging. Nicht ein einziges Mal unterbrach ihn Julia.

Sie hatte eine Flasche Wein geholt, schweigend Gläser auf den Tisch gestellt und sich wieder, ihm gegenüber, in ihrem Sessel niedergelassen.

Seine Gehemmtheit hatte sich gelöst, auch sein Gesicht war entspannt. Es verwirrte ihn nicht mehr, als sie ihn unverwandt anblickte. Wenn ihre Blicke sich trafen, hielt er inne und ließ Sekunden verstreichen, bis er fortfuhr.

Es war ihm, als würde er sie lange kennen, und er spürte den brennenden Wunsch, dass diese Nacht nie ein Ende nehmen möge. Er war sich bereits völlig im klaren darüber, dass diese Frau sein Leben bedeutsam verändert hatte.

Und auch Julia war sich klar darüber, dass sie an einem Wendepunkt ihres Lebens stand.

»Ich glaube nicht, dass Sie etwas geändert hätten«, sagte Julia nun. »Er hätte sie sterben sehen und wäre wohl eines Tages allein hinausgefahren, um nicht mehr wiederzukommen. Für Dodo wäre dann alles noch schlimmer gewesen.«

»Aber sie hätte gewusst, dass ihre Mutter nicht zurückkommt, wie sie auch weiß, dass Wilm Brodersen nie mehr zurückkommen wird.«

»Sie sollten sich keine Vorwürfe machen. Alles im Leben hat seine Bestimmung. Wir wollen Einfluss darauf nehmen und können es nicht. Ich wollte heute gar nicht das Haus verlassen. Ich wollte arbeiten. Es ist wohl manchmal ein schicksalhafter Zwang, dass ein Mensch zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein muss.«

»Damit sind die Probleme nicht gelöst«, sagte Harald. »Ich kann nur hoffen, dass sie sich in Sophienlust lösen.«

»Vielleicht ist das möglich«, erklärte Julia nach längerem Schweigen.

Ihre Blicke tauchten wieder ineinander, und plötzlich geriet sie in Verwirrung.

»Sie sollten jetzt schlafen, Dr. Gottschalk«, stieß sie hervor.

Er erhob sich mechanisch. Eine tiefe Resignation überfiel ihn. Es war ihm, als wolle sie bewusst eine Mauer aufrichten, die sie nun wieder trennte, nachdem sie sich doch schon so nahe gewesen waren.

Er folgte ihr die Treppe hinauf. Leichtfüßig erklomm sie die Stufen, aber seine Füße waren bleischwer. Sie reichte ihm die Hand, als sie die Tür geöffnet und das Licht angeknipst hatte. Er spürte, wie diese Hand bebte, als er sie ergriff, und mehr noch verspürte er den Wunsch, nicht diese Hand zu küssen, sondern Julias Mund, der rätselhaft lächelte.

Völlig benommen lehnte er sekundenlang an der Wand, nachdem sich die Tür zwischen ihnen geschlossen hatte, und er wusste nicht, dass sie draußen auch Halt suchte, weil alles vor ihren Augen verschwamm.

*

Dodo war erwacht, als ihre Hand unbewusst Hannibals Kopf berührte. Er betrachtete dies wohl als eine Aufforderung, sich bemerkbar zu machen und begann ihr nacktes Ärmchen zu lecken.

Dodo setzte sich im Bett auf. »Wo ist Muttichen, Hannibal? Wir haben sie doch gesehen. Wir haben das nicht nur geträumt«, sagte sie.

Sie glitt vom Bett auf den Boden. Ihre nackten Füße versanken in dem weichen Fell, von dem Hannibal sich erhoben hatte.

»Bring mich zu ihr, Hannibal«, sagte Dodo. »Bring mich zu Muttichen.«

Hannibal bewegte sich zögernd zur Tür, so, als wäre er sich nicht schlüssig, auch diesmal ihrem Befehl zu gehorchen, wie er es sonst tat.

Dodo drückte leise die Klinke hernieder. Der Gang war dämmrig. Das fahle Morgenlicht kroch durch ein schmales Fenster, aber Dodo konnte sich in dem fremden Haus nicht zurechtfinden.

Sie nahm Hannibal am Halsband. »Such, Hannibal, such Mutti«, sagte sie.

Stufe für Stufe ging sie vorsichtig die Treppe hinunter. So vorsichtig, wie Hannibal auch. Und dann stand in einer Tür, wie aus dem Boden gewachsen, eine Gestalt in hellem, langem Morgenmantel.

Dodo hob den Kopf und verspürte einen stechenden Schmerz hinter der Stirn.

*

»Du hast wohl Hunger, Dodo?«, fragte Julia.

»Eigentlich schon. Haben wir dich aufgeweckt?«

Julia wollte es nicht zugeben, weil sie fühlte, dass es Dodo betrüben würde.

»Ich stehe immer früh auf«, erwiderte sie ausweichend.

»Ich auch«, sagte Dodo. »Ganz früh. Ich bin mit Hannibal dann immer zum Meer gegangen.«

»Aber du mochtest doch das Meer gar nicht so sehr«, sagte Julia.

»Ich habe doch immer gewartet, dass du wiederkommst«, flüsterte Dodo. »Wo ist hier das Meer, Muttichen?«

»Hier gibt es kein Meer, Dodo.«

Dodos Gesichtsausdruck veränderte sich. »Ich will jetzt auch gar nicht wissen, wie du hierhergekommen bist«, erklärte sie. »Und wir brauchen auch nicht von früher zu reden, wenn du dich doch nicht erinnern kannst. Ich bin froh, dass Hinnerk recht behalten hat, und ich dich wieder habe.«

Niemand wird es ihr ausreden können, dachte Julia. Aber wie soll es nun weitergehen? Sie dachte an Harald, und ihr Blut begann schneller zu pulsieren. Aber sie wollte diesen Gedanken, vor dem sie erschrak, nicht zu Ende denken.

»Wie lange hast du Hannibal?«, fragte sie.

»Schon lange. Ich weiß es nicht mehr genau. Onkel Harald wird es wissen.«

»Hast du Onkel Harald gern?«

Dodo schien sich über diese Frage zu wundern. »Freilich habe ich ihn lieb«, sagte sie.

»Wolltest du nicht bei ihm bleiben?«

Dodo rührte in ihrem Kakao und schleckte dann den Löffel ab. »Wenn du gekommen wärest?«, meinte sie unbestimmt. »Aber wir können ja Tante Isi besuchen und dann wieder zusammen heimfahren.«

»Nein, Dodo, das geht nicht«, sagte Julia rasch.

Dodos Stirn kräuselte sich wie immer, wenn sie angestrengt nachdachte. »Du möchtest überhaupt nicht mehr am Wasser wohnen?«, fragte sie beklommen.

Darauf konnte Julia endlich einhaken. »Nein, das möchte ich nie mehr«, erwiderte sie. »Und außerdem muss ich arbeiten.«

»Warum?«

»Weil ich Geld verdienen muss, mein Kleines.«

Dodo nickte tiefsinnig. »Weil wir keinen Vati mehr haben«, sagte sie ernsthaft. Doch darüber schien sie keine weiteren Worte mehr verlieren zu wollen. Sie sprach von allem Möglichen, aber nicht mehr vom Meer, vom Großvater und dem früheren Leben. Die Zeit verging so rasch, dass Julia unruhig wurde, und schmerzhaft deutlich wurde ihr bewusst, dass jede Minute, die verrann, sie dem Abschied näherbrachte. Sie wollte diesen Abschied nicht mehr. Sie wünschte sich, dass Dodo immer bei ihr bleiben möge.

*

Es war acht Uhr vorbei, als Harald sich bemerkbar machte. Julia vernahm seine Schritte und ging schnell hinaus. Dodo machte gar keinen Versuch, ihr zu folgen.

Julias Gesicht war blass wie Elfenbein, als sie vor Harald stehenblieb. Sie sah ihn flehend an.

»Sagen Sie bitte nichts. Ich bringe es nicht fertig. Nein, ich kann es ihr nicht ausreden.«

»Aber was soll ich tun? Sie kann doch nicht hierbleiben.«

»Sie werden mit ihr nach Sophienlust fahren, und ich werde meine Angelegenheiten regeln. Ich habe ihr gesagt, dass ich arbeiten muss, und daran können wir anknüpfen. Das Kind ist unwahrscheinlich vernünftig. Ich muss nur alles überdenken, damit ich nichts falsch mache. Wir werden alles besprechen, wenn Sie zurückkommen.«

»Soll ich denn noch einmal kommen?«, fragte er heiser.

»O ja!« Es klang fast wie ein Aufschrei. Ihre Blicke tauchten ineinander und hielten sich fest.

»Julia«, sagte er leise, und in seiner Stimme schwang eine tiefe Zärtlichkeit.

Seine Hände hoben sich, und es sah aus, als wolle er sie in die Arme nehmen, aber er traute sich nicht.

Dodo war eine Weile recht schweigsam gewesen. Ihre Augen wanderten zwischen Julia und Harald unentwegt hin und her.

»Mutti muss arbeiten, Onkel Harald«, sagte sie plötzlich. »Hätte Großväterchen das erlaubt?«

»Ich denke schon. Es ist manchmal nötig, dass man arbeitet.«

»Um Geld zu verdienen.«

»Deswegen ist es auch besser, wenn Onkel Harald dich nach Sophienlust bringt«, warf Julia ein. »Für einige Zeit.«

»Für wie lange?«, fragte Dodo.

»Bis ich meine Doktorarbeit beendet habe.«

Dodos Augen weiteten sich staunend. »Wirst du auch ein Doktor?«

»So etwas Ähnliches.«

»Da hat man sehr wenig Zeit«, sagte Dodo. »Da muss man manchmal sogar nachts aus dem Bett, wenn ein Baby auf die Welt kommt. Und weit muss man fahren.«

»Julia wird ein Seelendoktor«, sagte Harald.

»Ich weiß, was eine Seele ist«, sagte Dodo. »Großväterchen hat es mir erklärt. Eine Seele kann nicht sterben. Sie bleibt zurück. Sie wird zu einer Blume oder zu einem Baum.«

Harald stand auf. »Ich muss mich jetzt um den Wagen kümmern«, sagte er tonlos.

»Wenn er fertig ist, müssen wir dann gleich fahren?«, fragte Dodo. »Wann musst du arbeiten, Muttichen?«

»Wir brauchen nichts zu überstürzen«, sagte Julia.

Sie begleitete Harald zur Tür. Hilflos sah sie ihn an. »Ich bin Dodo nicht gewachsen«, flüsterte sie.

»O doch, besser jedenfalls als ich. Aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

Sie hätte es gewusst, in diesem Augenblick ganz genau, und sie fürchtete, dass ihre Augen es verrieten. Wenn sie den Mut dazu gehabt hätte, hätte sie ihn geküsst.

Wahrscheinlich dachten sie das gleiche, denn eine atemraubende Spannung war zwischen ihnen, und Harald ging dann sehr schnell fort.

Es war kurz vor neun, als es läutete, und da Julia dachte, Harald käme zurück, eilte sie rasch zur Tür. Sie war schneller dort als Felicia, aber sie wich zurück, als Franco vor ihr stand.

Sie wich so weit zurück, dass sie Dodo fast umgestoßen hätte. Völlig verwirrt beugte sie sich zu dem Kind herab und nahm es in die Arme.

»Habe ich dir weh getan?«, fragte sie.

»Nein.« Dodo sah den Mann an. Ihre Lippen pressten sich fest aufeinander.

»So früh am Morgen, Franco?«, fragte Julia abweisend.

»Ich mag ihn nicht«, sagte Dodo laut. »Was will er von dir, Muttichen?«

Sie musste wohl eine Antenne haben, dass Franco eine Gefahr bedeuten konnte. Julia kroch ein Frösteln über den Rücken.

»Warum so aggressiv, junge Dame?«, fragte Franco. Er streckte die Hand nach Dodo aus, aber wie ein Pfeil schoß Hannibal dazwischen und kläffte ihn an.

»Platz, Hannibal«, sagte Dodo, und dann warf sie Julia einen traurigen Blick zu.

»Hast du ihn lieber als mich?«, fragte sie schluchzend.

Franco sah sie mindestens ebenso gespannt an, wie die kleine Dodo. Er begriff, dass Julias Antwort über ihr gemeinsames Leben entscheiden würde.

Aufgewühlt blickte Julia von einem Gesicht zum anderen, sie fühlte sich zerrissen. Doch sie sah erneut in die Gesichter und konnte den Kummer in Dodos Gesichtchen nicht ertragen. Tröstend nahm sie die Kleine in die Arme. Franco biss grimmig die Zähne aufeinander. Er hatte verstanden – auch ohne Worte.

In seinem männlichen Stolz zog er es vor, sich gleich zu verabschieden, er würde nie um die Liebe einer Frau betteln und auch nicht gegen ein Kind kämpfen.

Das Schicksal hatte es anscheinend entschieden, er spürte, hier gab es nichts mehr für ihn zu tun. Steif verabschiedete er sich.

Harald hatte alles mit verfolgt.

»Ich glaube, wir sollten jetzt nach Sophienlust fahren, Dodo«, sagte Harald heiser. »Tante Isi und Henrik werden warten.«

Das hatte Harald Gottschalk nun wirklich nicht ahnen können, dass die Reise nach Sophienlust einen so dramatischen Verlauf nehmen würde, der alles auf den Kopf stellte, was bisher sein und auch Dodos Leben bestimmt hatte. Diese Autopanne noch einen Zufall zu nennen, vermochte er nicht. Und dass die Begegnung mit Julia nur eine Episode bleiben würde, glaubte niemand, der bei diesem Abschied zugegen war.

Zuerst sträubte sich Hannibal wirklich mit Haut und Haaren, im Auto Platz zu nehmen, dann wanderte Dodo von einem Arm in den andern, und zuguterletzt der lange Händedruck zwischen Harald und Julia, der so viel verriet.

Dodo kletterte zu Hannibal auf den Rücksitz. Beide pressten ihre Nasen an die Fensterscheibe. Hannibal jaulte in den höchsten Tönen, und Dodo schluchzte leise vor sich hin.

Mit tränenblinden Augen sah Julia dem Wagen hinterher. Diese Begegnung hatte ihr Leben aus den Angeln gehoben.

*

»Willst du dich nicht zu mir setzen, Dodo?«, fragte Harald, als sie etwa zehn Minuten gefahren waren und das leise Schluchzen langsam verstummte.

»Doch, ich möchte schon«, sagte Dodo. »Ich habe soviel mit dir zu bereden.«

Er hielt an, und sie setzte sich nach vorn. Hannibal war zwar beleidigt, aber er streckte sich dann lang aus und schloss die Augen.

»Ich bin sehr traurig«, begann Dodo stockend, als Harald wieder anfuhr.

»Da wird Henrik aber sehr betrübt sein.«

»Ich kann es ihm erklären, warum ich traurig bin«, sagte Dodo. »Meinst du, dass wir eine Menge Geld für das Fernrohr bekommen könnten, wenn wir es verkaufen? Es ist sehr wertvoll, hat Großväterchen immer gesagt.«

»Warum willst du es verkaufen?«, fragte er überrascht.

»Damit Muttichen nicht soviel zu arbeiten braucht. Großväterchen wäre bestimmt auch damit einverstanden. Er hätte es gar nicht gern, wenn sie arbeiten muss. Ach, wenn ich doch nur mal mit ihm reden könnte. Warum kann man mit einer Seele eigentlich nicht reden, Onkel Harald?«

Er war gewöhnt, dass sie so wunderliche Fragen stellte, doch auf diese wusste er keine Antwort. Ihm saß ein Kloß in der Kehle.

»Das kann man wohl nicht erklären?«, fragte Dodo nachdenklich.

»Nein, das kann man nicht erklären.« Nichts, was zwischen gestern und heute geschehen war, konnte man erklären, auch seine Gefühle nicht.

»Ich mag Tante Isi und Henrik wirklich gern«, begann Dodo von neuem, »aber sie werden doch verstehen, dass ich lieber bei Muttichen sein will, nicht wahr, Onkel Harald?«

»Sicher würden sie das verstehen«, erwiderte er ausweichend. »Aber es wird dir in Sophienlust bestimmt gefallen.«

»Das mag schon sein. Bekomme ich ein eigenes Zimmer?«

»Ja, ich denke schon.«

»Ich habe nämlich viel nachzudenken, und da brauche ich Ruhe«, erklärte sie.

In einer anderen Situation hätte er über diese Bemerkung bestimmt lächeln müssen, aber jetzt konnte er es nicht.

»Brauchst du eigentlich viel Geld, Onkel Harald?«, fragte Dodo weiter.

»Eigentlich nicht.«

»Verdient ein Doktor viel?«

»Manche schon.«

Momentan war Dodo abgelenkt. »Hier gibt es auch Kühe«, stellte sie aufgeregt fest. »Schau mal, Onkel Harald. Sie sehen aber anders aus als ­unsere Kühe. Sind die hier gescheiter?«

»Wieso meinst du das?«, fragte er, froh, dass sie das Thema wechselte.

»Weil sie nicht auf die Straße laufen. Unsere Kühe sind ziemlich dumm.«

»Bei uns ist auch nicht so viel Verkehr«, sagte Harald.

»Kann eine Seele eigentlich auch ein Tier werden?«, fragte sie nun wieder.

Ihm wurde es wieder schwer ums Herz. Vielleicht hatte der gute Wilm Brodersen doch etwas zu viel getan, mit diesem Kind schon tiefsinnige Gespräche zu führen. Harald fragte sich, was er wohl auf solche Fragen geantwortet hatte.

»Was meinst du, würde Großväterchen gesagt haben?«, fragte er.

»Er hat mir immer eine schöne Geschichte erzählt, wenn er auch keine Antwort wusste«, erklärte Dodo. »Aber wenn Mutti Seelendoktor wird, weiß sie sicher auf alles eine Antwort.«

Oh, Julia, dachte Harald, du weißt nicht, was auf dich zukommt. Er dachte nicht an rechtliche Dinge. Er wusste ganz genau, dass Julia nicht ruhen würde, dieses Kind für immer zu sich zu nehmen, und eine leise Hoffnung keimte in ihm, dass er dann auch zu ihnen gehören würde.

Als Sophienlust vor ihnen lag, verstummte Dodo. Mit großen staunenden Augen betrachtete sie den herrlichen Besitz.

»Das ist ja wie ein Schloss«, sagte sie ehrfürchtig. »Ist das auch bestimmt Sophienlust?«

Harald sah sie forschend an. Sie war so tief beeindruckt, dass er überlegen musste, ob sie sich nicht doch durch diese Umgebung ablenken ließ und das Zusammensein mit anderen Kindern alle anderen Sehnsüchte mit der Zeit zum Schweigen bringen würde.

Nun waren sie da, und Henrik kam angelaufen. »Dodo, endlich« rief er laut, und vielleicht hatte er sich ihre Freude gewaltiger vorgestellt, denn er schaute ziemlich enttäuscht drein, besonders deshalb, weil Hannibal sich gar nicht aus dem Wagen bequemen wollte. Ihm war das zu viel. Dauernd sollte er sich an einen anderen Platz gewöhnen. Vorwurfsvoll sah er Dodo an, als diese ihn aufforderte, endlich herauszukommen.

»Er kennt mich gar nicht mehr«, sagte Henrik gekränkt.

»Er wollte wohl lieber auch bei Muttichen bleiben«, sagte Dodo leise, und Denise, die es hörte, sah Harald fragend an.

Sie schloss das Kind in die Arme. »Nun bist du endlich da, mein Kleines«, sagte Denise liebevoll. »Es war wohl eine aufregende Reise.«

Mit verklärten Augen blickte Dodo zu ihr empor. »Ich habe meine Mutti wiedergefunden«, sagte sie.

Henrik sah sie fassungslos an.

*

Gelassen, wie selten ein Kind, ging Dodo an Henriks Seite durch die Räume von Sophienlust. Sie fand alles sehr schön, aber es war ihr doch deutlich anzumerken, dass sie sich nur als Besuch fühlte und Sophienlust nicht als ihre Heimat betrachten wollte, so, wie es Wilm Brodersens Wille gewesen war.

Denise musste an den letzten Willen des alten Mannes denken, als Harald ihr alles im einzelnen erzählte. Sie, die nicht unmittelbar in dieses Geschehen verstrickt war, betrachtete es mit Abstand.

»Ich weiß, wie sehr man von dem Schicksal eines Kindes angerührt werden kann«, bemerkte sie. »Aber wie Sie sagen, Harald, ist Julia Pahlen eine junge Frau mit beruflichen Ambitionen. Es muss sich erst mit der Zeit herausstellen, wie tief sie wirklich von dieser Begegnung mit Dodo beeindruckt wurde. Ich sehe das etwas nüchterner. Man wird auch von einem Drama beeindruckt oder von einem spannenden Film und fühlt sich für eine Zeit beteiligt an dem Geschehen. Doch dieser Eindruck verflüchtigt sich, wenn man wieder auf dem Boden der Wirklichkeit steht und von seinem Alltag gefangengenommen wird. Was Dodo anbetrifft, so wird auch sie von der Vielfalt der Eindrücke, die nun auf sie einstürmen, abgelenkt werden. Sie ist ein Kind, und Kinder vergessen rasch, wenn sie nicht in ihrer gewohnten Umgebung sind und durch vertraute Dinge ständig erinnert werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass sie ständig mit ihrem Großvater, mit Mintje und Krischan beisammen war und dass auch Sie in diese Welt gehörten. So rührend diese Zuneigung auch sein mag, die Dodo zu Julia Pahlen fasste, möchte ich doch meinen, dass sie abgeschwächt wird, wenn sie erst länger hier ist.«

Doch diesmal sollte sich Denise von Schoenecker getäuscht haben. Dodo war eben ein besonderes Kind, und das wurde ihnen allen schon am ersten Tag bewusst.

*

Denise schlug vor, dass Dodo bei ihnen in Schoeneich wohnen solle, doch das wollte Dodo nicht.

»Ich möchte in Sophienlust bleiben«, erklärte sie bestimmt und enttäuschte Henrik damit noch mehr.

Sie hatte Habakuk kennengelernt und sich eine Weile mit ihm unterhalten. Sie freute sich, dass sie ihn verstehen konnte und noch mehr, als er ›Dodo‹ sagte. Henrik hatte es ihm schon beigebracht.

Henrik hatte alles getan, um seiner kleinen Freundin den Anfang in Sophienlust so leicht wie möglich zu machen. Jedes der Kinder kannte Dodo schon aus seinen Erzählungen.

Sie begrüßte Pünktchen und Nick wie gute Bekannte, denn von den beiden hatte sie durch Henrik auch schon viel erfahren.

Hannibal wurde bewundert. Er schritt gravitätisch einher und blieb immer an Dodos Seite, als hätte er Angst, er könne auch von ihr getrennt werden.

Als Dodo Denise fragte, ob sie ein eigenes Zimmer für sich allein bekommen würde, disponierte Denise schnell um. Sie hatte nicht vermutet, dass dies Dodos Wunsch sein würde, und eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass Dodo lieber in Henriks Nähe bleiben wollte. Sie hatten sich in Schoeneich darauf eingerichtet, und Alexander hatte sich schon damit abgefunden, noch ein Kind um sich zu haben. Er war eigens nicht nach Sophienlust gekommen, um Dodo in Schoeneich zu empfangen.

Er war also erstaunt, als Denise mit Harald, Henrik und Nick, aber ohne Dodo kam.

»Dodo wollte in Sophienlust bleiben«, sagte Denise.

»Sie ist ziemlich anders als früher«, bemerkte Henrik brummig. »Sie redet dauernd von ihrem Muttichen.«

Ihm war das alles unklar, aber Denise gab ihm keine ausreichende Erklärung dafür. Sie war selbst mit ihren Gedanken, die sie sich darüber machte, beschäftigt.

»Es ist ein bisschen viel auf Dodo eingestürmt«, sagte sie nur. »Das musst du verstehen, Henrik.«

Es war sehr schwer für ihn, das zu verstehen. Irgendwie ahnte er wohl, dass der Sommer mit Dodo und Hannibal nur noch eine schöne Erinnnerung sein würde.

»Jedes Kind braucht Zeit zum Eingewöhnen«, erklärte Nick.

»Bei anderen Kindern verstehe ich das schon. Die kommen ganz fremd her«, sagte Henrik, »aber Dodo kennt uns doch, und ich habe ihr viel von Sophienlust erzählt. Sie hat sich doch auch so gefreut, wenn sie bei uns sein darf.«

Doch da hatte es noch keine Julia Pahlen in Dodos Leben gegeben.

Auch der Abschied von Harald musste sein. Dodo machte mit ihm und Hannibal noch einen langen Spaziergang. Ganz fest hielt sie seine Hand.

»Ich habe dich ganz schrecklich lieb, Onkel Harald«, sagte sie leise.

»Ich dich auch, Dodo.«

»Es wäre mir viel lieber, wenn du nicht so weit weg wärst, und Mintje auch. Mintje wird wohl staunen, wenn du ihr von Mutti erzählst. Du besuchst doch Mutti noch mal?«

»Ja, ich besuche sie«, erwiderte er mit schwerer Stimme.

»Ich könnte wieder richtig froh sein, wenn wir alle beisammen wären«, erklärte sie kummervoll und sehnsüchtig.

Wenn sie jetzt nur nicht wieder mit der Seele anfängt, dachte er, doch dies blieb ihm erspart. Dodos Denken war auf die Lebenden ausgerichtet.

»Tante Isi hat hier viele Kinder. Sie wird mich nicht so vermissen«, fuhr Dodo fort. »Pünktchen will nicht wieder weg. Sie sagt, dass es nirgends schöner ist als in Sophienlust. Es ist auch schön, aber in einem kleinen Haus, wo wir allein sind, ist es doch schöner. Ob Tante Isi das kränkt, wenn ich es sage?«

»Sie versteht alles, mein Kleines«, beruhigte er sie.

»Ich möchte auch alles verstehen können«, meinte Dodo. »Aber wenn man klein ist, geht das nicht so.«

»Du sollst nicht soviel denken, du sollst lieber fröhlich sein.«

»Ich bin auch fröhlich, aber dann muss ich wieder denken. Hinnerk hat gewusst, dass ich Mutti wiederfinde, aber niemand hat ihm geglaubt. Auch Mintje nicht. Sie hat mir nie geantwortet, wenn ich sie gefragt habe. Aber nun weiß sie, dass Hinnerk doch recht hatte.«

Und wenn sich all ihre Wünsche doch nicht erfüllen lassen? überlegte Harald. Vielleicht hatte der Alltag, von dem Denise gesprochen hatte, Julia schon wieder gefangengenommen. Er hatte Angst vor der zweiten Begegnung mit ihr.

*

Dodo war tapfer, bis die Schlusslichter seines Wagens ihren Augen entschwanden, dann begannen die Tränen zu fließen. Sie legte ihre Arme um Hannibals Hals und schluchzte in sein Fell hinein.

»Wein doch nicht, Dodo«, bat Henrik.

»Lass mich doch weinen, dann tut der Kopf nicht so weh.« Das war auch eine Erklärung.

»Tut das noch weh?«, fragte er und tippte auf die Stelle, die von ihrem Fall herrührte und sich bläulich färbte.

»Nein, drinnen tut’s weh«, sagte sie.

Es war schon manchmal recht schwer, Dodo zu verstehen. Droben am Meer war es leichter gewesen für Henrik, denn da waren sie immer allein. Doch hier schwirrten die anderen Kinder herum, und er wollte doch lieber spielen als bei einer traurigen Dodo sitzen.

Sie mochte seine Gedanken ahnen, denn sie sagte: »Spiel doch ruhig, ich muss nachdenken.«

Es machte ihm fast ein bisschen Angst, sich so von ihr durchschaut zu sehen. Das konnte eigentlich nur seine Mami.

»Ich würde gern spielen«, sagte er stockend.

»Ja, geh nur, ich bin dir nicht böse. Die Kinder sind alle sehr nett.«

»Und warum spielst du nicht mit uns, Dodo?«

»Weil ich jetzt überlegen muss, warum Onkel Harald nicht mein Vater ist«, erwiderte sie.

Das brachte Henrik völlig aus der Ruhe. Über so seltsame Reden musste er mit seiner Mami sprechen.

Auch Denise schien zu ahnen, was in ihm vor sich ging. »Wo ist Dodo?«, fragte sie, als er ins Büro gestolpert kam.

»Sie muss überlegen, warum Onkel Harald nicht ihr Vati ist«, platzte er heraus. »Wie findet man denn das, Mami?«

Ja was sollte man davon halten? Auch für Denise war es nicht einfach, sich in Dodos Gedankengänge zu finden.

»Sie hat ihn eben lieb«, erklärte sie.

»Früher hat sie aber nie gesagt, dass sie ihn als Vati möchte.«

»Da hatte sie auch noch ihr Großväterchen, aber vielleicht hat sie sich das auch damals schon so gedacht.«

Damals! Der Sommer schien so fern zu liegen. Auf den Bäumen färbten sich die Blätter gelb, und der Wind blies sie über die Wege. Und doch waren erst ein paar Wochen vergangen, seit sie mit den Kindern am Meer gewesen war.

Unwillkürlich dachte sie an jene Nacht, in der Hinnerk gestorben war, und sie vermeinte seine Stimme zu hören, die davon sprach, dass Dodos Mutter wiederkommen würde.

Aber Julia Pahlen war nicht Frauke. Sollte dennoch etwas Wahres an Hinnerks Worten gewesen sein, und diese fremde Frau Dodo wie eine Mutter in die Arme nehmen?

Als Harald vor Julias Haus hielt, klopfte sein Herz so heftig, dass es ihm fast den Atem raubte. Er hatte zuvor noch ein Geschenk für sie besorgt und Rosen, herrlich rote Rosen, und nun, da er die Hand auf die Klingel legte, fragte er sich, ob es ein Abschiedsgeschenk sein würde.

Doch dann stand Julia in der Tür. Ihre Augen weiteten sich, und ein Leuchten ging über ihr Gesicht. Es war ein Augenblick atemloser Spannung und betäubend in seiner beglückenden Gewissheit, als sie in seine Arme fiel.

Die Rosen fielen ihm aus der Hand, er hielt sie umschlungen, er küsste sie, und sie erwiderte seine Küsse. Seine Sehnsucht ging in Erfüllung, so unbegreiflich ihm das auch erschien.

Sie wussten, dass sie sich liebten. Es konnte wirklich kein Zweifel daran bestehen.

Es war ein Wunder, das er nicht zu fassen vermochte. Nichts in seinem Leben hatte so viel Bedeutung wie diese Frau, die er in seinen Armen hielt und niemals mehr verlieren wollte.

»Julia!« Voller Zärtlichkeit sprach er ihren Namen aus, und allein das war schon eine Liebeserklärung.

»So gefällt mir mein Name«, sagte sie mit schwingender Stimme.

»Hat er dir früher nicht gefallen?«, fragte er.

»Nicht so.«

»Ich liebe dich.«

Er dachte es nicht nur. Er hatte es ausgesprochen. Tatsächlich, er hatte diese drei Worte ausgesprochen, er, der seine Gefühle doch so schlecht in Worte kleiden konnte.

»Wie kann man sich nur so sehr lieben«, sagte Julia nachdenklich. »Es ist wundervoll, Harald. Plötzlich ist die ganze Welt voller Wunder.« Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und küsste ihn gleich wieder in überströmender Zärtlichkeit.

»Bleib bei mir«, flüsterte sie. »Geh nicht wieder fort. Ich hatte solche Angst, dass du nicht wiederkommen würdest.«

»Ich komme wieder«, sagte er. »Wir werden einige Entscheidungen treffen müssen, Julia.«

Sie hatte viel nachgedacht in dieser Nacht, und ihre Gedanken waren bereits in der Zukunft gewesen. Jetzt wurde Wirklichkeit, was in der Nacht noch Träume gewesen waren.

»Könntest du dir vorstellen, hier, in diesem Haus, mit Dodo und mir zu leben?«, fragte sie. »Weit und breit ist kein Arzt.«

Er dachte an sein Haus, an Mintje, an die schwerblütigen Menschen, denen er vertraut war.

»Du könntest dir nicht vorstellen, am Meer zu leben?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht, Harald. Ich müsste wohl immer an Frau Brodersen denken. Ich will, dass Dodo mein Kind ist.«

»Du willst es wirklich?«

»Du, Dodo und ich – ich habe in dieser Nacht nichts anderes gedacht. Egal, welche rechtlichen Schwierigkeiten es geben wird, ich werde sie überwinden.«

»Das brauchst du nicht. Ich bin ihr Vormund. Sie denkt nur an dich.«

»Muss ich sie in Sophienlust lassen?«, fragte Julia.

»Für eine Weile«, erwiderte Harald. »Bis ich alles geordnet habe. Wir wollen gemeinsam unser Leben beginnen.«

»Hier?«

Er schloss die Augen. Weg vom Meer, von den Menschen, mit denen er gelebt hatte, aber weg auch von den Erinnerungen, von den Toten.

»Ja«, erwiderte er.

Er bog ihren Kopf zurück und legte seine Lippen auf ihren Mund.

»Wir können im Sommer ans Meer fahren«, flüsterte Julia.

»Nein.« Er sagte es sehr bestimmt. »Es wird ein Abschied für immer sein, Julia. Ein Abschied von allem.«

Sie ahnte, dass es ein schmerzlicher Abschied für ihn würde, doch jetzt war es für sie ein Beweis seiner Liebe zu ihr.

*

Dodo lag in ihrem Bett. Nein, es war nicht ihr Bett. Sie war nur zu Besuch in Sophienlust. Das Bett in Muttis Haus war ihres, es war breiter gewesen, und die Kissen hatten einen feinen Duft verströmt. Diese Kissen rochen nur nach frischer Luft. Nicht nach dem Meer, sondern nach Tannen.

Hannibal lag vor ihrem Bett. Pünktchen hatte ihr gesagt, dass die Hunde eigentlich nicht im Zimmer schlafen dürften. Es ginge nicht an, dass jedes Kind einen Hund bei sich im Zimmer halten wolle, und weil meistens zwei Kinder in einem Zimmer schliefen, wären das auch zwei Hunde.

Dodo sah das ein, aber um keinen Preis der Welt wollte sie sich von Hannibal trennen. Er war alles, was ihr jetzt noch geblieben war, bis sie wieder bei Mutti sein konnte.

»Muttichen«, flüsterte sie, und sofort hob Hannibal den Kopf und spitzte die Ohren.

»Wir müssen noch warten, Hannibal. Mutti muss noch arbeiten«, sagte Dodo. »Sie wird bestimmt erlauben, dass du immer bei mir im Zimmer schläfst.«

Es sollte kein Vorwurf für Tante Isi sein oder für Pünktchen oder jemand anderen, der erklärte, dass Hunde nicht in ein Schlafzimmer gehörten. Großväterchen hatte es auch nicht gewollt, dass Hannibal in ihrem Zimmer schlief. Ganz heimlich hatte er sich immer hereingeschlichen und oft erst, wenn sie schon eingeschlafen war.

Sie sah Großväterchen vor sich, wie er in seinem Lehnstuhl saß und sie sah sich zu seinen Füßen. Bei diesem Gedanken schlief sie ein. Die Traumwelt ergriff Besitz von ihr. Großväterchens Stimme tönte aus weiter Ferne an ihr Ohr. Sie konnte nicht verstehen, was er sagte. Es war ein Raunen, und dann klang es wie das Rauschen des Meeres, und sie sah ein Segelboot auf den Wellen tanzen.

An der Reling stand eine wunderschöne Frau. Ihr blondes Haar wehte im Wind. Sie hatte das Gesicht abgewandt und die Hand ausgestreckt. Die Hand deutete zum Himmel empor. Ein dunkler Schatten war neben ihr. Es war ein Mann. Eine hohe Welle erfasste das Boot und verschluckte es.

Doch plötzlich war es wieder da und trieb dem Strand entgegen, dem Bootsteg, auf dem Dodo so oft gesessen hatte. Das Boot kam näher, und hell und klar zeichneten sich nun zwei Menschen ab. Ganz deutlich waren sie zu sehen. Der Mann sah aus wie Onkel Harald, und er hatte den Arm um die Frau gelegt, die ihr Haar zurück­strich und ihn ansah.

»Julia«, sagte er, »komm, Dodo wartet auf uns.«

Dodo wusste nicht, dass es ein Traum war. Sie erlebte es, und als sie am nächsten Morgen erwachte, war ihr alles noch so gegenwärtig, dass sie sich nicht zurechtfand. Erst als Pünktchen in ihr Zimmer kam, weil man schon vergeblich auf sie wartete, wusste sie, dass sie in Sophienlust war.

*

Während die anderen Kinder in der Schule waren, saß Dodo mit den jüngeren im Pavillon. Der Morgen war noch nebligtrüb und feucht, denn der Herbst kam nun mit Macht.

Neben Dodo saß ein kleiner dunkelhaariger Junge. Sein Name war Florian. Er malte fleißig, während Dodo noch immer versonnen zum Fenster hinausblickte.

»Warum malst du nicht, Dodo?«, fragte er.

»Was soll ich malen?«, fragte sie geistesabwesend.

»Ein Bild. Irgendein Bild. Wir können malen, was wir wollen.«

»Ich will nicht malen. Ich will schreiben.«

»Du kannst ja noch gar nicht schreiben«, sagte Florian.

»Ich kann wohl schreiben«, sagte Dodo laut.

»Sie bildet sich ein, dass sie schon schreiben kann«, schrie Florian.

»Ich bilde es mir nicht ein. Ich kann schreiben«, beharrte Dodo. »Und ich werde auch schreiben.«

»Schreib nur«, sagte Wolfgang Rennert, der die Aufsicht führte. Aber Dodo hatte niemand, der ihr die Buchstaben ansagen konnte. Sie grübelte nach, wie man wohl Julia schreiben mochte.

»Ätsch, kannst doch nicht schreiben«, sagte Florian.

Dodo warf ihm einen vernichtenden Blick zu, und dann schrieb sie groß und deutlich die Namen, die sie oft geübt hatte. ›Harald, Mintje, Hinnerk, Krischan.‹

Florian war verstummt, und Wolfgang Rennert stand hinter ihr und staunte. Aber Dodos Gedanken waren schon längst wieder weitergewandert zu Julia, der sie doch so gern einen Brief schreiben wollte. Und dann fiel ihr ein, dass niemand sie gelehrt hatte, Mutti zu schreiben. Mutti hat Frauke geheißen, dachte sie, warum hieß sie denn nun Julia? Auch wenn sie das Gedächtnis verloren hatte wie Hinnerk, der hatte seinen Namen doch noch gewusst.

»Kann man auch seinen Namen vergessen, Herr Rennert?«, fragte Dodo gedankenvoll.

»Das soll schon manchmal passiert sein«, erwiderte er lächelnd, denn er wusste nicht, worum es Dodo ging.

Nun begann sie zu malen. Sie blickte nicht auf. Ein Bild entstand unter ihren Fingern, das Wolfgang Rennert den Atem stocken ließ. Florian, der vorlaute kleine Bursche, konnte seinen Mund nicht halten.

»Du malst ganz anders als wir, Dodo«, stellte er fest.

»Ich denke auch anders als ihr«, erwiderte sie schlagfertig, und in diesem Augenblick kam Denise herein.

Dodo war ein klein wenig erschrocken, als sie ihr unvermittelt die Hand auf die Schulter legte.

Denise betrachtete gedankenvoll das Bild. Sie wusste, was es aussagen sollte, obgleich es wenig von kindlicher Naivität hatte. Alles zerfloß ineinander. Wasser, Himmel, Boot und Menschen.

»Weißt du, was es bedeuten soll?«, fragte Dodo.

»Ja, ich weiß es. Es ist wie ein Traum.«

Dodos Augen strahlten sie an. Sie nickte zustimmend und fragte dann: »Blonde Farben gibt es wohl nicht, Tante Isi?«

Auch jetzt wusste Denise sofort, was sie meinte. Ihr schwebte das Haar ihrer Mutter vor, oder sicher mehr noch Julia Pahlens Haar, denn Denise war überzeugt, dass Dodos Erinnerung an die Mutter genauso verschwommen war wie dieses Bild.

Florian kicherte. Dodo sah ihn mit einem nachsichtigen Lächeln an. »Ich weiß ja, dass du mich nicht verstehst«, sagte sie. »Aber Tante Isi versteht mich.«

»Sie hat großes Talent«, sagte Wolfgang Rennert später zu Denise. »Eine erstaunliche Ausdruckskraft.«

»Sie hat mehrere Talente«, sagte Denise. »Sie ist ein ungewöhnliches Kind. Sie lebt in einer Traumwelt.« Aus der sie hoffentlich nicht einmal abrupt herausgerissen wird, dachte sie.

Es war nicht so, dass Dodo ein Einzelgänger war. Sie hatte nur ihre besondere Art, mit den Kindern zu reden, und ihre eigene Art, sich an den Spielen zu beteiligen. Die andern begriffen, dass man sie nicht so necken konnte, wie es manchmal üblich war. Sie war nicht beleidigt, sie zog sich nur zurück. Sie zeichnete auch niemand aus, selbst Pünktchen nicht, und auch nicht Nick.

Es geschah auch, dass sie mitten unter dem Spiel Hannibal rief und dann mit ihm wegging. Meistens folgte ihr Henrik, und sie duldete es auch, dass er bei ihr blieb.

»Wir sprechen aber nicht über den Sommer«, sagte sie jedesmal. Und langsam begriff auch Henrik, dass sie nicht an ihr Großväterchen erinnert werden wollte, denn es war seltsam: je mehr die damalige Zeit ihr fernrückte, desto intensiver dachte sie an ihn.

*

Dr. Hagedorn hatte sich große Mühe gegeben, seinen Kollegen Dr. Gottschalk würdig zu vertreten, aber während der ersten drei Tage hatte er wenig zu tun. Plötzlich schienen selbst die Kinder, die zu der Zeit geboren werden sollten, wenig Neigung zu haben, ins Leben zu drängen.

Mintje machte sich ihre eigenen Gedanken darüber. Klaus Hagedorn war ein netter Mensch, aber er war eben nicht der Doktor. Es musste schon etwas ganz Verflixtes passieren, wenn diese Menschen hier ihn akzeptieren würden.

Er hatte bisher nur drei Patienten gehabt, und jeder von ihnen musste unbedingt ärtzlich versorgt werden, sonst wären wohl auch sie ausgeblieben.

An diesem Tag aber klingelte zum ersten Mal das Telefon. Frau Harvestede lag in den Wehen. Dr. Hagedorn musste über Land. Dreißig Kilometer weit musste er fahren, um ihr ärztlichen Beistand zu leisten.

»Halten Sie mir die Daumen, Mintje, dass alles gutgeht«, sagte er aufgeregt, als er seinen Koffer zum Wagen trug.

»Nur Mut«, munterte sie ihn auf, »es ist nicht das erste Kind. Sie sind auch eine ganz lustige Familie. Wenn es ein Junge wird, haben Sie einen Stein im Brett.«

»Leider kann ich das jetzt nicht mehr beeinflussen«, sagte er seufzend. Und gerade da näherte sich ein Wagen. Es war ein Modell, das gar nicht hierher passte. Ein knallroter Sportwagen mit sehr viel Chrom, das in der Sonne blinkte.

Er hielt neben seinem Volkswagen, und eine sehr schicke Dame entstieg ihm.

»Wohnt hier Dr. Gottschalk?«, fragte sie mit einer hohen, kühlen Stimme.

»Ja, er wohnt hier, aber er ist nicht da«, erwiderte Mintje. »Dr. Hagedorn ist sein Vertreter. Das ist er.«

»Ich möchte Dr. Gottschalk sprechen«, sagte die Fremde. »Wenn er nicht da ist, warte ich.«

»Da können Sie lange warten«, sagte Mintje bissig. »Er ist verreist.«

»Und wann kommt er zurück?«

»Weiß ich nicht«, sagte Mintje.

Dr. Hagedorn war höflicher. Er hatte eine schöne, elegante Frau vor sich, die ihre Aufmerksamkeit ihm zuwandte und Mintje geflissentlich übersah.

»Dr. Gottschalk wird Ende der Woche zurück sein«, erklärte er höflich.

»Frau Harvestedes Kind wartet nicht«, mahnte ihn Mintje.

»Entschuldigen Sie, gnädige Frau, die Pflicht ruft«, meinte Dr. Hagedorn bedauernd.

Er setzte sich in sein Auto und fuhr davon. Die Fremde aber blieb und folgte Mintje zum Haus.

»Mein Name ist Violet Clifford«, sagte sie. »Wo kann ich hier ein Zimmer bekommen?«

»Weiß ich nicht«, stieß Mintje hervor. »Es ist verlorene Zeit für Sie. Das wird der Doktor Ihnen auch sagen.«

»Ach, Sie kennen mich?«, fragte Violet mit einem anzüglichen Lächeln.

»Ich kenne Sie nicht«, sagte Mintje. »Ich will Sie auch gar nicht kennen.«

»Sie sind umwerfend freundlich«, bemerkte Violet sarkastisch. »Sind Sie Haralds Kindermädchen?«

Mintjes Miene drückte tödliche Verachtung aus. »Ich kenne Ihr Bild, aber er hat es längst verbrannt«, sagte sie grimmig. »Warum wollen Sie seine Ruhe stören?«

»Wer sagt Ihnen denn, dass er sich nicht freuen wird, mich wiederzusehen?«, fragte Violet.

»Ich«, erwiderte Mintje barsch.

Sie eilte ins Haus, schlug die Tür hinter sich zu, und Violet hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.

Sie setzte sich wieder in ihren Wagen und fuhr noch ein Stück weiter, vorbei an Käpt’n Brodersens Haus zum Dorf.

Sie hielt, als sie ein Schild sah, auf dem zu lesen stand: ›Zimmer zu vermieten‹.

›Pension Heidede‹ stand über der Tür des freundlichen Hauses mit dem Strohdach. Violet rümpfte die Nase, aber kurz entschlossen drückte sie auf die Klingel.

*

»Ich müsste einmal anrufen, ob alles gutgeht«, sagte Harald zu Julia.

»Ruf doch an, aber geh nicht so schnell wieder fort«, flüsterte sie.

Er umschloss ihr Gesicht mit beiden Händen. »Wir haben das Leben noch vor uns, Geliebte«, sagte er zärtlich. »Es beginnt erst. Und jeder Tag wird ein Geschenk sein.«

»Ob Mintje zu uns kommen wird?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube es nicht. Sie ist ganz verwurzelt.«

Julia sah ihn bekümmert an. »Trenne ich dich von allem, was dir lieb ist, Harald?«

»Du gibst es mir tausendfach zurück«, erwiderte er. »Ohne dich kann ich nicht mehr leben.«

»Ruf jetzt an. Ich mache inzwischen das Abendessen«, sagte Julia.

Sie hörte kein Wort. Sie wollte auch keines hören. Er sprach mit der Welt, in der er bisher gelebt hatte, und sie hatte Angst, dass diese Welt ihn doch noch zurückholen könnte. Sie wollte Mintje, von der er soviel gesprochen hatte, gern haben, und doch sträubte sich etwas in ihr dagegen. Sie wollte Harald nicht teilen. Er sollte ihr ganz gehören.

Er saß am Tisch, schon ganz in Gedanken versunken, als sie das Essen brachte.

»Irgendetwas scheint nicht in Ordnung zu sein«, sagte er. »Mintje war sehr eigenartig.«

»Vielleicht fühlt sie, dass du mit deinen Gedanken nicht dort bist«, sagte Julia.

»Ja, vielleicht fühlt sie es. Diese Menschen haben ein ganz feines Gespür. Es wäre schön, wenn Mintje sich entschließen könnte, doch mit mir zu gehen. Du hättest eine große Entlastung. Sie ist so bescheiden. So etwas findet man heutzutage nicht mehr so leicht. Und wir werden einmal nicht nur Dodo haben, Julia. Ich wünsche mir mehrere Kinder.«

»Wie viel?«, fragte Julia mit einem zärtlichen Lächeln.

»Drei oder vier?« Er schwieg ein paar Sekunden. »Bin ich nicht schon zu alt?«, fragte er gepresst.

Sie lachte leise. Ihre Arme legten sich um seinen Hals, und ihr Mund blühte ihm entgegen. Sie vergaßen das Essen, und er vergaß, dass Mintje so wirres Zeug dahergeredet hatte. Dr. Hagedorn sei eben zu Frau Harvestede gefahren und hoffentlich ginge alles gut. Wann er denn käme? Vielleicht sollte er doch noch ein paar Tage wegbleiben. Ja, bleiben Sie, kommen Sie nicht sobald zurück, hatte sie gesagt.

Aber das hatte er jetzt vergessen. Er sah in Julias Augen und war in ihrer Welt gefangen.

In der Nacht wurde es ihm bewusst, dass Mintje voller Angst gewesen war. Er war aufgeschreckt und konnte nicht mehr einschlafen.

Ein neuer Tag erwachte, als er sich erhob, nachdem vielerlei Gedanken durch seinen Kopf gegangen waren. Er ging zu Julias Zimmer.

Er beugte sich über sie, und seine Hand berührte ihr seidiges Haar. »Harald«, flüsterte sie schlaftrunken.

»Ich werde heute fahren, Liebes«, sagte er. »Jeden Tag, den ich früher fahre, werde ich früher zurück sein.«

»Wenn du es so siehst«, sagte sie, plötzlich hellwach.

»Ja, so sehe ich es. Auch Dodo wird Sehnsucht haben.«

»Meinst du, dass wir zu wenig an sie gedacht haben und zu viel an uns?«, fragte Julia.

Er presste seine Lippen an ihren Hals und spürte das Klopfen ihres Blutes. »Ich meine, dass wir ein Recht dazu hatten. Aber jede Stunde, die wir versäumen, wird eine verlorene Stunde sein.«

»Dann fahre und komm schnell zurück«, sagte Julia.

Der Kaffee stand auf dem Tisch, als er aus dem Bad kam. Julia war schon dabei, ihm Toasts zu streichen. Ganz intensiv nahm er alles in sich auf. Sie, in ihrem bunten Morgenmantel, das Geschirr, die handgestickte Decke. Als junges Mädchen hatte sie diese gestickt. Sie hatte es ihm erzählt. Für ihre Mutter. Doch bevor der letzte Stich getan war, war ihre Mutter längst gestorben und sie war allein zurückgeblieben.

Er kannte alle Stationen ihres Lebens, das viel kürzer war als seines.

Seine Hand legte sich auf ihre. »Sag Dodo, dass wir bald vereint sein werden«, flüsterte er.

Julia neigte ihren Kopf. »Morgen werde ich zu ihr fahren. Pass gut auf dich auf, Harald. Wir brauchen dich so sehr.«

»Heute darfst du mich nicht im Stich lassen«, sagte er, als er auf das Gaspedal trat. Damit meinte er seinen Wagen.

Julia stand in der Tür und hob grüßend ihre Hand. Er sah noch, wie sie die Finger an die Lippen legte und winkte zurück.

Er fuhr langsam an der Stelle vorbei, an der sie sich getroffen hatten, und lächelte in sich hinein. Nein, das war kein Zufall gewesen. Es war Schicksal. Er war glücklich. Es war einfach nicht zu fassen, dass es so viel Glück gab, eine Frau wie Julia, und eine Zukunft mit ihr und Dodo.

Er dachte nur noch an die Zukunft. Nicht einen Gedanken verschwendete er an die Vergangenheit und ahnte nicht, dass diese sich sehr lebendig in Erinnerung bringen sollte.

Er dachte auch nicht mehr daran, dass Mintje so eindringlich gesagt hatte, er solle noch bleiben. Er wollte schnellstens mit Dr. Hagedorn sprechen, ob er bereit sei, seine Praxis zu übernehmen.

*

Dr. Hagedorn schaute an diesem Tag viel fröhlicher drein. Der Bann war gebrochen. Frau Harvestede hatte ihren Stammhalter, und wenngleich er wirklich nicht sehr viel zu der glücklichen Geburt beigetragen hatte, so war man aber doch bereit, ihn nun anzuerkennen.

»Na also, was habe ich gesagt«, meinte Mintje, »ich kenne doch unsere Leute.« Doch während er über sein breites Gesicht strahlte, machte sie einen recht niedergeschlagenen Eindruck.

Sie hatte das Haus schon in aller Frühe verlassen und war hinuntergegangen zum Dorf, was sie sonst nie tat. Sie hatte nicht weit zu gehen brauchen, um den roten Wagen zu sehen, und auch noch ein anderer, ein silbergrauer, stand vor der Pension Heidede.

Gar nicht recht war es ihr, dass ihr auch noch Krischan in den Weg lief, der zudem noch recht redselig war.

»Hochbetrieb in der Pension«, sagte er. »Um diese Jahreszeit. Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu.«

Mintje schwieg. Nein, das ging nicht mit rechten Dingen zu. Sie musste ihm beipflichten.

»Eine ganz feine Städtische ist gekommen. Was die wohl will«, brummte Krischan weiter. »Fangen Sie jetzt etwa auch bei uns an, Ferienhäuser zu bauen. Wissen alle nicht mehr, wohin mit dem Geld. Sollen uns bloß nicht die Gegend verschandeln.«

»Ach was«, sagte Mintje. »Wäre gar nicht so übel, wenn hier auch ein bisschen mehr Geld herkäme. Alles geht an die holländische Küste. Kommst jetzt frühstücken, Krischan?«

Bald darauf war Krischan wieder unten am Wasser und Mintje allein. Der Doktor war schon wieder über Land. Nun riefen sie ihn.

Mintje schaute zum Küchenfenster hinaus. Wenn der Doktor bloß noch bleibt, dachte sie, wenn er nur nicht schon zurückkommt! Aber dieser Person war zuzutrauen, dass sie ausharrte. Was sie nur wollte?

Mintje wusste mehr von ihr, als sie zugegeben hätte. Sie wusste genau, was sie ihrem Doktor für Kummer bereitet hatte. Der Doktor selbst hatte es ihr einmal erzählt. Damals, vor elf Jahren, als er gekommen war und mit der Einsamkeit noch nicht fertig werden konnte.

Mintje hatte Angst und ein ganz gewaltiger Hass war in ihr auf diese Frau, die bestimmt nur gekommen war, um ihren Frieden zu zerstören.

*

In Sophienlust war Kapitän Brodersens Fernrohr aufgestellt worden. Lange hatte Denise überlegt, wo wohl der beste Platz dafür sei und sich dann für die Dachkammer entschieden, in der alte Möbel untergestellt waren. Nick hatte sie wohnlich eingerichtet. Er zog sich in neuester Zeit manchmal hierhin zurück, wenn er lernen musste. Man konnte von diesem Fenster aus auch ohne Fernrohr ziemlich weit schauen, aber durch dieses rückte alles ganz nahe heran. Das Schulhaus sah aus, als stünde es dicht vor ihnen, von der Kirchturmuhr konnte man die Zeit ablesen, die Ponys auf der Weide konnte man genau beobachten. Es war einfach himmlisch und für die Kinder ein überwältigendes Ereignis.

Dodo hielt sich im Hintergrund. Wehmutsvoll dachte sie an die Zeit, als sie noch zu Mintje in die Küche schauen konnte, und jetzt war sie traurig, dass sie nicht auch sehen konnte, was ihr Muttichen gerade machte. Alles andere interessierte sie nicht so sehr.

»Dodo!« Es war Denises Stimme, die nach ihr rief.

Dodo stieg sofort die Treppe hinab. »Ja, Tante Isi?«, fragte sie.

»Es ist Besuch für dich gekommen«, sagte Denise. »Geh in den Wintergarten.«

Dodo sah sie ungläubig an. Denise lächelte. Sie selbst blieb vor der Tür stehen und hörte Dodos Jubelruf: »Muttichen, mein Muttichen!«

Sie sah durch den Türspalt, wie Julia Pahlen das Kind auffing und an sich drückte, und wieder vermeinte sie Hinnerks Stimme zu hören: »Ich sehe, wie sie Dodo in den Armen hält. Sie werden es auch sehen, Madame.«

Es war nicht Frauke, es war eine andere blonde Frau, aber so, wie sie das Kind umfing, tat es eine Mutter.

Denise hatte sofort gewusst, dass es Julia Pahlen sein musste, als sie aus dem Wagen stieg. Sie hatte es gewusst, bevor Julia sich vorstellte.

»Darf ich Dodo besuchen?«, hatte sie gefragt. »Oder ist es Ihnen nicht recht, dass ich sobald komme?«

Alle Zweifel, die Denise gehegt hatte, schwiegen, als sie in dieses klare Gesicht blickte, und als sich ihre Hände zu einem festen Druck fanden, wussten sie beide, dass sie sich mochten.

»Ich werde Dodo rufen«, sagte Denise. »Später können wir uns unterhalten.«

Jetzt war sie überflüssig. Dodo war glücklich. Die Wehmut war aus ihrem Gesichtchen gewichen. Ihre Augen leuchteten wie Sterne, und ihre kleinen Finger streichelten immer wieder Julias Gesicht.

»Mein allerliebstes Muttichen«, sagte sie zärtlich.

»Meine allerliebste kleine Dodo«, flüsterte Julia. »Ich hatte Sehnsucht nach dir.«

»Auch soviel wie ich?«

»Bestimmt ebenso viel.«

Draußen jaulte Hannibal in den höchsten Tönen. Er gebärdete sich wild vor Freude, als Julia ihn begrüßte. Er rannte sie und Dodo fast über den Haufen.

»Wie er sich freut«, sagte Dodo. »Er hatte auch Sehnsucht nach dir.«

Für Dodo blieben an diesem Tag keine Wünsche offen. Sie war ganz gewiss das glücklichste Kind in Sophienlust.

»Würde es dir gefallen, wenn wir drei beisammen wären, Dodo?«, fragte Julia, nachdem sie erst nur beiläufig über Harald gesprochen hatte.

»Will es Onkel Harald?«, fragte Dodo staunend.

»Ja, er will es.«

»Ich habe es geträumt«, sagte Dodo sinnend. »Ich habe gedacht, dass es schön wäre. Aber kann er denn fort? Und was macht Mintje dann?«

»Es wird sich alles finden. Wirst du solange in Sophienlust bleiben?« Es fiel ihr schwer, diese Frage zu stellen, denn jetzt würde sie sich gern über Haralds Wunsch hinwegsetzen und Dodo mit sich nehmen.

»Wie lange?«, fragte Dodo gedankenvoll.

»Bis Harald und ich heiraten.«

Ob Dodo nun nicht doch an ihren Vater dachte? Forschend ruhten Julias Augen auf dem Kindergesicht. Sie konnte nicht ergründen, was hinter dieser glatten Stirn vor sich ging.

»Dann ist er nicht mehr Onkel Harald, sondern mein Vati?«, fragte Dodo.

»So wünschen wir es uns«, sagte Julia.

Dodo atmete tief auf. »So wünsche ich es mir auch«, erklärte sie.

Sie gingen nebeneinander. Julia hatte die kleine Hand fest umschlossen.

»Warum heißt du jetzt Julia, Mutti?«, fragte Dodo sinnend. »Gefällt dir Julia besser als Frauke?«

»Was gefällt dir besser?«, fragte Julia beklommen.

»Mutti«, erwiderte Dodo. »Es ist besser, wenn wir gar nicht mehr an früher denken.«

»Ja, vielleicht ist es besser, Dodo.«

»So, wie es jetzt ist, ist es schön«, sagte Dodo. »Großväterchen hat immer gesagt, dass ich an heute denken soll, nicht an gestern. Hast du Großväterchen auch liebgehabt?«

Julia hatte ihn nicht gekannt und doch war er ihr vertraut. Es fiel ihr gar nicht schwer zu sagen: »Ja, ich habe ihn liebgehabt.«

»Er würde sich freuen, dass ich dich habe«, sagte Dodo.

Ein eigentümliches Gefühl bewegte Julia. Dodo hatte gesagt, dass ich dich habe – nicht, dass ich dich wiederhabe. Kannte sie die Wahrheit und wollte sie diese nur verdrängen? Sie beugte sich zu Dodo und zog sie ganz fest an sich.

»Ich habe dich sehr lieb«, flüsterte sie. »Ich bin froh, dass ich dich gefunden habe.«

Dodo lächelte verklärt. »Ich habe dich gefunden«, sagte sie. Die Frage, was sie wirklich wusste oder ahnte, blieb offen. Julia wollte nicht mehr daran rühren. Sie wusste nur eines ganz gewiss: Sie wollte Dodo nie mehr hergeben.

»Wenn es dir lieber ist, werde ich Frauke heißen«, sagte sie und war im Innersten bereit, sich so nennen zu lassen.

»Nein, Muttichen. Wenn Onkel Harald Julia sagt, klingt es so schön. Er hat gesagt: Komm, Julia, Dodo wartet auf uns.«

»Wann hat er das gesagt?«, fragte Julia bebend.

»In meinem Traum«, erwiderte Dodo.

*

Mintje sah verweint aus, als Harald kam. »Nanu, was ist denn los?«, fragte er erschrocken. »Hat Dr. Hagedorn etwas verbockt?«

»Nein.«

Mintje drehte am Schürzenzipfel. Es fiel ihr schwer zu sprechen. Sie schluckte immer wieder die aufsteigenden Tränen herunter, aber dann wurde sie doch von einem Schluchzen geschüttelt.

Harald, noch im Vollgefühl seines Glückes, schüttelte den Kopf. »Beruhige dich, Mintje, und dann schütte dein Herz aus«, sagte er. »Ich habe dir auch eine Menge zu erzählen.«

Er wollte sich erst den Reisestaub abspülen und verschwand sogleich im Bad. Als er herauskam, läutete es.

»Warum machst du nicht auf, Mintje?«, fragte er.

»Ich mache nicht auf«, stieß sie hervor. »Und Sie machen auch nicht auf.«

»Aber, Mintje, was hast du denn nur?«, wunderte er sich, um selbst zur Tür zu gehen.

»Machen Sie nicht auf«, schrie Mintje. »Sie ist es.« Doch da hatte Harald schon die Tür geöffnet, und Violet stand vor ihm.

»Ja, sie ist es«, sagte sie mit einem verzerrten Lächeln. »Bring mal deinen Hausdrachen zur Räson, Harald.«

Das Blut war aus seinem Gesicht gewichen. »Du?« Mehr brachte er nicht hervor.

»Ich, mein lieber Harald. Freust du dich nicht? Ich bin wieder da, deine Violet.«

»Du bist betrunken«, sagte er mühsam.

Sie kicherte albern. »Vor lauter Kummer, dass ich so lange auf dich warten musste, habe ich ein Schlückchen getrunken«, lallte sie.

»Oh, mein Gott«, sagte er tonlos.

Sie taumelte vorwärts und krallte ihre Fingernägel in seine Schultern. Seine Finger schlossen sich um ihre Handgelenke. Er schleuderte sie von sich, und sie taumelte zurück. Sie fand keinen Halt und fiel. Mit dem Kopf schlug sie an der Tischkante auf, und dann sank sie auf den Teppich. Dort blieb sie liegen.

Mintje stand in der Tür. »Ich habe es gewusst«, sagte sie, »das Unglück kommt mit ihr ins Haus. Ich habe es gewusst. Aber Sie wollten nicht auf mich hören.«

»Sie hat sich verletzt«, sagte Harald mit tonloser Stimme, aber noch immer rührte er sich nicht.

»Wenn sie nun tot ist«, jammerte Mintje, aber da kam Leben in ihn.

»Sei still, sei um Gottes willen still«, herrschte er sie an. Dann kniete er neben Violet nieder.

»Bring mir meinen Koffer, Mintje«, befahl er.

»Ich rühre keinen Finger für sie«, sagte Mintje. »Keinen Finger!«

Er holte den Koffer selbst. Er hob Violet empor und bettete sie auf das Sofa. Er zog eine Injektion auf, aber als er ihren Arm entblößte, fiel sie ihm aus der Hand.

*

Der zornige Ausdruck in Mintjes Augen wurde von Furcht verdrängt. Sie zitterte am ganzen Körper.

»Nimm dich zusammen und mach mir einen Kaffee«, sagte Harald.

Sie reagierte automatisch. Sie machte die Tür fest hinter sich zu. Harald untersuchte Violets Kopf.

Ihr Atem wurde kräftiger. Er wusste, dass sie bald zu sich kommen würde, und er fragte sich, was sie von ihm wollte.

Die Tür tat sich wieder auf, und Mintje erschien mit dem Kaffee.

»Ob Onkel Harald jetzt schon zu Hause ist, Muttichen?«, fragte Dodo. »Was wird Mintje sagen?«

»Ich weiß es nicht, mein Liebling.«

»Meinst du, dass sie auch zu uns kommen wird?«

Es war seltsam, aber Dodo dachte nicht einen Augenblick daran, dass sie zu ihm gehen könnten.

»Mintje will vielleicht wegen Krischan nicht weg«, fuhr Dodo fort. »Er muss sich sonst das Essen immer allein machen. Er ist schon ziemlich alt.«

Sie fragte jetzt auch nicht mehr, ob Julia diesen oder jenen kenne. Sie gab sich nur ihren eigenen Betrachtungen hin.

»Mintje ist eigensinnig«, erklärte Dodo. »Was sie nicht will, das will sie nicht. Großväterchen war auch so. Alle sind so. Schau mal, Muttichen, der Abendstern«, schweifte sie ab. »Der steht immer über Onkel Haralds Haus. Hier steht er über Sophienlust. Wie kommt das?«

»Weil der Himmel so fern ist, Dodo.«

»Es gibt viele Dinge, die man nicht verstehen kann, nicht wahr, Muttichen?«

»Ja, Dodo.«

»Und manches möchte man auch gar nicht verstehen«, sagte das Kind leise.

Harald hatte Violet ein Beruhigungsmittel geben wollen, aber sie wehrte sich und schrie. »Du willst mich umbringen. Du wolltest mich vorhin schon umbringen. Er wollte mich umbringen.« Das war an Mintje gerichtet.

»Sie sind betrunken«, sagte Mintje hart. »Ich habe Sie gewarnt.«

Sie lachte schrill. »Er hat mich gestoßen. Er wollte, dass ich falle.«

»Spiel nicht verrückt, Violet«, sagte Harald. »Es zündet nicht mehr bei mir.«

Sie warf sich zurück. »Ich habe Schmerzen«, jammerte sie. »Gib mir eine Spritze. Du weißt schon, was für eine.«

»Du hast schon ein bisschen zu viel davon«, sagte er kalt. »Bist du deshalb gekommen? Hast du keinen mehr gefunden, der dir das Zeug besorgt hat? Hier gibt es nichts. Man braucht es nicht.«

Violet sah Mintje an. »Warum lassen Sie es zu, dass er so mit mir redet?«, fragte sie. »Er ist ein Mörder. Er hat Dave umgebracht. Merken Sie es sich: Er hat Dave umgebracht. Er soll dafür büßen.«

Harald stand hinter ihr. Er sah Mintje beschwörend an. Und sie sah, wie er jetzt eine Injektion aufzog.

Violet schien gar nicht zu spüren, wie die feine Nadel in ihre Vene drang. Sie sagte immer wieder: »Er hat Dave umgebracht, er hat Dave umgebracht.«

Und dann war sie plötzlich still.

»Sie wird jetzt schlafen«, sagte Harald. »Wenn sie aufwacht, wird sie nüchtern sein.«

»Sie ist süchtig«, sagte Mintje. »Was hast du ihr gespritzt?« In ihrer Aufregung duzte sie den Doktor.

»Nur ein Beruhigungsmittel. Oder denkst auch du, ich will sie umbringen?«

»Dann müsstest du verrückt sein. Mord vor einem Zeugen«, sagte Mintje schockiert. »Ich wusste, dass sie gefährlich ist.«

*

»Dave war mein Bruder«, begann er stockend. »Hans-David Gottschalk, gestorben im Alter von einundzwanzig Jahren an einer Überdosis Heroin. Niemand konnte ihn retten. Ich war bei ihm, als er starb. Es war furchtbar. Elf Jahre habe ich gebraucht, um es zu überwinden, und als ich endlich wieder Glück empfinden konnte, musste sie kommen. Wird es jetzt noch für mich ein Leben mit Julia geben?«

Sie waren in die Küche gegangen. Mintje wollte sich entfernen, aber Harald hatte sie gebeten zu bleiben.

»Du musst alles wissen, Mintje«, hatte er gesagt.

Sie machte sich am Herd zu schaffen. Sie setzte Wasser auf.

»Sprich weiter, Harald«, sagte sie bebend. In all den Jahren war er wie ein Sohn für sie geworden.

»Wird Julia mich verstehen?«, fragte er. »Ich konnte es ihr nicht sagen.«

»Ich wüsste nicht, warum sie dich nicht verstehen sollte«, sagte Mintje spontan.

»Ich war mit Violet verlobt«, fuhr Harald fort. »Vier Wochen waren wir verlobt.« Seine Stimme klang abgehackt. Man spürte, dass er sich widerwillig daran erinnerte. »Mein Vater war im diplomatischen Dienst in der Türkei. Dave war bei ihm. Er schrieb mir, dass Dave nicht gesund sei und er ihn zu mir schicken wolle. Ich war Assistenzarzt an einer großen Klinik. Dave kam.«

Klirrend stellte Mintje Gläser auf den Tisch, gab Zucker hinein und Rum und goss das kochende Wasser auf.

»Er war süchtig«, sagte Harald. »Mein Vater hatte es nicht gewusst, aber ich sah es sofort. Ich war so töricht zu glauben, dass ich ihn heilen könnte. Ich bat Violet, auf ihn aufzupassen, wenn ich im Dienst war. Und wie hat sie auf ihn aufgepasst!« Er stöhnte. »Ich habe sie nicht richtig gekannt. Ich wusste nicht, dass sie alles ausprobieren musste. Sie machte alles schlimmer. Aber das merkte ich erst, als es zu spät war. Dave hatte sich in sie verliebt. Er war ihr hörig. Er kaufte ihr alles, was sie wollte. Sie hatte bald heraus, dass sie alles von ihm verlangen konnte, wenn er im Rausch war, und sie beschaffte ihm Heroin.«

»Das kostet Geld«, warf Mintje ein.

»Davon hatten wir genug«, erklärte Harald voll Bitterkeit. »Viel zu viel. Dave war mündig. Er konnte über sein Konto verfügen. Ich hatte dies alles nicht bedacht. Ich habe versagt.«

»Rede dir das doch nicht ein. Süchtige sind nicht aufzuhalten«, sagte Mintje.

»Dave starb in meiner Wohnung. Violet war da. Er wollte, dass ich ihm eine Spritze gebe. Ich gab sie ihm nicht. Da sagte sie, ich hätte ihn umgebracht. Sie wusste, dass sie nun nicht mehr alles bekommen würde, was sie sich wünschte. Sie wollte mich erpressen, da rief ich die Polizei an. Violet war ihnen keine Unbekannte mehr. Sie wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Für mich hatte es keine Folgen, als ich meine Stellung kündigte. Seit dieser Zeit lebe ich hier. Und nun hat sie mich gefunden.«

»Was wirst du jetzt tun?«, fragte Mintje.

»Sie in eine Entziehungsanstalt bringen. Jetzt ist sie süchtig.«

»Weißt du, wohin du sie bringen kannst?«, fragte Mintje besorgt.

Harald nickte nur stumm.

»Wo nur Dr. Hagedorn bleibt«, meinte Mintje, als der Wagen davonfuhr. »Es wird ihm doch nichts passiert sein?«

Er kam wenig später, todmüde und kaum fähig zu sprechen. »Es war eine schwere Geburt«, sagte er. »Liegt noch etwas vor, Mintje?«

»Nein, es ist alles in Ordnung«, erwiderte sie, aber ihre Stimme zitterte noch immer.

»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte Mintje den Arzt.

»Wenn ich auch einen Grog haben könnte?«, fragte er, die Gläser auf dem Tisch betrachtend. Er hatte ja keine Ahnung, welche dramatischen Situationen sich hier abgespielt hatten.

»Sofort«, sagte Mintje.

Dr. Hagedorn nahm sein Glas und verschwand mit einem kaum noch vernehmbaren Gutenachtgruß.

»So ist es meinem Doktor oft ergangen«, sagte Mintje leise zu sich selbst. »Und nun? Was wird nun?«

*

Für Dodo brachte der Morgen ein schönes Erwachen. In dem anderen Bett, das in ihrem Zimmer stand, schlief Julia, zwischen ihnen lag Hannibal.

Er hob den Kopf und blinzelte, als Dodo leise aus ihrem Bett stieg. Nicht das leiseste Geräusch machte sie. Auf Zehenspitzen schlich sie zu Julias Bett und blieb still davor stehen. Unverwandt betrachtete sie das gelöste Gesicht.

Eine ferne Ahnung kam ihr, dass sie mehr wünschte, Julia sei ihre Mutti, als dass sie es tatsächlich war. Aber der Wunsch war stärker als jeder Zweifel, und nun hatte sie die Gewissheit, dass Julia ihre Mutter sein wollte. Allein das war wichtig.

Wie von ungefähr waren Dodos Erinnerungen gekommen an die Zeit, als sie manchmal zu ihrer Mutti ins Bett kriechen durfte. Sie hatte oft im Bett gelegen. Dodo hatte sie dann ganz genau betrachtet. Unterhalb ihres linken Ohrläppchens befand sich ein kleiner runder Leberfleck. Sie hatte immer wissen wollen, woher der kam, und den suchte sie bei Julia vergebens.

Sie konnte jetzt die linke Seite ihres Gesichtes genau sehen. Die Morgensonne, die zum Fenster hereinfiel, lag genau auf ihrem Gesicht. Aber eine Haarsträhne lag über der Wange. Vielleicht verdeckte die das Pünktchen? Ganz behutsam strich Dodo die Strähne zurück.

Julia seufzte und schlug die Augen auf. »Dodo«, flüsterte sie, »wie spät ist es denn schon?«

»Noch nicht spät«, sagte Dodo. »Die Kinder schlafen noch. Darf ich zu dir ins Bett kriechen?«

»Na, dann kriech mal«, sagte Julia.

Dodo war blitzgeschwind neben ihr. Sie kuschelte ihren Kopf an Julias Schulter.

»Du riechst so gut«, sagte sie. »So riecht dein Bett auch.« Ganz still lagen sie eine Weile nebeneinander. Dodo blickte unentwegt auf Julias linke Wange. Sie konnte keinen Leberfleck entdecken.

»Möchtest du, dass ich dein Kind bin?«, fragte sie.

Julias Arm legte sich noch fester um sie. »Du bist doch mein Kind.«

»Für immer?«, fragte Dodo.

»Für immer«, erwiderte Julia.

Dodo küsste sie auf die Stirn, auf die Augen und auf die Wangen. »Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer.

»Du sollst es aber glauben, Dodo.«

»Ich bin dein Kind für immer«, sagte Dodo andächtig.

*

Denise wusste nicht, wie ihr geschah, als Dodo ihr entgegengestürmt kam und sie umarmte.

»Ich danke dir, Tante Isi. Ich danke dir so sehr«, sagte sie.

»Wofür denn, Dodo?«

»Dass Mutti bei mir schlafen durfte.«

»Wenn es dich nur freut«, sagte Denise weich und streichelte ihr Köpfchen.

»Es war ein so schöner Morgen«, sagte Dodo. »Ihr seid alle so lieb. Darf ich dir mein Bild schenken, Tante Isi?«

»Das würde mich sehr freuen.«

»Du magst es doch wirklich? Ich könnte dir auch ein anderes malen. Eines, wo die Sonne scheint wie heute.«

»Ich mag das Bild sehr«, sagte Denise.

»Ich bleibe noch bei euch, bis Mutti und Onkel Harald heiraten. Da kann ich noch viele Bilder malen. Findest du es schön, dass Onkel Harald mein Vati wird?«

»Du könntest dir keinen Besseren wünschen, Dodo.«

Denise blickte Julia an, die nun langsam näherkam. Hannibal ging an ihrer Seite. Sie waren gestern nicht mehr dazu gekommen, ein Gespräch miteinander zu führen. Dodo war nicht von Julias Seite gewichen, so wie Hannibal jetzt. Aber es gab wohl gar nicht mehr viel zu reden. Mit sicherem Instinkt wusste Denise, dass Julia Pahlens Leben fortan unlöslich mit dem des Kindes verbunden sein würde. Und dazu Harald Gottschalk! Wenn diesmal Sophienlust auch nur eine nebensächliche Rolle spielte, so war doch der Weg hierher für Dodo zum Glück geworden.

»Ich habe Tante Isi schon gesagt, dass du Onkel Harald heiratest, Muttichen«, versicherte Dodo eifrig. »Ich durfte es doch sagen?«

»Ich freue mich«, sagte Denise. »Für Sie alle freue ich mich. Für dich natürlich auch, Hannibal«, fügte sie hinzu, als er sie mit der Nase stupste.

Denise dachte nicht daran, dass noch ein Schatten auf dieses Glück fallen könnte.

Dr. Hagedorn war sehr überrascht, Harald am nächsten Morgen im Sprechzimmer vorzufinden, denn auch Mintje hatte sich noch nicht blicken lassen, was ihn sehr besorgt stimmte.

»Sie sind schon zurück?«, fragte er.

Wäre Harald etwas mehr bei der Sache gewesen, so wäre ihm aufgefallen, dass es fast enttäuscht klang. Aber die zwei Stunden Schlaf, die er sich gegönnt hatte, reichten nicht aus, die Müdigkeit aus seinen Gliedern und seinem Kopf zu vertreiben.

»Sie waren gestern lange unterwegs«, sagte Harald. »Wie ging es denn so?«

Klaus Hagedorn lächelte flüchtig. »Eigentlich recht gut. Gestern war es ziemlich anstrengend. Frau Petersen hat Zwillinge bekommen.«

»Da wird die Freude aber groß sein«, sagte Harald, doch seine Stimme klang freudlos.

»Ich habe mich gerade richtig eingelebt«, bemerkte Dr. Hagedorn. »Man betrachtet mich nicht mehr als Fremden.«

Nun horchte Harald auf. »Setzen wir uns«, sagte er. »Oder machen wir uns erst einen Kaffee. Mintje muss sich ausschlafen. Sie ist sehr spät ins Bett gekommen.«

Aber nun war Mintje doch schon zur Stelle. Der Frühstückstisch war gedeckt. Sie verzog sich wieder in die Küche. Blass war sie und schweigsam.

»Ist sie krank?«, fragte Dr. Hagedorn.

»Nein, es hat nur einige Aufregungen gegeben«, erwiderte Harald ausweichend. »Das betrifft nicht Sie. Auch bei mir wird sich einiges ändern.«

Bin ich nicht zu voreilig, fragte er sich. Aber er wollte jetzt nicht an Violet denken, sondern an Julia.

Er trank einen Schluck Kaffee. Mintje hatte ihn besonders stark gemacht.

Er fühlte sich etwas wohler. »Sie kommen also gut zurecht?«, fragte er. Dr. Hagedorn nickte. Er hatte Appetit. Er holte nach, was er gestern versäumt hatte.

Harald schaute ihn sich genau an. Ein breites, flächiges Gesicht mit einer etwas kurz geratenen Nase, ein breiter Mund, der zum Lächeln aufgelegt war, mit kräftigen Zähnen. Die blauen Augen blickten freundlich und nicht kalt, wie es bei dieser Farbe leicht möglich war. Das blonde, schon etwas schüttere Haar ringelte sich über den Ohren.

Dr. Hagedorn war dreiunddreißig Jahre alt und hatte fünf Jahre Assistenzarztzeit hinter sich. Er wollte sich selbstständig machen, das wusste Harald von ihm, weil er sich gegen karrieresüchtige Kollegen nicht durchsetzen konnte. Nein, dazu war er zu gutmütig. Er war eigentlich der geborene Landarzt.

»Könnten Sie sich vorstellen, immer hier zu bleiben?«, fragte Harald beiläufig.

Dr. Hagedorns Kopf ruckte empor. Ein fast kindliches Staunen war in seinen Augen.

»Ja, das könnte ich mir wohl vorstellen«, erwiderte er rasch. »Aber für zwei Ärzte sind wohl doch nicht genügend Patienten da.«

»Nicht für zwei Ärzte. Ich werde eventuell von hier weggehen«, sagte Harald nun rasch, bevor er es sich wieder anders überlegte, denn vorderhand war Dr. Hagedorn der einzige Aspirant für seine Ablösung, und so schnell würde sich kein anderer finden. Sollte er sich sein Glück von Violet zerstören lassen? Waren elf Jahre nicht genug, in denen ihr böser Geist ihn verfolgt hatte?

Dr. Hagedorn vergaß das Essen. Er blickte Harald an. »Sie meinen das ernst, Herr Kollege?«, fragte er.

»Ja, natürlich.«

»Ich habe leider noch nicht das Geld beisammen, eine Praxis abzulösen«, sagte Dr. Hagedorn.

»Das spielt doch keine Rolle«, erklärte Harald. »Ich möchte mich vorerst Ihrer Bereitschaft versichern. Es ist so, dass ich Mintje mitnehmen werde. Auf sie könnten Sie dann nicht zählen.«

»Ich könnte meine Mutter zu mir nehmen, und meine Schwester. Sie hat ein asthmakrankes Kind. Die Ehe ist darüber zerbrochen. Für mich wäre es ein Gottesgeschenk, wenn Sie mich in die engere Wahl ziehen würden.«

»Engere Wahl!«, sagte Harald mit leichtem Spott. »Sie werden der einzige Bewerber sein. Stellen Sie sich das Leben hier nicht so einfach vor. Es wäre ungerecht, wenn ich es Ihnen in hellen Farben schildern würde. Man muss mit vielen Schwierigkeiten leben. Sie müssen erst einen Winter erlebt haben. Die langen Abende ohne Geselligkeit.«

»Es gibt ein paar sehr nette junge Leute hier«, erklärte Dr. Hagedorn zu seiner Überraschung. »Außerdem ein ganz reizendes Mädchen, wie ich nicht verheimlichen will. Gesine Petersen.«

Harald staunte. »Gesine? Ist sie denn schon erwachsen?«

»Haben Sie das noch nicht bemerkt? Sie ist neunzehn. Sie hat mir bei der Geburt der Zwillinge geholfen und sich sehr geschickt angestellt.«

Unwillkürlich musste Harald nun doch lächeln. »Deswegen hat die Geburt wohl so lange gedauert?«, fragte er scherzend. »Nun werden Sie nicht gleich verlegen. Ich kenne Gesine als kleines Mädchen. Da hatte sie mal Masern. Später war sie nie mehr krank und für mich ist sie ein Kind geblieben. Man sieht das wohl immer so, wenn sie so schnell heranwachsen, dass man es gar nicht mitbekommt. Und rückblickend weiß man dann, wie viel Jahre tatsächlich schon vergangen sind. Wenn Sie sogar eine Einheimische heiraten würden, hätten Sie natürlich einen guten Stand. Nun, dann kümmern Sie sich hübsch weiter um Ihre Patienten. Ich habe noch manches zu erledigen.«

»Ich kann es noch nicht glauben«, sagte Dr. Hagedorn.

»Fangen Sie damit an«, meinte Harald. »Ein paar Tage werden Sie wohl brauchen, um auch Ihre Angelegenheiten zu regeln. Es eilt nicht, ganz so schnell gehe ich doch nicht fort. Wir unterhalten uns noch darüber. Ich muss jetzt weg.«

Er ging zu Mintje in die Küche. »Also, Mintje, Dr. Hagedorn übernimmt die Praxis. Ich habe ihm gesagt, dass ich dich mitnehmen werde.«

»So, das haben Sie gesagt.«

»Willst du etwa nicht?«

»Gar so leicht wird es mir nicht«, brummte sie. »Man muss sich schließlich an den Gedanken gewöhnen, und ich weiß noch gar nicht, ob Julia mich haben will.«

»Sie wird dich wollen, und denk auch an Dodo. Hoffentlich sind das nicht bloß Zukunftsträume.«

Er dachte wenigstens wieder an die Zukunft. Mintje fühlte sich erleichtert und nahm schon mit jeder Minute, die verstrich, ein wenig Abschied. Dem Krischan würde es hart ankommen. Es bereitete ihr schon Kummer. Aber sonst? Mintje blickte hinaus auf das Meer. Ach, es wäre wohl ganz schön, auch noch etwas anderes zu sehen auf ihre alten Tage, und so alt war sie nun auch wieder nicht. Und dann Dodo! Ihr Gesicht verklärte sich. Sie sah sich schon wieder in einer anderen Küche, Hannibal zu ihren Füßen, an einem Knochen knabbernd, und Dodo auf der Eckbank. Eine Eckbank musste natürlich in dieser Küche stehen, damit das Kind bei ihr sitzen konnte. Obgleich sie am Herd stand, merkte sie nicht, wie die Milch anbrannte, und so was war ihr noch nie passiert.

»Verflixt«, sagte sie, aber tragisch nahm sie es nicht.

*

Harald kam gerade zurück. Seine Miene war düster. Es war unerfreulich, über Violet zu sprechen.

»Hat sie denn keine Angehörigen?«, fragte Mintje.

»Sie haben sich von ihr losgesagt, und ihr Mann hat die Scheidung eingereicht.«

»Sie ist verheiratet?«, fragte sie überrascht.

»Schon das dritte Mal. So hat sie es jedenfalls dem Arzt erzählt, der sie behandelt.«

»Warum dann das ganze Theater mit dir?«

»Hasskomplexe«, erwiderte Harald kurz. »Sie ist nicht mehr ganz normal.«

»Sie ist schon ziemlich unnormal«, sagte Mintje. »Wie lange wird man sie dort behalten?«

»Ein paar Monate.«

»Und dann wird sie wieder rückfällig«, vermutete sie.

»Dann wird sie mich wieder suchen«, erklärte Harald deprimiert. »Ich kann es Julia nicht zumuten.«

»Nun mach aber einen Punkt«, warf Mintje ein. »Du warst einmal mit Violet verlobt. Es liegt lange zurück. Was dann kam, ist doch nicht deine Schuld.«

»Es ist eine Last, und ich kann Julia damit nicht auch noch belasten.«

»Willst du die Entscheidung nicht ihr überlassen?«, fragte Mintje, sanft wie eine Mutter.

*

Hannibal bot ein Bild des Jammers, als Julia sich verabschieden musste. Blitzschnell war er in ihren Wagen gesprungen und selbst Dodo konnte ihn nicht bewegen, seinen Platz zu verlassen.

»Ich bleibe aber noch hier, Hannibal«, sagte sie. »Wir müssen noch ein bisschen Geduld haben.«

Es fiel ihr gewiss nicht leicht, so tapfer zu sein, und auch Julia zog es das Herz schmerzhaft zusammen.

»Es wird nicht mehr lange dauern, Dodo«, sagte sie zärtlich. »Nächstes Wochenende komme ich wieder.«

Als Hannibal nun merkte, dass Dodo nicht einstieg, bequemte er sich doch heraus. Aber er war der verkörperte Vorwurf, als Julia ihn ein letztes Mal streichelte.

Henrik sagte zu Nick, dass er sich alles viel schöner vorgestellt hätte. »Du ziehst auch einen Flunsch, wenn Mami wegfährt«, erklärte Nick nachsichtig. »Und sie bleibt immer nur ein paar Stunden weg.«

Er war geneigt, Dodo das meiste Verständnis entgegenzubringen und er benahm sich wie ein fürsorglicher, großer Bruder zu ihr. Es gelang ihm auch, ihr ein Lachen zu entlocken, als er ihr lustige Begebenheiten aus seiner Schulzeit erzählte.

Dodo war wirklich sehr tapfer. Sie zog sich diesmal nicht still zurück, sondern spielte noch mit den Kindern und war sogar dem vorwitzigen kleinen Florian gegenüber nachsichtig gestimmt.

»Morgen kommst du aber mal nach Schoeneich«, sagte Henrik.

Er spürte auch, dass um ihn herum etwas vorging und wollte noch möglichst viel von seiner kleinen Freundin haben.

*

»Julia will kommen, Mintje«, sagte Harald.

»Es wird gut sein«, erwiderte sie ruhig. »Und es wird alles gut werden.«

»Du hast dir viel Sorgen um mich gemacht.«

»Eine Mutter macht sich Sorgen um ihr Kind. Mir geht es nicht anders als Julia. Für sie ist Dodo auch ihr Kind.«

»Meine gute Mintje! Zu seinem Kind sagt man aber nicht Herr Doktor!«

In ihren Augen schimmerten Tränen, als sie sich zu ihm umwandte. Sie legte ihre verarbeiteten Hände um sein Gesicht. »Mein guter Junge«, flüsterte sie, »es kommt nicht darauf an, was man sagt, nur darauf, was man fühlt. Die Eckbank werden wir mitnehmen. Hat sie Platz in Julias Küche?«

»Sie hat auch eine Eckbank«, erwiderte Harald mit einem flüchtigen Lächeln. »Wir nehmen nichts mit, Mintje. Wir lassen alles zurück. Die ganze Vergangenheit lassen wir zurück.«

»So soll es sein«, sagte sie. »Aber die Reiseandenken vom Käpt’n müssen wir mitnehmen. Wir können sie ja in Kisten verpackt lassen, bis Dodo erwachsen ist.«

»Sie wird unser Kind sein, Mintje«, sagte Harald gedankenverloren.

»Ein bisschen war sie das schon immer«, sagte sie.

Und sie wussten nicht, wie sehr es Dodo jetzt schon in Gedanken war. Die Träume und Wünsche nahmen Gestalt an. Dodo lebte bereits in der Zukunft.

Zum ersten Mal war Dodo in Schoeneich. Henrik führte sie durch die Räume. Natürlich musste sie zuerst sein Zimmer sehen, in dem die Kogge ihren Ehrenplatz hatte.

Dodo betrachtete diese stumm. Sie konnte sich noch genau erinnern, wie Großväterchen sie gebaut hatte. Es war nach jener Sturmnacht gewesen, an die sie sich nicht erinnern wollte.

Nein, sie wollte sich nicht daran erinnern, und sie wollte auch nicht mehr daran denken, dass ihre Mutti einen kleinen Leberfleck unter dem Ohrläppchen hatte, den Julia nicht besaß. Sie schwieg.

»Ich bin sehr stolz darauf«, versicherte Henrik, nicht ahnend, welche Gedanken in Dodo erwachten.

Doch dann sah sie, wenig später, in Denises Biedermeiervitrine die Malachitschale.

Ihre Augen verdunkelten sich. Denise war an ihre Seite getreten. »Dein Großvater hat sie mir geschenkt«, sagte sie.

»Dann muss er dich sehr liebgehabt haben«, sagte Dodo. »Von allen Dingen hat er sie am meisten gemocht.«

»Das wusste ich nicht«, sagte Denise beklommen, und sie fragte sich, warum ihre Wahl gerade auf diese Schale gefallen war.

»Sie bringt Glück«, erklärte Dodo. »Sie hat Radima gehört.«

Es mutete seltsam an, dass sie ihre Großmutter mit dem Vornamen nannte.

»Ich habe sie nie gekannt«, fuhr Dodo fort. »Großväterchen hat mir viel von Radima erzählt. Sie war sehr klug. Er hat immer gesagt, dass ich auch einmal so klug werden soll.«

»Du bist sehr gescheit, Dodo«, meinte Henrik anerkennend. »Viel gescheiter als die meisten Kinder.«

Hätte man sie nicht vor sich gesehen, so klein und zierlich, und nicht ihre Kinderstimme vernommen, hätte man meinen können, eine lebenserfahrene Frau spräche diese Worte.

Doch danach war Dodo plötzlich verwandelt. Sie wollte spielen. Sie war eine der Lebhaftesten. Sie war so, wie Henrik sie sich wünschte.

»Weißt du, Alexander«, sagte Denise später gedankenvoll zu ihrem Mann, »ich glaube, dass sie jetzt ganz bewusst jede Erinnerung verdrängt. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass sie auch schon weiß, dass Julia Pahlen nicht ihre Mutter ist. Aber sie will es nicht wahrhaben, und das ist gut. Sie wird die Liebe, die Julia ihr entgegenbringt, doppelt empfinden, als ein Geschenk, nicht als etwas Selbstverständliches.«

»Sie ist doch noch so klein«, sagte Alexander.

»Es wird manches anders sein als früher. Frauke war krank, auch das könnte mit der Zeit Dodo wieder bewusst werden. Sie wird eine Familie haben, auch wieder einen Vater. Sie wird erst richtig Kind sein dürfen. Wilm Brodersen war ein alter Mann, dem das Leben alles genommen hatte, was er liebte. Nur Dodo durfte er behalten, und er liebte sie abgöttisch. Aber ich zweifle, dass eine solche Liebe gut für ein Kind ist. Er hat sich wohl selbst Gedanken darüber gemacht und deshalb gewollt, dass Dodo nach Sophienlust kommt.«

»Du weißt dies alles besser als ich, Isi«, sagte Alexander. »Du wirst, wie immer, recht haben.«

Dodo dagegen dachte für sich an diesem Abend, dass alles gut und schön sei und sie auch viel Spaß gehabt hätte. Aber Hannibal war des Herumziehens wohl müde. Er wollte endlich wieder einen angestammten Platz haben und wissen, wohin er gehörte.

»Jetzt sind wir ja bald alle zusammen, Hannibal«, tröstete sie ihn. »Mintje wird auch da sein und dir schöne Knochen geben, und du brauchst nicht mehr eifersüchtig sein auf andere Hunde. Du bist dann unser einziger Hund.« Und wieder geriet sie ins Träumen.

*

Am Donnerstagmorgen fuhr Julia. Ihre Doktorarbeit hatte sie beendet. Sie wunderte sich, dass sie sich überhaupt noch darauf hatte konzentrieren können, aber es war immer ihr Prinzip gewesen, nichts halb zu tun und später, wenn sie erst Mutterpflichten zu erfüllen hatte, war die Zeit knapp.

Sie hatte auch überlegt, ob sie nicht lieber fliegen solle, aber bei diesem wechselhaften Wetter war mit Verzögerungen zu rechnen, und sie gelangte mit dem Wagen wohl besser ans Ziel.

Die Fahrt verlief bis kurz vor Wilhelmshaven ohne Zwischenfälle. Da begann es zu regnen. Seit Julia bei einem solchen Regen einmal ins Schleudern gekommen war, fuhr sie ganz besonders vorsichtig und hier musste sie auch noch aufpassen, dass sie die Straße nicht verfehlte. Es war kaum etwas zu erkennen. Vor ihr war ein anderer Wagen, und nach dessen Schluss­lichtern richtete sie sich, aber dann sah sie die Abzweigung, die Harald ihr glücklicherweise genau beschrieben hatte.

Kaum war sie dort eingebogen, hörte sie hinter sich das Kreischen von Bremsen und einen gewaltigen Krach. Sie hielt an und schaute zurück, aber sie konnte kaum etwas erkennen.

Sie stieg aus, vernahm laute Stimmen und bald darauf das Heulen von Sirenen und wunderte sich, wie schnell Polizei und Krankenwagen da waren, deren Blau- und Rotlicht sie sehen konnte.

Ein Polizist sperrte schon die Unglücksstelle ab. »Was ist passiert?«, fragte Julia, die zurückgelaufen war.

»Haben Sie etwas gesehen?«, fragte er. »Es ist jemand überfahren worden.«

»Ich habe nur die Bremsen gehört«, sagte sie leise.

»Dann fahren Sie weiter. Sie werden ja ganz nass.«

Der Regen strömte über ihr Gesicht. Es war, als hätte der Himmel alle Schleusen geöffnet. Ein Grauen kroch über ihren Rücken, als sie sich wieder ans Steuer setzte. Wenig später wäre sie es vielleicht gewesen, die einen Menschen überfahren hätte. Der andere Wagen konnte nicht weit hinter ihr gewesen sein, und wenn sie nicht abgebogen wäre, wäre sie vielleicht noch in den Unfall verwickelt worden.

Sie brauchte Minuten, bis sie weiterfahren konnte, dann war sie noch vorsichtiger. Die Straße war still und dunkel und vom Wasser überflutet. Sie hatte das Gefühl zu schwimmen.

*

»Dieses Wetter«, schimpfte Mintje. »Muss es ausgerechnet heute so regnen. Julia wird den Weg gar nicht finden. Wenn wir nur wüssten, wann sie kommt, dann könntest du ihr entgegenfahren, Doktor.«

»Wie heißt es?«, fragte er.

»Min Jong«, berichtigte sie sich.

Er hörte es gern. Mintje ahnte wohl gar nicht, wie viel Trost sie ihm in diesen Tagen damit gegeben hatte, dass sie ihn so nannte. Nicht vor den Leuten, nein, das tat sie hier nicht mehr. Hier war er noch der Doktor. Aber wenn sie allein waren, dann sagte sie es oft und gern, was sie elf lange Jahre gefühlt, aber nicht zu sagen gewagt hatte.

»Ich werde zur Straße gehen«, sagte er. »Ich nehme die Stalllaterne mit. Jetzt muss sie bald kommen.«

Wie sehnsüchtig er wartete! Er zog den Wettermantel an und setzte den Südwester auf. Wind und Wetter waren sie gewöhnt hier droben und abgehärtet dagegen.

Kaum war er gegangen, kam Krischan. »Wo will er denn hin, der Doktor?«, fragte er.

»Zur Straße. Seine zukünftige Frau kommt.«

Krischan machte ein mürrisches Gesicht. »Eine Städtische«, brummte er. »Das hätte ich nicht von ihm gedacht.«

»Lass das Denken, iss lieber«, sagte Mintje. »Lange wirst du mein Essen nicht mehr bekommen.«

»Du sollst mit dem Unsinn aufhören, Mintje. Du bleibst hier, wohin du gehörst.«

»Ich gehöre zu meinem Jungen«, sagte sie. »Die Mutter vom neuen Doktor wird dich nicht verhungern lassen. Es ist abgemacht. Was sein muss, muss sein, Krischan, das hast du selber immer gesagt.«

»Woll, woll«, meinte er. »Lange werde ich auch nicht mehr da sein.«

Mintje zeigte ihre Gefühle nicht. Das hatte Hinnerk nicht gewollt, das wollte auch Krischan nicht. Sie schluckte, wenn was weh tat.

»Ist ein ganz netter Mann, der Dr. Hagedorn«, sagte Krischan. »Hätte ich auch nicht gedacht, dass so gut auszukommen ist mit ihm.«

»Bei unserm Doktor hast du es auch nicht gedacht«, sagte Mintje.

»Und mit der Gesine ist der Dr. Hagedorn auch schon recht gut«, fuhr Krischan fort. »Wird dann ja wohl bald eine Hochzeit geben.«

»Da feiert man tüchtig«, meinte Mintje.

»Denkst auch mal an uns, Mintje?«, fragte er.

»Wenn ich dann Zeit habe«, sagte sie.

Julias Scheinwerfer erfassten den Mann auf der Straße, der seine Lampe schwenkte. Unwillkürlich hatte sie den Unfall im Gedächtnis, und sie hielt an und rief laut zum Fenster hinaus: »Was soll das?« Doch dann erkannte sie ihn schon und sprang aus dem Wagen, direkt an seine klatschnasse Brust.

»Harald«, flüsterte sie, und ihre Lippen fanden sich zu einem endlosen Kuss, den auch ein Wolkenbruch nicht stören konnte.

»Du wirst dich erkältet haben«, sagte sie besorgt.

»Keine Angst, Liebste. Ich halte schon etwas aus. So empfindlich sind wir hier nicht.«

Nur verletzlich in der Seele, dachte sie, als er ihre Hände an seine Lippen legte und sagte: »Dass du gekommen bist, Julia!«

Die Haustür tat sich schon auf, bevor der Wagen noch hielt, und Mintje stand darin mit ausgestreckten Händen.

»Was bin ich froh, was bin ich froh«, stammelte sie. »Nun aber erst heraus aus den nassen Sachen.«

Es war wohlig warm im Zimmer. Mintje brachte die dampfende Suppe und einen steifen Grog.

Aber mehr noch wurde Julia erwärmt von den zärtlichen Blicken, mit denen Harald sie einhüllte. Mintje sah es mit Rührung und wollte sich schnell zurückziehen.

»Bleiben Sie doch, Mintje«, bat Julia.

»Krischan ist in der Küche«, sagte Mintje.

»Ich möchte ihm guten Tag sagen.«

»Das läuft nicht davon. Er hockt noch lange da«, sagte Mintje. »Er nützt es noch aus.«

»Wir freuen uns so sehr, dass Sie mitkommen, Mintje«, sagte Julia, »aber ich hätte Sie schon überredet, wenn Sie nicht gewollt hätten.«

Als Mintje durch die Diele ging, läutete das Telefon. Sie stand fast daneben und nahm schnell den Hörer ab. »Ich mache das schon«, rief sie Harald zu. »Lasst euch nicht stören. – Dr. Gottschalk ist nicht da«, sagte sie in die Muschel. »Ja, ich werde es ihm ausrichten«, schloss sie nach einer langen Pause. Dann lehnte sie an der Wand und atmete schwer.

»Was war denn, Mintje?«, fragte Harald von drinnen.

»Nichts weiter. Falsch verbunden«, erwiderte sie und musste erst begreifen, was man ihr da gesagt hatte. Violet war aus der Klinik geflohen.

*

»Ist dir ein Gespenst über den Weg gelaufen oder ist sie so grässlich?«, fragte Krischan, als Mintje kalkweiß in die Küche taumelte.

»Wer soll grässlich sein?«, fragte sie geistesabwesend.

»Die Zukünftige, wer denn sonst?«

»Sie ist schön wie ein Engel«, sagte Mintje, »und sie ist gut. Halt deinen Schnabel, Krischan.« Wie bringe ich es ihm nur bei, dachte sie, wie bringe ich es dem Jungen nur bei. Soll er denn niemals ganz glücklich sein?

Wenn doch nur Franco und Felicia da wären, mit denen sie sprechen konnte, die alles wussten und denen es doch nicht so nahegehen würde. Aber Julia? Das zum Empfang?

»Ja, und dann passierte noch ein Unfall«, erzählte Julia drinnen Harald. »Ich bin zurückgelaufen und deshalb so nass geworden. Geschüttet hat es, was vom Himmel herunterwollte.«

»Wenn nur dir nichts passiert ist, mein Liebes«, sagte Harald verhalten.

»Jemand ist überfahren worden. Ein scheußliches Gefühl ist das schon. Ich bin froh, dass ich die Strecke nicht allein zurückfahren muss. Ihr werdet doch gleich mitkommen, Harald?« Ängstlich hing ihr Blick an seinem Gesicht.

»Ja, wir werden mitkommen. Dr. Hagedorn holt seine Mutter. Sie werden übermorgen kommen. Meine Sachen habe ich schon zusammengepackt. Die Kisten mit den Sachen von Wilm Brodersen werden morgen verladen. Weißt du eigentlich, dass Dodo ein reiches Kind ist?«

»Sie wird sich später einmal daran freuen können. Ich weiß nur, dass sie unendlich viel Liebe braucht, und die wollen wir ihr geben.«

»Ich bete dich an«, sagte er innig. »Durch dich wird alles einfach.«

Er ahnte nicht, welche Ängste indessen Mintje ausstand. Als das Telefon wieder läutete, war sie auch diesmal schneller als er. Wie sie nur flitzen konnte!

Sie dachte gar nicht daran, den Hörer aus der Hand zu geben, und als Harald ihr Mienenspiel sah, wusste er, dass etwas passiert war.

»So ist das«, sagte Mintje heiser. »Ja, ich werde es dem Doktor ausrichten. Er wird zurückrufen. Oder er wird morgen kommen.«

Hart legte sie den Hörer auf. »Warum verleugnest du mich, Mintje?«, fragte Harald mit einem flüchtigen Lächeln. »Ein paar Tage muss ich noch meinen Pflichten nachkommen.«

»Es sind keine Pflichten«, sagte sie. »Sie ist tot. Sie ist überfahren worden, als sie aus der Klinik geflohen ist. Vorhin haben sie schon angerufen, dass sie verschwunden ist, aber ich wollte es nicht sagen. Ich hatte solche Angst, mein Junge. Sie ist tot, sie ist tot.«

Sie flüsterte es immer wieder. Sie ist überfahren worden, dachte Harald, und es wurde ihm ganz schwarz vor den Augen, weil ihm Julias Worte in den Ohren klangen. Der grauenvolle Gedanke, dass sie in Julias Wagen hätte laufen können, raubte ihm fast das Bewusstsein.

*

Krischan bekam Julia nur kurz zu Gesicht, als sie in die Küche kam, um noch einen Grog für Harald zu holen. Mintjes Augen hingen an ihrem Gesicht.

»Keine Sorge, Mintje«, flüsterte Julia ihr zu. »Ich bin doch bei ihm.« Sie wusste es schon, und nutzlosen Überlegungen wollte sie sich jetzt nicht hingeben. Sie hatte diese Frau nicht gekannt und sie wusste, dass ihr Tod vieles auslöschen würde. Nicht gleich, aber mit der Zeit.

Mintje erlebte das erstaunliche Wunder, das Krischan sich von seinem Stuhl erhob und eine Verbeugung machte, als Julia ihm die Hand reichte. Ihr blieb gleich der Mund offenstehen.

»Sie ist schön wie ein Engel«, sagte er. »Das hast du gesagt, Mintje. Ich sage, sie ist eine Frau, die zu ihm passt.«

»Darauf darfst du noch einen trinken, Krischan«, sagte Mintje. Ihr Gesicht hatte wieder Farbe bekommen, und ihr Mund lächelte.

»Hinnerk hatte immer recht«, sagte Krischan zu sich selbst.

»Fang nicht wieder damit an.«

»Dodo kriegt nun eine Mutter«, beharrte Krischan eigensinnig.

»Und einen Vater«, sagte Mintje. »Was bist du heute bloß redselig.«

»Wird gut sein, wenn ich nachher mit niemand mehr reden kann«, brummte er.

»Warte doch erst mal ab. Vielleicht kannst du mit Frau Hagedorn besser reden als mit mir. Aber dass du mir ja immer die Stiefel ausziehst, wenn du in die Küche gehst, Krischan. Mach mir bloß keine Schande.«

Er sah sie über das Glas hinweg tiefsinnig an. »Du bist ja schon gar nicht mehr hier, Mintje«, sagte er mit schwerer Stimme. »Du bist ja schon ganz weit weg.«

Da schwieg Mintje lieber, denn diesmal hatte Krischan recht.

In Dodo war eine Ahnung, dass ihre Tage in Sophienlust gezählt waren, und weil es schöne Tage waren, erlebte sie diese als ein echtes Kind.

Diese seltsame, unerklärliche Angst, von der sie bewegt worden war, hatte sich gelöst. Sie nahm an allem teil, sie sonderte sich nie mehr ab. Hannibal ließ sich herab, die anderen Hunde zur Kenntnis zu nehmen, aber benahm sich auch weiterhin wirklich sehr würdevoll.

Er konnte es nur nicht ertragen, wenn einer seiner Artgenossen die Knochen herausholte, die er eingegraben hatte. Auch, wenn man sie ihm dann überlassen wollte, ignorierte er sie und zog sich in seinen Schmollwinkel zurück. Das war der Platz auf der Terrasse unter dem Fenster, an dem Habakuks Bauer stand. Wenn Hannibal schmollte, gebärdete sich Habakuk aufgeregt.

Er schimpfte unaufhörlich, bis Dodo und Henrik kamen, um beide zu beschwichtigen.

Etwas von der Vertrautheit jener Sommertage war jetzt wieder zwischen Henrik und Dodo. Es war nicht ganz so, denn zu viel hatte sich in Dodos Leben verändert, aber manchmal sprachen sie wie damals miteinander.

Henrik erinnerte sich so gern an das Zimmer vom Käpt’n, aber darüber wagte er nicht zu sprechen, weil seine Mami ihm eindringlich gesagt hatte, er solle nicht daran rühren.

Auch als er mit Dodo durch den Wald zur Ponywiese ging, weil ihr plötzlich der Sinn danach stand, dachte er an dieses Zimmer.

»Hättest du gern den Kamelsattel, Henrik?«, fragte Dodo, als ahne sie seine Gedanken. Henrik erschrak richtig.

»Ich schenke ihn dir«, sagte Dodo.

»Das kannst du doch nicht.«

»Freilich kann ich das. Großväterchen hat gesagt, dass ich verschenken kann, was ich will, wenn ich es einem Freund schenke. Und du bist mein Freund. Du bist mein allerbester Freund, Henrik.«

»Ich habe schon gedacht, du hast es vergessen«, sagte Henrik.

»Ich vergesse nichts, wenn ich es nicht vergessen will«, sagte Dodo, und ihre Stimme hatte einen ganz eigentümlichen Klang. »Dass du mein Freund bist, vergesse ich nie.«

»Deine Mutti wird es aber nicht erlauben, dass du mir den Kamelsattel schenkst«, sagte Henrik.

»Doch, sie wird es erlauben. Und was soll ich Nick schenken?«

»Das weiß ich doch nicht.«

»Meinst du, er würde sich über den Elefantenzahn freuen?«

»Einen Elefantenzahn bekommt so leicht keiner«, sagte Henrik.

»Und deinem Papi werde ich die Schaumpfeife schenken. Die hat Großväterchen von einem Fürsten bekommen. Und dein Papi ist auch so was wie ein Fürst.«

»Er ist bloß ein Baron, aber das macht ihm gar nichts aus. Er sagt manchmal, er ist bloß ein Kindermädchen«, kicherte Henrik.

»Du hast einen netten Papi«, sagte Dodo wohlwollend. »Er ist sehr lieb mit deiner Mami, und das mag ich. Aber mein Vati ist mit meiner Mutti auch sehr lieb.«

Henrik blieb das Wort im Hals stecken. Dass Dodo nun auch von ihrem Vati sprach, verschlug ihm die Stimme.

»Du weißt wohl noch gar nicht, dass Onkel Harald mein Vati wird?«, fragte Dodo. »Es ist aber so. Und wenn wir erst alle beisammen sind, dann besuchen wir euch, und Mintje wird Sophienlust auch kennenlernen. Dann bringe ich euch die Sachen.«

»Aber du hast sie doch gar nicht hier«, sagt Henrik.

»Sie werden schon kommen. Ich weiß, dass sie kommen werden. Ich habe es nämlich geträumt«, sagte Dodo.

»Ich weiß nie, was ich träume«, erklärte Henrik betrübt. »Ich möchte auch so träumen wie du, Dodo.«

»Du musst dir etwas wünschen, dann träumst du auch«, erklärte Dodo. »Natürlich musst du es dir ganz fest wünschen und damit einschlafen.«

Henrik überlegte, was er sich wünschen solle. Augenblicklich fiel ihm nichts ein, aber als er abends im Bett lag, wünschte er sich, dass Dodo mit ihrem Vati und ihrer Mutti und Mintje kommen solle und dass er dann den Kamelsattel bekommen würde.

Aber seltsamerweise träumte er nicht dies, sondern, dass er auf einer Hochzeit mit Dodo Blumen streute und das Brautpaar waren Harald und Julia.

Dass er, der nun schon große Henrik, Blumen streuen sollte, empörte ihn. Er musste seine Mami fragen, was sie denn von so etwas halte.

Denise lächelte. »Vielleicht trifft es ein, Henrik«, sagte sie.

»Dodo hat aber gesagt, dass ich mir was wünschen soll, und dann träume ich auch davon. Und ich habe mir was ganz anderes gewünscht«, erklärte er. »Ich finde es überhaupt komisch, dass ich träume und es auch noch behalte. Gewünscht habe ich mir nämlich, dass ich den Kamelsattel kriege.«

»Du hast vielleicht Wünsche«, sagte Denise kopfschüttelnd.

»Wenn Dodo doch gesagt hat, dass sie ihn mir schenkt«, beharrte er. »Ich bin nämlich ihr allerbester Feund. Wenn ich mit ihr allein rede, ist es genauso wie früher, Mami. Nur, wenn die anderen Kinder dabei sind, ist Dodo anders.«

»Ein Zeichen, dass du wirklich ihr Freund bist«, meinte Denise. »Dann genießt man etwas, was andere nicht bekommen. Dafür muss man immer dankbar sein, Henrik, auch wenn man noch ein Kind ist.«

»Dodo braucht mir ja den Kamelsattel nicht zu schenken, Mami. Sie hat es ganz von selbst gesagt. Du darfst nicht denken, dass ich bloß deshalb ihr Freund bin.«

»Das weiß ich ja, mein Kleiner«, sagte Denise liebevoll.

*

Es gab die erste Meinungsverschiedenheit zwischen Mintje und Julia, als diese erklärte, dass Mintje vorn bei Harald sitzen solle. Der Wagen war nämlich bis unter das Dach beladen, und der Kofferraum war auch vollgestopft.

»Die Frau gehört zum Mann«, sagte Mintje entschlossen.

»Noch sind wir nicht verheiratet, und außerdem bin ich schlanker als du, Mintje«, erklärte Julia. »Also?«

»Na ja, schlanker bist du ja«, sagte Mintje, »aber ein paar Sachen kann ich auch auf den Schoß nehmen.«

»Das könnte dir so passen. Du weißt ja gar nicht, wie weit wir fahren müssen.«

Mintje, die Autos hasste und eine lange Fahrt nur einmal in ihrem Leben auf sich genommen hatte, als sie jung war, konnte das nicht schrecken. »Ich setze mich hinten hin, da kann ich schlafen«, erklärte sie. »So dick bin ich nun auch wieder nicht.«

Sie behielt das letzte Wort. Aber nun kam erst der Abschied. Frau Hagedorn, so rund wie Mintje, hatte das Regiment im Haus bereits übernommen. Krischan hatte schon seine erste Mahlzeit bei ihr eingenommen und mit Galgenhumor zu Mintje gesagt, dass ihm nicht viel abgehen würde.

»Sie freut sich wenigstens, wenn ich Fische bringe«, bemerkte er anzüglich.

»Na, wollen mal sehen, wenn sie zig Jahre welche gegessen hat«, sagte Mintje.

»Dann gibt’s keinen Krischan mehr«, brummte er. »Farewell, Mintje. Dich braucht man noch.«

Harald und Klaus Hagedorn reichten sich die Hände. »Machen Sie es gut, Kollege«, sagte Harald.

»Tausend Dank«, erwiderte Dr. Hagedorn. »Vielleicht kommen Sie doch einmal uns besuchen.«

»Vielleicht«, sagte Harald.

»Dass Sie mir bloß aufpassen, dass Krischan seine Stiefel auszieht, wenn er in die Küche kommt«, sagte Mintje zu Frau Hagedorn. Dann fuhren sie los, an Käpt’n Brodersens Haus vorbei, langsam die Straße entlang. Oberhalb der Bucht hielt Harald noch einmal an. Da stand die Hütte, da lag das Boot von Krischan am Steg. Dort war Hinnerk angetrieben worden, und dort hatten sie umsonst auf Jörn und Frauke Brodersen gewartet.

»Jeder Mensch geht seinen eigenen Weg«, sagte Mintje.

»Und die meisten sterben für sich allein«, flüsterte Julia.

»Es ist besser, für sich allein zu sterben, als allein leben zu müssen, allein und ohne Liebe«, warf Harald ein.

»Nun fahrt man zu, Kinder«, lenkte Mintje ab. »Wir wollen heim.«

»Recht hast du, Mintje«, sagte Julia. »So bequem sitzt du nun doch nicht, dass wir noch lange zuwarten. Aber du musstest ja deinen Kopf durchsetzen.«

»Mit dem Bequemsitzen hat das gar nichts zu tun«, sagte Mintje. »Wir wollen doch unser Kind bald bei uns haben.«

*

Was war das für eine Freude, als sie Dodo wieder in die Arme schließen konnten, und wie staunte das Kind, dass sie sobald kamen!

Sie war mit Henrik auf der Ponyweide gewesen, und als sie zurückkamen, entdeckte sie Julias Wagen. Zuerst stand sie ganz versteinert, dann rannte sie plötzlich los, und Henrik wusste gar nicht, was in sie gefahren war. Natürlich lief er hinter ihr her, und Hannibal hatte bald beide überholt. Er überschlug sich fast.

Julia und Harald saßen schon eine halbe Stunde bei Denise im Wintergarten. Alexander hatte sich vor zehn Minuten zu ihnen gesellt. Für das, was zu sagen war, brauchte man nicht viele Worte. Man brauchte die beiden nur anzusehen, um zu wissen, dass sich wieder einmal zwei Menschen gefunden hatten, die von Gott füreinander bestimmt waren.

Und dazu Dodo! Ein glückliches Kind! Was gab es Schöneres für Denise von Schoenecker, als ein glückliches Kind zu sehen!

Mochten die Menschen die heile Welt belächeln und sie als ein Trugbild hinstellen. Es gab sie dennoch. Es gab sie dort, wo Menschen eins waren im Denken und Fühlen, dort, wo es Liebe gab. Bedauernswert waren nur die Menschen, die sich nicht solch ein Stück heile Welt schaffen konnten und nur Spott dafür hatten.

Denise war so viel Liebe zuteil geworden in ihrem Leben, von ihrem Mann, von ihren Kindern, von all den Kindern in Sophienlust und den Menschen, denen sie in der Not geholfen hatte, dass sie an das Gute fest glaubte. Dodo hatte in Sophienlust eine Zuflucht finden sollen. Sie brauchte sie nicht mehr, und darüber war Denise gar nicht unglücklich. Was konnte ein Kind seliger machen, als seine geheimsten Wünsche erfüllt zu sehen und innerhalb einer Familie behütet und umsorgt zu werden.

»Nun wird sich dein Traum wohl doch noch erfüllen, Henrik«, sagte Denise jetzt zu ihrem Jüngsten. »Du wirst wohl Blumen streuen müssen, wenn du Dodo nicht vergrämen willst.«

»Ach, das ist auch mal ganz schön, Mami«, meinte er. »So groß bin ich nun doch noch nicht.«

»Dafür bekommst du deinen Kamelsattel«, sagte Nick lächelnd.

»Was meinst du, wie du staunen wirst über das, was Dodo dir schenkt«, sagte Henrik. »Aber ich verrate nichts, du darfst ruhig ein bisschen zappeln.«

Und er verriet es wirklich nicht, obgleich Nick sehr neugierig geworden war.

*

Nun hatte jeder bekommen, was er sich wünschte. Mintje war die Seligkeit selbst, dass Dodo wieder bei ihr in der Küche saß auf einer gemütlichen Eckbank, Hannibal hatte seinen Platz vor dem Herd eingenommen und schnupperte unentwegt. Es war so wie früher und doch noch schöner, weil sie nun alle unter einem Dach lebten.

»Was ist es schön, dass Onkel Harald nun mein Vati ist«, seufzte Dodo glücklich. »Das gefällt dir doch auch, nicht wahr, Mintje?«

»Und wie, mein Dodokind. Was kann es Schöneres für ihn geben. Wüsstest du etwas?«

»Dass er Julia hat«, sagte Dodo strahlend. »Soll ich dir was verraten, Mintje? Eigentlich wollte ich es ja keinem sagen, aber du darfst es wissen.«

»Was denn?«, fragte Mintje.

»Als meine Mutti noch Frauke hieß, hatte sie noch ein dunkles Pünktchen unter dem Ohr. Jetzt hat sie keins mehr.«

Mintje musste erst einmal tief atmen. »Weißt du das ganz genau?«, fragte sie dann.

»Was ich weiß, das weiß ich ganz genau«, erklärte Dodo.

»Auf ein Pünktchen kommt es nicht an, Dodo«, sagte Mintje weise. »Du hast eine Mutti, die dich sehr lieb hat.«

»Das weiß ich«, nickte Dodo. »Ich habe sie ja auch gefunden. Nun, Hannibal, willst du Mintje wohl mal an den Herd lassen? Sie muss das Essen machen.«

Hannibal war nicht sehr beeindruckt. Er rutschte nur ein bisschen zur Seite und schaute Mintje erwartungsvoll an.

»Du bist mächtig verwöhnt«, sagte Dodo missbilligend. »Du wirst noch dick und fett werden.«

»Wuwuu«, machte Hannibal em­pört.

»Mintje brauchst du auch nicht zu bewachen«, sagte Dodo. »Sie bleibt doch jetzt immer bei uns.«

Auf einer Hochzeit Blumen zu streuen, fand Henrik dann doch nicht unter seiner Würde. Außerdem sahen es seine Freunde nicht. Nur Nick und Pünktchen waren dabei, und Nick konnte man eigentlich gar nicht mehr als Kind bezeichnen.

»Mach deine Sache gut«, hatte er mit brüderlicher Nachsicht gesagt.

Henrik bemühte sich wirklich, die Blumen mit mathematischer Genauigkeit zu verteilen, während Dodo aus vollen Händen streute, und als ihr Körbchen leer war, auch noch in seines griff.

Aber niemand sah durch die Lupe zu, und so sehr sich die in Sophienlust zurückgebliebenen Kinder auch anstrengten, das Fernrohr auf die Kirche zu richten, die Nick ihnen auf der Karte angekreuzt hatte, es gelang ihnen nicht.

Alles hatte seine Grenzen, nur das Glück nicht, das heute sichtbar wurde.

Julia und Harald. Gott hatte es gefügt, dass die Richtigen zusammenfanden.

Mintjes Tränen flossen unentwegt. Es war der glücklichste Tag ihres Lebens, und so waren es auch nur Tränen des Glückes.

Ganz ohne Tränen ging es auch nicht bei Denise ab, die an jenen Tag dachte, als sie Alexander ihr Jawort gab. Nicht eine Minute hatte sie es bereut, und sie wünschte es diesem Paar ebenso.

Dodo kniete mit gefalteten Händchen nieder, als der Pfarrer seinen Segen erteilte. Von dieser Minute an dachte sie an nichts anderes mehr, dass sie Eltern hatte, nicht nur eine geliebte Mutter, und wer weiß, vielleicht sogar bald ein kleines Brüderchen.

Sophienlust Paket 3 – Familienroman

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