Читать книгу Sophienlust Paket 3 – Familienroman - Patricia Vandenberg - Страница 9

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Dominik von Wellentin-Schoenecker, der Erbe des Kinderparadieses Sophienlust, schlicht Nick genannt, fühlte sich wie im siebten Himmel. Alles verlief genauso, wie er es sich ausgemalt hatte.

Das Wetter hätte nicht schöner sein können. Ein tiefblauer wolkenloser Himmel wölbte sich über dem Land, und die goldenen Strahlen der Vormittagssonne ließen die blankgeputzten Fenster der Lehnschen Villa nur so funkeln, als der VW-Schulbus von Sophienlust vor der Eingangstür hielt.

Lachend und vor Aufregung laut plappernd stiegen die Mädchen und Jungen aus. Nick war als erster herausgeklettert. Fröhlich begrüßte er seine bildhübsche Schwester Andrea, die mit dem Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn verheiratet war. »Wie geht es dir, Schwesterherz?«, fragte er mit burschikoser Zärtlichkeit. Die Zeit, wo er Andrea liebevolle Rippenstöße versetzt hatte, gehörte der Vergangenheit an. An­drea erwartete ihr erstes Baby und wurde von der ganzen Familie wie ein rohes Ei behandelt, was ihr allerdings nicht behagte, denn sie fühlte sich, wie sie stets betonte, pudelwohl.

»Sehr gut, Bruderherz«, parierte Andrea lachend. »Ist für deine Aufnahmen alles vorbereitet? Toll sind die Modellkleider, die die Mädchen tragen. Auch die Jungen sehen sehr hübsch aus in ihren Anzügen. Hat Carola Rennert die Modelle alle selbst entworfen? Kaum zu glauben. Obwohl sie ja eine wirklich gute Malerin ist. Doch sie hätte ebensogut Modezeichnerin werden können.«

»Was, da staunst du?« Nick strahlte seine Schwester an. »Carola Rennert hat was auf dem Kasten. Und Schwester Regine und die größeren Mädchen haben gemeinsam mit unserer Hausschneiderin wahre Wunderdinge vollbracht. Glaubst du, dass man meine Bilder in irgendeiner Modezeitschrift herausbringen wird? Vati kennt einen Verleger für solche Hefte und meint, wenn die Aufnahmen gut werden, würden sie auch gekauft werden. Von mir aus brauchen sie ja nicht viel zu bezahlen. Mir geht es nicht um das Geld …«

»… sondern um den Erfolg«, mischte sich Hans-Joachim von Lehn in die lebhafte Unterhaltung der Stiefgeschwister ein.

»Du sagst es, großer Schwager!«, rief Nick und erwiderte den Händedruck des Tierarztes fest. »Aber nun muss ich mich um meine Fotoausrüstung kümmern. Außerdem habe ich meinen Filmapparat ebenfalls mitgebracht. Ich werde von den Kindern einen hübschen Film drehen.«

»Unser guter Tierpfleger Helmut Koster und Betti, unser Hausmädchen, haben das Tierheim auf Hochglanz gebracht. Das Liliputpferdchen Billy sowie die Esel Benjamin und Fridolin sind gründlich gestriegelt worden. Auch die beiden Schimpansen Luja und Batu glänzen vor Sauberkeit. Und die Braunbärin Isabell mit ihren Kindern Taps und Tölpl scheinen zu spüren, dass sie in einer Modezeitschrift abgebildet werden sollen. Seit gestern geben sie kaum Ruhe.« Hans-Joachim klopfte seinem fünfzehnjährigen Schwager anerkennend auf die Schulter. »Wirklich, Nick, deine Einfälle haben Hand und Fuß. Es war eine ausgezeichnete Idee von dir, diese Kindermodenschau zu arrangieren.«

»Das finde ich auch. Aber nun muss ich mich wirklich um meine Sachen kümmern.« Nick entfernte sich.

Lächelnd blickten Andrea und Hans-Joachim ihm nach. »Er ist ein Prachtkerl«, stellte der Tierarzt fest.

»Ja, das ist er. Er ist schließlich auch mein Bruder.«

Hans-Joachim grinste in sich hinein. Andrea schien tatsächlich manchmal zu vergessen, dass Nick und sie nicht einmal blutsverwandt waren, so eng waren die beiden Stiefgeschwister innerlich miteinander verbunden. »Da kommen deine Eltern, Andrea. Sie haben wirklich den alten Justus und die Köchin Magda mitgebracht.«

»Die beiden wollten ja auch durchaus die Kindermodenschau sehen.« Andrea lief schon ihren Eltern entgegen. »Fein, dass ihr da seid. Nick ist aufgeregt wie ein Filmregisseur«, fügte sie übermütig hinzu und küsste zuerst ihre geliebte Mutti und dann ihren Vati.

Denise von Schoenecker blickte leicht besorgt in das reizende Gesicht ihrer Stieftochter, die sie wie ein eigenes Kind liebte. »Mutest du dir auch nicht zu viel zu, mein Liebes?«

»Aber nein, Mutti, gewiss nicht. Ich darf ja sowieso kaum noch einen Finger rühren. Ein Wunder, dass Hans-Joachim mir noch erlaubt, ihm in der Praxis zu helfen.« Sie gab ihrem Mann einen liebevollen Nasenstüber. »Vati wie ich dich kenne, möchtest du zur Stärkung für die kommenden Anstrengungen einen Whisky trinken. Am besten, du ziehst dich mit Hans-Joachim gleich ins Herrenzimmer zurück. Mutti und ich werden schon zum Tierheim gehen und uns um die Kinder kümmern. Ach, da kommt ja Betti mit den Picknickkörben!«, rief sie und nickte dem Hausmädchen freundlich zu. »Bringen Sie die Sachen bitte gleich zum Tierheim. Die Kinder sind schon dort.«

Andrea hakte sich bei ihrer Mutti ein. »Glaubst du, dass Nick seine Aufnah­men verkaufen kann? Er hofft darauf.«

»Es kommt ganz darauf an, ob sie ihm gut gelingen. Aber er ist ja vielseitig begabt. Wie gefallen dir die Kleider der Mädchen?«

»Sie sind bildschön, Mutti. Pünktchen sieht besonders reizend in dem lichtgrünen Trägerröckchen und der buntbestickten Batistbluse aus«, stellte die junge Frau fest.

Denise lachte. »Pünktchen fühlt sich auch ganz als Starmannequin. Und Nick bestärkt sie noch in ihrem Glauben.«

Plaudernd schlugen die beiden Damen die Richtung zum Tierheim ein. Die Dogge Severin und die vier Dackel Waldi, Hexe, Pucki und Purzel sprangen aufgeregt um sie herum.

»Ist ja schon gut, ihr Rasselbande!«, rief Andrea erheitert. »Waldi, keine Sorge. Dich, den Chef des Tierheims, wird man bei den Aufnahmen bestimmt nicht vergessen! Weißt du, Mutti, die Hunde scheinen jedes Wort zu verstehen. Seit Tagen wurde ja bei uns nach Praxisschluss von nichts anderem als von dem heutigen Sonntag gesprochen. Seitdem sind die Hunde außer Rand und Band.«

»Das sehe ich. Ich glaube, es wird ein sehr hübscher Tag werden.«

»Ich hoffe nur, dass man dich nicht, wie schon so oft an derartigen Tagen, nach Sophienlust ruft. Tante Ma weiß sich zwar recht gut zu helfen, aber du bist nun mal das schlagende Herz des Kinderparadieses. Ja, Mutti, du bist eine einmalige Frau! Ich wünsche mir nur, dass ich in deinem Alter noch ebenso vital bin und auch so jung aussehe wie du. Vati hat mit dir das Große Los gezogen.«

Denise errötete wie ein junges Mädchen. »Unsinn, Andrea, ich bin auch nicht anders als die meisten Menschen. Ich habe auch viele Fehler«, erwiderte sie verlegen.

»Das glaubst du! Wir aber wissen es besser!«, rief Andrea.

»Wer soll schon heute kommen?«, wechselte Denise das Thema. »Heute ist doch Sonntag.«

»Eben! Du, was wollte denn der Industrielle Enno Cornelius aus Essen von dir? Als ich gestern in Sophienlust war, hast du doch mit ihm telefoniert.«

»Ja, Andrea. Aber ich kann dir nichts Genaues sagen. Er hat nur seinen Besuch für morgen angemeldet. Sicher möchte er ein Kind bei uns unterbringen. Ich hatte das Gefühl, dass er irgendwie in Schwierigkeiten steckt. Du weißt ja, dass ich dafür ein Gespür habe.«

»Ja, Muttilein.« Andrea gab Denise einen schnellen Kuss auf die Wange. Dann richtete sich die Aufmerksamkeit von Mutter und Tochter auf die Kinder, auf Schwester Regine und den Tierpfleger Helmut Koster, die alle zusammen vor dem Tierheim versammelt waren.

Die Affen, Bären und auch die anderen Pfleglinge des Tierheims waren im Freigehege. Die Esel Benjamin und Fridolin und das Liliputpferdchen Billy grasten dagegen friedlich auf der Wiese. Sie und die fünf Hunde sollten als Kulisse dienen.

Nicks Wangen glühten vor Begeisterung. Wie meist in solchen Situationen war sein schwarzes Haar leicht vom Wind zerzaust. Man sah ihm deutlich an, wie sehr er sich in seine Aufgabe hineinlebte. Er kam sich tatsächlich wie ein Regisseur vor, der seine Akteure wie Marionetten tanzen ließ.

»Die ersten Aufnahmen mache ich von Heidi und dem Liliput-Pferdchen. Herr Koster, würden Sie bitte Billy holen? Heidi, und du stellst dich vor den Vogelkäfig!«, rief er dem vierjährigen Mädchen im knallroten Kleidchen, das vorn mit einer breiten weißen Spitze verziert war, zu. Heidis langes lichtblondes Haar hatte Schwester Regine, die an diesem Tag die Rolle der Garderobiere spielte, mit einem breiten weißen Seidenband aus der Stirn zurückgebunden. Nun strahlten Heidis blaue Augen vor Stolz, als sie Nicks Aufforderung nachkam. Das kleine zierliche Persönchen fühlte sich sichtlich wohl als Mannequin. Vergnügt stampfte das Liliput-Pferdchen mit seinen kleinen Hufen auf den Kiesboden, als Helmut Koster dem Mädchen die Zügel übergab.

Nick fotografierte Heidi und das Pony in den verschiedensten Posen. Dann nickte er zufrieden. »Ich denke, die Aufnahmen sind gelungen. Bitte, Herr Koster, holen Sie doch jetzt Luja. Ich möchte Pünktchen zusammen mit der Schimpansin aufnehmen.«

»Jawohl, junger Herr!«, rief der Tierpfleger schmunzelnd zurück.

Inzwischen hatten sich auch Alexander von Schoenecker und sein Schwiegersohn zu den Frauen und Kindern gesellt. »Nick, du hast tatsächlich das Zeug zu einem Modefotografen«, stellte der Gutsherr fest.

»Nicht wahr, Vati?« Der Junge zeigte keine falsche Bescheidenheit. »Wenn ich später nicht so große Verpflichtungen in Sophienlust übernehmen müsste, würde ich vielleicht einen solchen Beruf wählen. Ich fotografiere und filme nun mal für mein Leben gern.«

Auch die Aufnahmen von Pünktchen und der Äffin schienen gelungen zu sein. Danach kam Irmela Groote an die Reihe. Nick nahm sie meist vor dem Bärenzwinger auf. Waldi und seine Familie kamen ebenfalls mit auf diese Bilder. Die schwarze Dogge Severin wurde dagegen bei den nächsten Aufnahmen von den Schwestern Langenbach in die Mitte genommen.

Nick war den ganzen Vormittag beschäftigt. Dann aber stürzten sich die Kinder mit einem wahren Heißhunger auf die Picknickkörbe, die auf dem Steintisch zwischen den Birken standen. Justus und Magda blieben bei der jungen Generation zurück, als die übrigen Erwachsenen zur Villa gingen.

»Nach dem Essen drehen wir dann den Film«, schlug Nick unternehmungslustig vor. Dabei nagte er an einem Hühnerbein.

Für die Großen war der Tisch auf der Terrasse gedeckt. Auch sie waren in Hochstimmung. Das lag auch an dem ausgezeichneten Tischwein, dem reichlich zugesprochen wurde.

Die Dackel sausten mit schlagenden Ohren zwischen den Kindern und Erwachsenen hin und her, damit ihnen auch ja kein Leckerbissen entging. Severin war dagegen vernünftiger. Die Dogge hatte es sich zu Andreas Füßen bequem gemacht und kam dadurch auf ihre Kosten.

»Was für ein friedlicher Tag«, stellte Denise glücklich aufatmend fest und sah sich mit leuchtenden Augen in der Runde um.

»Ja, das Leben ist einfach wundervoll!«, rief Andrea und fasste nach der Hand ihres Mannes. »Könnt ihr euch vorstellen, dass um die gleiche Zeit im nächsten Jahr schon unser Baby da sein wird? Was es wohl sein mag? Ein Junge? Ein Mädchen?« Ein verträumtes Lä­cheln lag auf ihrem Gesicht. »Wenn es ein Junge wird, muss er genauso aussehen wie Hans-Joachim.«

»Und wenn es ein Mädchen ist, soll es so sein und aussehen wie du, mein Liebling«, erklärte Hans-Joachim liebevoll.

Betti erschien auf der Terrasse. »Frau von Schoenecker, Sie werden von Frau Rennert am Telefon verlangt«, sagte sie.

»Oje!«, rief Alexander, »es gibt doch tatsächlich keinen Tag, an dem man nicht nach meiner Frau verlangt.«

Denise fuhr ihm zärtlich übers Haar und folgte dann dem Mädchen ins Haus.

»Was mag nur schon wieder in Sophienlust los sein?«, überlegte Andrea laut. »Mein Gefühl hat mich nicht getrogen. Ich hatte vorhin schon so eine Ahnung, dass man Mutti brauchen würde. Ich könnte wetten, dass sie sofort nach Sophienlust fahren muss, weil irgendwer auf sie wartet. Manchmal sind die Leute wirklich rücksichtslos. Sie scheinen tatsächlich zu glauben, dass Mutti Wunder vollbringen kann. Allerdings glaube ich das ja auch«, gab sie zu.

Gespannt richteten sich alle Augenpaare auf Denise, als sie zurückkam.

»Was ist los, mein Liebes?«, fragte Alexander. »Fährst du nach Sophienlust?«

»So ist es, mein Lieber. Ich muss tatsächlich fahren. Aber bleibt auf alle Fälle hier. Ich komme in ein bis zwei Stunden zurück. Nein, Alexander, du brauchst mich wirklich nicht zu begleiten«, wandte sie sich an ihren Mann, als er sich erheben wollte. »Herr Cornelius und sein kleiner Sohn sind in Sophienlust eingetroffen und wollen mich sprechen.«

»Aber er wollte doch erst morgen kommen«, wunderte sich Andrea.

»Er muss morgen in aller Frühe nach London fliegen. Darum ist er heute gekommen. Er möchte seinen Sohn bei uns unterbringen. Seine Frau scheint krank zu sein. Hallo, Henrik, was ist los?«, fragte Denise ihren Jüngsten, der angelaufen kam.

»Ich wollte euch nur mal besuchen«, erwiderte der vergnügt. »Mutti, fährst du denn fort?«

»Ja, Henrik, ich muss auf einen Sprung nach Sophienlust fahren. Ein kleiner Junge und sein Vater …«

»Mutti, darf ich mitfahren?«, unterbrach Henrik sie begeistert. »Wie alt ist der Junge? Kommt er zu uns?«

»Das wird sich heute entscheiden. Der Junge ist noch nicht ganz sechs Jahre alt. Er soll im Herbst in die Schule kommen.«

»Wie heißt er denn?«

»Das weiß ich noch nicht.« Denise strich Henrik über den Scheitel. »Also, dann fahre mit. Aber wollte Nick dich nicht auch filmen?«

»Ich bin doch schon so oft von ihm gefilmt worden. Außerdem werden wir ja vielleicht bald wieder zurück sein.« Man sah dem Kleinen an der Nasenspitze an, dass ihm im Augenblick die Entscheidung nicht leicht wurde. Aber schließlich siegte seine Neugierde. »Ich komme auf alle Fälle mit!«, rief er und folgte seiner Mutter zum Auto.

*

Enno Cornelius und sein kleiner Sohn Pieter waren von der Heimleiterin in den Wintergarten geführt worden. Frau Rennert war das verstörte Wesen des Kindes nicht entgangen. Sie hoffte, dass der Papagei Habakuk und die Fischchen im Aquarium den Jungen ein wenig von seinem Kummer ablenken würden.

Nun stand Pieter staunend vor dem großen Käfig mit dem bunten Papagei. Er schien im Augenblick nichts weiter als ein kleiner Junge zu sein, der genauso fröhlich und begeistert sein konnte wie andere Kinder. »Du, Vati, die nette Dame hat doch gesagt, der Papagei könnte viele, viele Worte sprechen. Warum sagt er denn nichts?«

»Vielleicht solltest du ihn mal fragen?«

»Vati, aber ich habe seinen Namen vergessen.« Pieters blonde Brauen zogen sich zusammen. »Hast du dir den schweren Namen merken können?«

»Ja, Pieter.« Gerührt blickte Enno Cornelius auf den blonden Scheitel seines einzigen Kindes. »Der Papagei heißt Habakuk.«

»Das ist ein komischer Name, nicht wahr? Kann ein Mensch auch so heißen?« Ein grübelnder Ausdruck trat in die blauen Kinderaugen. »Ich kenne niemanden, der so heißt. Du?«

»Habukuk war einer der zwölf kleinen Propheten im Alten Testament. Frau Rennert hat uns das doch vorhin erzählt.«

»Ach ja, Vati. Aber ich war vorhin schrecklich aufgeregt und habe nicht alles verstanden. Nicht wahr, das Kinderheim Sophienlust ist gar nicht wie ein wirkliches Kinderheim? Es sieht doch wie ein richtiges Schloss aus. Findest du das nicht auch?«

»Ja, Pieter«, gab Enno Cornelius zu. Auf dem Weg von Essen nach Wildmoos hatte er noch Zweifel gehegt, ob er seinen Sohn in Sophienlust unterbringen sollte. Nun aber glaubte er fest, dass Pieter sich hier wohl fühlen und in dieser Atmosphäre auch sein scheues Wesen ablegen würde. Daheim, in der luxuriösen Villa, schien das unmöglich zu sein. Betty, seine Frau, hatte das Kind von Geburt an unterjocht und ihm dadurch die Möglichkeit genommen, sich innerlich frei zu entfalten. Wenn er, Enno, am Abend nach Hause gekommen war, hatte Pieter ihn niemals begrüßen dürfen, weil Betty es so wollte. Meist war er später zu dem Jungen hinaufgegangen, um ihm wenigstens gute Nacht zu sagen. Doch Pieter war dann oft so verschüchtert gewesen, dass er kaum ein Wort über die Lippen gebracht hatte.

Nach und nach hatte Enno den Reden des Personals auch entnommen, dass Betty das Kind oft grundlos anschrie oder sogar ohrfeigte, wenn sie ihre schlechte Laune abreagieren wollte. Mit Betty war darüber nicht zu sprechen. In seiner Ratlosigkeit hatte er seine Mitarbeiterin Julia van Arx ins Vertrauen gezogen. Sie gehörte zu den stillen Frauen, denen man unwillkürlich Dinge anvertraute, die man sonst ängstlich vor der Öffentlichkeit geheimhielt, und arbeitete seit einigen Monaten als Fremdsprachenkorrespondentin in seinem Werk. Von Anfang an hatte er sich glänzend mit ihr verstanden. Schon bei dem Gedanken an die junge Witwe wurde ihm jetzt ganz warm ums Herz. Deutlich sah er ihre großen dunkelblauen Augen vor sich, die in manchen Momenten violett schimmerten. Ihr warmherziges Lächeln verschönte ihr unregelmäßiges Gesicht so sehr, dass man es immer wieder anschauen musste. Auch hatte sie eine tadellose Figur. Ihre unauffällige Eleganz gefiel ihm sehr. Ja, sie verstand es, etwas aus ihrem Typ zu machen, was man von seiner Frau nicht behaupten konnte.

Ennos Gesicht verdüsterte sich jäh. Das Lächeln verschwand. Solche Vergleiche Julias mit Betty sollte er lieber bleiben lassen, sagte er sich. Denn Betty schnitt dabei nicht sehr gut ab.

Dabei war seine Frau früher einmal eine wirkliche Schönheit gewesen mit ihren hellen Haaren, den hellblauen Augen und der guten Figur. Nun aber war sie dick geworden und ihre einstmals klassischen Züge waren verschwommen. Ihre klangvolle Stimme hatte zudem einen schrillen Ton bekommen, der oft an seinen Nerven zerrte.

»Ich habe soeben mit Frau von Schoen­ecker gesprochen. Sie wird in wenigen Minuten hier sein«, unterbrach Frau Rennert die unerfreulichen Gedankengänge des Industriellen.

»Es tut mir sehr leid, dass ich Frau von Schoenecker in ihrer Sonntagsruhe stören muss, aber …«

»Das macht doch nichts«, fiel Frau Rennert ihm lächelnd ins Wort. »Na, kleiner Mann, gefällt dir der Papagei?«

»Ja, Tante, er ist sehr hübsch. Und so bunt. Aber er schaut mich nur an und sagt kein Wort.«

»Habakuk, was ist los?«, fragte Frau Rennert und trat an den Käfig. »Willst du denn unseren kleinen Pieter enttäuschen?« Sie wandte sich wieder dem Jungen zu. »Weißt du, er ist traurig, weil alle Kinder heute fort sind«, erklärte sie.

»Wo sind sie denn?«

»Fort! Fort! Nick, Nick! Sei doch brav, du Junge. Dummer Junge! Dummer Junge!«, krächzte Habakuk plötzlich los und schlug begeistert mit den Flügeln. »Banane her! Willst du wohl kommen!«

Pieter starrte benommen auf den Papagei. »Er kann tatsächlich sprechen«, flüsterte er ergriffen. »Wie ein Mensch. Oh, Vati, ist das nicht wunderbar?«

»Ja, Pieter, das finde ich auch.«

»Banane her! Komm schon, Junge!«

»Meint er mich?«, fragte Pieter kopfschüttelnd.

»Ich glaube schon.« Frau Rennert nahm eine Banane aus der breiten Schale auf dem Tisch und schälte sie ab. »So, nun gib Habakuk ein Stückchen davon.«

»Wird er mich auch nicht beißen?«

»Das glaube ich nicht, Pieter.«

»Vati, möchtest du nicht lieber …« Der kleine Junge schien dem Frieden nicht ganz zu trauen. »Vielleicht …«

»Pieter, sei kein Hasenfuß. Gib ihm schon das Stückchen Banane.«

»Ja, gib es ihm ruhig«, sagte da jemand hinter ihm.

Erstaunt drehte Pieter sich um. »Wohnst du auch hier?«, fragte er dann und sah Henrik unverwandt an.

»Ja, das heißt nur halb. Ich bin Henrik Alexander von Schoenecker und bin mit meiner Mutti aus Bachenau gekommen, um dich zu begrüßen.« Er streckte dem fremden Jungen seine nicht ganz saubere Hand entgegen.

»Und ich heiße Pieter Cornelius. Ich habe deinen Namen nicht ganz verstanden. Er ist so schrecklich lang.«

»Ich heiße erst einmal Henrik für dich. Der andere Name und der Familienname ist im Augenblick nicht wichtig. Und Sie sind gewiss Herr Cornelius?«, fragte Henrik höflich.

»Der bin ich, Henrik«, erwiderte Enno lachend und reichte dem Siebenjährigen seine Hand. Was für ein reizendes aufgeschlossenes Kind, dachte er dabei. Wie froh wäre ich, wenn mein Sohn ebenso wäre.

»Und da kommt Mutti!«, rief Henrik fröhlich.

Pieter hielt immer noch das Stückchen Banane in der linken Hand, als er Denise mit einem Diener begrüßte. Sie lächelte ihn liebevoll an. Der Kleine gefiel ihr auf den ersten Blick. Auch bemerkte sie sofort, dass wieder einmal ein Kind seelische Hilfe be­nö­tigte.

Enno Cornelius war hingerissen von Frau von Schoenecker. Darin erging es ihm nicht viel anders als den meisten Menschen, die ihr begegneten. Aber auch Denise fand Pieters Vater ungeheuer sympathisch. Sie schätzte ihn auf ungefähr vierzig. Man sah ihm an, dass er sich im Leben durchzusetzen wusste. Ja, er schien jedes noch so schwierige Problem, das sich ihm in den Weg stellte, spielend zu bewältigen. Und trotzdem entging Denise nicht die leichte Unsicherheit in seinen dunklen Augen. Auch die silbergrauen Strähnen in seinem dichten mittelblonden Haar fielen ihr auf. Das waren Zeichen dafür, dass auch er mit vielen Dingen nicht fertig wurde.

»Henrik, nicht wahr, du kümmerst dich um Pieter? Ich ziehe mich mit Herrn Cornelius ins Biedermeierzimmer zurück.«

»Ja, Mutti, du kannst dich auf mich verlassen.« Henrik klopfte sich auf die Brust. »So, Pieter, und nun gib Habakuk endlich das Bananenstückchen«, forderte er ihn auf. »Schau nur, er schlägt schon mit den Flügeln, ein Zeichen seiner Ungeduld.«

Pieter blickte seinem Vater einen Augenblick hilflos nach, dann hob ein tiefer Atemzug seine Brust. »Also gut«, sagte er entschlossen. »Ich tue es.« Vorsichtig steckte er das Stück Banane durch die Gitterstäbe. Blitzschnell packte Habakuk es mit seinen Krallen und kletterte mit seiner Beute auf die dicke Stange zurück.

Entsetzt beobachtete Pieter den bunten Vogel. Aber dann ließ er sich von Henrik zum Aquarium führen.

»Schau, Pieter, wie viele Fische wir jetzt schon haben. Aber die ganz kleinen Fischchen werden nicht groß. Sie werden von den großen aufgefressen«, erläuterte der jüngste Sproß der Familie von Schoenecker.

»Das ist aber sehr traurig.«

»Ach, Pieter, das ist nun mal so in der Natur. Die Großen fressen immer wieder die Kleinen auf. Es gibt auch ein Lied darüber. Mein großer Bruder Nick kennt den Text genau. Du, aber jetzt laufen wir mal schnell ins Eisenbahnzimmer!«

*

Henrik bemühte sich sehr, Pieter abzulenken, während im Biedermeierzimmer über dessen nächste Zukunft entschieden wurde.

Enno Cornelius sprach offen mit Denise über seine schwierigen privaten Probleme.

»An und für sich ist es nicht fair, wenn ich durch meine Bitte, Pieter bei Ihnen aufzunehmen, einem anderen Kind den Platz wegnehme«, fügte er hinzu. »Trotzdem wäre ich sehr froh, wenn ich Pieter hierlassen dürfte. Vermutlich werden Sie sich fragen, weshalb ich kein Kindermädchen für den Jungen engagiere. Aber Pieter fühlt sich nicht wohl daheim. Er hat … Ja, er fürchtet sich vor seiner Mutter. Meine Frau ist überempfindlich und leicht reizbar.« Das Wort ›nervenkrank‹ vermied Enno absichtlich. Auch wenn seine Liebe zu Betty längst gestorben war und nur noch das Mitleid ihn bei ihr hielt, ging es ihm gegen die Familien­ehre, sie auf irgendeine Weise bloßzustellen.

»Ich verstehe Sie vollkommen, Herr Cornelius. Pieter wäre nicht das erste unglückliche Kind in wohlhabenden Verhältnissen, das zu uns kommt. Die heutige Zeit ist oft schuld daran. Die Kräfte der Menschen werden viel mehr als früher beansprucht, ihre Nerven werden zu sehr strapaziert. Dann kommt es zu solchen tragischen Kinderschicksalen.«

»Sie wollen meinen Jungen also in Sophienlust aufnehmen?«, fragte Enno sichtlich erleichtert.

»Ja, Herr Cornelius. Wollen Sie ihn gleich bei uns lassen?«, fragte Denise herzlich.

»Ja, sehr gern. Morgen früh muss ich nach London fliegen. Und nach meiner Rückkehr bringe ich meine Frau ins Sanatorium. Einen Teil von Pieters Sachen habe ich schon im Wagen.«

»Unser Hausmädchen Ulla wird die Koffer holen.«

»Ende nächster Woche bringe ich dann Pieters restliche Kleidungsstücke. Ich bin sehr froh, dass der Junge in ein solches Heim kommt«, versicherte er noch einmal.

Enno Cornelius wurde Denise von Minute zu Minute sympathischer. Sein bescheidenes zurückhaltendes Wesen überraschte die lebenserfahrene Frau. Denn sein Werk in Essen und sein Name galten etwas in der Welt. Ja, man konnte sogar sagen, dass er eine führende Rolle in der Industrie spielte.

»Ich habe einen guten Einfall«, meinte Denise und erzählte rasch von Nick und seiner stillen Hoffnung, als Modefotograf Erfolg zu haben. »Ich würde vorschlagen, dass Sie und Ihr Sohn mich und Henrik nach Bachenau begleiten. Wenn wir uns beeilen, kommen wir noch zu Nicks Filmaufnahmen zurecht. Ich glaube, Pieter würde durch dieses neue Erlebnis leichter über den Abschied von Ihnen hinwegkommen.«

Enno Cornelius war einverstanden. Aber vorher wollte er noch Pieter sagen, dass er für die nächsten Wochen in Sophienlust bleiben müsse.

So geschah es auch. Kurz darauf stiegen die beiden Jungen in Ennos Auto ein, weil Henrik durchaus mit einem so tollen Schlitten fahren wollte. Enno folgte Denises Wagen. Henrik redete während der Fahrt wie ein Wasserfall, um bei seinem neuen kleinen Freund keine Traurigkeit aufkommen zu lassen. Aber Pieter wurde trotzdem immer stiller. Seit das Hausmädchen von Sophienlust seinen großen Koffer auf eines der Kinderschlafzimmer getragen hatte, war ihm unendlich schwer ums Herz.

Obwohl Pieter seinem Vater nie gezeigt hatte, wie sehr er ihn liebte, fiel ihm der Abschied von ihm doch sehr schwer. Am liebsten hätte er laut geweint. Aber er wollte sich vor Henrik nicht blamieren. Mit fast sechs Jahren weinte ein Junge doch nicht mehr, überlegte er.

Dann dachte Pieter an seinen Teddy, den er in der Eile daheim vergessen hatte. Seit er ihn besaß, hatte er noch keine Nacht ohne ihn geschlafen.

»Vati, nicht wahr, du bringst meinen Teddy ganz bestimmt mit, wenn du mich am Wochenende besuchst?«, fragte er leise.

»Ja, Pieter.« Enno lächelte seinen Sohn im Rückspiegel an. Aber es war ein gequältes Lächeln, denn er stellte sich vor, wie leer das große Haus in Essen ohne Pieter sein würde. Er würde sich sehr einsam fühlen …

Ennos Gedanken streiften nun für einen Augenblick Julia van Arx. Auch sie war sehr einsam und verbrachte ihre Freizeit meist allein.

»Da vorn ist schon das Tierheim!«, rief Henrik. »Schau, Pieter, dort ist auch das fünf Meter breite Schild über dem Tor!«

»Das rote Schild mit der grünen Schrift?«

»Ja, Pieter. Darauf steht der Name: ›Waldi & Co. Das Heim der glücklichen Tiere‹. Und weißt du auch, weshalb das Tierheim Waldi & Co. heißt?«

»Nein, Henrik.«

»Weil der Dackel Waldi, der meiner großen verheirateten Schwester gehört, einmal einem Kind das Leben gerettet hat. Zur Belohnung ist dann das Tierheim nach ihm benannt worden. Auch hat er dann die Dackeline Hexe zur Frau bekommen. Sie haben vier Kinder. Zwei der kleinen Dackel sind an Kinder verschenkt worden. Die beiden, die noch bei meiner Schwester sind, heißen Pucki und Purzel. Und dann gibt es viele andere Tiere im Tierheim. Bären und Affen und …«

»Auch Löwen?«, fragte Pieter, ihm ins Wort fallend. Seine Augen wurden immer größer vor Staunen.

»Nein, Löwen nicht. Aber einmal war ein Gepard da. Mein Schwager Hans-Joachim – er ist ein tüchtiger Tierarzt – hat aber auch schon einen Löwen behandelt. Er hat überhaupt keine Angst vor Raubtieren. Er ist sehr mutig«, fügte Henrik stolz hinzu.

»Und Elefanten? Gibt es die bei euch im Zoo auch?«

»Du meinst im Tierheim? Nein, Elefanten wären auch viel zu groß. Auch für Giraffen ist kein Platz da. Dafür haben wir aber zwei Esel. Ja, und ein Pony! Das ist nicht viel größer als ein Pudel.«

»Vati, gibt es denn so etwas?«, fragte Pieter kopfschüttelnd.

»Wenn Henrik das sagt, wird es wohl stimmen.« Enno fuhr langsam hinter Denises Wagen her und hielt dann dicht hinter ihr.

Inzwischen hatte Nick durch einen Anruf von Frau Rennert erfahren, dass seine Mutter mit Herrn Cornelius und dessen Sohn sowie mit Henrik auf dem Weg nach Bachenau war. Er und die Kinder hatten daraufhin beschlossen, mit den Filmaufnahmen noch bis zur Ankunft von Pieter und Henrik zu warten.

Als die beiden Jungen aus dem schnittigen Wagen des Industriellen ausstiegen, umringten die Kinder sie aufgeregt. Pieter konnte kaum fassen, dass alle so lieb zu ihm waren und sich ganz so benahmen, als seien sie schon seit langem mit ihm befreundet.

Für den kleinen Millionärssohn eröffnete sich an diesem Nachmittag eine völlig neue Welt. Er bekam frische Milch, goldgelbes Gebäck und Äpfel serviert. Zusammen mit Heidi und seinem neuen Freund Henrik saß er selig an einem Tischchen mit einer rotweißkarierten Leinendecke und ließ es sich schmecken.

Nick bereitete indessen alles für seinen geplanten Film vor. Als Pieter satt war, fasste Heidi ihn bei der Hand und lief mit ihm zum Tierheim hinüber.

Pieter war so sehr von den Dreharbeiten des netten großen Jungen in Anspruch genommen, dass er keine einzige Träne vergoss, als sein Vati sich von ihm verabschiedete und ihm versprach, am nächsten Wochenende zu Besuch zu kommen.

Später dann, als Pieter mit der lieben Kinderschwester Regine und den Kindern im Schulbus nach Sophienlust zurückfuhr, war er so müde, dass er die Augen kaum noch offenhalten konnte. Am Abendbrottisch brachte er vor Übermüdung keinen Bissen hinunter.

Schwester Regine brachte Pieter ins Bett. Damit er an seinem ersten Abend nicht so allein war, ließ sie die Verbindungstür zu Heidis Zimmer offenstehen. Dieses Zimmer lag gleich nebenan.

»Ich werde Pieter trösten, wenn er weinen sollte«, versprach das kleine Mädchen, als es ebenfalls zu Bett ging.

»Das ist lieb von dir, Heidi. Gute Nacht, mein Kleines.« Die Kinderschwester knipste das Licht aus.

Pieter hatte in dieser Nacht einen wunderschönen Traum. Er hatte plötzlich eine sehr liebe Mutti, die niemals schimpfte. Sie sah auch ganz anders aus als seine wirkliche Mutti. Sie hatte dunk­le Haare und lachte sehr lieb. Und Vati sah so glücklich aus wie noch nie. Und dann waren auf einmal alle Kinder von Sophienlust bei ihm und herzten und küssten ihn. Doch plötzlich saß er in einem Waggon der elektrischen Eisenbahn im Spielzimmer. Und der große bunte Papagei mit dem komischen Namen, den er schon wieder vergessen hatte, rief: »Pieter, wir haben dich alle lieb. Und deine Mutti hat große Sehnsucht nach dir. Fahre wieder heim zu ihr!« Daraufhin lenkte Pieter die elektrische Eisenbahn direkt in sein Spielzimmer in der Essener Villa. Der Teddybär hörte zu weinen auf und streckte ihm seine dicken Ärmchen entgegen.

Pieter fuhr aus dem Traum hoch und tastete gewohnheitsgemäß nach seinem lieben Teddy. Aber er konnte ihn nicht finden. Daraufhin wurde er ganz wach.

Das Fenster in seinem Zimmer stand offen. Helles Mondlicht flutete herein. Es war so hell, dass Pieter alle Möbel erkennen konnte. Auf einmal wusste er wieder, wo er war. Eine heiße Welle schoß durch seinen Körper und löste einen Tränenstrom aus. Allmählich ging sein Weinen in lautes Schluchzen über. Heidi wachte davon zwar nicht auf, aber dafür hörte Schwester Regine, die in dem Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors schlief, Pieters Weinen. Sofort eilte sie zu dem Jungen und nahm ihn tröstend in die Arme.

Wie ein Ertrinkender klammerte sich Pieter an Schwester Regine, als sie mit mütterlicher Zärtlichkeit auf ihn einredete. Sie blieb so lange bei ihm, bis er endlich wieder eingeschlafen war. Ebenso leise, wie sie gekommen war, verließ sie das Zimmer auch wieder.

*

So glücklich sich Pieter auch am ersten Tag unter den Kindern gefühlt hatte, er brauchte trotzdem verhältnismäßig lange, bis er seine Scheu und seine entsetzliche Angst vor dem Leben überwunden hatte. Er zuckte immer wieder wie unter einem Schlag zusammen, wenn er das Gefühl hatte irgendetwas nicht richtig zu machen.

Pünktchen, die sich, wie meist, über jedes Kind so ihre Gedanken machte, sagte eines Tages zu ihrem großen Freund Nick: »Pieter hat bestimmt oft Schläge bekommen. Genauso haben sich die Kinder benommen, die von ihren Eltern misshandelt worden waren. Denk doch an die Stieftochter von Frau Dr. Frey. Filzchen war anfangs genauso verschreckt.«

»Das ist wahr«, stimmte Nick ihr bei.

»Und dann die kleine Romy Merlin, die von ihrer Mutter mit der Reitgerte geprügelt wurde. Glaubst du, dass Pieters Mutter auch so gemein ist? Herr Cornelius hat Pieter bestimmt niemals gehauen.«

»Das glaube ich auch nicht. Es könnte schon sein, dass Frau Cornelius Pieter geschlagen hat. Solche Menschen, die Kinder quälen und misshandeln, müssten ins Fegefeuer kommen«, erklärte Nick.

»Ja, das wäre eine gerechte Strafe für sie.« Pünktchen sah ihren Freund voller Bewunderung an.

*

»Heute treibt sie es wieder ganz schlimm«, stellte Herta Linz fest, die seit mehr als drei Jahren im Haus von Enno Cornelius als Köchin angestellt war. Und drei Jahre lang hatte sie Zeit gehabt, die gnädige Frau kennenzulernen. »Wenn sie diese Woche nicht in ein Sanatorium kommen würde, hielte mich nichts mehr hier zurück«, fügte sie hinzu und sah dabei das Hausmädchen Lotte und den Chauffeur Erwin an.

»Es war Zeit, dass Herr Cornelius endlich durchgegriffen hat.« Lotte strich sich dick Butter auf die Frühstückssemmel. »Der Junge hat einem leid tun können. Wie oft hat die Gnädige auf ihn eingeschlagen ohne Grund. Pieter ist doch ein so liebes Kind. Ohne ihn ist es sehr einsam im Haus.«

Erwin äußerte sich nicht. Aber er dachte sich seinen Teil. Wäre er an Herrn Cornelius’ Stelle gewesen, hätte er sich von diesem Weib schon längst scheiden lassen. Nicht einmal der Satan würde es mit der Gnädigen aushalten können. Aber Herr Cornelius war ein echter Gentleman, der jeden Familien­skandal vermied. Dabei hätte er mit seinem Geld jede Frau haben können.

»Ich bringe ihr jetzt das Frühstück«, erklärte Lotte nach einem bedauernden Blick auf den gedeckten Tisch. »Ich werde drei Kreuze schlagen, wenn sie endlich fort ist.«

Herta brummte etwas in sich hinein und erhob sich dann, um die silberne Kaffeekanne auf das Tablett zu stellen. »Hoffentlich hat sie heute nichts am Ei auszusetzen. Mal ist es ihr zu weich, dann zu hart, dann zu heiß, dann zu kalt. Sie ist ja nur auf Schikane aus.«

»Also, meiner Meinung nach hat sie irgendetwas auf dem Kerbholz. Sie ist immer so nervös und fahrig. Und dann die vielen Tabletten … Sie schluckt sie ja pfundweise.«

»Ich glaube, sie ist schon süchtig«, konterte Herta.

Der Chauffeur zündete sich eine Zigarette an. Wieder machte er keine Bemerkung. Aber er dachte an seine vielen Fahrten zu den Apotheken. Immer wieder bekam Frau Cornelius Rezepte von den Ärzten. Sie wechselte sie allerdings wie die Kleider. Ein Glück, dass sie nun ins Sanatorium kam.

Lotte griff mit einem Seufzer nach dem voll beladenen Tablett. »Ihr habt es gut!«, rief sie von der Tür her zurück. »Ihr braucht nicht jeden Tag mehrere Male in die Höhle des Löwen zu gehen.«

*

Betty Cornelius saß im Frühstückszimmer und war denkbar schlechtester Laune. Zwei tiefe Querfalten standen auf ihrer Stirn. Falten, die die letzten Jahre in ihr stets missmutiges Gesicht eingegraben hatten. Das hellblonde Haar war ohne Glanz. Struppig umstand es ihren Kopf. Allein schon der Gedanke, zum Friseur gehen zu sollen, war ihr zuwider.

An diesem Morgen trug Betty einen rosa Morgenrock, der über der Brust spannte. Erst am Tag zuvor hatte sie dem Hausmädchen einen riesigen Krach gemacht, weil es den Morgenrock angeblich zu heiß gewaschen hatte, sodass er dadurch eingegangen sei. Dass sie wieder zugenommen hatte, wollte sie nicht wahrhaben.

Lotte öffnete leise die Tür. Lautlos stellte sie das Tablett auf der Anrichte ab. »Guten Morgen, gnädige Frau«, sagte sie forsch.

»Na, endlich!«, rief Betty gereizt. »Ich warte schon seit einer geschlagenen Stunde auf das Frühstück! Da hat man eine Köchin, ein Hausmädchen und einen Chauffeur, und trotzdem bekommt man nichts pünktlich!«

»Gnädige Frau, Sie haben erst vor fünf Minuten geläutet«, widersprach das Mädchen furchtlos.

»Das ist eine infame Lüge!« Betty Cornelius griff sich an die Stirn. »Ich bin mehr als froh, dass ich euch in den nächsten Wochen nicht mehr sehen muss.« Sie klopfte das Frühstücksei auf.

Lotte schenkte Kaffee in die versilberte Porzellantasse ein und zog sich dann eiligst zurück, um weiteren Beschimpfungen aus dem Weg zu gehen. So musste Betty mit ihrem Ärger über das angeblich zu harte Ei allein fertig werden.

Wütend griff sie in die Tasche ihres Morgenmantels und nahm ein Glasröhrchen heraus, das noch halb mit Tabletten gefüllt war. Zwei davon schluckte sie mit etwas Kaffee hinunter. Danach atmete sie wie erleichtert auf. Nun würde es nur einige Minuten dauern, bis ihr Unbehagen verschwunden sein würde.

Die Wirkung hielt auch die nächsten Stunden noch an. Zwar ärgerte Betty sich, weil ihr der Hosenanzug zu knapp geworden war. Trotzdem zwängte sie ihre rundlichen Formen in die Hose. Dann rief sie im Werk an und verlangte ihren Mann zu sprechen. Als ihr Ennos Mitarbeiterin Julia van Arx mitteilte, Herr Cornelius sei in einer Sitzung, in der man ihn nicht stören dürfe, knallte sie empört den Hörer auf. Julia van Arx war ihr ein Dorn im Auge. Sie hatte die Fremdsprachenkorrespondentin erst vor einigen Tagen bei einem Besuch im Werk ihres Mannes kennengelernt. Seitdem war sie von einer krankhaften Unruhe befallen, die sie nur mit ihren Tabletten betäuben konnte.

Eine Frau wie diese Julia van Arx war Betty unheimlich. Ihr sicheres Auftreten, ihre Intelligenz und ihr gutes Aussehen – leider musste sie das zugeben – schienen Enno stark anzuziehen. Zudem war Julia Witwe und zehn Jahre jünger als sie, Betty. Bei ihrer tadellosen Figur brauchte Julia sich gewiss nicht zu kasteien und immer wieder auf die Waage zu steigen, um ihr Gewicht zu kontrollieren.

Betty trat vor den Spiegel in ihrem Schlafzimmer. Nach ihrem Sanatoriums­aufenthalt würde sie auch wieder schlank sein, hoffte sie. Dann würde sie wieder so schön sein wie früher. Und Enno würde sie wieder lieben.

Betty sank erschöpft aufs Bett. Wenn ich doch endlich von diesem Martin Aarhof befreit sein würde, dachte sie. Dieser Mann saugt mir noch das Blut aus den Adern. Allerdings besorgt er mir auch immer wieder die Tabletten, die ich so nötig brauche, um mich wohl zu fühlen.

»Claus, ich hätte nie gedacht«, murmelte sie und presste beide Hände gegen ihre Schläfen, »dass du so gemein sein könntest und deinen Bruder zu mir schicken würdest.« Mit zitternden Händen zog sie die Nachttischschublade auf und entnahm ihr zwei Tabletten. Gierig schluckte sie sie mit Wasser hinunter. Das Herz schlug ihr plötzlich bis zum Hals hinauf. Ganz schlecht wurde ihr. Aufstöhnend sank sie auf die Kissen zurück. Der Schweiß brach ihr aus allen Poren.

Dann ging der Anfall vorüber. Tränen der Erleichterung liefen über ihre bleichen Wangen. »Mein Gott, warum ist alles so gekommen?«, schluchzte sie auf und warf die Hände vors Gesicht.

Nach einer Weile zog sie sich aus und legte sich ins Bett. Auch als Enno heimkam, brachte sie nicht die Energie auf, noch einmal aufzustehen. Als das Hausmädchen ihm sagte, wo er seine Frau finden könne, lief er die Treppe hinauf und betrat leise das Schlafzimmer, in dem die Vorhänge zugezogen waren.

»Endlich, Enno«, stöhnte Betty auf. »Wo bleibst du nur so lange? Hat dich Frau van Arx aufgehalten? Ach, werde ich froh sein, wenn ich endlich fort bin. Fort von dir, von allen Menschen hier! Mir wird alles zuviel. Viel zuviel!«, rief sie und setzte sich auf. »Schau mich nicht so an! Ich weiß ja, dass ich wie eine Hexe aussehe. Aber mir macht nichts mehr Freude. Ich bin immer allein und …«

»Soll ich dir etwas zu trinken bringen?«, fragte er leise.

»Nein, Enno, nur keinen Alkohol. Du weißt doch, dass ich jedes alkoholische Getränk verabscheue.«

»Es wäre besser, du würdest hin und wieder einen Schluck Wein oder Bier trinken und nicht diese Tabletten einnehmen. Deine Nerven müssen ja ruiniert sein.«

»Du willst doch damit nicht behaupten, dass ich süchtig bin?«, schrie sie hysterisch.

Enno hielt es für klüger, Betty nicht zu widersprechen. In dieser Verfassung war sie völlig unberechenbar. Es kam dann vor, dass sie hemmungslos losschrie.

Betty musterte ihn lauernd. »Du kannst es wohl nicht mehr erwarten, dass ich fortgehe?«, fragte sie gefährlich leise.

»Bitte, Betty, das ist doch Unsinn. Der Sanatoriumsaufenthalt war deine Idee.«

»Weil du sie mir eingeredet hast, ja, so ist es. Und ich weiß auch, seit wann du dir wünschst, mich loszuwerden. Seitdem diese Frau van Arx bei dir im Büro arbeitet. Nicht wahr, sie gefällt dir? Wenn du das Gegenteil behauptest, lügst du. Ja, dann bist du ein schamloser Lügner. Gibst du es zu?«

»Wenn du es willst, dann gebe ich es zu.« Er sah sie voller Mitleid an. »Bitte, Betty, willst du mir nicht erzählen, was dich so nervös macht? Damals, nachdem unser Pieter geboren wurde, schien doch alles wieder gut zwischen uns zu werden. Du hast dich gepflegt, warst liebenswert. Aber dann änderte sich das von einem Tag auf den anderen. Irgendetwas quält dich. Hast du ein Problem, mit dem du nicht fertig wirst? Warum hast du kein Vertrauen zu mir? Wir sind doch Mann und Frau. Auch haben wir ein gemeinsames Kind, auf das wir Rücksicht nehmen sollten. Vielleicht …«

Ihr schrilles Lachen unterbrach ihn. »Ach, das alles ist zu komisch! So unendlich komisch, dass ich nur lachen kann.«

»Betty, komm zu dir.« Er rüttelte sie, als ihr lautes hysterisches Lachen nicht aufhören wollte. Endlich ging es in ein hemmungsloses Schluchzen über.

»Betty, sei ruhig. Um Himmels willen, schreie doch nicht so! Denke an das Personal!«

»Lass mich in Ruhe! Geh doch zu deiner Frau van Arx. Liebe sie und …«

Enno verließen die Nerven. Er floh förmlich aus dem Zimmer. Erst nach dem zweiten Whisky beruhigte er sich ein wenig. Er sagte sich, dass Betty ja am nächsten Tag nicht mehr da sein würde.

Wie unnatürlich war es doch, dass sie stets tat, als gäbe es Pieter gar nicht, als habe sie niemals einem Kind das Leben geschenkt. Er konnte sich einfach nicht des Gefühls erwehren, dass Betty ihr eigenes Kind hasste. Was sollte nur aus ihnen allen werden? Seine einzige Hoffnung war, dass Betty in diesem Sanatorium tatsächlich an Leib und Seele gesunden würde.

Am nächsten Morgen weigerte sich Betty, abzureisen. Sie schrie hysterisch und schlug mit der Faust in den Spiegel ihres Schlafzimmers. Das Blut der Schnittwunden brachte sie einigermaßen zur Besinnung. Lotte, die einen Sanitäterkursus mitgemacht hatte, zeigte sich an diesem Morgen von einer ganz anderen Seite. Resolut verband sie die Hand und schrie ihre Gnädige an, als diese sie beschimpfte.

Enno gab dem Mädchen später als Dank einen Hunderteuroschein. Betty aber stieg widerstandslos in das Auto ein. Enno hatte diesmal auf die Dienste seines Chauffeurs verzichtet, weil er befürchtete, dass seine Frau ihn vor ihm noch mehr blamieren würde. Nur er selbst wusste, wie viel Kraft es ihn kostete, geduldig zu bleiben.

Laut schluchzend saß Betty neben ihm. »Du bist niederträchtig«, klagte sie. »Am liebsten wäre es dir, wenn ich tot wäre. Nicht wahr, so ist es doch?« Aus verweinten Augen sah sie ihn an. »Enno, bitte, hilf mir«, flehte sie plötzlich.

Er fuhr langsamer. »Ja, Betty, das will ich ja. Nicht wahr, du hast große Sorgen?«

»Sehr große, Enno«, erwiderte sie sehr leise. »Ich habe Angst. Große Angst.«

»Aber warum nur, Betty?«

»Ach, Enno!«, rief sie und schlug dann die Hände vors Gesicht. »Ich kann es doch nicht sagen. Wenn ich doch tot wäre!«

Sosehr er auch in sie drang, sie weigerte sich hartnäckig, ihm den Grund ihrer Angst zu sagen. Schließlich gab er es auf und war froh, als sie das so idyllisch gelegene Sanatorium in der Eifel erreichten.

Als Betty aus dem Wagen stieg, konnte sie sich kaum auf den Beinen halten. Sofort waren zwei Krankenschwestern zur Stelle und nahmen sie in die Mitte. Der Hausdiener bemächtigte sich der Gepäckstücke. Enno folgte langsam. Dabei heftete sich sein Blick auf den Rücken seiner Frau, die sich in einem bejammernswerten Zustand befand. Zwölf Jahre war er nun mit Betty verheiratet. Zwölf Jahre, die ihm wenig Glück gebracht und wenig Freude bereitet hatten. Damals, als er sie in Amsterdam auf einer Ausstellung kennengelernt hatte, hätte er sich nicht träumen lassen, dass aus dem bildhübschen Mädchen einmal ein solches Wrack werden würde.

Arme Betty, dachte er, als er hinter ihr die Steinstufen zum Eingang hinaufstieg. Plötzlich blieb sie stehen, riss sich von den Schwestern los und drehte sich mit blitzenden Augen um. »Warum kommst du überhaupt mit?«, fragte sie böse. »Fahr nur schnell zurück nach Essen, wo du sicherlich sehnsuchtsvoll erwartet wirst. Fahr doch!«, schrie sie ihn an. »Ich will dich nicht mehr sehen! Nie mehr!«

»Bitte, Frau Cornelius.« Die ältere der beiden Krankenschwestern fasste beruhigend nach dem Arm der wütenden Patientin.

»Lassen Sie mich! Ach, lassen Sie mich!« Wie gehetzt jagten Bettys Blicke über die Front des langgestreckten Gebäudes. An einigen Fenstern waren Gitterstäbe angebracht. »Das ist ja ein Gefängnis! Eine Irrenanstalt! Lasst mich!«

Aber die Krankenschwestern waren an nervenschwache Patienten gewöhnt. Enno atmete tief auf, als es ihnen gelang, Betty zur Ruhe zu bringen. Mit hängenden Schultern ging er zu dem Professor, der ihn in seinen Privaträumen erwartete.

Der erfahrene Nervenarzt versprach ihm, alles zu tun, um Betty zu heilen. »Ich hoffe auch, dass es uns gelingen wird, sie von ihrer Tablettensucht zu befreien«, fügte er gütig hinzu, um seinem Gegenüber etwas Mut zu machen. Dass sich der große Industrielle in einer äußerst schlechten Verfassung befand, war ihm nicht entgangen.

»Hoffentlich ist es noch nicht zu spät dazu. Meine Frau scheint mit irgendeinem Problem nicht fertig zu werden.«

»Wir werden versuchen, das Vertrauen Ihrer Frau zu gewinnen, um das Übel an der Wurzel zu packen. Ich rufe schnell einmal in der Station an und frage an, ob Sie Ihre Frau noch einmal sehen können.«

Enno erhob sich und trat ans Fenster. Der Professor sprach währenddessen mit der Stationsschwester. Als er auflegte, sagte er zu Enno: »Es wäre besser, Sie gingen nicht mehr zu Ihrer Frau. Der Stationsarzt hat ihr eben eine Beruhigungsspritze gegeben.«

Enno war eher erfreut über diesen Rat. Denn Betty und er hatten sich momentan nichts mehr zu sagen. Dass sie nicht einmal Grüße an Pieter bestellt hatte, war befremdend für ihn. Auch auf der Fahrt hierher hatte sie das Kind kein einziges Mal erwähnt. Nein, Betty konnte man wirklich nicht mehr als normal bezeichnen, dachte er erschüttert. Stand sie nicht bereits an der Grenze zu der Welt, in der der Mensch jeden Kontakt mit der Wirklichkeit verlor?

Enno verabschiedete sich von dem Professor. Ein kühler Wind strich über ihn hinweg, als er das Sanatorium verließ und zu seinem Auto ging. Auf einmal fühlte er sich seltsam frei. Das Schlimme war nur, dass er mit dieser Freiheit nichts anzufangen wusste. Er sehnte sich nur nach Ruhe und Entspannung. Am liebsten wäre er ziellos immer geradeaus gefahren und hätte sich irgendwo weit vom Schuss in einen Winkel verkrochen, um seine strapazierten Nerven zu schonen.

Aber Ferien vom Ich waren für ihn ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte. Eine große Verantwortung lastete auf seinen Schultern. Hunderte von Familien waren von ihm abhängig. Als er vor nunmehr vierzehn Jahren das Erbe seines Vaters hatte antreten müssen, hatte er nicht geahnt, was das bedeutete. Die seitdem vergangenen Jahre zählten doppelt für ihn. Er war zwar an seiner Aufgabe gewachsen, hatte aber auch viel Kraft und Selbstdisziplin benötigt, um durchhalten zu können.

Enno blickte sich noch einmal um. Hinter einem dieser Fenster lag seine Frau, die am Leben zerbrochen war. Dabei hatte sie niemals wirkliche finanzielle Sorgen kennengelernt. Vermutlich war das der Fehler gewesen. In all den Jahren hatte sie viel zu viel Zeit und Gelegenheit gehabt, nur an sich selbst zu denken.

Enno stieg in seinen Wagen ein und fuhr langsam die Auffahrt hinunter. Die Sonne vergoldete die herrliche Landschaft, als er das breite schmiedeeiserne Tor hinter sich ließ und in die Hauptstraße einbog.

Seine Gedanken wanderten zurück in die Zeit, als er Betty kennengelernt hatte. Damals war er ein unternehmungslustiger junger Mann von achtundzwanzig Jahren gewesen, der das Leben mit der ganzen Kraft seines feurigen Herzens geliebt hatte. Das Leben und die Frauen.

Als Chef seines Werks hatte er es sich schon damals nicht nehmen lassen, die meisten Geschäftsreisen ins Ausland persönlich zu unternehmen. Auf diese Weise war er viel in der Welt herumgekommen. Auch nach Amsterdam. Die holländische Hauptstadt mit ihren alten Häusern und Grachten hatte ihm sofort gefallen. Ebenso der Menschenschlag. Damals hatte er geglaubt, dass es in keiner anderen Stadt so viele hübsche Mädchen gebe wie in dieser. Sie schienen alle vor Gesundheit zu strotzen. Ihre Augen blitzten nur so vor Unternehmungslust und Freude am Leben. Und ihr natürliches Wesen war für ihn herzerfrischend.

Als er dann Betty Hootzen kennenlernte, war es um ihn geschehen. Die bildschöne Holländerin war damals ein begehrtes Fotomodell. Ihre klassischen Gesichtszüge, ihre vollendete Figur und ihre Herzlichkeit fesselten sein Interesse für sie so stark, dass er sie sofort fragte, ob sie ihn heiraten wolle.

Betty war damals sechsundzwanzig. Sie wusste, dass ihre Laufbahn als Modell bald beendet sein würde. Der Heiratsantrag des bekannten Industriellen, der außerdem noch ein fantastisch aussehender Mann war, löste ihre Zukunftsprobleme jedoch mit einem Schlag.

Es hatte eine grandiose Hochzeit gegeben, von der man noch monatelang gesprochen hatte. Betty und er waren im siebten Himmel gewesen. Ihre dreimonatige Hochzeitsreise hatte sie um die halbe Welt geführt. Danach gehörte Betty bald zu den beneidetsten Frauen der Hautevolee. Sie trug Modelle von Pariser Meistern und war auch sonst in vielen Dingen tonangebend. Ihre auffallende Schönheit machte die Männer zu ihren Sklaven. Aber sie kümmerte sich nicht darum, und so bekam seine aufsteigende Eifersucht niemals Nahrung. Dass sie ebenfalls eifersüchtig auf ihn war, gefiel ihm.

Auch das erste Ehejahr in der pompösen Essener Villa war durch nichts getrübt gewesen. Dann aber hatte sich ihr glückliches Beisammensein mit einem Schlag geändert.

Ennos Stirn runzelte sich.

Wann hatte es eigentlich angefangen? Genau wusste er es nicht mehr. Aber plötzlich hatte die Fassade ihres Glücks abzublättern begonnen und die ersten schadhaften Stellen gezeigt. War es an dem Tag geschehen, als er erklärt hatte, er wünsche sich einen Erben? Oder hatte das Elend in ihrer Ehe an­gefangen, als Betty von einem Arzt zum anderen gefahren war und immer wieder gehört hatte, dass sie vermutlich kein Kind würde austragen können?

Betty war jedenfalls immer unausgeglichener, immer unsteter und hektischer in ihren Handlungen und Reaktionen geworden. Sie jagte von da an von einem Vergnügen zum anderen, trank unmäßig und rauchte viel zuviel. Nur noch selten traf er sie daheim an, wenn er nach einem arbeitsreichen Tag abgespannt nach Hause kam. War sie jedoch da, machte sie ihm plötzlich unbegründete Eifersuchtsszenen, verdächtigte ihn mit seinen weiblichen Angestellten immer wieder, sie wisse genau, dass er sie auf seinen vielen Geschäftsreisen mit leichtfertigen Mädchen betrüge.

Ihr Zusammenleben wurde dadurch unerträglich. Als er ihr in seiner Verzweiflung sagte, er wolle sich von ihr scheiden lassen, flehte sie ihn an, bei ihr zu bleiben und ihr zu verzeihen.

Enno ließ sich noch einmal erweichen. In der folgenden Nacht liebten sie einander mit einer Leidenschaft wie in den ersten Monaten ihrer Ehe. Aber schon ein paar Tage später bekam Betty einen neuen hysterischen Anfall. Sie warf ihm Dinge an den Kopf, die er lieber vergessen wollte. Nach einer heftigen Auseinandersetzung packte sie schließlich ihre Koffer und fuhr zu ihren Eltern nach Amsterdam, entschlossen, sich von ihm zu trennen.

Ihm kam es damals mehr als gelegen, dass eine lange Geschäftsreise ins Ausland vor ihm lag. Mit kurzen Unterbrechungen hielt er sich in den nächsten Monaten in den verschiedensten Ländern auf.

Endlich entschloss er sich, die Scheidung einzureichen. Denn Betty lehnte es strikt ab, noch einmal nach Essen zurückzukehren. Also übergab er die ganze Angelegenheit seinem Anwalt.

Aber dann geschah etwas völlig Unerwartetes. Sein Anwalt rief ihn an und bat ihn, sobald wie möglich zu ihm in die Kanzlei zu kommen, weil er etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen habe.

Fassungslos saß Enno bald darauf seinem Anwalt gegenüber, der ihm einen Brief von Betty vorlas. Sie schrieb, sie sei mit allen Bedingungen der Scheidung einverstanden. Aber sie bestehe darauf, das Kind, das sie erwarte, zu behalten. Er, Enno, solle alle Rechte auf das Kind an sie abtreten.

Noch heute glaubte er seine eigene Stimme zu hören, als er tonlos fragte: »Was für ein Kind?«

»Ihre Frau schreibt unter anderem, dass Sie sich kurz vor Ihrer endgültigen Trennung noch einmal versöhnt hätten.«

Ja, das stimmte. Enno erinnerte sich genau an die leidenschaftliche Umarmungen der letzten Nacht, die sie zusammen verbracht hatten. Diese Nacht hatte ihm also die Erfüllung seines größten Wunsches gebracht. Einen Erben.

Daraufhin erklärte er, unter diesen Umständen ließe er sich auf keinen Fall scheiden. Schon bald erfuhr er, dass Betty im Prinzip damit einverstanden sei, ihn selbst aber erst nach der Geburt des Kindes, das in zwei Monaten zur Welt kommen müsse, wiedersehen wolle.

In seiner Freude über das Baby hatte er sich damals in alles gefügt. Er war unendlich glücklich, als er seinen Sohn zum ersten Mal in den Armen hielt. Nach der Rückkehr von einer längeren Geschäftsreise hatte er das Telegramm mit der glücklichen Nachricht daheim vorgefunden und war noch am gleichen Tag nach Amsterdam gefahren.

Betty war bereits aus dem Krankenhaus entlassen und erwartete ihn bei ihren Eltern. Lächelnd führte sie ihn in das Zimmer, in dem der Babykorb stand. »Ich möchte unseren Sohn Pieter taufen«, sagte sie.

Er hatte nur nicken können, denn der Anblick des winzigen Kindes hatte ihm heiße Glückstränen in die Augen getrieben.

Einige Tage waren sie noch in Amsterdam geblieben. Dann hatte Betty sich entschlossen, mit dem Kind zu ihm zurückzukehren.

Tatsächlich war ihre Liebe von da an noch einmal aufgeblüht, sodass er, Enno, begonnen hatte, an ein dauerndes Glück zu glauben. Dass Betty rundlicher geworden war, störte ihn nicht. Im Gegenteil, er fand, dass sie dadurch fraulicher wirkte, dass es ihr gut stand. Seinen kleinen Sohn vergötterte er. Jeden Abend freute er sich auf den Jungen, der jedesmal vor Freude krähte, wenn er sich über sein Bettchen beugte.

Aber plötzlich änderte sich Betty von einem Tag auf den anderen. Sie verlangte, dass für Pieter eine Kinderschwester eingestellt werde, weil sie keine Lust mehr habe, sich selbst um das Kind zu kümmern. Ja, sie vernachlässigte Pieter ganz offensichtlich. Ihre Reizbarkeit zerstörte zudem ihr harmonisches Zusammenleben. Sie wurde wieder genauso unstet, wie vor Pieters Geburt, war angriffslustig und begann ihn wieder mit anderen Frauen zu verdächtigen. Aus Liebe zu seinem Sohn zwang er sich, geduldig zu bleiben und so den Frieden in ihrer Ehe aufrechtzuerhalten. Aber Betty forderte ihn immer wieder heraus, sodass auch seine Nerven letztlich versagten und die Dinge ihm ganz einfach über den Kopf wuchsen.

Enno seufzte auf. Was hatte Betty nur so verändert, warum war ihr Pieter plötzlich gleichgültig geworden? Was quälte sie? Wovor fürchtete sie sich?

Enno fuhr schneller. Auf einmal hatte er es sehr eilig, nach Essen zu kommen. Er brauchte einen Menschen, mit dem er sich aussprechen konnte. Vielleicht war Julia van Arx noch im Werk. Sie machte oft Überstunden, weil auch sie sich vor der Einsamkeit in ihrer kleinen Wohnung fürchtete.

*

Julia van Arx blickte auf ihre Armbanduhr. Tatsächlich waren die Stunden wieder einmal wie im Flug vergangen. In zehn Minuten war es sieben Uhr. Zeit, um endlich heimzugehen.

Die junge Frau verschloss die Schriftsachen, an denen sie bis jetzt gearbeitet hatte, in ihrem Schreibtisch und deckte die Schreibmaschine zu. Dann erhob sie sich und ging zu der Waschnische.

Während sie sich die Hände wusch, betrachtete sie ihr schmales Gesicht mit den großen Augen in dem Spiegel über dem Waschbecken. Einen Augenblick dachte sie an die Zeit, als sie noch glücklich verheiratet gewesen war. Damals war ihr Gesicht rund gewesen, und ihre Wangen hatten stets eine frische Gesichtsfarbe gezeigt. Wenn sie heute an ihren Mann dachte, kam ihr das Jahr mit ihm wie ein wunderschöner Traum vor. Ja, leider nur wie ein Traum.

Wim und sie waren fast gleich alt gewesen. Sie hatten sich sogleich, nachdem sie sich kennengelernt hatten, ineinander verliebt. Wenige Wochen später hatten sie geheiratet. Da sie beide arm gewesen waren, hatten sie auch zu zweit für ihr Leben sorgen müssen. Aber das machte ihnen nichts aus. Sie wohnten in einem kleinen Einzimmerappartement mitten im Herzen von Amsterdam. Von der Loggia aus blickten sie direkt hinunter auf eine der Grachten.

Wim hatte nur eine Leidenschaft, die sie nicht mit ihm teilte. Er war ein Fußballfan. Seine beiden Freunde holten ihn jedesmal ab, wenn im Fußballstadion irgendein Spiel stattfand.

Anfangs sträubte sie sich gegen die einsamen Sonntagnachmittage, doch dann gewöhnte sie sich daran. Sie nutzte das Alleinsein für Übersetzungen von Romanen aus. Mit diesem Nebenverdienst wollte sie neue Möbel kaufen. Aber dann stellte sie fest, dass sie ein Kind erwartete.

Wim war selig, als er davon erfuhr. Er verlangte, dass sie ihre Stellung als Fremdsprachenkorrespondentin aufgebe. Aber sie erklärte, sie fühle sich sehr gut. Außerdem benötigten sie ja nun noch mehr Geld für die Aussteuer ihres Babys.

Und dann erklärte Wim, dass er sie in den letzten Monaten ihrer Schwangerschaft an keinem Sonntag mehr allein lassen wolle. Freiwillig verzichtete er auf die Besuche in dem Fußballstadion.

»Nur noch an diesem Sonntag fahre ich hin«, erklärte er. »Meine Freunde haben eine Karte für mich besorgt. Ich werde aber versuchen, früher als sonst daheim zu sein.«

Julia hatte noch immer den Klang seiner lieben Stimme im Ohr, als er von der Tür her rief: »Sei schön brav, Julia! Leg dich hin! Bis nachher!« Dann lächelte er sie noch einmal an.

Julia fröstelte plötzlich, obwohl ein laues Abendlüftchen in das Büro hereinwehte. Sie sah sich wieder zum Fenster laufen und hinunterblicken. Wim stieg gerade in den Wagen ein, der einem seiner Freunde gehörte.

Eine Stunde später hatte dann das Telefon geläutet, und sie hatte erfahren, dass ihr Mann tödlich verunglückt war. Beim Verlassen des Stadions war er direkt in ein Auto hineingelaufen.

Noch heute fragte sich Julia immer wieder, ob Wim noch leben würde, wenn er das Ende des Fußballspiels abgewartet hätte und mit seinen Freunden zusammen nach Hause gefahren wäre.

Jahrelang hatte sie dieser Gedanke bis in ihre Träume verfolgt.

Nach Wims Tod hatte sie noch ein wenig Trost in dem Gedanken an ihr gemeinsames Kind gefunden. Aber die vielen Aufregungen und die schlaflosen Nächte mussten dem Baby wohl geschadet haben. Es war wenige Minuten nach der Geburt gestorben. Damals hatte sie geglaubt, nicht mehr weiterleben zu können. Aber dann hatte sie sich mit dem Unabänderlichen abgefunden.

Julia wandte sich von ihrem Spiegelbild ab. Es war sinnlos, der Vergangenheit nachzutrauern. Sie war heute achtundzwanzig Jahre alt und hatte eine fantastische Stellung. Ihr Chef Enno Cornelius ließ ihr völlige Freiheit in ihrem Arbeitsbereich, und sie schätzte ihn nicht nur als Vorgesetzten, sondern auch als Menschen. Von Anfang an hatte sie gespürt, dass sie beide viele gemeinsame Interessen hatten.

Dass seine Ehe unglücklich war, gab er zwar niemals zu, aber Julia wusste es auch so. Ihr war auch klar, dass sein kleiner Sohn sein ganzer Lebensinhalt war. Pieter war ein besonders reizendes Kind. Leider war er für einen fünfjährigen Jungen viel zu scheu. Aber sicherlich würde das nun anders werden. In einem Kinderheim lebten die meisten Kinder auf, dachte Julia.

Auch ihr Sohn wäre heute etwas über fünf Jahre alt, ja, fast sechs. So wie Pieter.

Die beiden Jungen waren im gleichen Monat zur Welt gekommen, hatte sie inzwischen festgestellt. Vielleicht würde Herr Cornelius erlauben, dass sie Pieter im Kinderheim besuchte? überlegte Julia weiter, als sie nach ihrer Handtasche griff und das Zimmer verließ.

Auf dem Weg zum Lift begegnete sie Enno Cornelius.

»Ich bin so froh, dass ich Sie noch antreffe, Frau van Arx«, sagte er leise und umschloss ihre Hand fest. »Bitte, tun Sie mir den Gefallen und verbringen Sie den heutigen Abend mit mir. Wollen Sie?« Seine dunklen Augen sahen sie bittend an.

Julia nickte. »Ja, Herr Cornelius« erwiderte sie, dabei wurde ihr ganz warm ums Herz.

»Wir werden irgendwohin essen gehen.«

Julia blickte an sich hinunter. »Eigentlich müsste ich mich noch umkleiden«, meinte sie leicht verlegen.

»Ich bringe Sie zu Ihrer Wohnung und warte dann im Wagen auf Sie. Einverstanden?«

»Einverstanden.« Sie sah ihn an und bemerkte nun den gequälten Zug um seinen Mund.

»Ich danke Ihnen, Frau van Arx.« Enno hakte sich bei ihr unter, als sie zum Lift gingen. Ihre weibliche Ausstrahlungskraft war für ihn wie Balsam.

Auf dem Weg zu Julias Wohnung sprachen sie nur wenig. Impulsiv lud Julia ihn ein, mit ihr nach oben zu kommen.

»Gern«, sagte er sichtlich erleichtert. »Hoffentlich haben Sie etwas zum Trinken da.«

»Habe ich«, entgegnete sie lächelnd. »Whisky, Cognac, Gin und …«

»Ich habe gar nicht gewusst, dass Sie so viel trinken«, scherzte er.

»Ich bin Holländerin!« Sie blitzte ihn übermütig an.

»Ich weiß, Frau van Arx.«

Mit dem Fahrstuhl fuhren sie bis zum fünften Stock hinauf. Als Julia die Wohnungstür aufschloss, fing ihr Herz plötzlich schneller zu schlagen an. Vielleicht hätte sie ihn doch nicht zu sich in die Wohnung bitten sollen?

»Hübsch«, stellte er nach einem Blick ins Wohnzimmer fest.

»Finden Sie? Die meisten Möbel habe ich aus Amsterdam mitgebracht. Ich konnte mich von den Sachen ganz einfach nicht trennen. Bitte, setzen Sie sich doch«, bat sie leise.

Aber Enno schien sie nicht zu hören. Wie magnetisch angezogen ging er zu dem Sekretär aus Rosenholz und betrachtete gefesselt die Fotografie in dem breiten Silberrahmen. »Ist das Ihr Mann?«, fragte er nach einem Weilchen.

»Ja, das ist Wim.«

»Ich bin fast sicher, ihm einmal begegnet zu sein. Oder er ähnelt jemandem, den ich sehr gut kenne. Aber wem?«

»Sie waren doch früher häufig in Amsterdam. Wim war Ingenieur. Vielleicht haben Sie ihn in seiner Firma getroffen?«

»In welcher Firma hat er gearbeitet?«

»Bei Kinker & Co. in der Hoogenstraße.«

»Der Name ist mir völlig unbekannt. Schon möglich, dass ich ihm damals irgendwie einmal begegnet bin. Er hat ein sehr markantes Gesicht, das man nicht so schnell vergisst.«

»Möchten Sie Whisky? Oder …«

»Bitte, Whisky«, bat er und setzte sich nun.

»Eiswürfel bringe ich sofort. Mit Soda?«

»Ohne, bitte.« Er legte die Hände auf die Seitenlehnen des tiefen Sessels und schlug seine langen Beine übereinander. »Darf ich rauchen?«

»Natürlich.« Sie ging in die Küche und kam kurz darauf mit den Eiswürfeln zurück.

»Mir gefällt es bei Ihnen«, erklärte er und nahm sich Eis. »Am liebsten würde ich den heutigen Abend hier verbringen, Frau van Arx.«

»Warum nicht?«, fragte sie spontan. »Ich habe immer irgendeine Kleinigkeit im Eisschrank. Für ein Abendessen für uns beide langt es gewiss.«

»Soll das eine Einladung sein? Passen Sie auf, ich nehme sie tatsächlich an«, erwiderte er fröhlich.

»Ich freue mich sehr, dass Sie bleiben.« Leichte Röte breitete sich auf ihren Wangen aus. Sie fühlte sich plötzlich so leicht beschwingt wie seit langem nicht mehr. Zum erstenmal nach dem Tod ihres Mannes hatte sie einen Gast – einen männlichen Gast. Am liebsten hätte sie sich festlich angezogen für diesen Abend. Aber sie unterdrückte diesen Wunsch gewaltsam, um bei ihrem Chef nicht in ein falsches Licht zu geraten.

Als sie den Tisch deckte, spürte sie seine Blicke fast körperlich. Und dann hielt er sie am Arm fest. »Ich habe eine Bitte«, sagte er drängend. »Darf ich Sie Julia nennen?«

»Aber ja«, erwiderte sie so verlegen wie ein junges Mädchen, das seine erste Liebeserklärung bekam. »Ich freue mich sogar darüber. Seit dem Tod meines Mannes hat mich kein Mensch mehr so genannt.«

»Haben Sie keine Verwandten mehr? Oder gute Freunde?«, fragte er erstaunt.

»Nein, niemanden. In Holland habe ich noch zwei Freundinnen. Aber wir haben uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Nach dem plötzlichen Tod meines Mannes habe ich Amsterdam fast fluchtartig verlassen. Aber auch schon zu Wims Lebzeiten bin ich kaum mit Freunden zusammengekommen. Wir waren beide so jung und so verliebt, dass wir glaubten, niemanden zu brauchen. Wir wollten immer nur allein sein«, berichtete sie mit einem verträumten Lächeln. »Ja, wir lebten wie in einem Rausch. In einem Liebesrausch.«

»Es muss furchtbar gewesen sein, ihn zu verlieren.«

»Ja es war entsetzlich. Monatelang habe ich es nicht fassen können. Und dann …« Sie stockte. Nein, es würde zu weit führen, wenn sie ihm auch noch von ihrem toten Sohn erzählte.

»Julia, ich wäre froh, wenn Sie mich ebenfalls beim Vornamen anredeten. Ich heiße Enno.«

»Ich weiß das – Enno«, antwortete sie mit einem schelmischen Lächeln.

»Aber ja.« Noch immer hielt er sie fest. »Ich glaube, das Schicksal hat es so gewollt«, sagte er mehr zu sich selbst und ließ sie endlich los.

»Das Schicksal? Wie meinen Sie das?«

»Dass Sie zu mir gekommen sind.«

»Vielleicht.« Sie blickte ihm in die Augen. »Aber nun muss ich mich um das Abendessen kümmern.«

Enno erhob sich und folgte ihr in die Küche. »Darf ich Ihnen helfen?«, fragte er mit einem jungenhaften Lachen.

»Sie? Aber nein.«

»Warum sagen Sie das in einem solchen Ton? Ob Sie es glauben oder nicht, ich kann sogar kochen. Früher, als junger Mann, habe ich oft meiner Mutter im Haushalt geholfen. Ja, meine Mutter war eine leidenschaftliche Köchin. Selbst als mein Vater immer vermögender wurde, ließ sie es sich nicht nehmen, die meisten Gerichte selbst zuzubereiten. Meine Mutter war eine Frau, wie man sie heute nur noch selten findet.« Sein Lächeln vertiefte sich bei der Erinnerung an die Vergangenheit.

Julia lernte Enno an diesem Abend von einer ganz anderen Seite kennen. Seine schlichte Natürlichkeit bezauberte sie, was ihr inneres Gleichgewicht ziemlich durcheinanderbrachte. Es gefiel ihr auch, dass er kein schlechtes Wort über seine Frau sagte. Er nahm sie eher in Schutz und gab den Umständen die Schuld an ihrem Nervenzusammenbruch.

Und dann sprachen sie von Pieter. Als Enno von seinem Sohn erzählte, leuchteten seine Augen auf. »Ich bin sehr erleichtert, dass Frau von Schoenecker Pieter in Sophienlust aufgenommen hat«, erklärte er. »Dort wird der Junge gewiss fröhlicher und auch aufgeschlossener werden.«

»Davon bin ich sogar fest überzeugt. Nach Ihrer Beschreibung muss dieses Kinderheim ein wahres Paradies sein, Enno.«

»Das ist es auch.« Er sah sie sinnend an. Der Schein der halb heruntergebrannten Kerzen in dem Silberleuchter auf dem Couchtisch flackerte über ihr Gesicht und spiegelte sich in ihren violett schimmernden Augen. Wie schön sie ist, dachte er. »Julia, ich danke Ihnen für den wundervollen Abend«, sagte er impulsiv. »Als ich heute zurückkam, fühlte ich mich hundeelend. Nun aber fühle ich mich unendlich wohl. Das habe ich Ihrer Gesellschaft zu verdanken.« Er ergriff ihre Rechte und zog sie an die Lippen. »Aber jetzt muss ich gehen. Wie rücksichtslos von mir. Es ist gleich Mitternacht«, stellte er nach einem Blick auf seine Armbanduhr fest. »Morgen ist immerhin ein Arbeitstag.«

»Tatsächlich, es ist schon reichlich spät. Die Zeit ist wie im Flug vergangen«, wunderte sich Julia und erhob sich.

Einen Augenblick war Enno versucht, sie einfach in die Arme zu nehmen und zu küssen. Aber diese Versuchung verflog schnell. Diese Freundschaft war ihm viel zu wertvoll, um sie aufs Spiel zu setzen.

Julia brachte ihn zur Tür. Fest umschloss er ihre Hand. »Gute Nacht, Julia. Schlafen Sie gut«, sagte er leise.

»Sie auch. Und kommen Sie gut nach Hause«, erwiderte sie mit einem kleinen Lächeln.

Als sie die Sicherheitskette vorlegte, klopfte ihr Herz unvernünftig laut und schnell. Wie in Trance trug sie dann die Gläser in die Küche und schaffte noch ein wenig Ordnung. Bevor sie zu Bett ging, strich sie fast scheu über die Rückenlehne des Sessels, in dem Enno den ganzen Abend gesessen hatte.

Ich liebe ihn ja, stellte sie erregt fest. Ja, ich liebe ihn unendlich. Aber er ist nicht frei. Er wird seine Frau auch niemals verlassen – schon des Kindes wegen nicht, dachte sie voller Wehmut. Aber auch wenn meine Liebe niemals Erfüllung finden wird, will ich dem heimlich geliebten Mann doch helfen, mit seinen schwierigen Familienverhältnissen fertig zu werden, nahm sie sich vor, als sie die Nachttischlampe ausknipste.

Noch lange lag Julia wach. Jede einzelne Begebenheit dieses Abends rief sie sich noch einmal ins Gedächtnis zurück.

*

Pieter schloss sich allmählich an die Kinder von Sophienlust an und versuchte, so zu werden wie sie. Gerührt beobachteten die Erwachsenen, wie die kleine Gesellschaft sich bemühte, dem neuen Jungen, wo immer sie konnten, hilfreich zur Seite zu stehen, sodass er bald sein scheues und auch unsicheres Benehmen verlor.

Am Vormittag, wenn die größeren Kinder in der Schule waren, bildeten Pieter und Heidi ein unzertrennliches Gespann. Gleich nach dem Frühstück liefen die beiden zu Justus, der sich um diese Zeit meist in seiner Werkstätte aufhielt. Barri, der große tapsige Bernhardiner, schloss sich den Kleinen an und lief freudig neben ihnen her.

Stets begrüßte Heidi ihre beiden weißen Kaninchen Schneeweißchen und Rosenrot, die nach wie vor in der Obhut des alten Mannes waren und ihren Stall in einer Ecke der Werkstatt hatten.

»Darf ich die Häschen auch streicheln?«, fragte Pieter aufgeregt.

Heidi nickte. »Ja, das darfst du. Weißt du, die beiden sind ganz zahm. Damals, als ich so schrecklich traurig war, nach dem Tod meiner lieben Mutti, war ich sehr froh, dass ich die beiden hatte. Henrik hat sie mir nämlich geschenkt«, fügte sie erklärend hinzu.

»Ich habe mir auch immer ein Tier gewünscht, das ich liebhaben darf. Aber meine Mutti mag keine Tiere im Haus«, entgegnete der kleine Junge betrübt. »Dafür habe ich aber meinen Teddy. Am Samstag bringt mein Vati ihn mit.«

An einem Vormittag statteten die beiden Kinder auch der Huber-Mutter einen Besuch ab. Pieter saß mucks­mäus­chenstill auf dem Schemel. Im stillen bewunderte er Heidi, die so forsch mit der uralten Frau sprach. Niemals würde er so etwas wagen. Die Greisin flößte ihm viel zu großen Respekt ein. Jedesmal, wenn sich der Blick der von vielen Runzeln umgebenen klugen Augen auf ihn richtete, wurde ihm ganz wunderlich ums Herz. Und dann sagte die Huber-Mutter etwas ganz Komisches: »Pieter, eines Tages wird dich deine Mutti hier besuchen und heimholen.«

»Das glaube ich nicht«, entfuhr es ihm leise. »Sie ist nämlich in einem Sanatorium, weil sie krank ist.«

»Ist sie das wirklich? Nein, das muss ein Irrtum sein«, erwiderte die HuberMutter kopfschüttelnd.

Heidi stieß Pieter heimlich an und machte ihm ein Zeichen. Erschrocken senkte er den Kopf. Hatte er etwas Falsches gesagt? Ganz heiß wurde es ihm plötzlich.

Erleichtert rutschte er von dem Schemel, als Heidi aufstand und sich von der alten Frau verabschiedete. »Auf Wiedersehen, liebe Huber-Mutter«, sagte sie und machte einen Knicks. Aber sie erhielt keine Antwort. Die Greisin schien mit ihren Gedanken in diesem Augenblick weit fort zu sein.

»Auf Wiedersehen«, murmelte Pieter scheu.

Erschrocken hielt er den Atem an, als die Huber-Mutter sich ihm noch einmal zuwandte und sagte: »Glaub’ mir, mein Junge, auf dich wartet noch eine große Überraschung.«

»Komm«, wisperte Heidi und verließ mit ihm das Zimmer. Draußen meinte sie: »Die Huber-Mutter kann nämlich in die Zukunft schauen.«

»Wirklich?«, fragte Pieter, froh dar­über, dass er diesen Besuch hinter sich hatte.

Am folgenden Tag holte Andrea Pieter und Heidi ab. Voller Freude kletterten die beiden in das Auto. Die Aussicht, das Tierheim Waldi & Co. besuchen zu dürfen, versetzte sie in Hochstimmung.

»Du scheinst dich schon sehr wohl in Sophienlust zu fühlen, Pieter«, stellte Andrea auf der Fahrt lächelnd fest.

»Ich bin sehr gern dort, Tante An­drea. Und nächste Woche, wenn die großen Ferien anfangen, lerne ich bei Nick reiten. Ich kenne die Ponys schon alle bei Namen«, berichtete er stolz.

»Ja, das ist wahr«, bestätigte Heidi. »Stell dir vor, Tante Andrea, gestern hat Habakuk zum erstenmal Pieter gerufen. Habakuk ist ein sehr kluger Vogel, nicht wahr?«

»Ja, Heidi, das ist er tatsächlich.« Andrea lächelte die Kinder im Rückspiegel an.

Ebenso wie bei seinem ersten Besuch im Tierheim war Pieter tief beeindruckt von den vielen Tieren. Diesmal wagte er es sogar, näher an den Bärenzwinger heranzugehen. Aber als Heidi in den großen Käfig hineingehen wollte, wurde er blass bis in die Lippen. »Nein, Heidi, tu das nicht«, flehte er voller Angst. »Der riesige Bär ist bestimmt böse.«

»Aber nein, Pieter. Die Bärin Isabell ist ganz zahm. Sie hat früher einmal einem kleinen Mädchen gehört. Herr Koster, sagen Sie Pieter doch, dass Isabell ganz lieb ist und niemandem etwas tut«, bat Heidi den Tierpfleger.

»Pieter, das stimmt. Aber auch du, kleines Fräulein, hattest zuerst große Angst vor den Bären«, erinnerte er das kleine Mädchen. »Pieter wird seine Angst ebenfalls überwinden, Heidi, sobald er dahintergekommen ist, dass Isabell völlig harmlos ist.«

»O ja, Herr Koster!«, rief der Junge erleichtert und lief zu dem Zwinger, in dem die beiden Schimpansen herumtollten.

Glücklich halfen Heidi und Pieter an diesem Vormittag dem Tierpfleger bei der Fütterung der Tiere.

Anschließend tollten sie mit den vier Dackeln und der Dogge im Garten herum.

Es war ausgemacht, dass der Schulbus, der mit den größeren Kindern, die das Gymnasium besuchten, aus Maibach kam, die beiden auf dem Heimweg abholte. Pünktlich traf der Bus auch ein.

Pieter und Heidi bedankten sich vielmals bei der lieben Tante Andrea. Nick begrüßte seine Schwester noch kurz und rief, bevor er wieder in den Bus stieg: »Grüße meinen Schwager herzlich!«

Pieter saß mit glänzenden Augen neben Pünktchen, als sie das Lehnsche Grundstück verließen. »Morgen kommt, Vati«, sagte er glücklich. »Und dann habe ich meinen lieben Teddy wieder. Nicht wahr, er wird ihn doch nicht vergessen?«

»Bestimmt nicht«, beruhigte Pünktchen den Kleinen.

»Und er bringt mir auch noch andere Spielsachen mit.«

»Das ist fein!«, rief Angelika, die hinter ihnen saß. »Dann kannst du sie auf das Regal in deinem Zimmer stellen.«

»Ja, das tue ich auch.« Pieter nickte verträumt. So schön es auch in Sophienlust war, er würde sich erst dann ganz wohl fühlen, wenn er seine Lieblingsspielsachen da haben würde.

Schwester Regine brachte den Kleinen auch diesmal wieder zu Bett. Pieter faltete die Hände zum Nachtgebet, das er mit klarer Stimme sprach. Dann fügte er hinzu: »Und lieber Gott, mache es, dass Vati morgen meinen Teddy mitbringt und auch die anderen Sachen. Amen.«

»Amen«, sagte auch die Kinderschwester und zog den kleinen Jungen zärtlich in ihre Arme. »Schlaf gut, mein Liebling.«

»Mutti hat nie Liebling zu mir gesagt«, gestand Pieter beschämt. »Ich mag es, wenn jemand Liebling zu mir sagt.«

Schwester Regine küsste ihn auf die Stirn und deckte ihn dann zu. Armer, kleiner Junge, dachte sie mitleidig. Obwohl er eine Mutter hatte, schien er doch niemals wahre Mutterliebe kennengelernt zu haben. Wie lieblos Frau Cornelius sein musste, sah man ja schon daran, dass sie dem Jungen das von ihm so geliebte Spielzeug nicht mitgegeben hatte.

*

Pieter erwachte am nächsten Morgen sehr früh. Vorsichtig stieg er aus dem Bett und lief auf leisen Sohlen in Heidis Zimmer. Aber seine kleine Freundin schlief noch. Am liebsten hätte er sie geweckt. Aber dann schlüpfte er ganz schnell in seine Sachen und verließ leise das Zimmer.

Zögernd blieb er auf dem Korridor stehen und lauschte. Es war noch ganz still im Haus. Bestimmt ist noch kein Mensch aufgestanden, überlegte er, als er lautlos die Stufen der Treppe hinabstieg. Vielleicht war aber die Köchin Magda schon auf? Sie hatte ihm erst gestern erzählt, dass sie jeden Morgen als erste aufstehe.

Pieter lugte in die Küche. Tatsächlich sah er die rundliche Köchin schon an dem großen Herd stehen. »Guten Morgen!«, rief er.

»Pieter, du!« Magda sah ihn freundlich an. »Du kannst wohl auch nicht mehr schlafen?«

»Nein, Magda, weil ich mich doch so sehr auf meinen Vati freue und auf den Teddy. Ich kann es kaum erwarten, dass er endlich da ist.«

»Das kann ich verstehen. Hast du Lust, mit mir zusammen in den Gemüsegarten zu gehen, um mir beim Abschneiden von Schnittlauch und Petersilie zu helfen? Auch brauche ich ein paar Mohrrüben und Zwiebeln.«

»O ja, ich komme gern mit«, erwiderte der Junge sofort.

Magda fuhr ihm liebevoll über den blonden Haarschopf, als er mit glücklichen Augen neben ihr den schmalen Weg zwischen den Gemüsebeeten entlangging. Pieter scheint ein sehr sensibles Kind zu sein, das viel Liebe und Verständnis braucht, dachte sie bei sich.

Als die beiden in die Küche zurückkehrten, saßen die alte Lena, das Hausmädchen Ulla und der alte Justus bereits am Tisch. Magda richtete in Eile das Frühstück her. Pieter strahlte übers ganze Gesicht, als er sich zu den Erwachsenen setzen und mit ihnen frühstücken durfte. Auch jetzt erzählte er aufgeregt von dem Besuch seines Vaters.

Doch das Kind erlebte an diesem ­Tag eine bittere Enttäuschung. Gegen ­Mittag rief die Sekretärin von Enno Cor­nelius in Sophienlust an und sagte den Besuch von Pieters Vater ab. Er ­habe unverhofft nach London flie­gen müssen, aber er wolle versuchen, Pieter dafür anfangs der nächsten Woche zu besuchen, erklärte sie noch.

Pieter war untröstlich. Selbst Denise gelang es nicht, das verzweifelte Kind zu beruhigen.

»Ich finde das sehr gemein von Herrn Cornelius!«, empörte sich Henrik am Mittagstisch in Schoeneich. »Manchmal denken die großen Leute, dass Kinder nicht so wichtig seien. Ihr seid da ganz anders!«, fügte er aus tiefster Überzeugung hinzu. Dabei sah er seine Eltern glücklich an.

»Vergiss nicht, mein Sohn, dass Herr Cornelius ein wichtiger Mann in der Industrie ist. Männer wie er können nicht immer über ihre Zeit frei verfügen. Die Leidtragenden sind dann meist die Familien.« Alexander von Schoenecker nickte seinem Sohn zu. »Sicherlich bedauert es Herr Cornelius auch, dass er Pieter so enttäuschen musste.«

»Kann auch sein, Vati. Ich bin nur froh, dass du kein solcher Mann bist«, erwiderte Henrik. »Mutti, viel­leicht könnten wir Pieter zu uns holen? ­Er könnte bei mir im Zimmer schla­fen.«

»Rufe ihn doch in Sophienlust an und frage ihn.« Lächelnd sah Denise ihren Jüngsten an.

Das ließ sich Henrik nicht zweimal sagen. Aber schon nach wenigen Minuten kehrte er enttäuscht zurück. »Pieter will bei Heidi bleiben. Findest du es nicht gemein, dass er sie viel lieber hat als mich? Dabei habe ich ihn doch zuerst kennengelernt.«

»Vergiss nicht, dass die beiden den ganzen Tag zusammenstecken, Henrik.«

»Natürlich, Mutti, nicht wahr, du fährst mich gleich nach dem Essen nach Sophienlust?«

»Meinetwegen«, erwiderte sie erheitert.

So geschah es auch. Henrik bemühte sich ebenfalls redlich, Pieter von seinem Kummer abzulenken. Aber auch ihm gelang es nicht.

Tieftraurig lag Pieter am Samstagabend in seinem Bett. »Der liebe Gott hat mich auch nicht lieb«, beschwerte er sich bei Schwester Regine. »Sonst hätte er Vati kommen lassen.«

»Dein Vati kommt gewiss am Montag oder Dienstag.«

»Das glaube ich aber nicht, Schwester Regine. Immer, wenn er verreist, bleibt er schrecklich lange fort, und dann war meine Mutti nie lieb zu mir. Und …« Pieter begann zu weinen.

Heidi stand mit traurigen Augen unter der Verbindungstür und blickte zu Pieter hinüber. Später, als die Kinderschwester fort war, kroch sie zu dem Jungen ins Bett und streichelte ihn.

Pieter hörte endlich zu weinen auf. »Ich bin froh, dass ich dich habe, Heidi. Wenn ich groß bin, werde ich dich heiraten«, erklärte er voller Ernst.

»Ich heirate dich auch«, entgegnete sie und kroch unter der Bettdecke hervor. »Nun musst du aber schlafen«, bat sie. »Ich gehe jetzt in mein Bett.«

»Ja, tu das, Heidi.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Nicht wahr, ich bin schon viel zu groß, um noch zu weinen?«, fragte er beschämt.

»Zum Weinen ist man nie zu groß«, antwortete die Kleine altklug. »Das hat neulich mal Tante Isi gesagt.«

»Aber große Männer weinen bestimmt nicht mehr.«

»Manchmal tun sie es auch. Mein Vati hat auch geweint. Gute Nacht, Pieter.«

Heidi lief schnell in ihr Zimmer hinüber und schlüpfte ins Bett.

Ob Vati auch manchmal weint? überlegte Pieter. Ob er …

Weiter kam er nicht mit seinen Überlegungen, weil er eingeschlafen war.

*

Betty Cornelius warf sich unruhig im Bett hin und her. Der Mond schien hell in ihr Zimmer und zeichnete groteske Muster auf den Boden und auf die Wände.

Die Kranke versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Aber immer wieder verwirrten sie sich, kehrten in die Zeit zurück, als Pieter geboren wurde. Damals hatte sie alles auf eine Karte gesetzt und geglaubt, mit dem Kind ihre Ehe retten zu können. Ein hoffnungsloses Unterfangen! Sie hatte gedacht, mit ihrer großen Lüge fertig werden zu können. Und wenn Martin Aarhof, der Bruder ihres Jugendfreundes, nicht eines Tages bei ihr erschienen wäre, wäre ihr das wohl auch gelungen. Doch seitdem hatte sie keine ruhige Stunde mehr. Glücklicherweise war Enno in Gelddingen sehr großzügig und kümmerte sich nicht darum, wofür sie das Geld ausgab. Sobald sie ihr persönliches Konto überzogen hatte, füllte er es wieder auf.

Wie sehr sie Enno liebte, war Betty noch niemals so bewusst geworden wie jetzt, da er sich innerlich mehr und mehr von ihr entfernte. Dass sie ihn nicht halten konnte, brachte sie an den Rand des Wahnsinns. Schon oft war sie nahe daran gewesen, ihm alles zu gestehen. Aber sie wusste, Enno würde ihr diesen Schwindel niemals verzeihen. Er würde sich sofort von ihr trennen. Doch ohne ihn würde das Leben für sie unerträglich sein. Lieber wollte sie deshalb das schwere Los weiterhin auf sich nehmen. Solange sie ihren Peiniger bezahlte, konnte ihr auch nichts geschehen.

Ja, gleich morgen wollte sie an Claus schreiben und ihn anflehen, seinen Bruder davon abzuhalten, sie zu erpressen. Ein Glück, dass sie seinen letzten Brief aus Westafrika aufgehoben und mit hierhergenommen hatte. Hoffentlich war er noch unter der gleichen Adresse zu erreichen.

Betty tastete im Dunkeln nach dem Schälchen mit den Tabletten. Aber es waren keine mehr da. Dabei brauchte sie dringend welche.

Sie knipste die Nachttischlampe an. Ohne ihre gewohnten Tabletten würde sie noch verrückt werden. Mit beiden Händen umfasste sie ihren Hals und rang nach Luft. Sie begann zu wimmern. Dann aber verließen sie die Nerven endgültig. Ihre Schreie lockten den Stationsarzt und die Nachtschwester in ihr Zimmer.

»Beruhigen Sie sich doch, Frau Cornelius«, bat der junge Arzt gütig.

»Ich bekomme keine Luft mehr«, keuchte Betty. »Bitte, bitte, helfen Sie mir doch. Ich ersticke sonst.«

Die Schwester reichte dem Arzt eine Spritze. »Ich brauche meine …«

Weiter kam die Süchtige nicht. Die Wirkung der Injektion setzte blitzschnell ein. Bettys Gesicht entspannte sich. Sie streckte sich aus und schlief ein.

»Wir werden mit dieser Patientin viel Mühe haben«, meinte die Nachtschwester draußen auf dem Korridor.

»Davon bin ich ebenfalls überzeugt. Wir müssen unbedingt verhindern, dass sie sich die gewohnten Tabletten irgendwie verschafft. Süchtige Menschen sind oft erstaunlich findig, wenn es darum geht, an die verbotenen Medikamente heranzukommen.«

»Abgesehen von ihrem Mann darf sie doch niemand besuchen«, erwiderte die Schwester sorglos, ohne zu ahnen, dass gerade diese Patientin sie alle überlisten sollte.

*

Enno traf mit der Frühmaschine in Frankfurt ein. Sein Chauffeur Erwin holte ihn am Rhein-Main-Flughafen ab und fuhr ihn auf seinen Wunsch hin direkt ins Werk.

Auf dem Weg nach Essen beschäftigten sich Ennos Gedanken ausschließlich mit seinem Sohn. Es tat ihm bitter leid, dass er Pieter am Wochenende hatte enttäuschen müssen. Deshalb wollte er noch an diesem Tag nach Sophienlust fahren, nahm er sich vor.

Dann dachte er an Julia. Vielleicht sollte er sie nach Sophienlust mitnehmen? Pieter und sie kannten sich ja schon. Und er hatte den Eindruck, dass der Kleine sie besonders gern mochte. Ja, er wollte Julia mitnehmen.

Wie mochte es wohl Betty gehen? überlegte er weiter. Auch sie würde er in den nächsten Tagen besuchen. Noch am Vormittag würde er im Sanatorium anrufen und sich nach ihrem Befinden erkundigen.

Julia begrüßte ihn mit strahlender Miene. »Wenn Sie ein paar Minuten eher gekommen wären, hätten Sie mit der Kinderschwester von Sophienlust und Pieter telefonisch sprechen können. Der Kleine hat große Sehnsucht nach Ihnen. Ja, und die Kinderschwester hat mir besonders ans Herz gelegt, Sie daran zu erinnern, dass Sie den Teddy und einige andere Spielsachen nicht vergessen sollen.«

»Ich schaue nur die Post durch und fahre dann gleich nach Hause. An­schließend komme ich wieder hierher. Julia, es wäre nett, wenn Sie mich nach Sophienlust begleiten würden. Wollen Sie?«

»Aber die Arbeit hier?« Sie deutete auf ihren mit Schriftsachen überladenen Schreibtisch.

»Die läuft Ihnen gewiss nicht fort. Mir liegt sehr viel daran, dass Sie mitkommen.«

»Also gut, dann fahre ich vorher noch heim, um mich wenigstens umzukleiden.«

Aus dem Lautsprecher der Sprechanlage auf dem Schreibtisch ertönte eine Stimme. »Herr Petersen und Herr Weidemann sind da! Sie möchten zu Herrn Cornelius.«

Enno seufzte und entgegnete dann: »Gut, schicken Sie die beiden Herren herauf.« Er wandte sich an Julia. »Ich glaube, die beiden Herren werde ich nicht so schnell los. Julia, würden Sie mir einen riesigen Gefallen erweisen?«

»Ja?« Fragend sah sie ihn an.

»Wenn Sie heimfahren, dann fahren Sie doch bitte an meiner Villa vorbei. Bitten Sie das Hausmädchen, Ihnen den Teddy und einige Spielsachen von Pieter zu geben. Dann ziehen Sie sich bitte in Ruhe um und kommen wieder hierher. Ich hoffe, dass ich bis dahin die Herren abwimmeln kann. Ich möchte am frühen Nachmittag in Sophienlust sein.«

»Gemacht, Enno.« Sie schlüpfte in ihre leichte Jacke und ergriff ihre Handtasche. »Ich werde mich beeilen. Vielleicht brauchen Sie mich nachher noch für ein Weilchen.«

»Ich brauche Sie immer, Julia.« Lächelnd blickte er ihrer schlanken Gestalt nach. Dann ging er in sein Reich und erwartete dort die angemeldeten Herren.

Julia fuhr etwas langsamer, als sie in die stille Villenstraße des Essener Vorortes einbog, in der die Cornelius’ wohnten. Als sie das erstemal in der Villa gewesen war, um einige Papiere für Enno zu holen, war Betty Cornelius gerade fort gewesen. Das Hausmädchen hatte sie damals in Ennos Arbeitszimmer geführt.

Wie bei ihrem ersten Besuch war Julia auch diesmal von der luxuriösen Villa wieder tief beeindruckt. Sie parkte den Wagen vor dem schmiedeeisernen Tor und drückte dann auf den Klingelknopf.

Dasselbe Hausmädchen wie damals öffnete die Tür. »Guten Tag«, sagte Julia. »Herr Cornelius hat mich gebeten, für Pieter etwas …«

»Er hat vor ein paar Minuten angerufen und Ihren Besuch angekündigt«, fiel Lotte ihr lebhaft ins Wort. »Bitte, kommen Sie doch weiter«, forderte sie Julia auf. »Nach Pieters Abreise haben wir die Spielsachen in eine Kiste gelegt. Am besten wäre es wohl, wenn Sie das Spielzeug, das er haben möchte, selbst heraussuchen würden«, meinte sie.

Julia nickte und folgte dem Mädchen durch die mit Stilmöbeln ausgestattete Wohnhalle bis zu der leicht geschwungenen Treppe, die zu den oberen Räumen hinaufführte.

Lotte ging voraus und öffnete eine der Türen im ersten Stockwerk. »Das ist Pieters Spielzimmer«, sagte sie. »Und dort steht die Kiste mit den Spielsachen.«

»Wissen Sie vielleicht, mit welchen Sachen er am liebsten gespielt hat?«, fragte Julia ratlos, als sie in die hohe Kiste blickte.

»Den Hampelmann mochte er sehr gern. Ja, und auch den roten Feuerwehrwagen! Und die gesamte Indianerausrüstung. Dort ist der Federschmuck und dort der Tomahawk. Obwohl Pieter ein sehr stilles Kind ist, ist er doch ein echter Junge, der sich für solche Dinge sehr interessiert. Und dort ist auch das Häschen. Bevor sein Vater ihm den Teddy schenkte, war das Häschen sein Lieblingstier. Aber wo ist nur der Teddy? Hat er ihn mitgenommen?«

»Nein, er hat ihn vergessen. Pieter hat mir besonders ans Herz gelegt, seinem Vater zu sagen, dass er den Teddy auf keinen Fall vergessen soll.«

»Vielleicht liegt er in der Kommode.« Lotte lauschte nach unten. »Das Telefon läutet. Suchen Sie nur allein weiter, Frau van Arx. Ich komme gleich wieder«, rief sie schon von der Tür her.

Julia war allein. Sie blickte sich suchend um. Dann schob sie den Vorhang vor dem Regal zur Seite. Aber auch dort war kein Teddybär zu finden. Sie öffnete die Schubladen der Kommoden. In der untersten sah ein hellbraunes Stoffbein unter einem Stapel verrutschter Wäsche hervor. Julia zog daran und hatte gleich darauf den Teddy in der Hand. Erleichtert wollte sie die Wäsche ein wenig ordnen, als sie wie erstarrt mitten in der Arbeit innehielt. Eine eisige Hand schien nach ihrem Herzen zu greifen. Wie gebannt blickte sie auf ein winziges Babyhemdchen. »Das ist doch nicht möglich«, flüsterte sie. Ein Zittern durchlief ihren Körper. Sie hatte das Gefühl, in eiskaltem Wasser zu stehen. Doch im nächsten Augenblick wurde ihr glühend heiß.

»Nein, das ist nicht möglich«, sagte sie noch einmal laut. »Es kann nicht das Hemdchen sein.« Das Blut strömte endlich wieder zu ihrem Herzen zurück. Mit zitternden Händen zog sie das Hemdchen hervor und betrachtete es genauer von allen Seiten.

Und wieder wurde ihr ganz schwindlig vor Erregung. Völlig durcheinander ging sie zum Fenster und hielt das Hemdchen gegen das Licht. »Es ist das Hemdchen«, murmelte sie. »Aber ich verstehe nicht, wie es hierherkommt. Ich muss träumen. Bestimmt wache ich sogleich auf und liege in meinem Bett.«

Doch dann wusste sie, dass es kein Traum war. Ja, dieses Hemdchen hatte sie selbst geschneidert für ihr Kind. Den Halsausschnitt und die Ärmel hatte sie damals mit blauem Garn umhäkelt. Es war ein helles Kornblumenblau, eine seltene Farbe, die man im allgemeinen nicht für Kinderwäsche verwendete. Aber sie hatte das Häkelgarn noch von ihrer Mädchenzeit im Nähkorb gehabt. Und weil Wim und sie damals nicht mit großen Gütern gesegnet gewesen waren, hatte sie gedacht, sie könne es ruhig verwenden. Auch an die kleinen Fehler im Muster konnte sie sich noch genau entsinnen. Damals hatte sie sich sehr darüber geärgert und vorgehabt, den Rand noch einmal aufzutrennen. Doch dann hatte sie es doch gelassen, weil sie sicher gewesen war, es nicht besser machen zu können. Handarbeiten waren noch nie ihre stärkste Seite gewesen.

Aber man hatte ihr doch damals im Krankenhaus gesagt, ihr Kind sei in diesem Hemdchen beerdigt worden. Und nun fand sie es hier unter Pieters Sachen …

Julia steckte das Hemdchen in ihre Handtasche. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Dann nahm sie die Spielsachen von Pieter und floh förmlich aus dem Kinderzimmer.

Sie war ganz wirr im Kopf. Es war ihr ein Rätsel, wie das Hemdchen in dieses Haus kam. Was war nur damals im Krankenhaus geschehen? Ja, sie hatte ihr Kind noch einmal sehen wollen, und man hatte sie in das Zimmer gebracht, in dem der kleine Junge unter einem Sauerstoffzelt lag und seine letzten Atemzüge tat. Das Baby hatte doch das Hemdchen angehabt. Oder? Nein, das war ein Irrtum. Sie wusste nur, dass das Kind das Hemdchen getragen hatte, als sie es für einen Augenblick im Kreißsaal gesehen hatte. Wie stolz war sie in diesem Augenblick auf ihren gesunden Jungen gewesen. Und später …

Ja, später … Julia stieg langsam die Treppe hinunter. Sie versuchte, sich an alle Einzelheiten dieses Nachmittags zu erinnern. Man hatte ihr gesagt, ihr Kind läge unter einem Sauerstoffzelt, weil sein Herz nicht in Ordnung sei. Auf ihre Bitte hin hatte man sie zu ihm gebracht. Voller Entsetzen hatte sie auf das winzige Köpfchen des Neugeborenen gestarrt. Die bläuliche Verfärbung des Gesichtchens hatte ihr einen Schrei entlockt. Ja, und nun wusste sie es auch wieder. Das Kind hatte ein völlig weißes Hemdchen angehabt.

Lotte riss Julia aus ihrem Grübeln. »Warten Sie, ich bringe Ihnen eine große Tragetüte für die Spielsachen!«, rief sie.

Julia konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Immer wieder rief sie sich das Bild des sterbenden Kindes unter dem Sauerstoffzelt ins Gedächtnis zurück. Deutlich sah sie es vor sich. Dann musste das Hemdchen, das sie für ihren kleinen Jungen genäht hatte, in falsche Hände geraten sein. Nun sah sie wieder das Kind vor sich, das sie gleich nach der Geburt gesehen hatte. Es hatte feine weißblonde Löckchen gehabt. Und das Kind unter dem Sauerstoffzelt …

»So, da bin ich wieder!« Lottes frische Stimme erreichte kaum Julias Bewusstsein. Sie lächelte gequält, als sie die Tragetüte mit Pieters Spielsachen entgegennahm und das Haus verließ. Mit unsicheren Schritten, wie eine Blinde, tastete sie sich vorwärts. Impulsiv lief Lotte hinter ihr her und holte sie am Gartentor ein. »Frau van Arx, ist Ihnen nicht gut?«, fragte sie besorgt. »Sie sehen auf einmal ganz käsig aus.«

»Es ist nichts. Wirklich nichts«, erwiderte Julia und holte tief Luft.

»Sie sollten sich lieber ein Taxi nehmen und Ihren Wagen stehenlassen«, meinte das Mädchen.

»Nein, das ist nicht nötig. Ich kann schon fahren.« Verkrampft lächelte Julia Lotte an. »Vielen Dank«, murmelte sie.

Kopfschüttelnd ging Lotte ins Haus zurück. Julia schloss ihr Auto auf, legte die Tragetüte auf den hinteren Sitz und stieg ein. Sehr langsam fuhr sie an. Vielleicht hätte ich mir doch lieber ein Taxi nehmen sollen? dachte sie. Dann konzentrierten sich ihre Gedanken wieder auf ihr Kind. Das Baby unter dem Sauerstoffzelt hatte keine Löckchen gehabt, überlegte sie, sondern ganz glattes Haar mit einem rötlichen Schimmer. Das Haar war auch viel länger gewesen als bei dem Baby, das sie im Kreißsaal gesehen hatte. Wie ein kleiner Engel hatte dieses Baby mit seinen weißblonden Löckchen ausgesehen.

Auch Wim hat als Baby weißblonde Löckchen gehabt, fuhr Julia in ihren Überlegungen fort. Aber das kann doch nur bedeuten, dass das kranke Kind gar nicht mein Sohn gewesen ist. Man muss die beiden Kinder vertauscht haben. Betty Cornelius ist doch gebürtige Holländerin. Und ihr totes Kind wäre genauso alt wie Pieter …

»Ich werde noch verrückt«, sagte Julia laut und erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Dabei trat sie statt auf die Bremse auf das Gaspedal. Die Seitenwand eines Lastwagens wuchs plötzlich ins Riesenhafte vor ihr, bevor sie einen heftigen Stoß erhielt und dann das Bewusstsein verlor.

Doch sehr schnell kam Julia wieder zu sich. Sie sah die Menschen um sich und stöhnte leise auf, als sie sich bewegen wollte. Etwas Klebrig-Feuchtes lief ihr übers Gesicht. Mit der Zunge fuhr sie sich über die Lippen und schmeckte das Blut.

Noch immer stand sie unter der Schockwirkung, als zwei Männer sie vorsichtig aus dem Wagen zogen. Ein unerträglicher Schmerz durchfuhr ih­ren Körper, sodass sie wieder in Ohnmacht fiel.

Als sie später wieder erwachte, lag sie auf einer Trage, die einen langen Korridor entlanggerollt wurde. Ein freundliches Frauengesicht, gekrönt mit einem Schwesternhäubchen, neigte sich tiefer über sie. »Wie fühlen Sie sich, Frau van Arx?«, fragte die Schwester.

»Schlecht, sehr schlecht. Was ist nur geschehen?«

»Sie hatten einen Autounfall. Wir haben Herrn Cornelius verständigt. Er wird bald da sein.«

»Mein Gott, die Sachen. Pieters Spielzeug. Hoffentlich ist nichts kaputtgegangen. Pieter wäre sehr traurig. Pieter, mein kleiner Sohn«, flüsterte sie.

Wieder verwirrten sich ihre Sinne. Auch damals hatte man sie einen langen Korridor entlanggefahren zu dem Zimmer, in dem der kleine Junge mit dem Tod gerungen hatte. Aber es war nicht ihr Kind gewesen. Ihr Kind lebte … lebte …

»Frau van Arx, hören Sie mich?«

Mühsam öffnete sie die Augen. Sie erblickte eine Krankenschwester. »Sie haben Besuch. Herr Cornelius ist da. Wollen Sie ihn sehen?«

»Nein, nein …«, flüsterte sie.

Aber die junge Krankenschwester holte Enno bereits herein. »Was machen Sie nur für Geschichten, Julia?«, fragte er erschüttert. »Wie konnte das nur geschehen? Zeugen behaupten, Sie seien schuld.«

»Ja, ich bin schuld.« Auf einmal sah Julia diesen Mann, den sie zu lieben glaubte, mit ganz anderen Augen. Er und seine Frau hatten ihr ihr Kind genommen, während das Kind der beiden im gleichen Grab lag wie Wim. »Bitte, lassen Sie mich allein«, flüsterte sie.

»Julia, es …«

»Ich kann Sie nicht sehen. Ich kann nicht …« Ostentativ wandte sie ihr Gesicht der Wand zu.

»Steht es denn so schlimm?«, fragte Enno betroffen.

»Nein, Herr Cornelius. Sie hat sich zwei Rippen gebrochen. Sonst ist sie mit dem Schrecken davongekommen. Und die Schnittwunde an der Stirn wird völlig verheilen. Aber sie scheint noch unter der Schockwirkung zu stehen«, sagte der junge Stationsarzt und verließ mit Enno zusammen das Krankenzimmer.

»Das wird es sein. Ja, das ist es bestimmt«, sagte er leise und verabschiedete sich von dem Arzt.

Pieters Spielsachen waren heil geblieben. Enno holte sie aus Julias schwer beschädigtem Wagen heraus und fuhr dann los. Auf alle Fälle wollte er nach Sophienlust fahren. Denn noch eine Enttäuschung würde für Pieter wohl untragbar sein.

*

Auf der Fahrt nach Sophienlust musste Enno immerzu an Julia denken. Ihr verändertes Benehmen ihm gegen­über konnte doch nicht nur allein auf den erlittenen Schock zurückzuführen sein. In ihren Augen hatte es feindlich aufgeblitzt. Aber was hatte sie plötzlich gegen ihn? Sie hatten sich doch als Freunde getrennt und vorgehabt, zusammen nach Sophienlust zu fahren.

Auch dass Julia in diesen Lastwagen hineingefahren sein sollte, war ihm unverständlich. Er kannte sie als vorsichtige und ausgezeichnete Autofahrerin. Nur eine große Erregung hätte sie in diese Situation bringen können.

Enno schüttelte den Kopf. Er versuchte Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Ja, er nahm die ganze Angelegenheit viel zu tragisch. Der Arzt hatte recht. Julia stand noch unter der Schockwirkung. Morgen würde sicher wieder alles zwischen ihnen so sein wie zuvor.

Trotzdem konnte Enno nicht so recht froh werden. Erst als er in das glückselige Gesicht von Pieter blickte, der seinem Auto jubelnd entgegengelaufen kam, vergaß er seinen Kummer.

»Endlich, Vati!«, rief Pieter und umarmte ihn. »Ich hatte schon solche Angst, dass du wieder nicht kommen würdest. Aber wo ist denn die liebe Frau van Arx?«, fragte er. »Du hast doch gesagt, sie kommt auch mit.«

»Sie lässt dich herzlich grüßen, Pieter. Weißt du, es ist etwas dazwischengekommen.« Enno hielt es für besser, dem sensiblen Kind nichts von dem Unfall zu erzählen. »Wie ich sehe, geht es dir gut.«

»Ja, Vati. Und wo ist mein Teddy?«

»Nur mit der Ruhe, mein Sohn«, erwiderte Enno lachend und holte die große Tragetüte aus dem Wagen.

»Oh, und dort ist auch der Teddy. Armer lieber Teddy. Nicht wahr, Teddy, du warst sehr einsam ohne mich?« Glücklich drückte der Junge das Stofftier an seine Brust. »Vati, und das ist meine beste Freundin Heidi. Wir spielen immer so schön zusammen. Und wenn ich mal groß bin, heirate ich sie«, fügte er stolz hinzu.

Heidi machte einen Knicks vor dem netten großen Herrn. Im Stillen beneidete sie Pieter ein bisschen, weil er noch einen Vati hatte – und noch dazu einen so lieben. Ihr Vati war nicht ganz so lieb gewesen, weil er so oft mit ihrer Mutti gestritten hatte. Nun aber lagen beide nebeneinander in dem Grab auf dem Wildmooser Friedhof.

»Ich habe dir auch etwas mitgebracht«, sagte Enno und griff in seine Sakkotasche, um eine Konfektschachtel herauszuholen, die eigentlich für Julia bestimmt gewesen war. In seiner Enttäuschung über ihr seltsames Wesen hatte er vergessen, sie ihr zu geben. Morgen würde er ihr eine neue kaufen.

»Oh, ist die aber schön.« Heidi strahlte vor Freude über ihr reizendes Gesichtchen. »Haben Sie denn gewusst, dass Pieter mein Freund ist?«, fragte sie erstaunt.

»Ja, Heidi, das habe ich gewusst.«

Nun erschienen auch die übrigen Kinder und die beiden großen Hunde, um Enno zu begrüßen. Danach gingen alle gemeinsam ins Haus, wo Frau Rennert und Schwester Regine in der Halle auf Pieters Vater warteten.

»Frau von Schoenecker wird in ein paar Minuten hier sein«, sagte die Heimleiterin nach der Begrüßung.

»Vati, kommst du mit auf mein Zimmer?«, fragte Pieter aufgeregt. »Ich muss dir so vieles zeigen.«

»Natürlich, mein Sohn. Hoffentlich habe ich dir auch die richtigen Spielsachen mitgebracht.«

»Die Hauptsache ist, dass ich meinen Teddy wiederhabe.« Mit dem Bär im Arm lief Pieter vor seinem Vater die Treppe hinauf. Heidi trippelte außer Atem hinter ihm her. Lächelnd folgte Enno den Kindern, die es kaum erwarten konnten, ihm ihre Zimmer zu zeigen.

Enno verbrachte einen unvergesslichen Nachmittag in Sophienlust. Nun lernte er auch die einzelnen Kinder etwas näher kennen und wunderte sich über sich selbst. Nie hätte er gedacht, dass er einen so guten Kontakt zu Kindern finden würde. Sie zeigten ihm deutlich, wie sehr sie ihn mochten. Und sein kleiner Sohn war mächtig stolz auf ihn. Bei jeder Gelegenheit stellte er glücklich fest: »Nicht wahr, mein Vati ist sehr lieb?«

Ganz ohne Tränen ging es diesmal bei Pieter nicht ab, als Enno sich von ihm und den Sophienlustern verabschiedete. »Ich komme am nächsten Wochenende wieder, Pieter«, versprach er.

»Darüber würden wir uns alle freuen«, ergriff Denise das Wort.

»O ja, kommen Sie recht bald wieder!«, rief Henrik aufgeregt.

»Ja, es wäre sehr nett, wenn Sie uns tatsächlich bald wieder besuchen würden«, sagte nun auch Nick als zukünftiger Hausherr.

»Ich komme bestimmt.« Seit langem hatte sich Enno nicht mehr so leicht und unbeschwert gefühlt wie an diesem Tag. Kinder sind wirklich ein Jungbrunnen für Menschen, die sonst nichts weiter im Kopf haben als ihre Geschäfte, dachte er, als er in seinen Wagen stieg.

Die Kinder und Hunde liefen noch ein Stückchen hinter ihm her und winkten ihm nach. Noch einmal erblickte er im Rückspiegel die fröhliche Schar und auch das Herrenhaus mit der Freitreppe, auf der die Erwachsenen standen und ihm ebenfalls nachschauten. Dann bog er auf die Landstraße ein. Als er später die Autobahn entlangfuhr, empfand er seine Einsamkeit nach dem fröhlichen Trubel in Sophienlust doppelt schwer.

Enno hatte sich diesen Abend ganz anders vorgestellt. Er hatte gehofft, ihn zusammen mit Juba in deren gemütlichem Appartement verbringen zu dürfen. Aber das Schicksal hatte allem Anschein nach nichts Gutes mit ihm im Sinn.

*

Am nächsten Morgen rief Enno im Sanatorium in der Eifel an und wurde sogleich mit Betty verbunden. Ihre klagende Stimme zerrte an seinen Nerven. Sie beschwerte sich über die Ärzte und das Personal und flehte ihn an, sie so schnell wie möglich wieder abzuholen.

»Betty, du musst vernünftig sein«, redete er ihr zu. »Vier bis sechs Wochen musst du auf alle Fälle bleiben. Sonst wäre die Kur umsonst.« Dass der Professor ihm erklärt hatte, sie benötige vermutlich einen Aufenthalt von mehr als einem Vierteljahr, wagte er ihr nicht zu sagen. »Sobald ich es einrichten kann, besuche ich dich. Gestern war ich bei Pieter in Sophienlust. Er hat sich bereits gut in dem Kinderheim eingelebt. Du würdest den Jungen kaum wiedererkennen. Er …«

»Ach, rede nicht so viel von dem Jungen«, unterbrach sie ihn in dem ihm so gut bekannten gereizten Ton. »Du denkst immer nur an das Kind. Ich wünschte, ich hätte ihn nie …«

»Bitte, Betty, versündige dich nicht!«, rief er ärgerlich.

»Ich hasse das Kind! Ja, ich hasse es! Ihm habe ich mein ganzes Leid und Elend zu verdanken! Nur ihm!«, schrie sie und legte auf.

Enno seufzte tief auf. Bettys Zustand scheint sich noch nicht gebessert zu haben, dachte er und fühlte sich so ausgehöhlt wie ein morscher Baum.

Am Nachmittag besuchte er Julia im Krankenhaus. An diesem Tag war sie nicht mehr ganz so abweisend. Trotzdem spürte er deutlich, dass plötzlich etwas Fremdes zwischen ihnen stand.

Mühsam schleppte sich ihre Unterhaltung dahin. Enno war fast froh, als er sich verabschieden durfte. »Ich wünsche Ihnen weiterhin gute Besserung«, sagte er leise und verließ dann das Zimmer.

Julia brach in Tränen aus. So verlassen wie an diesem Tag hatte sie sich auch damals nach Wims Tod gefühlt. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Weshalb war sie so abweisend zu Enno gewesen? Es war doch möglich, dass weder er noch seine Frau etwas von dem Kindestausch wussten. Vielleicht war ihre Vermutung auch nur ein Hirngespinst von ihr. Sie durfte keinen unnötigen Wirbel machen, da sie keine Beweise hatte. Sie musste sich zwingen, mit beiden Füßen auf dem Boden der Realität zu bleiben. Gleich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus würde sie nach Amsterdam fliegen und mit dem Arzt, der sie damals von ihrem Kind entbunden hatte, sprechen. Wenn sie sich doch nur an seinen Namen entsinnen könnte … Aber ja, jetzt wusste sie ihn wieder, Dr. Claus Aarhof. Sie hatte sich von Anfang an gut mit ihm verstanden. Er hatte ihr geholfen, ihre Depressionen zu überwinden. Später allerdings, als ihr Baby gestorben war, hatte sie ihn nicht mehr gesehen.

Aber auch das passte irgendwie zu ihrem Verdacht. »Mein Gott, ich werde noch wahnsinnig«, flüsterte sie. »Ich laufe immer im gleichen Kreis herum, ohne einen Ausweg aus dem Dilemma meiner Gedanken zu finden.«

*

Seit einigen Tagen fühlte sich Betty bedeutend wohler. Die Nervenaufbaumittel schienen eine frappante Wirkung auf ihren Allgemeinzustand zu haben. Auch hatte sie inzwischen einen Brief an Claus Aarhof geschrieben. Danach hatte sie neuen Mut gefasst. Es erschien ihr unvorstellbar, dass Claus auf ihre flehenden Worte nicht im guten Sinne reagieren würde.

Betty schloss die Augen und rief sich die Zeit ins Gedächtnis zurück, in der sie den jungen Arzt kennengelernt hatte. Claus hatte damals gerade seine Exa­mina hinter sich gehabt, und sie war nicht viel älter als achtzehn und ein bildhübsches Mädchen gewesen, das großen Erfolg bei Männern gehabt hatte.

Claus Aarhof hatte ihr vom ersten Augenblick an gefallen. Mit seinen verträumten braunen Augen und dem leicht gelockten dunklen Haar glich er vollkommen dem Idealbild, das sie sich von einem Mann gemacht hatte. Seine leidenschaftliche Anbetung schmeichelte ihr außerdem. Und als er ihr einen Heiratsantrag machte, sagte sie mit Freuden ja.

Aber die lange Wartezeit bis zur Hochzeit – er wollte erst eine gutbezahlte Stellung haben, bevor er eine Familie gründen wollte – hatte ihre Geduld auf eine Probe gestellt, die sie nicht bestanden hatte. Das Angebot, als Fotomodell tätig zu sein, hatte ihr Leben kurz darauf von Grund auf geändert. Sie war nun mit Menschen zusammen, die das Leben von einer anderen Warte aus betrachteten als diejenigen, die sich nur in bürgerlichen Kreisen bewegten.

Claus und sie lebten sich von da an auseinander. Eines Tages trennten sie sich ganz. Wie sehr er unter dieser Trennung gelitten hatte, war ihr erst sehr viel später bewusst geworden, als sie ihm nach vielen Jahren wieder begegnet war. Erst da hatte sie begriffen, dass er sie noch immer liebte. Und nur deshalb hatte er ihr auch in ihrer schlimmsten Zeit geholfen.

Betty stöhnte auf. Wie war es nur möglich, dass dieser Mann, der sein Blut für sie hergegeben hätte, sie nun bis aufs Blut aussaugte? Konnte ein Mensch sich denn so verändern?

Oder wusste Claus nichts davon? Hatte er seinen Bruder vielleicht gar nicht geschickt? Hatte Martin Aarhof vielleicht irgendwie von dieser Geschichte erfahren? Vielleicht durch dieses Mädchen? Warum war sie noch nicht auf diesen Gedanken verfallen?

Aber das änderte auch nichts an der Tatsache, dass sie erpresst wurde. Auf alle Fälle würde ihr Brief die Sache ins Rollen bringen. Sollte Claus tatsächlich nichts von den niederträchtigen Machenschaften seines Bruders wissen, würde er ihr bestimmt helfen.

Betty atmete auf. Vielleicht würde nun doch noch alles gut werden. Vielleicht würden Enno und sie wieder zueinanderfinden. Vielleicht … Aber sie musste sich zusammennehmen und versuchen, von ihrer Sucht loszukommen. Nur aus Angst vor diesem Mann hatte sie die Tabletten genommen, sonst wäre sie innerlich zerbrochen, sonst hätte die furchtbare Angst vor der Entdeckung ihres Verbrechens sie keine Minute mehr zur Ruhe kommen lassen.

Betty blickte zum Fenster hinaus. Der Tag war einzig schön. Sie sah einige Patienten im Garten spazierengehen. Andere wiederum saßen auf den weißen Holzbänken und unterhielten sich lebhaft.

Ja, auch sie wollte ein wenig an die frische Luft gehen, dachte sie und stand schon auf. Der rosa Morgenrock passte ihr wieder. Das bedeutete, dass sie schlanker geworden war. Auf einmal fühlte sie sich wie neugeboren. Ja, alles würde wieder gut werden, sagte sie sich und verließ ihr Zimmer.

Als Betty die Halle durchquerte, um das Haus über die Terrasse zu verlassen, achtete sie nicht auf den ungefähr vierzigjährigen Mann, der im gleichen Augenblick das Sanatorium betrat. Der Besucher machte auf den ersten Blick einen äußerst sympathischen Eindruck. Man konnte ihn unbedingt zu den gut aussehenden Männern zählen mit seinen dunkelbraunen Haaren und seinen markanten Zügen. Nur das unstete Flackern in seinen graugrünen Augen zeugte davon, dass er ein unausgeglichener Mensch war, der immer auf der Flucht vor irgendetwas zu sein schien.

Als er Betty Cornelius erblickte, breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Glück muss der Mensch haben, dachte er. Bei seinem gestrigen Besuch hatte ihm der Portier erklärt, Frau Cornelius dürfe keinen Besuch empfangen. Doch an diesem Tag hatte ein anderer Portier an der Pforte gesessen. Martin Aarhof hatte einen der Namen, die er am Tag zuvor gehört hatte, aufs Geratewohl genannt und war ohne Schwierigkeiten ins Haus gekommen.

Betty stieg die flachen Stufen der Terrasse hinab und ging langsam den Kiesweg zwischen den Blumenbeeten entlang. Tief atmete sie den schweren Duft der Rosen ein. Lächelnd beobachtete sie eine Spatzenmutter, die ihre Jungen voller Eifer fütterte.

Freundlich begrüßte sie einige Damen, die sie bereits kennengelernt hatte. Dann setzte sie sich auf eine Steinbank bei dem Springbrunnen. Von dort aus hatte sie einen herrlichen Ausblick auf den See, dessen Wasserfläche dunkelgrün zwischen den Bäumen schimmerte.

Plötzlich aber wurden Bettys Bewegungen nervös und fahrig. Schweiß brach aus ihren Poren. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Das Verlangen, ihre gewohnten Tabletten einzunehmen, packte sie mit Gewalt. Aber sie bekam keine Tabletten mehr.

»Ich glaube, ich komme gerade im rechten Augenblick«, hörte sie da wie aus unendlicher Ferne eine ihr bekannte Stimme sagen.

»Sie?«, fragte sie und hob abwehrend die Hände. »Gehen Sie! Ich will Sie nicht mehr sehen! Lassen Sie mich doch endlich in Ruhe!«

»Frau Cornelius, schauen Sie, was ich habe. Ihre Tabletten«, entgegnete er, ihre Worte übergehend. »Wasser gibt es dort im Brunnen genug.« Zynisch lachte er auf, als er ihr das Röhrchen mit den Tabletten zeigte, es aber blitzschnell wieder in seiner Tasche verschwinden ließ, als sie die Hand danach ausstreckte.

»Bitte, geben Sie mir eine Tablette«, flehte Betty erregt.

»Erst, nachdem Sie einen Scheck für mich ausgeschrieben haben.«

»Ich habe mein Scheckheft nicht da. Wirklich nicht. Und bares Geld habe ich auch nur wenig. Ein paar Hundert­euroscheine. Mehr nicht. Das müssen Sie mir glauben. Ich …«

Martin Aarhof lachte spöttisch. »Also, dann nicht. Leben Sie wohl …« Er wandte sich zum Gehen um.

Betty blickte gequält auf seinen breiten Rücken. Eine lodernde Flamme von Hass züngelte in ihr hoch. Wenn ich jetzt die Kraft aufbrächte, ihn gehen zu lassen, wäre ich endlich von ihm befreit, dachte sie. Aber nur er kann mir die Tabletten beschaffen.

»Bleiben Sie«, keuchte sie und taumelte zur Bank zurück. »Ich hole Ihnen das Geld. Ungefähr achthundert Euro. Sie sollen es bekommen.«

»Besser, als gar nichts«, erwiderte er mit gerunzelten Brauen.

»Geben Sie mir die Tabletten.«

»Erst, wenn ich das Geld und Ihr Versprechen habe, dass Sie mir in zehn Tagen mehr Geld geben.«

»Aber, ich kann es nicht. Ich weiß nicht mehr, wie ich das Geld beschaffen soll, ohne dass mein Mann es merkt! Bitte, lassen Sie mich doch in Ruhe! Nicht wahr, Claus weiß nichts von Ihren Erpressungen?«, fragte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Natürlich weiß er es. Glauben Sie, er verdient in diesem Hospital im Urwald genügend? Er und ich wollen uns mit dem Geld eine neue Zukunft aufbauen. Aber wir brauchen noch viel mehr. Ihr Mann schwimmt doch im Geld. Er …«

»Bitte, ich kann nicht …«

»Dann wird er erfahren, was damals in Amsterdam geschah. Dass Sie ihn belogen und betrogen haben.«

»Sie können doch nicht so gemein sein!«, rief sie außer sich.

»Nicht so laut, meine Schöne. Wir wollen doch nicht auffallen. Außerdem möchten Sie doch die Tabletten haben.«

»Ja, ja.« Betty schlug die Hände vors Gesicht und weinte leise in sich hinein. Wie gemein die Brüder Aarhof doch waren! Wie gemein! Damals, als Claus ihr das Baby gebracht hatte, hatte sie geglaubt, nun sei alles gut. Schließlich hatte sie dem Mädchen, der Mutter des Babys, viel Geld gegeben. Aber Claus und sie hatten sich strafbar gemacht, weil sie eine Schwangerschaft vorgetäuscht hatten, die gar nicht vorhanden gewesen war. Doch Claus hatte sie geliebt und hatte ihr deshalb helfen wollen. Hatte er sie wirklich geliebt? Heute konnte sie daran nicht mehr glauben. Wahrscheinlicher war, dass er ihr das Kind nur deshalb gebracht hatte, weil er schon damals die Absicht gehabt hatte, sie zu erpressen. Um sich den damit verbundenen Schwierigkeiten zu entziehen, hatte er sich ganz einfach in den Urwald abgesetzt und ließ nun seinen Bruder diese schmutzige Arbeit verrichten.

»Ihr seid ein ganz gemeines Brüderpaar«, zischte Betty hasserfüllt.

»Damals waren Sie anderer Meinung, meine Gnädigste«, erwiderte Martin Aarhof ungerührt. »Damals wollten Sie das Kind haben. Und Claus hat seinen Beruf aufs Spiel gesetzt, um Ihnen zu helfen. Nach wie vor sitzt er auf einem Pulverfass. Sollte nämlich die ganze Geschichte herauskommen, würde es nicht nur für Sie unangenehm werden. Er würde seinen Doktortitel verlieren und nicht mehr als Arzt arbeiten können.«

»Dann ist mir aber unverständlich, dass er …«

»Mein Gott, sind Sie borniert. Also holen Sie nun das Geld?«

»Erst müssen Sie mir eine Tablette geben. Eine einzige Tablette!«

»Meinetwegen.« Seine Mundwinkel zogen sich verächtlich nach unten, als er ihren Wunsch erfüllte. Gierig steckte sie die Tablette in den Mund, schöpfte Wasser in ihre hohlen Hände und spülte das Gift hinunter.

Während Betty ins Haus ging, fühlte sich Martin Aarhof keineswegs so sicher, wie er vorgab. Doch hatte er längst erkannt, dass man mit Unverschämtheit besser durchs Leben kam.

Martin setzte sich auf die Bank und hielt das Haus scharf im Auge. Sollte Betty Cornelius Dummheiten machen und jemanden auf ihn hetzen, brauchte er nur über die Mauer hinter sich zu klettern und in sein Auto einzusteigen. Zugleich überlegte er, dass es für ihn recht ungünstig wäre, sollte Betty Cornelius herausbekommen, dass Claus völlig ahnungslos war. Dieser hatte damals sogar seinetwegen Deutschland verlassen, um sich weiteren Erpressungen durch ihn, Martin, zu entziehen.

Betty kam jetzt zurück und steckte ihm hastig die Geldscheine zu. Dann ergriff sie das Röhrchen mit den Tabletten. Diesmal würde sie es besser verstecken, sodass man es ihr nicht wieder würde fortnehmen können.

»In zehn Tagen hole ich mir das versprochene Geld«, sagte Martin.

»Ja, ja.« Betty wich seinem Blick aus. Zehn Tage! In zehn Tagen konnte vieles geschehen. Sehr viel, dachte sie müde und sank wieder auf die Bank zurück. Wie lange würden diese Erpressungen noch weitergehen? fragte sie sich und nahm noch zwei Tabletten, um ihre Angst vor der Zukunft zu bewältigen.

*

Dr. Claus Aarhof las Bettys Brief bereits zum drittenmal. »Das ist doch entsetzlich«, sagte er danach laut. Dass Martin ihn selbst damals unter Druck gesetzt hatte, war schon eine Infamie gewesen. Dass er Betty aber auch noch erpresste, die Frau, die er, Claus, noch immer liebte, kam schon einem Verbrechen gleich.

Sobald wie möglich werde ich Urlaub nehmen und heimfahren, um Martin zur Rede zu stellen, nahm der Arzt sich vor. Sein Blick fiel in den schmucklosen viereckigen Spiegel über der Truhe. Wieder einmal stellte er fest, wie sehr er gealtert war. Er sah viel älter aus als siebenundvierzig. Seine Haare waren frühzeitig ergraut und hatten sich auch gelichtet. Tiefe Falten zogen sich über seine Stirn. Und seine Haut war ausgedörrt von der Sonne und der trockenen Luft.

Es gab Tage, an dem Claus Aarhof nur den einzigen Wunsch hatte, tot zu sein. Selbst die Arbeit hier im Hospital befriedigte ihn nicht mehr. Um seinen quälenden Gedanken zu entfliehen, arbeitete er wie besessen. Aber er konnte nicht vergessen, dass er aus Liebe zu einer Frau gegen das Gesetz verstoßen hatte. Er musste damals verrückt gewesen sein, als er die beiden Kinder vertauscht hatte, ohne daran zu denken, dass er mit dieser Tat einer jungen Mutter das Herz brach. Er war liebestoll gewesen, getrieben von dem einzigen Wunsch, die geliebte Frau nicht im Stich zu lassen.

Wie einfach hätte alles sein können, wenn nicht …

Ja, wie oft hatte er sich gewünscht, den Zeiger der Zeit zurückdrehen zu können bis zu dem Tag vor ungefähr sechs Jahren, als er sich zu diesem Verbrechen hatte verleiten lassen. Doch er konnte als Sühne für sein verbrecherisches Vorgehen nichts anderes tun, als seine ganze Kraft für arme, hilfsbedürftige Menschen einzusetzen.

*

Wie ein Film rollten die damaligen Ereignisse nun noch einmal vor Dr. Claus Aarhof ab. Er kam aus der Frauenklinik, wo er seit Jahren als Arzt angestellt war. Es war ein herrlicher sonnendurchleuchteter Herbsttag. Ein leiser Wind strich über die Bäume. Goldgelbe Blätter sanken langsam zu Boden. Das Laub raschelte unter seinen Füßen, als er mit schnellen Schritten zu seinem Auto ging, um heimzufahren.

Zwei freie Tage lagen vor ihm. Er wohnte in einem der alten Häuser an der Herengracht. Eine Zugehfrau kam täglich drei Stunden und hielt sein Domizil in Ordnung. Diesem fuhr er nun langsam entgegen. Doch plötzlich setzte sein Herzschlag aus. Dort ging doch Betty Hootzen! Nein, sie hieß ja jetzt Betty Cornelius. Unter Tausenden hätte er sie herausgefunden, denn er liebte sie noch immer. Ihretwegen hatte er nicht geheiratet, obwohl er sich längst nach einer Lebensgefährtin sehnte.

Ein Kostverächter war er jedoch nicht. Er wechselte seine Freundinnen ständig. Im Augenblick war er mit einer Medizinstudentin liiert, die aus sehr ärmlichen Verhältnissen kam und jede Arbeit annahm, um ihr Studium finanzieren zu können. Auch zeigte sie keinen falschen Stolz, wenn er ihr Geld gab. Besonders jetzt nicht, denn sie erwartete ein Kind. Als er davon erfahren hatte, hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht, weil er geglaubt hatte, der Vater des Kindes zu sein. Mit erstaunlicher Offenheit hatte sie jedoch zugegeben, dass sie nicht genau wisse, ob das Kind von ihm sei.

Claus suchte nach einem Parkplatz und hatte Glück. Als er geparkt hatte, stieg er rasch aus, lief hinter Betty her und holte sie an der nächsten Straßenkreuzung ein.

»Betty!«, rief er. »Na, so ein Zufall!«

»Claus, du?« In ihren Augen glitzerten Tränen. »Was für ein Zufall«, sagte auch sie und sah ihn glücklich an. »Komisch, ich habe gerade in diesem Augenblick intensiv an dich denken müssen. Gut siehst du aus. Es ist schon viele Jahre her, dass wir uns gesehen haben. Warte mal …« Ihre glatte Stirn runzelte sich. »Ja, fast sieben Jahre. O nein, acht Jahre!«

Er erkannte sofort, dass sie nicht glücklich war. »Hast du Zeit für mich? Oder wartet dein Mann auf dich?«, fragte er.

»Ich habe mich von meinem Mann getrennt«, erwiderte sie. »Ja, ich habe Zeit, viel Zeit.«

»Dann komm mit zu mir«, bat er.

»Gut, Claus.«

Eine Viertelstunde später saß Betty in seinem Wohnzimmer und hielt ein Glas Cognac in der Hand.

»Du bist noch genauso schön wie damals, als wir uns trennten«, sagte er.

»Ach, Claus, es ist nett, dass du das sagst. Aber du weißt genauso wie ich, dass das nicht stimmt. Ich habe viele Fältchen bekommen. Dabei bin ich erst zweiunddreißig Jahre alt. Aber das macht der Kummer.« Wieder standen ihre Augen voller Tränen.

»Aber du warst doch so verliebt in deinen Mann?«

»Verliebt? Ja, das war ich. Und ich liebe ihn heute mehr denn je. Aber er wünscht sich einen Erben, was ja auch verständlich ist. Und ich kann keine Kinder bekommen.«

»Aber das erscheint mir doch unmöglich, Betty. Du strotzt vor Gesundheit und …«

»Das denken alle. Aber glaube mir, was ich sage. Ich bin von einem Arzt zum anderen gelaufen und habe mich sogar operieren lassen. Nichts!«

»Wie lange lebst du denn schon von deinem Mann getrennt?«

»Über ein halbes Jahr. Ich wohne jetzt in der Wohnung meiner Eltern. Vor drei Monaten ist mein Vater nach Indien versetzt worden. Ich hätte meine Eltern begleiten sollen. Aber ich wollte nicht. Holland ist nicht so weit von Essen entfernt. Meine Eltern kommen in ungefähr zwei Monaten für einige Wochen zurück. Weißt du, Claus, manchmal habe ich ganz unsinnige Gedanken. Ich …« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, es hat keinen Sinn.«

»Was hat keinen Sinn?« Er nahm ihr den Cognac-Schwenker sanft aus der Hand und stellte ihn auf den Tisch. Dann umfasste er ihre Hände und zog sie aus dem Sessel hoch. »Betty, vergiss nicht, dass ich dich noch immer liebe. Schließlich haben wir uns einmal sehr nahe gestanden.«

»Ach, Claus«, schluchzte sie auf und schmiegte sich an ihn. »Ich bin so froh, dich getroffen zu haben. Oft war ich nahe daran, dich anzurufen. Aber ich hatte ja keine Ahnung von deinen Verhältnissen. Du hättest ebenso verheiratet sein können.«

»Du weißt, dass es für mich nur eine Frau gegeben hat, die mir wert schien, meine Frau zu sein. Dich, Betty.«

Dann küssten sie sich. Betty blieb bei ihm. Zwei Tage lang gaben sie sich alles und schlossen die Welt aus. Und in diesen beiden Tagen gelang es Betty, ihn für ihren Plan zu gewinnen. Sie wollte eine Schwangerschaft vortäuschen und ihrem Mann ein fremdes Kind unterschieben.

Zuerst hatte er strikt abgelehnt, ihr zu helfen. Aber dann hatte er an Lucy Bomans gedacht, jene Medizinstudentin, die ein Kind bekam und es gleich nach der Geburt fortgeben wollte.

Als Betty erfuhr, dass dieses Mäd­chen für Geld sehr empfänglich war, bot sie eine fantastische Summe für das Baby.

Und Lucy hatte nur ein Ziel. Sie wollte ihr Studium sorglos beenden. Der Handel wurde damit perfekt.

Noch völlig benommen von den turbulenten Ereignissen verließ Claus Aarhof Betty am Morgen des dritten Tages. Auf dem Weg zur Frauenklinik kam ihm erst voll und ganz zu Bewusstsein, worauf er sich eingelassen hatte, welches Risiko er einging. Aber Betty war nicht mehr von ihrem Plan abzubringen. Noch am gleichen Tag schrieb sie an den Anwalt ihres Mannes, dass sie in zwei Monaten ein Kind erwarte – Ennos Kind.

Claus hatte noch immer den Klang ihrer Stimme in den Ohren, als Betty ihm sagte: »Stell dir vor, Claus, es hat geklappt. Enno glaubt an meine Schwangerschaft und hat die Scheidung zurückgezogen. Ich sehe ihn erst nach der Geburt des Kindes wieder. Was für ein Glück, dass meine Eltern auch erst in ungefähr zwei Monaten heimkommen. Ich habe ihnen bereits mitgeteilt, dass sie bald Großeltern werden.«

»Ach, Betty, mir ist nicht wohl bei dieser Geschichte«, erwiderte er. »Nur aus Liebe zu dir lasse ich mich auf diese unkorrekte Sache ein.«

»Das weiß ich, Claus. Deine Liebe ist für mich wie ein Wunder. Würde ich nicht Enno so sehr lieben, würde ich mich von ihm trennen und dich heiraten«, fügte sie leiser hinzu.

»Eigentlich müsste ich für deinen Mann nur Hass empfinden. Aber ich tue es nicht.«

»Du bist ein einmaliger Mensch, Claus. Und ich liebe dich auch, aber auf eine ganz andere Art als Enno.«

*

Dr. Claus Aarhof fuhr sich wie ein Erwachender über die Augen und blickte zum Fenster hinaus. Draußen auf dem Vorplatz des Hospitals stand eine Ansammlung von Schwarzen. Ihre lauten Stimmen drangen zu ihm ins Zimmer. Dann erblickte er eine der weißen Pflegerinnen. Sie hieß Ilse Dollinger und war seine Geliebte. Aber sie bedeutete ihm nichts. Sie war nur eine weiße Frau.

Claus wischte sich mit dem Taschentuch über die schweißfeuchte Stirn. Das ganze Leben bedeutete ihm nichts mehr, gar nichts mehr, denn sein Gewissen ließ ihn keine Ruhe finden. Es peinigte ihn und bereitete ihm viele schlaflose Nächte. Und wieder kehrten seine Gedanken in die Vergangenheit zurück.

Als bei Lucy die Wehen einsetzten, brachte er sie selbst in die Klinik, um in ihrer schwersten Stunde bei ihr zu sein.

An diesem Vormittag lagen vier Frauen im Kreißsaal. Darunter auch Julia van Arx, eine junge Witwe, die ihren Mann auf so tragische Weise verloren hatte. Sie hatte großes Vertrauen zu ihm, Claus, gefasst – und er hatte es missbraucht. Auf die gemeinste Weise, die es gab, missbraucht.

Lucy und Julia van Arx entbanden fast zur gleichen Zeit. Während der kleine Junge der Witwe völlig gesund zur Welt kam, war das Kind der Studentin in einem äußerst schlechten Zustand.

Bevor man Julia van Arx aus dem Kreißsaal fuhr, verlangte sie ihr Baby zu sehen. Danach schloss sie mit einem glücklichen Lächeln die Augen.

Als die Schwestern die jungen Mütter hinausschoben, war er mit den beiden neugeborenen Kindern allein. In diesem Augenblick trat die Versuchung mit aller Macht an ihn heran. Er handelte nun wie in Trance. Er vertauschte die beiden Babys. Keine Sekunde zu spät, denn die eine Schwester kehrte zurück und bemächtigte sich der Kinder.

»Das Baby von Frau van Arx muss schleunigst unter das Sauerstoffzelt«, sagte er heiser.

»Mein Gott, es ist ja schon ganz blau!«, rief die Schwester. »Es scheint kaum eine Lebenschance zu haben.«

Eine Sekunde lang focht er einen schweren inneren Kampf mit sich aus. »Aber nein, es ist nicht das Kind von Frau van Arx«, wollte er der Schwester zurufen, aber kein Ton kam über seine Lippen. Denn er dachte zugleich an die bittere Enttäuschung, die er Betty bereiten würde, wenn er ihr das Kind nicht bringen konnte.

Und dann gab es auch kein Zurück mehr.

Lucy war noch heute fest überzeugt davon, dass sie ihr Kind an Betty Cornelius abgetreten hatte. Betty aber glaubte, dass es Lucys Sohn sei, für den sie soviel Geld bezahlt hatte. Nur sein Bruder wusste die volle Wahrheit. Damals, in seiner inneren Zerrissenheit und seiner maßlosen Verzweiflung, hatte er sich in einem schwachen Augenblick dazu hinreißen lassen, Martin sein Vertrauen zu schenken und ihm alles zu erzählen. Er hatte einfach mit einem Menschen über seine seelische Qual sprechen müssen, die daher kam, dass er einer jungen leidgeprüften Mutter das Kind »gestohlen« hatte, um seiner früheren Verlobten zum Glück zu verhelfen.

Das war ein folgenschwerer Fehler gewesen, wie sich jetzt herausstellte. Martin hatte zwar den verständnisvollen Bruder gespielt, aber eines Tages Geld von ihm verlangt. Bald hatte er begonnen, ihn zu erpressen. Als seine Forderungen immer unverschämter und seine Erpressungen immer offensichtlicher geworden waren, hatte er diesen verantwortungsvollen Posten mitten im Busch angenommen, um allen weiteren Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen.

Natürlich hatte er damit gerechnet, dass Martin ihn weiter erpressen würde. Doch zu seiner Verwunderung hatte er ihn in Ruhe gelassen und ihm geschrieben, er verdiene nun genügend Geld, um ein gutes Auskommen zu haben.

Ein gutes Auskommen, dachte Dr. Claus Aarhof nun mit einem bitteren Lächeln. Wie wenig hatte er doch seinen Bruder gekannt. Wenn er ihn damals angezeigt hätte, wären Betty die Erpressungen erspart geblieben. Nur durch diese neue Geldquelle hatte er selbst vor seinem Bruder Ruhe gehabt. Wie gemein war Martin doch, wie entsetzlich gemein! Und die größte Gemeinheit war, dass er ihn, Claus, als Erpresser vorgeschoben hatte. Arme Betty! Nun glaubte sie auch noch dass er, Claus, ein Lump sei. Ja, er würde Urlaub nehmen, um mit ihr zu sprechen. Wenn er Glück hatte, würde er in acht Tagen nach Europa fliegen können. Sollte Martin ihm dann auch nur die geringsten Schwierigkeiten machen, würde er ihn mit seinen eigenen Händen erwürgen, dachte er und war zugleich entsetzt über den wilden Hass, den er für seinen Bruder empfand.

*

Enno konnte kaum sein Erschrecken verbergen beim Anblick seiner Frau. Betty war abgemagert und sah sehr krank aus. Am meisten erschütterte ihn ihre Lethargie, die so gar nicht zu ihr passte. Auch fragte sie diesmal nach ihrem Sohn.

»Es geht Pieter gut«, erwiderte er und zog den Stuhl näher an das Bett heran. Denn Betty hatte sich geweigert, aufzustehen.

»Das ist fein.« Sie lächelte gequält. Wie einfach wäre es doch, wenn ich Enno alles beichten könnte, dachte sie. Aber sie hatte Angst, ihn zu verlieren. Enno war so stolz auf seinen Sohn. Würde er erfahren, dass der Junge ein untergeschobenes Kind war, würde eine Welt für ihn in Trümmer gehen. Darum musste sie schweigen. Diesen Schmerz konnte sie ihrem Mann nicht zufügen.

»Pieter und ich freuen uns schon darauf, dass du bald wieder gesund bist, Betty«, sagte er herzlich.

»Wirklich? Ich glaube es gar nicht. Nicht wahr, ich habe mich scheußlich benommen? Aber ich konnte nicht anders. Die Angst frisst mich auf.«

»Betty, wovor hast du Angst?«, fragte er eindringlich. »Warum hast du kein Vertrauen zu mir? Ich habe doch für alles Verständnis. Brauchst du Geld?«

»Geld! Ja, ich brauche Geld!«, schrie sie fast und richtete sich auf. »Bares Geld.«

»Betty …«

»Bitte, Enno, frage nicht. Wenn du noch ein Fünkchen Liebe für mich übrig hast, dann frage nicht«, flehte sie. Dabei brach ihr wieder der Schweiß aus allen Poren.

»Betty, du beschaffst dir doch nicht etwa die Tabletten, die dir so schaden? Dann kann ich dir das Geld nicht geben.«

»Enno, du musst es mir geben!« Sie umklammerte seinen Arm, als er aufstehen wollte. »Nur ein paar hundert Euro. Später werde ich dir alles erzählen. Aber jetzt noch nicht. Nein, jetzt noch nicht«, schluchzte sie.

Enno hatte ein weiches Herz. Auch hatte er Frauen noch nie weinen sehen können. »Also gut«, sagte er leise und zog seine Brieftasche.

Später, als er das Sanatorium verließ, war ihm gar nicht wohl zumute. Hatte er nicht einen unverzeihlichen Fehler begangen, als er sich von Betty hatte überreden lassen, ihr das Geld zu geben? Wenn sie sich nun tatsächlich damit die Tabletten beschaffte, fiel er den Ärzten damit in den Rücken …

Was sollte nur noch aus dem allen werden? Würde Betty jemals von ihrer Tablettensucht geheilt werden? Neulich erst hatte er erfahren, dass die meisten Süchtigen nach einer gewissen Zeit wieder rückfällig wurden. Nur Menschen mit großer Energie schafften es, sich von dem Gift zu lösen. Aber Betty war alles andere als eine energische Frau. Sie war sehr labil und …

Ich darf nicht weitergrübeln, dachte er, sonst werde ich noch verrückt!

Enno dachte nun an Julia. Heute sollte sie aus dem Krankenhaus entlassen werden. Aber sie hatte ihn gebeten, sie nicht abzuholen.

Nichts zog Enno nach Essen, darum schlug er den Weg nach Sophienlust ein. Dort, im Kreis dieser glücklichen Kinder, würde er wieder zu sich selbst zurückfinden. Aber auch die Erwachsenen schienen einer anderen Welt anzugehören. Dieses Stückchen Erde, dessen ruhender Pol Sophienlust war, lag tatsächlich in einem Paradies.

Enno fuhr nun schneller. Als er endlich von der Autobahn abbiegen konnte und das Herrenhaus von Sophienlust unten im Tal zwischen den leuchtend grünen Bäumen erblickte, spürte er, wie die Ruhe in sein Herz einkehrte.

Er schaute auf seine Armbanduhr. Er würde gerade zum Nachmittagskaffee in dem Kinderheim eintreffen. Pieters Augen würden sicher vor Freude aufstrahlen. Es war egal, was Betty ihm angetan hatte und noch antun würde. Sie war die Mutter seines Sohnes, auf den er so unendlich stolz war. Als solche würde er seine Frau immer respektieren und es ihr bis an sein Lebensende danken, dass sie ihm einen Erben geschenkt hatte. Enno hatte richtig kalkuliert. Wenige Minuten vor seinem Eintreffen in Sophienlust gongte es in der Halle. Voller Freude stürmten die Kinder in den Speisesaal und setzten sich auf ihre Plätze. Schwester Regine und das Hausmädchen Ulla bedienten an diesem Nachmittag die Kinder. Sie schenkten den heißen Kakao in die hübschen Steinguttassen ein. Die beiden goldgelben Gugelhupfe waren schon aufgeschnitten, sodass die Kinder nur zuzugreifen brauchten.

Barri war es gelungen, sich in den Speisesaal einzuschleichen. Nun saß er mit erwartungsvollen Augen zwischen Pünktchen und der kleinen Heidi. Schwester Regine tat so, als sähe sie den Hund nicht. Denn der Bernhardiner fraß für sein Leben gern Magdas Gugelhupf.

Pieter schmunzelte vergnügt, als Heidi ihn unter dem Tisch mit dem Fuß anstieß und stumm auf Barri deutete. Auch die anderen Kinder taten so, als bemerkten sie die Gegenwart des Hundes nicht.

Erst als Frau Rennert erschien, hielt es Barri für besser, unter den Tisch zu kriechen, wo er sich mucksmäuschenstill verhielt, woraufhin ein unterdrücktes Kichern zu hören war.

Nick und sein kleiner Bruder Henrik befanden sich auch unter der kleinen Schar. »Ich sehe was, was du nicht ­siehst!«, rief der Kleine vergnügt und blinzelte Frau Rennert an.

»Wirklich?«, fragte diese vergnügt. »Wollen wir wetten, dass ich es auch sehe?«

»Tante Ma, wer Lust zum Wetten hat, der hat auch Lust zum …«

»Hältst du wohl den Mund!«, unterbrach Nick seinen Bruder.

»Lass ihn nur, Nick«, meinte Frau Rennert lachend. »Kinder, wie wäre es mit einem kleinen Nachmittagsausflug zum Forsthaus?«

»Oh, das wäre toll. Wir werden Andi besuchen und seine Mutter, die liebe Tante Sabine!«, rief Heidi.

»Ja, und Herrn Bullinger. Er soll uns wieder eine Jägergeschichte erzählen«, erklärte Fabian lebhaft.

»Er erzählt immer so schön«, meinte ein größerer Junge begeistert. Er war erst seit ein paar Wochen hier, hatte aber schon zweimal den alten Oberförster Bullinger besucht, weil er später einmal Förster werden wollte.

»Das stimmt, Alfred«, gab Nick zu. »Aber meist ist es Jägerlatein.«

»Jägerlatein?«, fragte Dieter, ein zwölfjähriger Junge mit roten Haaren und lustigen braunen Augen. »Was ist denn das für eine Sprache?«

»Eine ganz fröhliche«, erwiderte Pünktchen schelmisch. »Weißt du, auch die Jäger haben eine lebhafte Fantasie und …«

»Ach so, sie erfinden Geschichten, die nicht wahr sind«, meinte Vicky.

»So ist es. Und die Fischer sind genauso wie sie. Auch sie sprechen so etwas Ähnliches wie Jägerlatein. Ich kenne eine Geschichte über zwei Fischer, die sich an einem Abend am Stammtisch treffen und entsetzlich angeben. Plötzlich sagt der eine: ›Weißt du, heute habe ich einen Hecht gefangen. Er wog hundertundzwanzig Pfund!‹

›Na, so was‹, erwiderte der andere, ›aber das ist gar nichts. Ich habe heute einen großen Kronleuchter aus dem See gezogen, an dem die Kerzen brannten.‹

›Du bist wohl nicht bei Trost!‹ rief der erste. ›So etwas gibt es doch nicht.‹

›Nun gut, vielleicht hast du sogar recht. Also, wenn du hundert Pfund von dem Gewicht des Hechtes abziehst, lösche ich die Lichter des Kronleuchters aus.‹«

Die Kinder brachen in fröhliches Lachen aus. »Ich kenne auch eine Geschichte‹, meldete sich Angelika. »Also …«

Aber sie kam nicht mehr zum Erzählen, denn Pieter sprang plötzlich mit einem hellen Jubelschrei auf und rief: »Vati! Mein Vati ist da! Mein lieber, lieber Vati!«

Nun richteten sich alle Augenpaare auf Enno Cornelius, der die Arme ausbreitete, als sein Sohn auf ihn zulief, und ihn dann einmal im Kreis herumwirbelte.

Enno verbrachte einen unbeschwerten Nachmittag in Sophienlust. Gegen Abend kamen Denise und Alexander von Schoenecker aus Schoeneich her­über und luden ihn ein, über Nacht dazubleiben.

Mit Freuden nahm Enno die Einladung an und auch die zum Abendessen bei den von Schoeneckers in Schoen­eich. Doch vorher brachte er Pieter zu Bett.

Aber auch Heidi strahlte vor Seligkeit über ihr rundes Gesichtchen, denn Pieters lieber Vati deckte auch sie zu.

»Vati, erlaubst du, dass Heidi dich Onkel nennt?«, fragte Pieter leise.

»Natürlich darf sie das. Heidi, ich heiße Onkel Enno. Und später, wenn Pieter wieder daheim ist, wirst du uns oft besuchen. Willst du das?«

»Ja, Onkel Enno.« Heidi streckte ihm die Ärmchen entgegen. »Wenn ich auch keinen Vati mehr habe, habe ich nun doch noch einen lieben Onkel.«

»Dann hast du schon einige Onkel?« Liebevoll betrachtete er das kleine Mädchen. Zugleich regte sich in ihm der Wunsch, auch eine kleine Tochter zu haben. Doch das würde ein ewig unerfüllter Wunsch bleiben, dachte er. Denn Betty würde gewiss keine Kinder mehr bekommen.

»Ja, ich habe noch andere Onkel«, erwiderte Heidi und zählte sie nacheinander an ihren Fingern auf. »Onkel Alexander! Er ist Henriks Vati. Aber nur Pünktchen und ich nennen ihn so. Und Onkel Hans-Joachim! Das ist der liebe Tierdoktor. Und Onkel Helmut! Das ist der Tierpfleger. Und …«

»Vati, ich finde es sehr schön in Sophienlust«, unterbrach Pieter seine kleine Freundin rigoros. Schließlich war sein Vati nur selten bei ihm, und er hatte ihm noch so schrecklich viel zu sagen.

»Ich weiß, Pieter.«

»Aber manchmal fände ich es auch schön, wieder einmal zu Hause zu sein.«

»Das ist verständlich, mein Junge. An einem der nächsten Sonntage hole ich dich übers Wochenende heim.«

»Fein, Vati. Dann könnten wir Heidi eigentlich mitnehmen.«

»Wenn man es hier erlaubt, nehme ich sie gern mit.«

»Wirklich??« Heidi wurde ganz rot vor Freude.

»Vati?«

»Ja, mein Junge.«

»Wie geht es denn Mutti? Sind ihre Nerven schon besser geworden?«

»Ja, Pieter.«

»Und besucht mich die nette Dame aus deinem Büro auch einmal?«

»Du meinst Frau van Arx? Ja, Pieter. Ich werde ihr sagen, dass du dich über ihren Besuch freuen würdest.«

»Fein, Vati.« Pieter gähnte herzhaft. Heidi wurde sofort davon angesteckt.

Enno lachte. »Ich gehe jetzt«, erklärte er. »Wie ich sehe, seid ihr reichlich müde.«

»Morgen früh komme ich gleich zu dir ins Zimmer.« Pieter konnte kaum noch die Augen offenhalten.

»Ja, mein Junge.«

»Du, Vati.«

»Ja?«

»Bekomme ich später auch einen eigenen Hund?«

»Vielleicht, Pieter. Also, gute Nacht.« Enno gab ihm einen Kuss. Der kleine Junge streckte sich behaglich unter der leichten Decke aus, dann nahm er seinen Teddy in die Arme und schloss mit einem kleinen Lächeln die Augen.

Heidi schlief schon, als Enno auf leisen Sohlen das Zimmer verließ. Draußen wurde er von Frau von Schoen­ecker erwartet. Sie gingen zu dem Wagen, in dem schon ihre beiden Söhne Nick und Henrik und ihr Mann saßen.

Enno verbrachte einen unvergesslich schönen Abend in Schoeneich. »Ich komme mir wie in einem anderen Jahrhundert vor«, sagte er nach dem Abendessen, als sie zu viert auf der Terrasse saßen. Nick durfte noch ein Weilchen bei ihnen bleiben. Wie meist, wenn Besuch da war, pochte er auf seine Rechte als zukünftiger Herr von Sophienlust, um damit zu erreichen, dass man ihn schon zu den Erwachsenen zählte. Außerdem war er an diesem Tag besonders glücklich. Denn seine Aufnahmen von der Kindermodenschau waren von einer Frauenzeitschrift gekauft worden.

Alexander nickte. »Herr Cornelius, auch mir ergeht es oft so, obwohl ich doch die meiste Zeit hier draußen lebe. Aber Schoeneich und Sophienlust haben den Charakter erhalten, der sie von Anfang an auszeichnete.«

»Mein Mann hat recht. Manchmal sehe ich die früheren Besitzer deutlich vor mir. Die Damen in ihren langen Kleidern und den Wespentaillen. Und die Männer mit ihren Cuts und Vatermördern.«

»Was ist denn das?«, fragte Nick erstaunt.

»So nannte man früher die hohen steifen Kragen der Herren«, belehrte Alexander seinen Sohn lachend.

Als Nick gegen zehn Uhr auf einen heimlichen Wink seiner Mutter hin gute Nacht sagte, sah man ihm deutlich an, wie sehr er bedauerte, sich schon zurückziehen zu müssen.

Enno blieb bis gegen Mitternacht. Dann brachte Alexander ihn nach Sophienlust. Er schloss ihm noch die Haus­tür auf und geleitete ihn bis zur Treppe.

»Von hier finde ich allein in das Gästezimmer«, sagte der Industrielle lächelnd. »Und noch einmal herzliche Grüße an Ihre Frau. Sie ist eine wundervolle Frau«, fügte er noch hinzu und erwiderte den Händedruck des Gutsbesitzers fest.

Alexander lächelte ihn herzlich an.

Enno schlief gleich ein. Am nächsten Morgen wurde er durch einen Kuss seines Sohnes geweckt. Doch gleich nach dem Frühstück musste er sich auf den Heimweg machen, um einigermaßen pünktlich in seinem Werk zu sein. Zu seiner freudigen Überraschung fand er Julia dort vor. Mit einem verhaltenen Lächeln begrüßte sie ihn und sagte: »Ich habe nur auf Sie gewartet, Herr Cornelius. Ich bin ja noch krank geschrieben. Anschließend möchte ich mir ein paar Tage Urlaub nehmen.«

»Selbstverständlich, Frau van Arx.« Ennos Freude über das unverhoffte Wiedersehen war erloschen. Julias kühler Ton und ihre formelle Anrede, die ihn nach dem vertrauten Beisammensein in ihrem Appartement doppelt schwer traf, wirkten auf ihn wie eine eiskalte Dusche.

Sie sprachen noch über einige geschäftliche Angelegenheiten, dann verabschiedete Julia sich von ihm. Als die Tür hinter ihr zufiel, hatte Enno das Gefühl, dass ihm von nun an die Welt zur Glückseligkeit für immer verschlossen bleiben würde.

*

Nach den beiden schweren Schicksalsschlägen, die sie so rasch hintereinander in Amsterdam ereilt hatten, war Julia aus ihrer Heimatstadt geradezu geflüchtet. Seitdem war sie nie mehr in Amsterdam gewesen. Auch jetzt, als sie mit einem Taxi, das sie auf dem Flughafen Schiphol gemietet hatte, durch die ihr so vertrauten Straßen fuhr, über­fielen sie die Erinnerungen wieder

in schmerzlicher Weise. Tränenblind schaute sie sich nach allen Seiten um. In den Grachten spiegelte sich das Geäst der alten Bäume und die Giebel der vornehmen Bürgerhäuser. Unter den Munttoren war wie eh und je Blumenmarkt.

Tränen lösten sich von Julias Wimpern, als sie an den herrlichen Frühlingstag dachte, an dem Wim ihr einen Arm voll Blumen gekauft hatte. Das war der Tag gewesen, an dem er sie gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle.

Nun fuhren sie über die Magere Brug, eine schmale Holzbrücke über die Amstel. Wie oft hatten Wim und sie hier am Geländer gelehnt und auf das Wasser hinuntergeschaut. Dabei hatten sie in Zukunftsträumen geschwelgt.

Das Taxi hielt vor einem freundlichen kleinen Hotel, das Julias Vorstellungen entsprach und auch nicht gar so teuer war. Von dort waren es nur ein paar Schritte bis zur Prinzengracht. Und wenn Julia eine der Brücken überquerte, konnte sie das Haus sehen, in dem Wim und sie gewohnt hatten.

Julia entlohnte den Chauffeur. Ein Diener mit grüner Schürze kam aus dem Hotel und bemächtigte sich ihres Gepäcks. Das Zimmer, das sie bekam, war klein, aber urgemütlich mit seinen gepflegten Möbeln, dem dicken Teppich und dem winzigen Duschraum.

Julia duschte sich und zog sich um. Danach verließ sie das Hotel auf der Suche nach einem bestimmten Restaurant, in dem sie häufig zusammen mit Wim gegessen hatte.

Als sie dann an einem der Tische saß und durch das große Fenster blickte, wurde ihr noch schwerer ums Herz. Damals, als sie ihr Kind erwartete und Wim noch lebte, hatten sie an jedem Sonntag hier zu Abend gegessen. Das Essen war gut, und die Preise waren niedrig. Wim und sie hatten sich ausgemalt, wie es sein würde, wenn ihr Kind mit ihnen hier zusammen sitzen würde. Wenn …

Julia zwang sich, an etwas anderes zu denken, weil ihr schon wieder Tränen in die Augen stiegen. Wie gut war es doch, dass den Menschen Grenzen gesetzt waren und sie nicht in die Zukunft schauen konnten. Könnten sie es, gäbe es wohl kaum ein unbeschwertes Glück auf Erden, dachte sie. Denn jeden Menschen trafen irgendwann einmal schwere Schicksalsschläge.

Julia ging nach dem Essen noch etwas spazieren. Dann aber verkroch sie sich wie ein waidwundes Tier in ihr Hotelzimmer und überließ sich ihrem Kummer.

Am nächsten Tag führte sie ihr erster Weg in das Krankenhaus, in dem sie ihr Kind zur Welt gebracht hatte und in dem es gestorben sein sollte. Sie fragte nach Dr. Claus Aarhof. Dass er schon vor Jahren Amsterdam verlassen hatte und irgendwo in Afrika in einem Hospital mitten im Busch arbeitete, war für sie wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Aber die Stationsschwester, die sie damals betreut hatte, war noch da. Sie erkannte Julia sogar wieder.

»Wie kann ich Sie vergessen«, erwiderte die Schwester freundlich auf Julias erstaunte Frage über ihr gutes Gedächtnis. »Sie gehören zu den wenigen Frauen, die einem im Gedächtnis haftenbleiben – nicht nur durch tragische Umstände«, sagte sie leise. »Wir alle haben es damals als besonders tragisch empfunden, dass gerade Ihr Kind hatte sterben müssen.«

»Wie hießen denn die anderen Frauen, die damals zur gleichen Zeit mit mir im Kreißsaal lagen?«

Die Schwester nannte zwei Namen von verheirateten Holländerinnen, mit denen sie noch jetzt in Kontakt stand. »Beide haben noch Kinder bekommen und lagen stets auf meiner Station. Ja, und dann war da noch die Studentin. Ihren Namen habe ich vergessen. Sie schien eine Freundin von Dr. Aarhof zu sein. Ich glaube, sie hieß Lucy … Ja, Lucy Bomans.«

»Lucy Bomans? Lag denn zu dieser Zeit nicht auch eine Betty Cornelius bei Ihnen im Krankenhaus?«, fragte Julia drängend.

»Der Name ist mir unbekannt. Aber das hat natürlich nichts zu sagen. Wenn Sie wollen, erkundige ich mich mal.« Schon hob die Schwester den Telefonhörer hoch.

Nachdem sie mit mehreren Stellen im Haus telefoniert hatte, zuckte sie bedauernd mit den Schultern. »Nein, niemand kennt eine Frau mit diesem Namen. Auch scheint sie niemals hier gewesen zu sein.«

Julias Enttäuschung wurde immer größer. Sollte sie denn ihr ganzes Leben lang mit diesem Zweifel im Herzen herumlaufen? Was bedeutete es schon, wenn ein anderes Kind dieses bewusste Hemdchen getragen hatte? Vielleicht war das Hemd mit irgendeinem anderen Wäschestück vertauscht worden. Sie sollte sich verabschieden und gehen. Zweifellos jagte sie einem Hirngespinst nach, das weder Hand noch Fuß hatte.

Trotzdem öffnete Julia impulsiv ihre Tasche und zog das Babyhemdchen mit den kornblumenblau umhäkelten Rändern heraus. Dann erzählte sie der weisen älteren Schwester, was für eine Bewandtnis es damit hatte.

Die Schwester lachte nicht, wie Julia eigentlich erwartet hatte. Im Gegenteil, in ihre Augen trat so etwas wie Schrecken. »Ja, das ist uns damals schon merkwürdig vorgekommen«, sagte sie zu Julias Überraschung. »Ich kann mich noch genau an dieses Hemd­chen entsinnen, weil es etwas ausgefallen war. Auch habe ich Ihre Entschuldigung wegen der Häkelarbeit nicht vergessen. Und dann legte ich das Hemdchen mit zu den Sachen für den Kreißsaal. Und die Hebamme behauptete damals fest, sie habe Ihrem Kind das Hemdchen angezogen. Später aber trug es das Kind dieser Studentin.«

»Lucy Bomans, nicht wahr?«, fragte Julia, die sich den Namen genau gemerkt hatte.

»Ja, Lucy Bomans. Aber wie kommen Sie nur auf diese absurde Idee, dass die Kinder verwechselt wurden? Sie bekommen doch kleine Plaketten mit ihren Namen, damit so etwas nicht passieren kann. Und das Baby, das noch am gleichen Tag starb, trug die Plakette mit Ihrem Namen, Frau van Arx.«

»Ich verstehe das auch nicht. Vielleicht bin ich wirklich ein bisschen verrückt«, gab Julia offen zu. »Trotzdem möchte ich Lucy Bomans kennenlernen. Was hat sie denn studiert?«

»Medizin. Sie müsste schon fertig sein. Immerhin sind seit dieser Zeit mehr als fünf Jahre vergangen.«

»Ja, ich weiß.« Julia erhob sich. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Schwester Gertruidje.«

»Hoffentlich habe ich Ihnen helfen können.«

Julia kehrte in ihr Hotel zurück und ließ sich das Telefonbuch geben. Diesmal schien ihr das Glück hold zu sein. Denn sie fand die Adresse von Dr. Lucy Bomans und rief dort an. Die junge Ärztin war selbst am Telefon. Julia machte mit ihr ein Rendezvous in ihrem Hotel aus.

Voller Unruhe fieberte sie dann dem Nachmittag entgegen. Die Zeit schien im Schneckentempo dahinzukriechen. Endlich läutete das Telefon auf ihrem Nachttisch. Der Portier sagte ihr, eine Dame warte unten in der Halle auf sie.

Lucy Bomans war eine hübsche kräftige Frau mit mittelblonden Haaren und hellblauen Augen. Die wilden turbulenten Jahre ihrer Studienzeit konnte man ihr beim besten Willen nicht mehr ansehen. Auch trug sie einen Verlobungsring.

»Ja, Frau van Arx?«, fragte sie. »Den ganzen Tag habe ich mir den Kopf zerbrochen, wer Sie sind und was Sie von mir wollen. Nun, wo ich Sie sehe, habe ich das Gefühl, dass wir einander schon irgendwann einmal begegnet sind.«

»Wir kennen uns flüchtig. Wir haben damals zur gleichen Zeit unsere Kinder bekommen.«

Dunkle Röte flammte über das Gesicht der Holländerin. Man sah ihr an, wie peinlich es ihr war, von dieser Angelegenheit sprechen zu müssen. Aber sie sagte sich, dass es keinen Sinn habe, den Kopf wie der Vogel Strauß in den Sand zu stecken und zu glauben, niemand sehe sie. »Warum spielen Sie darauf an?«, fragte sie sachlich und sah Julia fest an.

»Weil … Ja, weil ich glaube, dass man Ihr Kind mit meinem verwechselt hat«, sagte sie aufs Geratewohl.

»Verwechselt? Aber nein, das glaube ich nicht. Wie kommen Sie nur darauf?«

Julia entschloss sich, ihre Karten offen auf den Tisch zu legen. Kopfschüttelnd hörte Lucy sie an. »Ja, es ist wahr, ich wunderte mich auch über das fremde Hemdchen. Aber ich dachte, es sei vom Krankenhaus. Denn ich habe das Kind ja nicht mit nach Hause genommen.«

»Nicht mit nach Hause genommen? Aber …« Julia stockte. »Ist es denn auch gestorben?«

»Ach wo, der kleine Junge war kerngesund. Und wenn ich damals nicht versprochen gehabt hätte, ihn herzugeben, hätte ich es später bestimmt nicht mehr getan. Glauben Sie mir, ich war verzweifelt, als der Arzt mir den kleinen Jungen fortnahm und ihn der anderen gab. Auf all das Geld, das mir mehrere sorglose Studienjahre in Aussicht stellte, hätte ich damals liebend gern verzichtet. Aber er ließ sich nicht erweichen. Denn er liebte die andere trotz allem noch immer. Und ich liebte ihn. Lächerlich, nicht wahr? Es war ja auch sein Kind. Obwohl ich ihm gesagt hatte, dass ich an seiner Vaterschaft zweifelte. Mein Gott, war ich damals dumm, aber eben so schrecklich jung.«

»Wer war die andere?«, fragte Julia tonlos und wusste es doch schon.

»Die andere? Die Gattin eines reichen Industriellen. Sie wollte mit dem Kind die Liebe ihres Mannes zurückgewinnen, was ihr allem Anschein nach auch gelungen ist. Und Claus hat ihretwegen Amsterdam verlassen und sich im Busch verkrochen. Was, die Welt ist manchmal zum Lachen?«

»Betty Cornelius? Ja, es muss Betty Cornelius gewesen sein.« Julias Herz pochte hart. Dann war der kleine Pieter vielleicht doch ihr Kind. Ihr totgeglaubter Sohn. Aber noch gab es dafür keine sicheren Beweise. Wie sollte sie die nur finden? Wie? Wenn ihr jemand dabei helfen konnte, dann nur Dr. Claus Aarhof. Nur er besaß den Schlüssel zur Wahrheit.

Julia fragte Lucy nach seiner Adresse. Aber die junge Ärztin konnte ihr nur antworten, sie kenne seine Anschrift nicht.

Julia kehrte unverrichteter Dinge aus Amsterdam zurück. Trotzdem war sie sicher, einen kleinen Schritt in ihren Nachforschungen vorangekommen zu sein. Sollte sie Betty Cornelius im Sanatorium besuchen? fragte sie sich immer wieder. Vielleicht konnte sie ihr ebenfalls helfen? Aber ob sie das wollte? Ob sie Pieter wieder hergeben wollte? Von einer solchen Frau war doch keine Hilfe zu erwarten, dachte Julia resigniert.

Nach einigen Tagen, die ausgefüllt waren mit ihren zwiespältigen Gefühlen, entschloss sich Julia, doch in die Eifel zu fahren, um an das Gewissen von Betty Cornelius zu pochen.

*

Betty Cornelius blickte den Mann, der ihr gegenübersaß, wie das siebte Weltwunder an. Noch immer konnte sie nicht fassen, dass Claus zu ihr gekommen war. Der Mann, der sie – ihrer Ansicht nach – seit Jahren erpresste und ihr dadurch das Leben zur Hölle gemacht hatte. Doch wie sehr hatte er sich verändert. Er war in den letzten fünf Jahren um das Doppelte gealtert.

Claus hatte ähnliche Gedanken. Bettys Aussehen war für ihn ein richtiger Schock. Auch erkannte er an ihren fahrigen Bewegungen, an dem unsteten Flackern ihrer Augen, dass sie süchtig sein musste.

Noch hatten beide nicht die Kraft aufgebracht, mehr als belanglose Worte zu sagen. Noch waren sie auch zu sehr mit ihrer verhaltenen Wiedersehensfreude beschäftigt. Betty machte dann den Anfang. Mit einem bitteren Zug in ihrem Gesicht sagte sie: »Wie du siehst, habe ich nicht meine Ehe retten können. Ich bin am Ende, Claus. Und das habe ich nur dir zu verdanken. Ja, dir und deinem Bruder!« Ihre so lange zurückgehaltene Verzweiflung brach nun mit aller Gewalt aus ihr hervor.

»Betty, deshalb bin ich ja gekommen. Glaube mir, ich habe nichts mit dieser ganzen Geschichte zu tun. Rein gar nichts. Dein Brief hat bei mir wie eine Bombe eingeschlagen. Darum habe ich mir auch so schnell wie möglich Urlaub genommen, um dir zu helfen. Martin hat dich ohne mein Wissen erpresst.«

»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen. Aber als dein Bruder das letzte Mal hier war, hat er fest und steif behauptet, ihr beide wärt euch einig und wolltet euch mit dem Geld von mir eine neue Existenz aufbauen. Er …«

»Mein Gott, wie ist das nur möglich.« Claus fuhr sich mit dem Taschentuch über seine schweißfeuchte Stirn. »Ich habe dich doch geliebt, Betty. Ja, ich habe dich mehr als mein Leben geliebt. Hätte ich mir sonst mein Leben so ruiniert?«

»Warum ruiniert?« Mit zitternden Händen griff sie nach dem Glas mit Wasser. Blitzschnell fuhr ihre Hand in die Tasche ihrer Jacke und ebenso unauffällig steckte sie eine Tablette in den Mund.

Aber Claus hatte es doch bemerkt. »Was nimmst du da?«, fragte er.

»Eine Beruhigungstablette. Sonst nichts.« Sie atmete auf. »Wieso ist dein Leben ruiniert? Ich hätte niemals jemandem von dem untergeschobenen Kind erzählt. Schließlich fällt doch alles auf mich zurück.«

»Nicht ganz, Betty. Ich habe bestätigt, dass du ein Kind zur Welt gebracht hättest.«

»Mein Gott, wenn du nicht mit deinem Bruder gesprochen hättest, würde niemand etwas wissen außer dieser Studentin. Aber sie machte nicht den Eindruck einer Erpresserin. Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, dass ihr die Trennung von ihrem Kind sehr schwerfiel.«

Claus stöhnte leise auf. »Mein Gott, wenn es nur das wäre, Betty. Ich hätte bestimmt nicht mit meinem Bruder gesprochen, wenn ich nicht so verzweifelt gewesen wäre.« Plötzlich war er entschlossen, Betty die volle Wahrheit über den kleinen Pieter zu sagen.

Sie hörte erregt zu. »O Gott«, flüsterte sie. »Warum hast du das getan?« Die arme junge Frau.«

»Warum? Weil ich ein verliebter Narr war, Betty. Ich habe nur an dein Gesicht denken können, an deine Enttäuschung.«

»Ja, das wird es sein.« Betty blickte an ihm vorbei zum Fenster hinaus. »Und weißt du, wo diese Frau lebt?«

»Nein, Betty, ich weiß es nicht. Ich habe damals versucht, sie völlig aus meinem Gedächtnis auszulöschen. Aber es ist mir nicht gelungen. Und als Martin mich zu erpressen begann, bin ich aus Europa fortgegangen. Ich konnte nicht ahnen, dass Martin sich an dich heranmachen, dich bis zum Wahnsinn treiben und damit deine Ehe zerstören würde. Ich habe ihn noch nicht gefunden. Er scheint keine feste Adresse zu haben. Aber ich werde ihn finden. Verlass dich darauf!« In seinen Augen stand plötzlich unversöhnlicher Hass.

»Claus, wenn ich Enno nicht so lieben würde und ihm keine Enttäuschung bereiten wollte, müssten wir Pieter seiner Mutter zurückgeben. Aber Enno liebt seinen angeblichen Sohn. Und für Pieter ist es auch besser, wenn er bei Enno bleibt. Kannst du verstehen, dass ich den Jungen nicht mehr sehen kann?«

»Ein bisschen schon, Betty. Willst du dich denn von deinem Mann wirklich trennen?«

»Ich weiß es nicht. Enno liebt mich nicht mehr. Er empfindet nur noch Mitleid für mich. Eine Zeitlang habe ich versucht, ihn mit Gewalt zurückzuhalten. Aber seitdem diese Frau van Arx bei ihm ist, scheint er nur noch an sie zu denken «

Claus zuckte zusammen. Hatte nicht auch die junge Mutter, der er Pieter genommen hatte, Arx geheißen? Ja, so war es gewesen. Julia van Arx.

»Was hast du, Claus?«

»Mein Gott, Betty, das Leben ist manchmal eine Posse.«

»Wie meinst du das?«

»Wenn ich jemand erzählen würde, dass es einen solchen Zufall gibt, würde er mich auslachen. Weißt du, wer die Mutter des Kindes ist? Julia van Arx.«

Betty begann zu zittern. »Mein Gott«, flüsterte sie. »Damit hätte sie alle Fäden gegen mich in der Hand. Deshalb darf sie niemals erfahren, dass ihr Kind lebt. Dass Enno und ich es aufgezogen haben. Niemals! Versprich mir, dass du den Mund hältst. Versprich es mir!« Sie fasste nach seiner Hand und umklammerte sie. »Bitte, versprich es mir. Sonst habe ich Enno endgültig verloren.«

»Ich verspreche es dir, Betty. Ich werde versuchen, mit meiner Schuld weiterzuleben.« Er nahm ihre eiskalte Hand zwischen seine Hände und rieb sie. »Betty, ich bin immer für dich da. Ich liebe dich noch immer. Du musst gesund werden. Und wenn du nicht mehr weiter weißt, komme zu mir. Du brauchst mir nur zu schreiben.«

»Ich danke dir«, schluchzte sie auf. »Ich habe deine Liebe nicht verdient. Vielleicht werde ich eines Tages tatsächlich auf dein Angebot zurückgreifen.« Sie lächelte ihn unter Tränen an. Dieses herzzerreißende Lächeln sollte Claus Aarhof immer in Erinnerung behalten.

Als Betty allein war, fühlte sie sich elender denn je. Wohl zum ersten Mal spielte sie an diesem Tag mit dem Gedanken, sich weiterem Elend und Leid zu entziehen, um im kühlen Grab endlich die so ersehnte Ruhe zu finden.

*

Es war für Julia eine Enttäuschung, dass man ihr nicht erlaubte, Betty Cornelius zu besuchen. Als Grund gab man deren schlechten Zustand an.

Julia blieb nichts anderes übrig, als nach Essen zurückzukehren und sich bei Enno im Werk zurückzumelden. Das Wiedersehen mit ihm machte ihr noch deutlicher, dass sich ihre Gefühle für ihn in keiner Weise geändert hatten. Sie liebte ihn jetzt noch heftiger, noch inniger.

Unverständlich war ihr jetzt, dass sie ihn zuvor so kühl und abweisend behandelt hatte. War nicht auch er ein Opfer der Machenschaften seiner Frau? Er lebte doch in dem festen Glauben, dass Pieter sein Sohn sei.

»Ich bin sehr froh, dass die Spannung zwischen uns behoben ist«, stellte er erleichtert fest und sah sie wie ein kleiner Junge an, der besonders reichlich vom Weihnachtsmann beschenkt worden war. »Ich war schon völlig kons­terniert. Denn ich brauche so dringend einen Menschen, dem ich mein ganzes Vertrauen schenken kann.«

»Es tut mir leid, dass ich mich so benommen habe«, erwiderte sie kleinlaut. »Ich kann mir nicht erklären, was in mich gefahren war. Ich hatte doch einen ziemlich großen Schock von dem Unfall.«

»Ja, das wird es gewesen sein.« Sein Lächeln vertiefte sich. »Julia, Pieter war für mich in dieser Zeit mein letzter Halt. Ohne ihn wäre ich manchmal am Leben verzweifelt.«

Ich werde ihm nie die Wahrheit über Pieters Herkunft sagen können, dachte sie unglücklich. Oder war Pieter vielleicht doch sein Sohn? Wenn sie nicht endlich Klarheit bekam, würde sie noch überschnappen. Sie setzte ihre letzte Hoffnung auf die Ärztekammer, an die sie geschrieben hatte. Dort wusste man vielleicht mehr über Dr. Aarhofs jetzigen Aufenthalt.

»Julia, wo sind Sie mit Ihren Gedanken?« Enno riss sie aus ihren Grübeleien.

»Ich? Verzeihung«, murmelte sie und lächelte ihn verlegen an.

»Ist schon gut, Julia. Ich habe Sie gefragt, ob Sie mich am Wochenende nach Sophienlust begleiten möchten. Pieter fragt immer wieder nach Ihnen.«

»Gern«, erwiderte sie erregt. »Natürlich komme ich mit.«

Dann erzählte Enno von seiner Frau. Still hörte Julia ihm zu. Obwohl sie diese Frau eigentlich hassen müsste, gelang ihr das doch nicht ganz. War Betty Cornelius ein vom Schicksal geschlagener Mensch? Ja, der Herrgott sorgte schon dafür, dass keine Bäume in den Himmel wuchsen, dachte Julia.

Am Samstagmorgen holte Enno Julia ab. Um ausgeschlafen zu sein, hatte sie am Abend zwei Schlaftabletten genommen, die noch in ihr nachwirkten. Aber sie empfand diesen leicht schwebenden Zustand eher als angenehm. Die entsetzliche Spannung in ihr, die sie in den letzten Wochen gequält hatte, war einer ausgeglichenen, fast glücklichen Ruhe gewichen.

Auch Enno hatte gewaltsam die Alltagssorgen und den Kummer um Betty abgestreift. Julias Nähe half ihm noch, sie nicht wieder in den Vordergrund treten zu lassen.

Es war ein wunderschöner Spätsommertag, der schon einen Hauch des kommenden Herbstes in sich trug. Hie und da leuchtete ein gelbes Blatt zwischen dem Grün der Bäume und Sträucher. Ein lauer Wind strich über die Getreidefelder und Wiesen. Immer wieder begegneten ihnen Heuwagen.

»Ich liebe diese Jahreszeit sehr« sagte Julia. »Bei uns daheim empfindet man sie doppelt schön.«

Enno lächelte sie an. »Wohl jeder hält seine Heimatstadt, den Ort, an dem er aufgewachsen ist, für etwas Besonderes.«

»Mag schon sein«, gab sie zu und sehnte sich nach Ennos Umarmung.

Er fuhr langsamer, als spüre er ihre Sehnsucht. Dann ließ er den Wagen ausrollen. Mit einer scheuen Zärtlichkeit legte er den Arm um ihre Schultern. Überwältigt von ihren Gefühlen lehnte sie ihren Kopf gegen seine Schulter.

»Julia, wir hätten uns früher begegnen müssen«, erklärte er leise.

»Ja, Enno, das hätten wir«, stimmte sie ihm bei.

»Aber wir haben uns nicht früher getroffen.« Mit einem resignierten Lächeln zog er seinen Arm zurück und fuhr weiter.

Bis Sophienlust sprachen sie kaum noch miteinander, aber ihre Blicke trafen sich immer wieder. Und dann erreichten sie das kleine Paradies auf Erden. Sofort wurden sie in den Sog des Glücklichseins hineingezogen.

Als Julia Pieter begrüßte, suchte sie mit einer schier gierigen Verzweiflung nach einer Ähnlichkeit mit Wim oder mit sich selbst.

Und dann erkannte sie mit schmerzlicher Deutlichkeit, dass Pieter Wim glich. Nicht nur äußerlich, sondern auch in seinen Bewegungen, in der Art zu sprechen. Warum war ihr das früher nicht aufgefallen? fragte sie sich.

Pieter war an diesem Wochenende unendlich glücklich. Als er für einen Augenblick mit Julia allein war, sagte er etwas, was Julia heiße Tränen in die Augen trieb. »Warum ist meine Mutti nicht so lieb wie Sie, Frau van Arx?«

»Pieter …«

»Darf ich Sie Tante nennen?« Er ließ sie nicht aussprechen.

»Aber ja, Pieter. Sag nur Tante Julia zu mir.«

»Darf ich auch du sagen?«

»Aber ja, Pieter. Zu einer Tante muss man du sagen. Sonst ist es doch keine richtige Tante.«

»Ich bin so froh darüber«, gestand der kleine Kerl ernst.

Enno war glücklich, als er davon erfuhr. »Sie könnten leicht Pieters Mutter sein«, erklärte er unbefangen, ohne zu ahnen, was er damit anrichtete. »Pieter hat sogar ein wenig Ähnlichkeit mit Ihnen.«

»Finden Sie?« Am liebsten wäre sie davongelaufen, weil sie kaum noch die Tränen zurückhalten konnte.

»Ja, Julia, aber vielleicht finde ich das nur, weil ich Sie sehr gern habe. Viel zu gern.«

Julia war froh über das Erscheinen der Kinder, die sie plötzlich umringten und sie baten, mit zu den Koppeln zu kommen. »Pieter kann nämlich schon reiten«, flüsterte Henrik Enno schnell zu. »Aber es soll eine Überraschung werden. Pieter ist schon dort.«

Stolz saß der kleine Junge auf dem Pony Nicky, das schon sehr betagt war und viel von seinem früheren wilden Temperament eingebüßt hatte. Ge­mäch­lich trottete es mit seinem kleinen Reiter immer im Kreis herum. Pieters Wangen glühten vor Aufregung.

»Toll, mein Junge!«, rief Enno ihm zu. »Später, wenn du wieder zu Hause bist, kaufe ich dir ein Pony.«

»Wirklich, Vati?«, rief Pieter zurück. »Auch einen Hund? Einen Barri? Ja?«

»Wollen mal sehen«, meinte der Vater lachend und wandte sich an Julia. »So ist es nun mal mit Kindern. Kaum reicht man ihnen den kleinen Finger, wollen sie schon die ganze Hand einstecken. Aber ich bin froh, dass Pieter so geworden ist. Früher war er ein scheues und ungesund stilles Kind. Sophienlust hat wahre Wunder an ihm vollbracht. Auch sieht er jetzt viel gesünder aus.«

»Ja, Enno, das ist wahr. Ich kann mich noch entsinnen, wie blass er immer gewesen war, als er Sie im Werk besuchte.«

Pieter und die anderen Kinder bedauerten sehr, dass der nette Herr Cornelius und die liebe Frau van Arx schon am Spätnachmittag wieder abfahren mussten. Pieter weinte ein bisschen. Doch die Kinder trösteten ihn sofort.

Als Julia an diesem Abend Enno bat, doch noch auf einen kleinen Imbiss zu ihr zu kommen, sagte er mit Freuden zu.

»Ich fühle mich in Ihrem Appartement viel glücklicher als in meinem großen leeren Haus«, stellte er fest und setzte sich. Dabei fiel sein Blick wieder auf die Fotografie von Julias Mann. Und nun wusste er auch, an wen er ihn erinnerte. An Pieter.

Enno ließ seine Gedanken laut werden. »Aber das ist gar nicht so abwegig«, fügte er hinzu. »Ihr Mann war ein typischer Holländer, und Pieter geht ja ganz in die Familie meiner Frau. Auch mein Schwiegervater ist ein solcher Typ.«

»Ja, das stimmt«, erwiderte Julia leise. »Die Typen in Holland ähneln sich sehr.«

Von diesem Augenblick an fand sie keine Ruhe mehr. War es vielleicht nur das? fragte sie sich. Hatte sie sich in den Gedanken, dass Pieter ihr Sohn sei, so sehr hineingesteigert, dass sie nun fest davon überzeugt war? Deshalb musste sie unbedingt mit Betty Cornelius sprechen. Am nächsten Wochenende würde sie noch einmal zum Sanatorium fahren.

Als sich Julia und Enno an diesem Abend trennten, wussten sie auch ohne Worte von ihrer gegenseitigen Liebe. Von einer Liebe, die niemals Wirklichkeit werden durfte.

*

Enno flog am Ende der Woche nach New York. Vorher hatte er noch Betty besucht. Es war ein quälendes Beisammensein gewesen, sodass sie beide froh über den Abschied gewesen waren. Anfangs hatte er vorgehabt, Julia mit in die Vereinigten Staaten zu nehmen. Aber dann hatte er sich anders entschieden. Seine Gefühle für sie und das Verlangen, sie ganz zu besitzen, waren so stark in ihm, dass er sicher war, sich nicht beherrschen zu können. Aber er wollte Betty nicht betrügen, obwohl seine Liebe für sie erloschen war. Solange sich seine Frau in diesem erbarmungswürdigen Zustand befand, hatte er, so fand er, nicht das Recht, ihre Hilflosigkeit auszunutzen.

Ununterbrochen musste Enno auf dem Flug an Betty denken, an ihr seltsames Verhalten, ihre unverständlichen Bemerkungen. Es war, als ahnte er bereits, was ihn bei seiner Rückkehr erwarten würde.

Julia war mehr als erleichtert über Ennos Reise. So konnte sie ohne Sorge zu Betty Cornelius fahren. Bereits am Samstagmorgen setzte sie sich in ihren neuen Wagen und fuhr los.

Sehr langsam fuhr Julia die Auffahrt zum Sanatorium hinauf und parkte den Wagen auf dem runden Platz davor, wo schon eine Menge Autos standen.

Diesmal ließ sie sich nicht wieder fortschicken. Schließlich erlaubte man ihr auch, Betty zu besuchen.

»Ich habe Sie erwartet, Frau van Arx«, sagte Betty da zu Julias Überraschung.

»Aber … «

»Sie müssen wissen, dass vor kurzem Claus Aarhof bei mir war.«

»Der Arzt?«

»Ja, der Arzt, der Sie von Ihrem Sohn entbunden hat.«

»Mein Gott, dann wissen Sie …«

»Ja, ich weiß es. Nur ist mir nicht klar, wie Sie dahintergekommen sind.« Betty merkte in ihrem verworrenen Zustand nicht einmal, dass sie ein Geständnis ablegte, ohne gefragt zu werden. Auch schien sie vergessen zu haben, dass sie Claus gebeten hatte, mit niemandem darüber zu reden.

»Ich … Ein dummer Zufall brachte mich auf die Spur. Zuerst war es nur eine Ahnung, doch allmählich war ich wie besessen von dem Gedanken, dass mein Kind noch am Leben ist.« Julia zog das Corpus delicti aus ihrer Handtasche und legte es auf die Bettdecke.

»Ja, das Hemdchen«, sagte Betty. »Ich habe sogleich gesehen, dass es eine schlechte Handarbeit war. Aber Pieter trug das Hemdchen, als Claus mir das Kind brachte.«

»Ich habe es selbst angefertigt und meine schlechte Arbeit sogleich wiedererkannt«, erwiderte Julia.

»Ich hatte keine Ahnung, dass Pieter Ihr Kind war. Ich dachte bis vor ein paar Tagen, es sei das Kind dieser Studentin. Claus hat auch mich hintergangen. Auch ich …«

Julia kam sich plötzlich völlig ausgebrannt vor. Nun, wo sie am Ziel angelangt war, blieb die erwartete Freude aus. Ihr Sohn lebte. Aber er wusste nicht, dass sie seine Mutter war. Er war bei anderen Leuten aufgewachsen. Er gehörte nicht ihr, sondern Enno und seiner Frau. Auf einmal fühlte Julia sich uralt.

»Werden Sie ihm den Jungen fortnehmen?«, fragte Betty und fasste sich an den Hals. »Ich bekomme keine Luft«, keuchte sie. »Ich habe keine Tabletten mehr. Aber ich brauche sie so sehr. Ich … Bitte, besorgen Sie mir die Tabletten. Ich kann nicht ohne sie leben.«

»Bitte, ich flehe Sie an, bringen Sie mir Tabletten. Ich …« Betty stieß die Bettdecke fort und stieg aus dem Bett. Sie wankte zur Kommode, durchwühlte die Schubladen. »Sie sind fort! Alle sind fort. Man hat sie mir fortgenommen. Sie wissen ja nicht, wie sehr sie mich damit treffen. Ich hasse sie alle hier. Ich …« Ihre Stimme war immer lauter geworden, ihre Beschimpfungen immer hemmungsloser.

Julia atmete auf, als eine Krankenschwester eintrat und ihr einen Wink gab, das Zimmer zu verlassen. Völlig benommen verließ sie das Sanatorium. Sie stieg in ihren Wagen ein und fuhr los. Ein ganzes Wochenende lag vor ihr. Warum sollte sie es nicht in Sophienlust verbringen? Frau von Schoenecker hatte sie doch so herzlich eingeladen, bald wiederzukommen.

Und diesmal würde sie Pieter mit einem ganz anderen Gefühl gegenübertreten. Nun wusste sie, dass es ihr Sohn war. Aber würde sie die Kraft aufbringen, Enno die Wahrheit zu sagen? Nein, niemals. Er brauchte das Kind. Pieter schien sein einziger Halt zu sein, der Sinn seines Lebens. Nur für ihn baute er sein Werk weiter auf, verdiente er das viele Geld. Würde er die Wahrheit erfahren, würde er seinen Lebensmut verlieren.

Aber sie liebte Enno. Deshalb wollte sie auf Pieter verzichten. Das schloss aber nicht aus, dass sie ihn jederzeit besuchen konnte.

»Mein kleiner Junge«, flüsterte sie ergriffen, als sie die Autobahn erreichte und die Richtung nach Sophienlust einschlug. Immer wieder wischte sie sich die Tränen fort, die unaufhaltsam aus ihren Augen strömten.

Frau Rennert begrüßte sie wie eine gute Bekannte, als sie die Halle betrat. »Die Kinder sind zum Waldsee gewandert«, berichtete sie. »Wenn Sie Lust haben, fahren Sie ihnen doch nach. Schwester Regine, mein Sohn, der hier als Zeichen- und Musiklehrer angestellt ist, und meine Schwiegertochter Carola sind ebenfalls dort.«

Anschließend ließ Julia sich den Weg von der Heimleiterin erklären und fuhr los. Lange brauchte sie nicht zu fahren. Als sie die Straße erreichte, die durch den Wald führte, verlangsamte sie das Tempo und schaute sich immer wieder nach beiden Seiten um. Dann erblickte sie den See, der wie ein dunkelgrünes Juwel zwischen den hohen Bäumen glitzerte.

Wenig später parkte sie den Wagen. Die Kinder hatten sie schon entdeckt und kamen ihr jubelnd entgegengelaufen. Auch die beiden großen Hunde begrüßten sie stürmisch, sodass sie Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Lachend wehrte sie sie ab.

»Wo ist denn Vati?«, wollte Pieter wissen.

»In New York. Aber er besucht dich bestimmt am nächsten Wochenende, Pieter«, antwortete Julia leise und konnte kaum einen Blick von dem rotwangigen Kindergesicht wenden. Mein Kind, dachte sie bewegt. Du bist mein Kind. Aber ich darf es dir nicht sagen.

»Tante Julia, weißt du, was ich heute Nacht geträumt habe?«, fragte der Junge mit einem schüchternen Lächeln.

»Nein, Pieter. Aber sicherlich möchtest du mir den Traum erzählen.«

»Ja, Tante Julia. Heidi habe ich ihn schon erzählt.« In den blauen Kinderaugen stand nun ein heller Glanz. »Ich habe geträumt, du seiest meine Mutti!«

»Ach, Pieter …«

»Warum weinst du denn, Tante Julia?«, fragte Heidi erstaunt.

»Ich weine doch gar nicht, mein Kleines.« Julia bückte sich und gab dem Mädchen einen Kuss. »Mir ist wohl etwas ins Auge gekommen.«

Da es noch früh am Nachmittag war, schlugen die Kinder und Erwachsenen die Richtung zum Forsthaus ein, wo sie immer gerngesehene Gäste waren. Pieter brannte darauf, seiner lieben Tante Julia die beiden Dachse zu zeigen, die die junge Förstersfrau Sabine Schröder, die Tierärztin war, mit der Flasche aufgezogen hatte.

Wie stets wurden sie alle von dem alten und dem jungen Försterehepaar herzlich begrüßt und bewirtet. Andi, der Sohn des jungen Paares, war ein fröhliches und aufgewecktes Kind, das auch einmal eine Zeitlang im Kinderparadies Sophienlust gelebt hatte und nach wie vor zu diesem Kreis gehörte.

An diesem Nachmittag freundete sich Julia ein wenig mit Carola Rennert an. Und am Abend war sie nahe daran, ihr von ihrem Problem zu erzählen. Dann aber dachte sie an Enno. Nein, sie durfte das Geheimnis um Pieters Geburt nicht preisgeben, sagte sie sich und schwieg deshalb.

Bevor Julia am nächsten Nachmittag Sophienlust wieder verließ, schloss sie Pieter noch einmal fest in ihre Arme. »Auf Wiedersehen, mein Liebling«, sagte sie mit tränenschwerer Stimme.

Wie meist besprach Pieter seine kleinen Probleme mit seiner Freundin Heidi. Wenn sie auch noch sehr klein war, hörte sie ihm doch wenigstens zu.

»Weißt du was, Pieter?«, meinte sie. »Bete halt zum lieben Gott und wünsche dir von ihm, dass Tante Julia deine Mutti wird.«

»Nein, das kann ich nicht. Denn dann müsste meine Mutti ja erst sterben. Tante Julia kann doch erst dann meine Mutti werden, wenn Vati sie heiratet. Aber noch ist er mit Mutti verheiratet. Aber er könnte sich doch scheiden lassen, um sie zu heiraten. Dann hätte ich zwei Muttis. Aber wohnen möchte ich lieber bei Tante Julia und Vati in der Villa und … Heidi, du hörst mir ja gar nicht mehr zu«, beklagte er sich nach einem Blick auf das Bett im Nebenzimmer. »Du schläfst ja schon.« Seufzend stieg Pieter aus dem Bett und knipste im Nebenzimmer das Licht aus.

»Vielleicht sollte ich doch beten«, flüsterte er, dann aber schüttelte er den Kopf. Nein, lieber nicht. Es würde schon alles so kommen, wie es kommen sollte, dachte er und stieg wieder ins Bett. Wenige Minuten später war er eingeschlafen.

*

Betty Cornelius wurde zu einem unlösbaren Problem für die Ärzte und Krankenschwestern. Aber in einem waren sie sich alle einig: Es bestand wenig Hoffnung auf eine vollkommene Heilung der Patientin.

Voller Sehnsucht wartete sie auf ihren Mann. Als sie eine Karte aus New York von ihm erhielt, steigerte sich ihre Verzweiflung ins Unermessliche. Und immer stärker wurde ihr Verlangen nach dem gewohnten Gift. Aber die Tabletten waren alle. Deshalb flehte sie die Ärzte an, ihr doch welche zu geben.

»Seien Sie doch vernünftig«, sagte ein junger Arzt, der noch keine sehr großen Erfahrungen gesammelt hatte. »Noch ein paar Tage, und Sie haben es überwunden.«

Betty glaubte ihm jedoch nicht. Zweimal erwischte man sie im Arztzimmer, als sie sich am Giftschrank zu schaffen machte. Und dann erschien Martin Aarhof, um das versprochene Geld abzuholen. In einem günstigen Augenblick war es ihm gelungen, ungesehen ins Sanatorium zu gelangen.

Betty stand am Fenster ihres Zimmers und blickte hinaus in das Regenwetter. Dabei überlegte sie,­ wie sie sich die Tabletten beschaffen könnte. Erschrocken drehte sie sich um, als jemand die Hand auf ihre Schulter legte.

»Sie?«, fragte sie tonlos, doch dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Gut, dass Sie kommen, Herr Aarhof. Ich brauche Tabletten. Sie müssen mir welche geben.«

»So einfach ist das nicht, meine Gnädigste.« Er lachte sie unverschämt an. »Erst das Geld, meine Schöne. Danach die Ware. Diesmal verlange ich einige tausend Euro.«

»Ich habe das Geld nicht. Ich habe nur fünfhundert Euro hier.«

»Dann gehe ich.« Er erhob sich, fest überzeugt, dass sie ihn belüge.

»Ich habe wirklich kein Geld. Aber ich habe Schmuck. Dieser Ring zum Beispiel ist allein schon ein kleines Vermögen wert.« Sie zog den Solitär vom Finger und reichte ihm das kostbare Schmuckstück.

»Ich kann ihn nicht verkaufen. Sie können …«

»Nichts werde ich unternehmen. Sie können auch noch die Perlenkette haben. Und auch noch diese Kette! Und …« Betty wühlte in ihrer Nachttischschublade. »Ich brauche den Schmuck nicht mehr. Nehmen Sie alles. Aber gehen Sie! Doch vorher geben Sie mir die beiden Röhrchen. Hat Claus Sie schon gefunden?«

»Claus? War er denn hier?«, fragte Martin erschrocken.

»Ja, er war hier. Nun weiß ich, dass er nichts mit den Erpressungen zu tun hat. Sehen Sie sich vor ihm vor. Ich hätte Ihnen auch keinen Cent, kein Schmuckstück gegeben, wenn ich die Tabletten nicht so nötig bräuchte. Und dann war auch Frau van Arx da. Julia van Arx, die Frau, der Claus das Kind weggenommen hat. Sie wird Sie …« Nur eine Sekunde zögerte Betty, bevor sie fast triumphierend rief: »Sie wird Sie wegen Erpressung anzeigen, Herr Aarhof.«

Martin Aarhof zuckte zusammen. Er hatte es plötzlich sehr eilig, fortzukommen. Er raffte den Schmuck zusammen, ließ ihn in seine Sakkotaschen gleiten und packte dann die Geldscheine. »Leben Sie wohl, meine Gnädigste!«, rief er von der Tür her.

Dann war Betty allein. Wie eine Todkranke sank sie auf das Bett. Ein irres Lächeln umspielte ihre blassen Lippen. Für sie gab es keine Zukunft mehr. Enno hatte sie verlassen. Bestimmt war Julia van Arx mit ihm zusammen in New York. Natürlich würde sie ihm die Wahrheit erzählen. Und Enno würde sich von ihr, Betty, scheiden lassen, damit er Julia heiraten und Pieter behalten konnte. Dieses Unglückskind war an allem schuld. An allem.

Betty wartete noch, bis es still wurde im Sanatorium. Sie wusste, sie hatte viele Stunden Zeit, um eine Tablette nach der anderen einzunehmen. Die letzten löste sie in Wasser auf. Sie hatte kaum noch die Kraft, das Glas an den Mund zu heben. Fast hätte sie sich erbrochen, als sie die bittere Flüssigkeit schluckte. Dann taumelte sie zum Bett zurück.

*

Am gleichen Abend traf Enno in Essen ein. Nachdem er sich umgezogen hatte, fuhr er noch zu Julia. Bewaffnet mit einem riesigen Blumenstrauß drückte er auf den Klingelknopf.

Julia öffnete und sah ihn voller Freude an. »Sie? Ich habe Sie doch erst morgen erwartet.«

»Haben Sie für einen hungrigen Globetrotter etwas zu essen da, Julia?«

»Natürlich, Enno.« Sie wusste, dass sie kein Recht hatte, sich so zu freuen. Enno war kein freier Mann. Trotzdem strahlte sie vor Glück, als sie in die Küche ging, um ein kleines Abendessen vorzubereiten.

Er folgte ihr, setzte sich auf den Küchenstuhl und sah ihr zu. »Julia, ich liebe Sie«, sagte er ernst. »Ich habe lange mit mir gekämpft, ob ich es Ihnen sagen soll. Aber wir sind erwachsene Menschen und können ruhig über unsere Gefühle sprechen. Ich habe Betty noch niemals wirklich betrogen, obwohl sie mir genügend Grund dafür gegeben hat. Aber Betty und ich haben uns auseinandergelebt. Sobald sie wieder gesund ist, werde ich ihr den Vorschlag machen, zu ihren Eltern nach Amsterdam zurückzukehren. Und da sie sowieso kein Interesse an Pieter hat, behalte ich den Jungen. Pieter liebt Sie, Julia.«

»Mein Gott, Enno, das ist doch unmöglich. Ihre Frau liebt Sie.«

»Nein, das glaube ich nicht. Und ich habe sie auch nur deshalb noch nicht fortgeschickt, weil sie die Mutter meines Sohnes ist. Julia, liebst du mich auch?«, fragte er fast flehend.

»Das weißt du doch.« Sie lächelte ihn unter Tränen an. »Aber wir beide wissen doch auch, dass wir vernünftig bleiben müssen. Dass wir …«

»Nein, Julia, ich bin all die Jahre vernünftig gewesen. Ich will endlich einmal glücklich sein. Glücklich sein mit dir und Pieter.«

Julia sträubte sich nicht, als er sie auf seinen Schoß zog. Wie einfach wäre es doch, wenn sie offen mit ihm über Pieter sprechen könnte, dachte sie. Aber sie brachte es ganz einfach nicht über sich, ihm diesen Schmerz zuzufügen.

»Julia …«

Warum sollte sie nicht ein einziges Mal von dem so lange ersehnten Glück kosten? Sie wollte nicht an das denken, was morgen sein würde. Sie wollte …

»Julia, ich sehne mich so sehr nach dir«, flüsterte er erregt zwischen seinen immer leidenschaftlicher werdenden Küssen. »Ich muss immer nur an dich denken. Ich liebe dich unendlich.«

»Mein Gott, Enno …« Noch einmal bäumte sie sich gegen ihre aufsteigende Schwäche auf. »Nein …« Aber er verschloss ihr den Mund mit einem langen Kuss. Sie spürte, wie ihre Kraft erlahmte, und ihr Verlangen, ihm ganz zu gehören, sie wie ein glühender Lavastrom überschwemmte.

*

Enno verließ sie erst am späten Morgen. Julia bereute nichts. Mit einem entspannten Lächeln küsste sie ihn noch einmal zum Abschied und schloss dann die Entreetür hinter ihm. Weit breitete sie die Arme aus, so, als wollte sie die ganze Welt umarmen.

Dann ging sie ins Badezimmer und ließ heißes Wasser in die Wanne laufen. Sie konnte es kaum erwarten, wieder mit ihm beisammen zu sein. Enno und sie wollten gemeinsam Mittagessen. Vorher aber würde sie noch ein bis zwei Stunden im Werk sein und sich ganz so benehmen, als sei nichts vorgefallen.

Ob sie dazu fähig war? fragte sie sich, als sie ihr schmales Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken musterte. Sah ihr nicht jeder an, wie glücklich sie war? Glücklich wider alle Vernunft?

»Ich liebe dich, Enno«, flüsterte sie mit einem kleinen Lachen und stieg in die Badewanne.

Enno war es dagegen nicht gegönnt, seinen glücklichen Erinnerungen nachzuhängen. Er wurde rau aus seinen Träumen gerissen. Als er seine Privat­räume im Werk betrat, erwartete ihn seine Sekretärin mit hochroten Wangen. »Wir haben den ganzen Morgen versucht, Sie zu erreichen, Herr Cornelius«, sagte sie leise und wich seinem erstaunten Blick aus. »Sie möchten doch bitte sofort im Sanatorium anrufen.«

»Ist etwas geschehen? Geht es meiner Frau nicht gut?«, fragte er erbleichend.

»Nein, es geht ihr nicht gut. Sie …« Das Mädchen stockte. Sie brachte es nicht übers Herz, ihm die Hiobsbotschaft zu übermitteln.

Als das Telefon schnarrte, begann sein Herz wie rasend zu schlagen. Er meldete sich. Fassungslos lauschte er dann. Mehrmals fuhr er sich über die Augen, so, als ob er ein hässliches Bild wegwischen wollte. Ja, er hatte das Gefühl zu träumen. Aber dann wurde ihm klar, dass es kein Albtraum war, sondern bittere Wirklichkeit.

Betty war gegen Morgen, als er noch bei Julia gewesen war, an einer Tablettenvergiftung gestorben. Wie sie zu den vielen Tabletten gekommen war, konnten sich die Ärzte nicht erklären.

Und er hatte Betty noch Geld gegeben. Mein Gott, vermutlich hatte sie sich damit das Gift verschafft. War er damit schuld an ihrem Tod? Aufstöhnend verbarg er das Gesicht in seinen Händen.

Nein, und nochmals nein, sagte er sich dann. Betty hätte auf alle Fälle einen Weg gefunden, zu den Tabletten zu kommen. Sie hatte auch Teile ihres wertvollen Schmucks mit ins Sanatorium genommen, der sich leicht zu Geld machen ließ.

Enno wusste nicht, wie lange er so dagesessen hatte, als Julia sein Zimmer betrat. Sie hatte inzwischen erfahren, was geschehen war. Auch sie machte sich nun die bittersten Vorwürfe. Sie hatte in Ennos Armen gelegen, während Betty Cornelius mit dem Tod gerungen hatte.

»Julia, du?« Er sah sie schmerzerfüllt an. »Das habe ich nicht gewollt. Ob Betty Selbstmord begangen hat? Die Ärzte stehen vor einem Rätsel. Vielleicht hat sie auch nur aus ihrer Sucht heraus zu viele Tabletten genommen? Wahrscheinlich werden wir das niemals erfahren. Das Furchtbare ist, dass alles in mir tot ist, dass ich momentan nichts empfinde. Ich …«

Julia strich ihm zart über das Haar. »Es tut mir so leid, Enno«, sagte sie.

»Auch Pieter wird nicht um seine Mutter trauern«, erklärte er erschüttert. »Sie ist ihm immer fremd geblieben. Bettys Verhalten ihm gegenüber hat mich oft vor den Kopf gestoßen. Oft hätte man zweifeln können an ihrer Mutterschaft.«

Julia zuckte zusammen. Mehr denn je war sie nach Bettys Tod zum Schweigen verurteilt. Als Enno ihre Hand ergriff und seine Wange an sie schmiegte, schluchzte sie leise auf.

*

Noch am gleichen Tag fuhr Enno in die Eifel, um alles für Bettys Überführung nach Essen zu veranlassen. Julia hatte in seinem Namen ein Telegramm an Bettys Eltern in Amsterdam aufgegeben. Dann war sie nach Sophienlust gefahren, um Pieter den Tod seiner Mutter beizubringen.

Nun stand Julia vor ihrem Sohn. Jäh wurde ihr die tragische Situation bewusst, in der sie sich befand. Sie, als Pieters leibliche Mutter, musste ihm den Tod seiner Mutter mitteilen.

Mit gesenktem Kopf hörte der Junge ihr zu. Dann hob er den Kopf und sah sie ernst an. »Ist es sehr schlimm, wenn ich nicht weinen kann, Tante Julia?«, fragte er bedrückt.

»Ach, Pieter, viele können nicht so leicht weinen«, erwiderte sie und wusste sogleich, wie banal ihre Worte waren.

»Ich bin aber nicht sehr traurig, Tante Julia. Trotzdem bin ich froh, dass ich nicht zum lieben Gott gebetet habe«, sagte er mehr zu sich selbst. »Sonst müsste ich …« Er sprach nicht weiter, sondern fasste nach ihrer Hand. »Nimmst du mich mit nach Hause?«

Julia nickte. »Wenn du mitfahren möchtest, nehme ich dich mit.«

So geschah es auch. Pieter saß still neben Julia, als sie die Autobahn entlangfuhren. Noch immer blieben seine Augen trocken.

»Ich bin so froh, dass ich bei dir bin«, sagte er schließlich.

»Ich bin auch froh, dass du bei mir bist, mein Liebling.« Julia fuhr langsamer und blickte in die hellen Kinderaugen. Und in diesem Augenblick wusste sie, welchen Weg sie einschlagen musste.

Enno war dankbar, dass sie Pieter mitgebracht hatte. Als der Junge darauf bestand, an der Beerdigung seiner Mutter teilzunehmen, hatte er nichts dagegen einzuwenden.

Pieter wich in den Tagen bis zu Bettys Beisetzung kaum von der Seite seines Vaters. Selbst als seine Großeltern aus Amsterdam eintrafen, hielt ihn nichts zu Hause, wenn sein Vater die Villa verließ.

Julia hielt sich in diesen Tagen ganz im Hintergrund. Still erledigte sie ihre Arbeit. Sie übernahm alle wichtigen Anrufe und sagte auch einige Termine ab, um Enno zu entlasten.

Als man Betty Cornelius zu Grabe trug, war der Himmel wolkenverhangen. Während der Pfarrer die Grabrede hielt, erlebte Enno noch einmal sein Leben mit Betty. Und sonderbarerweise schoben sich jetzt nur die schönen Tage mit ihr in den Vordergrund. Die bösen Stunden erloschen in seinem Gedächtnis. Und als sich Pieters Hand in die seine stahl, hielt er ein stilles Zwiegespräch mit der Toten und dankte ihr noch einmal für den Prachtjungen.

»Ich habe Mutti doch liebgehabt«, flüsterte Pieter. Seine Lippen zuckten. Die ersten Tränen lösten sich nun von seinen blonden Wimpern.

»Ich auch, mein Junge.« Enno drückte die warme Kinderhand zärtlich. »Wir werden sie immer in guter Erinnerung behalten.«

»Ja, Vati, das wollen wir.«

Enno kümmerte sich nun um seine Schwiegermutter, die laut schluchzte. Auch sein Schwiegervater wischte sich immer wieder mit dem Taschentuch über die Augen.

Julia stand etwas abseits. So bemerkte sie als einzige den mageren Mann mit der von Sonne und Wind gegerbten Haut, der halb verborgen hinter dem Stamm einer Buche stand. Sein schmerzerstarrtes Gesicht gab ihr zu denken. Fast gewann sie den Eindruck, dass er Betty Cornelius geliebt hatte. Und dann erkannte sie ihn. Dr. Claus Aarhof, der Arzt, der ihr das Kind genommen und sie somit um das Schönste auf der Welt gebracht hatte: um das Mutterglück.

Als sie sich wieder verstohlen umwandte, war der Arzt verschwunden.

*

Viele Wochen später fuhren Enno und Julia nach Sophienlust, um Pieter endgültig heimzuholen. Weihnachten stand vor der Tür. Pieters größter Wunsch war ein Hund und dass Heidi die Weihnachtszeit mit ihm zusammen in der großen Villa in Essen verbringen dürfe.

Enno hatte sich entschlossen, seinem Liebling beide Wünsche zu erfüllen. Den jungen Bernhardiner hatte er schon gekauft. Aber noch war er zu klein, um seine Mutter verlassen zu können. Doch in zwei Wochen durfte er ihn abholen. Und genau in zwei Wochen war Heiliger Abend.

Julia konnte immer wieder beobachten, wie sehr Enno an seinem Sohn hing, wie hell es in seinen Augen aufleuchtete, wenn er von dem Kind sprach.

Durfte sie ihm da die Wahrheit sagen?

Enno war nicht irgendein Mann, den sie vor einem neuen Schicksalsschlag behüten wollte, sondern er war der Mann, den sie liebte.

In den Wochen nach Bettys Tod hatte er sich immer mehr an sie geklammert, und sie, sobald es um den Jungen ging, um Rat gefragt. Was sollte sie nur tun? Sollte sie weiter schweigen? Oder sollte sie sprechen?

Julia blickte ihn an. Sein markantes Profil zeichnete sich silhouettenhaft gegen das Autofenster ab. Ich muss es ihm sagen, dachte sie und gab sich einen inneren Ruck. »Enno, können wir nicht irgendwo Rast machen?«, fragte sie.

»Hast du Hunger?«

»Ja, ich habe Hunger«, erwiderte sie, obwohl ihr Magen wie zugeschnürt war. Aber sie wollte es ihm nun doch sagen. Irgendwo in einem abseits gelegenen Gasthaus. Er liebte sie doch. Was für einen Unterschied machte es schon, wenn er erfuhr, dass Pieter ihr Kind war? War der Junge dann nicht auch sein Kind?

Enno fuhr bei der nächsten Ausfahrt von der Autobahn herunter. Nach wenigen Kilometern erreichten sie ein kleines Dorf, das auch einen Gasthof hatte. Es roch nach Kuhmist und Schweinebraten, als sie auf den Eingang zugingen und dann die Gaststube betraten.

Sie waren die einzigen Gäste. Sofort kam der Wirt auf sie zugesteuert und nahm die Bestellung auf. Dann waren Julia und Enno allein.

»Ich bin sehr froh, dich zu haben« sagte er und legte seine Hand auf ihre eiskalte Rechte. »Frierst du denn?«, fragte er besorgt und blickte in das geliebte Gesicht.

»Ja, Enno, mir ist kalt.« Julia zögerte noch. Dann aber sagte sie: »Enno weißt du, dass auch ich einem Kind das Leben geschenkt habe?«

»Nein, das wusste ich nicht. Du hast niemals darüber gesprochen. Was musst du durchgemacht haben, als es starb«, fügte er leiser hinzu. »Es tut mir so leid.«

Julia fasste sich ein Herz und erwiderte fest: »Enno, mein Kind lebt.«

Enno zog seine Hand zurück und sah sie erstaunt an. »Aber das verstehe ich nicht. Du liebst doch Kinder. Warum hast du das Kind vor mir verschwiegen? Ist es ein außereheliches Kind?«

»Nein, Enno, es ist Wims Sohn.«

»Umso weniger verstehe ich dich, Julia.« So etwas wie Enttäuschung verdunkelte seine Züge. »Du hättest den Jungen doch bei dir haben können. Er muss doch im gleichen Alter wie Pieter sein.«

»Ja, Enno, ich hätte meinen Sohn bei mir haben können. Aber bis vor einigen Wochen wusste ich nicht einmal, dass er lebt. Und dann, als ich es erfuhr, sah es so aus, als ob er für immer für mich verloren sein würde.« Tränen glitzerten plötzlich in ihren Augen.

»Du sprichst in Rätseln, Julia.«

»Enno, ich bin jetzt auf dem Weg, mein Kind zu besuchen.«

»Ist es denn auch in Sophienlust untergebracht?«

»Ja, Enno, es ist in Sophienlust untergebracht.« Sie sah ihn unverwandt an. »Enno, vielleicht muss ich dir sehr weh tun mit dem, was ich jetzt sagen muss. Ich habe lange hin und her über legt, ob ich es tun soll. Nun bin ich zu dem Entschluss gekommen, dir die volle Wahrheit zu sagen.«

Nervös zündete er sich eine Zigarette an. »Spann mich bitte nicht auf die Folter«, bat er leicht gereizt.

»Pieter ist mein Sohn, Enno.« So, nun war es heraus, nun gab es kein Zurück mehr. Nun muss das Schicksal seinen Lauf nehmen, dachte sie und erschrak zugleich über Ennos fahle Blässe. Fassunglos starrte er sie an, so, als zweifle er an ihrem Verstand.

»Das glaube ich nicht, Julia. Was ist los mit dir? Warum erzählst du mir eine solche Lüge?« Er sprang auf und stützte sich mit beiden Händen auf die Tischplatte. »Nein, ich glaube das nicht.«

»Bitte, Enno, setz dich wieder«, flehte sie ihn an. »Ich will dir den Jungen doch nicht fortnehmen. Aber ich lüge nicht. Bitte, bitte, höre mich zu Ende an. Wenn du willst, gehe ich dann still aus deinem und Pieters Leben.« Nun liefen ihr die Tränen über die Wangen.

Enno setzte sich widerstrebend. Alles in ihm wehrte sich gegen diese neue Hiobsbotschaft. Er war doch so stolz gewesen, einen Sohn zu haben, ein Kind von seinem eigenen Fleisch und Blut …

Julia begann nun zu sprechen. Leise erzählte sie ihm alles Wissenswerte. Sie versuchte Betty zu schonen. Sie sagte, dass Betty nur aus Liebe zu ihm und weil sie ihn nicht habe verlieren wollen, sich zu dieser großen Lüge habe hinreißen lassen.

Das Essen, das der Wirt brachte, blieb unberührt.

»Julia, das ist ja entsetzlich. Das ist …« Nur mit Mühe unterdrückte Enno ein Aufstöhnen. »Und ich habe all die Jahre in Pieter meinen Sohn gesehen. Meinen und Bettys Sohn.«

»Du liebst Pieter doch?«

»Gott ist mein Zeuge, dass ich ihn liebe. Auch jetzt noch liebe. So liebe, dass ich ihn um nichts auf der Welt hergeben möchte. Er bleibt mein Kind.« Er sah sie an. »Und er ist auch dein Kind, Julia. Unser Kind«, fügte er hinzu und umfasste ihre noch immer eiskalten Hände. »Julia, eines ist mir unbegreiflich …«

»Ja?«, fragte sie mit ersterbender Stimme, denn ihr Herz raste wie verrückt. Sie fühlte sich todelend.

»Dass du Betty noch in Schutz nimmst. Sie hat dir dein Kind genommen.«

»Enno, nicht sie trifft die Schuld, sondern den Arzt. Sie hat doch geglaubt, Pieter sei das Kind der Studentin. Nein, ich kann sie nicht hassen.«

»Julia, du bist ja kreideweiß!«, rief er plötzlich. »Einen Cognac!«

Der Wirt brachte sofort das gewünschte Getränk. Julia trank und fühlte sich etwas besser. »Ich weiß gar nicht, was mit mir ist«, sagte sie. Dann aber durchzuckte sie ein freudiger Schreck.

War es denn möglich, dass sie wieder ein Kind erwartete? Ennos Kind? Nun dachte sie an die Unregelmäßigkeiten ihres Körpers, die ihr längst aufgefallen waren. Mein Gott, das wäre wie ein Wunder. Sobald sie wieder in Essen sein würde, wollte sie sofort zu einem Arzt gehen, um sich Gewissheit zu holen.

»Julia, iss doch etwas«, bat er.

»Gut, Enno, aber auch du musst essen.«

»Auf einmal habe ich tatsächlich einen Mordshunger.« Enno lachte plötzlich. »Eigentlich ändert sich nichts. Pieter ist mein Sohn. Und dein Sohn, Julia. Wir werden heiraten, sobald ein halbes Jahr verstrichen ist. Und dann holen wir Pieter für immer heim.«

»Ja, Enno, das tun wir.« Julia lächelte ihn unter Tränen an. Und bald werde ich ihm vielleicht sagen können, dass ich sein Kind unter dem Herzen trage, dachte sie.

Als sie den Gasthof verließen, kam die Sonne hinter den Wolken hervor. »Die Sonne lacht«, sagte sie glücklich.

»Ja, Julia, sie lacht mit uns um die Wette.« Er schloss den Wagen auf, und sie stieg ein.

Als er um den Wagen herumging, verfolgte sie ihn mit ihrem Blick. Ihre Brust weitete sich vor Glück. Nun würde alles gut werden.

*

Pieter lief seit Tagen mit einem verklärten Gesicht umher und erzählte jedem voller Aufregung, dass er den halben Dezember und einen Teil des Januars daheim sein würde.

Heidi dagegen war hin und her gerissen in ihren Gefühlen. Einerseits freute sie sich sehr auf das große Haus in Essen, andererseits wäre sie auch gern in Sophienlust geblieben, weil es dort zu Weihnachten am allerschönsten auf der ganzen Welt war.

An dem Tag, an dem Enno und Julia erwartet wurden, war Heidi ganz still. Ihr kleines kummervolles Gesicht fiel auch Schwester Regine auf. »Was hast du denn, mein kleiner Schatz?«, fragte sie.

»Ach, Schwester Regine, ich bin so traurig«, erwiderte die Kleine unglücklich. »Ich habe ja Pieter sehr lieb, aber ich habe auch euch alle lieb. Und ich will … ja, ich will viel lieber hierbleiben. Aber das kann ich Pieter nicht sagen. Weil er sich doch so sehr gewünscht hat, dass ich mitkomme. Er will mir doch den Hund zeigen und …« Nun begann Heidi zu weinen.

»Heidi dann bleibst du hier«, erklärte die Kinderschwester, die sich auch schon vor einem Weihnachtsfest ohne ihren besonderen Liebling gefürchtet hatte. »Und den Hund wirst du schon noch sehen können. Pieter kommt ja wieder. Tante Isi hat ihm erlaubt, dann den Hund mitzubringen. Falls er einen bekommen sollte«, fügte sie noch schnell hinzu.

»Er bekommt bestimmt einen. Weil doch Onkel Enno ihn so sehr liebhat und ihm deswegen alle großen Wünsche erfüllt. Nicht wahr, Schwester Regine, du sagst es Pieter?«

»Ja, mein Kleines, ich werde mit ihm sprechen.«

Pieter hörte der Kinderschwester still zu. Dann stieß er einen kleinen Seufzer aus und sagte: »Na ja, Heidi ist doch noch sehr klein. Ich habe mir gleich gedacht, dass sie Heimweh nach Sophienlust bekommen wird. Und ich komme ja auch wieder.« Mannhaft unterdrückte er seine aufsteigenden Tränen. Dass seine Freundin nicht mitkommen wollte, war eine arge Enttäuschung für ihn. Rasch zwang er sich, an etwas anderes zu denken. Zum Beispiel an einen kleinen Barri. Ob er einen jungen Hund bekommen würde? Und dann dachte er an die liebe Tante Julia, die vielleicht eines Tages seine neue Mutti werden würde. Er würde seinem Vati einen Wink geben, damit er sie heirate.

Pieter lief in sein Zimmer und überzeugte sich zum x-ten Male, ob auch wirklich alles, was er mitnehmen wollte, eingepackt war. Sein Teddy saß auf dem großen Koffer und lachte ihn an. »Teddy, auf die Frauen ist nun mal kein Verlass«, sagte er zu dem Stofftier. »Dabei hat Heidi doch so getan, als freue sie sich riesig auf unser Zuhause.« Wieder schossen ihm die Tränen in die Augen.

»Pieter! Pieter! Dein Vati ist da. Und Frau van Arx ist auch mitgekommen!«, rief Pünktchen aufgeregt von der Tür her.

Mit einem Schlag hatte der Junge seinen Kummer wegen Heidi vergessen. Er flog förmlich die Treppe hinunter und fiel dort seinem Vater um den Hals. Danach begrüßte er Tante Julia mit einem Kuss. »Heidi kommt nicht mit«, berichtete er danach.

»Frau Rennert hat es schon gesagt«, erwiderte Julia. »Darüber musst du aber nicht traurig sein. Sophienlust ist doch ihr Zuhause. Und Weihnachten feiert man doch am liebsten daheim. Das tust du doch auch, Pieter.«

»Das ist wahr. So habe ich es noch nicht gesehen. Wann fahren wir? Glaubst du, dass ich einen Hund bekomme? Einen kleinen Barri? Wenn ich ihn bekomme, dann darf ich ihn mitnehmen. Ich meine, nach Sophienlust. Weißt du, Fabian hat ja auch einen eigenen Hund. Ihm gehört die Dogge Anglos. Und einmal war ein Mädchen hier, das hatte einen Wolfsspitz. Er hieß …« Seine Brauen zogen sich zusammen. »Ich habe den Namen vergessen. Aber da kommt ja Nick. Er weiß es ganz bestimmt. Nick, wie hieß doch der Wolfsspitz, der einem Mädchen gehörte?«

»Benny. Eigentlich hatte Malu zwei Hunde. Benny I und Benny II. Benny II lebt noch immer bei ihr.«

»Es schneit!«, rief da die kleine Vicky aufgeregt. »Ob wir am Sonntag schon rodeln können?«

»Möglich wäre es«, meinte Nick. »Es ist ja sehr kalt, sodass der Schnee liegenbleiben könnte.«

Enno und Julia nahmen die Einladung von Denise und Alexander von Schoenecker zu Kaffee und Kuchen dankend an. Pieter trank seine Nachmittagsschokolade zum letztenmal für längere Zeit mit den anderen Kindern im Speisesaal. Als er sich dann von ihnen verabschiedete, bereute es Heidi doch, dass sie sich entschlossen hatte, dazubleiben.

*

Pieter konnte es kaum erwarten, endlich daheim zu sein. Als er die Villa erblickte, richtete er sich aufgeregt im Auto auf. »Es schneit noch immer so schön«, stellte er fest. »Vati, stell dir doch mal vor, wie schön es wäre, wenn in unserem Garten ein richtiger Barri herumlaufen würde.«

»Ich stelle es mir vor, mein Sohn«, erwiderte Enno lachend. Dabei zwinkerte er Julia zu. Er wunderte sich über sich selbst, wie wenig es ihm ausmachte, zu wissen, dass Pieter nicht sein Sohn war. Für ihn würde er immer sein Kind bleiben, selbst dann, wenn Julia und er noch Kinder bekommen würden. Pieter war sein Erstgeborener. Daran war nicht zu rütteln.

Julia betrat zum erstenmal seit dem Tag, als sie das Hemdchen gefunden hatte und in diesen schweren Gewissenskonflikt geraten war, wieder die Villa.

Zögernd betrat sie die Halle. Pieter fasste sie jedoch bei der Hand und zog sie hinter sich her. »Tante Julia, so komm doch!«, rief er aufgeregt. »Ich möchte dir noch meine anderen Spielsachen zeigen!«

Die Köchin Herta, das Hausmädchen Lotte und der Chauffeur Erwin kamen aus der Küche, um die Angekommenen zu begrüßen. Man sah Pieter an, wie ungeduldig er wurde. Lächelnd folgte Julia ihm schließlich nach oben. Am liebsten hätte sie ihm sofort erzählt, dass er ihr Sohn war. Aber Enno hatte gemeint, man sollte damit warten, bis er ein wenig älter und verständnisvoller geworden war. Und Julia hatte das, wenn auch schweren Herzens, eingesehen.

Nach dem Abendessen brachte Julia Pieter noch zu Bett. Danach fuhr Enno sie nach Hause und blieb noch bis gegen Mitternacht bei ihr.

*

Julias Vermutung hatte sich bestätigt. Sie erwartete tatsächlich ein Kind. In ihrer maßlosen Freude wollte sie es Enno noch am gleichen Tag sagen. Aber dann siegte ihre Vernunft. Am Heiligen Abend war der richtige Augenblick dafür. Später, wenn Enno sie nach Hause bringen und noch ein bisschen bei ihr bleiben würde, wollte sie ihm ihr Geheimnis verraten.

Am Weihnachtsmorgen kaufte Julia noch ein kleines Bäumchen und schmückte es. Danach zog sie sich um und fuhr in die Villa, wo sie von Enno und Pieter schon sehnsüchtig erwartet wurde.

»Weißt du, Tante Julia, Vati und ich waren nämlich vorhin auf dem Friedhof und haben ein kleines Weihnachtsbäumchen mit Kerzen auf Muttis Grab gestellt. Ich habe auch plötzlich weinen müssen«, gab Pieter leise zu. »Weil Mutti doch heute Abend so ganz allein in ihrem Grab liegt.«

»Mein kleiner Liebling …« Gerührt zog Julia den Jungen an sich.

»Tante Julia, meinst du denn, dass ich einen Hund bekommen werde? Ich möchte ihn Bello taufen. Und wenn es ein Hundemädchen ist, kann sie ja Bella heißen. Findest du die Namen auch schön?«

»Ich finde sie sogar sehr schön, Pieter. Ich ….«

»Mutti … Nein, Tante Julia«, verbesserte sich der Junge mit einem schelmischen Blinzeln, sodass sie den Verdacht hatte, dass er sie absichtlich Mutti genannt habe.

»Ja?«, fragte sie glücklich.

»Tante Julia, kannst du mir denn nicht verraten, ob ich doch einen Hund …«

»Nein, Pieter, ich verrate nichts«, erwiderte sie amüsiert. »Sonst wäre es ja keine Überraschung mehr für dich.«

»Wenn es doch nicht mehr so schrecklich lange dauerte bis heute Abend.« Pieter stieß einen herzerweichenden Seufzer aus.

Aber auch diese Zeit verging, wie alles vergeht. Mit Lottes Hilfe hatte Julia die bis zum Plafond reichende Silbertanne geschmückt. Nun zündete Enno die Kerzen an. Als sie brannten, läutete Julia mit der silbernen Glocke.

Pieter stürmte ins Weihnachtszimmer. Seine Wangen glühten vor Aufregung wie im Fieber. »Wo ist denn mein Gabentisch?«, fragte er erregt.

»Dort, mein Junge.« Enno deutete auf das mit Sachen überhäufte Tischchen. Doch Pieter sah sie kaum. »Oh«, flüsterte er enttäuscht, als er keinen Hund zwischen seinen Geschenken erblickte. »Vati, ­aber …« Seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Ach ja!«, rief Enno und schmunzelte. »Das hätte ich ja fast vergessen. Vor ein paar Minuten ist der Weihnachtsmann noch einmal zurückgekommen und hat ein Körbchen für dich abgegeben.« Damit öffnete er die Tür zum Nebenzimmer.

Pieter kniete schon vor dem flachen Weidenkorb und jauchzte vor Glück. »Ein kleiner Barri. Er ist noch so winzig! Ob er mich schon kennt?«

»Frage ihn doch«, rief sein Vater lachend. »Nimm ihn nur hoch.«

Vorsichtig umfasste der Junge den winzigen Hund mit beiden Händchen und hob ihn hoch. »Oh, Vati, er läuft ja aus«, stellte er dann fest und betrachtete betreten den nassen Fleck auf seinem Pullover.

Julia und Enno brachen in herzliches Lachen aus.

Pieters Seligkeit kannte an diesem Abend keine Grenzen mehr. Er trennte sich keine Minute von seinem Hund, der den Namen Bella erhielt, denn es war ein kleines Hundemädchen. Und Bella schien sich recht wohl bei ihrem kleinen Herrn zu fühlen.

Vorsichtig trug Pieter dann sehr viel später das Körbchen mit dem Hund hinauf in sein Zimmer. Obwohl er kaum noch die Augen offenhalten konnte, holte er noch ein Schüsselchen mit Wasser aus dem Badezimmer, um es neben den Korb zu stellen.

»Schlaf’ gut, mein kleiner Liebling«, sagte Julia, als sie Pieter zudeckte.

»Du auch, Mutti«, erwiderte er und sah sie unschuldig an.

»Du kleiner Schelm.« Sie küsste ihn und verließ dann das Zimmer.

Enno brachte Julia noch heim. Alles geschah genau so, wie sie es sich ausgemalt hatte. Er kam noch zu ihr hinauf. Sie zündete die Kerzen an dem Minibäumchen an und holte die eisgekühlte Sektflasche aus dem Kühlschrank.

»Enno, was würdest du denn sagen, wenn wir zum nächsten Weihnachtsfest zu viert wären?«, fragte sie, als sie mit ihm anstieß.

»Zu viert? Wie meinst du das?« Erstaunt sah er sie an.

»Ist das denn so schwer zu erraten?« Ihr Lächeln vertiefte sich.

»Soll das heißen, dass du … dass wir …«

»Ja, Enno, das soll es heißen. Ich bekomme ein Kind.«

»Julia …« Er sprang auf und zog sie vom Sessel hoch. »Julia, sag’ das noch mal«, bat er voller Zärtlichkeit.

»Wir bekommen ein Kind, Enno«, wiederholte sie glücklich.

»Ach, Julia …« Dann sagte er nichts mehr, sondern küsste sie.

»Ich hoffe, dass es ein Sohn wird. Ein Sohn, den du dir so sehr gewünscht hast«, sagte sie sehr viel später.

»Und ich wünsche mir, dass es ein Mädchen wird, ein kleines Mädchen mit deinen Augen und deinem Lachen. Einen Sohn habe ich ja schon. Pieter ist mein Sohn, Julia.«

»Ich bin so froh, dass du ihn noch immer so liebst wie vorher.«

»Wie könnte ich ihn nicht lieben, Julia?«, fragte er fast verwundert. »Pieter wird mein Haupterbe. Ich hoffe nur, dass er sich später auch für das Werk interessiert.«

»Das wird er gewiss tun, Enno.« Julia schmiegte sich an ihn. »Ich möchte noch viele Kinder haben. Buben und Mädchen.«

»Eines nach dem anderen«, erwiderte er fröhlich und küsste sie mit glücklichen Augen.

Sophienlust Paket 3 – Familienroman

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