Читать книгу Sophienlust Paket 3 – Familienroman - Patricia Vandenberg - Страница 21

Оглавление

»Uff!« Barbara Wirthner stellte zwei schwere Einkaufstaschen vor ihrer Wohnungstür ab. Um die Tür aufzuschließen, brauchte sie wenigstens eine freie Hand. Umständlich holte sie ihr Schlüsselbund hervor und öffnete die Tür.

»Hallo, Mami!«

Vor Barbara stand Robin, ihr zehnjähriger Sohn.

»Du bist schon da?«, fragte sie erstaunt. »Wolltest du nicht eine Radtour mit deinem neuen Freund machen?«

Robin half ihr, die schweren Taschen in die Küche zu tragen. »Doch«, erzählte er dabei. »Aber Kai durfte nicht. Seine neue Mutter ist krank. Deswegen musste er in seinem Zimmer bleiben.«

Barbaras noch junges Gesicht drückte Zweifel aus. »Bei dem schönen Wetter? Wenn ich krank wäre, würde ich mich freuen, wenn du dich in der frischen Luft austoben würdest. Egal, ob ich nun im Bett läge oder nicht.«

»Ja, duuu …« Robin steckte seine Nase neugierig in die Taschen, um zu prüfen, was seine Mami zum Sonntag eingekauft hatte. »Du bist ja schon mopsfidel. Aber die Mutter von Kai leidet immer schrecklich.«

»Was hat sie denn?« Barbara stellte zwei Flaschen Milch in den Schrank und holte eine Flasche Cognac aus der Tasche.

Robin betrachtete interessiert die Cognacflasche, antwortete aber doch: »Sie hat gar nichts. Sie kriegt ein Kind. Das ist alles.« Dann schob er den Cognac auf dem Tisch hin und her und meinte: »Du kriegst wohl wieder Besuch von Peter Knoll, nicht wahr? Der trinkt doch immer so viel. Erst vorgestern hast du eine neue Flasche Cognac gekauft. Ist die schon wieder leer?«

Eine feine Röte überzog Barbaras Wangen. Abrupt griff sie nach der Flasche, um sie ins Wohnzimmer zu tragen. Sie tat so, als habe sie die Bemerkung ihres Sohnes nicht gehört. Als sie jedoch das Wohnzimmer betrat, stolperte sie fast über den Staubsauger. Gerührt blieb sie vor dem Hindernis stehen. Robin hatte schon begonnen, die Wohnung zu putzen. Wie lieb von ihm. Und auf dem Tisch stand ein frischer Tulpenstrauß.

»Robin«, rief Barbara glücklich, »du hast ja richtig gearbeitet!«

Er war still zu ihr getreten. Verlegen steckte er seine Hände in die Hosentaschen. Unter seinem vollen mittelbraunen Haar, das ihm immer in die Stirn fiel, blickten seine dunklen Augen sie ruhig an.

»Ich kann dir schon gut helfen, Mami. Es macht mir keine Mühe. Und wenn ich größer bin, werde ich auch Auto fahren. Dann brauchst du Peter Knoll nicht mehr.«

Barbara musste schlucken. Sie wusste schon lange, dass Robin ihren Freund Peter nicht recht leiden konnte. Aber dass er ihn so wenig mochte, hätte sie nicht geahnt.

»Was hast du gegen Peter, Robin? Er ist doch immer nett zu dir.«

Robin zog einen Flunsch. »Nett schon, aber …«

»Aber?«

»Nichts, Mami.«

Langsam drehte sich Robin um und ging zurück in die Küche.

Barbara war nachdenklich stehen geblieben. Sie hielt noch immer die eben erstandene Cognacflasche in der Hand. Ja, Peter Knoll trank gern einen kräftigen Schluck. Und das sogar täglich. Aber sie konnte es ihm nicht übelnehmen. Sein hervorragendes Aussehen, sein umwerfender Charme und seine etwas leichtfertige Art bezauberten sie immer wieder. Außerdem hatte sie gelernt, die kleinen Fehler eines Mannes stillschweigend zu ertragen. Peters Hang zu alkoholischen Getränken rechnete sie auch dazu, denn irgendwann vor vielen Jahren hatte sie begriffen, dass man nicht alles im Leben haben konnte.

Was nützte ihr denn ihr gutes Aussehen, ihre heitere Art und ihr Beruf, der ihr so viel Spaß machte, wenn sie jeden Abend allein in der Wohnung saß? Sie liebte Robin über alles. Niemals hatte sie sich in den letzten zehn Jahren darüber beklagt, dass sie ihren Sohn allein aufziehen musste. Aber auch Robin wurde älter. Er besuchte jetzt im ersten Jahr das Gymnasium und hatte neue Freunde gefunden. Eines Tages würde er sie ganz verlassen. Sollte sie dann tatsächlich mutterseelenallein bleiben?

Ein stürmisches Klingeln holte Barbara in die Gegenwart zurück. Schnell stellte sie die Cognacflasche fort und eilte zur Tür. Kai Platen stand vor ihr, als sie öffnete. Das war der Junge, an den Robin sich seit einem halben Jahr besonders eng angeschlossen hatte.

Barbara musste immer lächeln, wenn Kai vor ihr stand. Obwohl er etwas größer und kräftiger war als ihr Sohn, glich er ihm, als wäre er sein älterer Bruder. Auch Kai hatte ein aufgewecktes Gesicht. Es war nicht schwer zu erraten, dass er es – genau wie Robin – faustdick hinter den Ohren hatte.

»Nun, Kai?« Barbara hielt ihm freundlich die Tür auf. »Wird es doch noch etwas mit der Radtour? Ist es nicht schon zu spät?«

Er nickte wie ein Alter. »Ja, aber ich wollte Robin zum Fußballspielen abholen. Bei uns im Garten ist es ja auch ganz schön.«

»Wird euer Lärm nicht deine Mutter stören?«

»Sie ist nicht meine Mutter, Frau Withner. Sie ist meine Stiefmutter«, antwortete er schroff.

»Also gut, deine Stiefmutter«, berichtigte Barbara sich. »Aber der Lärm bleibt doch der gleiche, egal, wie du sie nennst. Nicht wahr? Robin hat mir erzählt, dass sie sich nicht wohlfühlt.«

»I wo«, erklärte Kai und sah sich nach seinem Freund um, »jetzt ist sie schon wieder ganz obenauf und probiert Kleider an. Wie immer.«

Barbara unterdrückte ein Lächeln. Es werden wohl Umstandskleider sein, dachte sie im Stillen.

Gleich darauf war sie allein. Die beiden Jungen waren abgezogen, um im Garten der großen Platen-Villa zu trainieren, wie sie es nannten.

Der Samstagnachmittag bestand für die junge Direktrice Barbara Wirthner allwöchentlich aus eifriger Hausarbeit, denn an den anderen Tagen der Woche war sie viel zu müde dazu. Außerdem musste sie sich nach Geschäftsschluss immer noch um Robin, seine Schulaufgaben, um das Essen und um die anderen kleinen Dinge kümmern, die das Leben einer ledigen Mutter so mit sich brachte. Manchmal fiel ihr das schwer. So auch an diesem Tag. Aber da sie Peter erwartete und sich auf ihn freute, überwand sie ihre Müdigkeit und setzte die Arbeit fort, die Robin begonnen hatte.

Als Barbara das Zimmer ihres Sohnes säuberte, stieß der Staubsauger gegen einen harten Gegenstand unter Robins Bett. Dann ertönte ein merkwürdig gluckerndes Geräusch.

Barbara stellte den Staubsauger ab und bückte sich. Gebannt starrte sie auf die Flasche, die unter dem Bett hervortrudelte. Als sie sie in die Hand nahm, setzte ihr Herzschlag aus. Auf dem Etikett prangte ihr in schön verzierten Buchstaben das Wort ›GIN‹ entgegen.

Barbara konnte es nicht glauben. Sie öffnete den Verschluss und roch an der Flasche. Tatsächlich, es gab keinen Zweifel. Robin hielt eine Flasche des starken Wacholderschnapses unter seinem Bett versteckt.

Die schlanke Frau erhob sich ungewöhnlich schwerfällig. Mit ihrem merkwürdigen Fund in der Hand setzte sie sich in den nächsten Sessel und starrte darauf, als hätte sie noch nie eine Flasche Gin gesehen.

Sie selbst hatte nichts von dem hochprozentigen Zeug im Haus. Peter Knoll liebte nur Whisky und Cognac. Woher hatte Robin die Flasche? Von einem Klassenkameraden? Von Kai Platen etwa? Oder bekam er zu viel Taschengeld, so dass er sich so teure Dinge selbst kaufen konnte?

Barbara wusste nicht, wie ihr geschah. Plötzlich legte sie die Flasche auf ihren Schoß, stützte ihre Arme darauf und begann zu weinen.

Jahrelang war alles gutgegangen mit Robin. Sie war so stolz gewesen, nicht auf die Hilfe eines Mannes angewiesen zu sein. Sie hatte es trotz des Kindes geschafft, eine gutbezahlte Position in einem Konfektionsbetrieb auszufüllen, hatte sich nebenher immer liebevoll und verantwortungsbewusst um Robin gekümmert. Aber nun? Begannen nun erst die wirklichen Schwierigkeiten? War Robin jetzt plötzlich doch den Gefahren der Großstadt ausgesetzt und brauchte eine strengere Hand?

Barbara atmete tief durch und schüttelte sich, als schäme sie sich. Eigentlich war Robin ein guter Junge, überlegte sie. Es war nicht nötig, nur wegen einer kleinen Erziehungsschwierigkeit nach einem geeigneten Vater für ihn Ausschau zu halten und sich wieder von einem Mann enttäuschen zu lassen.

Barbara erhob sich, trug die Flasche in die Küche und starrte aus dem kleinen Fenster in den düsteren Hinterhof. Ihre grau-grünen Augen wirkten traurig. Der einzige Mann, den sie lieben könnte, wäre Peter Knoll. Aber Robin konnte ihn nicht leiden. Und obwohl er diese Abneigung nicht begründen wollte, war es nicht die einzige Frage, die ungelöst im Raum stand. Denn auch Peter Knoll schien nicht geneigt zu sein, sich fest an sie zu binden. Barbara kannte ihn nun schon über ein halbes Jahr, aber noch nie hatte er auch nur eine Andeutung darüber gemacht, wie gern er ganz zu ihr gehören möchte.

Mit einem verärgerten Gesicht sah Barbara die Flasche an. Welcher Mann setzte sich auch freiwillig den Schwierigkeiten aus, die die Erziehung eines solchen Schlingels wie Robin mit sich brachte?

Wieder klingelte es. Diesmal schritt Barbara langsamer zur Tür. Die Flasche hatte sie flink hinter ihrem Rücken verborgen. Sie wusste, es konnte nur Robin sein.

»Also, die Stiefmutter von Kai ist eine richtige Nörgeltante, Mami«, begrüßte er sie aufgebracht. »Erst sollen wir im Garten spielen, dann rennt sie im Abendkleid zu uns auf den Rasen und schreit wie wild. Und mit den Armen gefuchtelt hat sie auch. Wie eine Furie.«

»Das tue ich auch gleich, Robin.« Barbara hatte ihren Sohn ausreden lassen, hielt ihm aber nun die Ginflasche vor die Nase. Ihr Gesicht war nicht nur fragend. Es war ebenso wütend wie das von Kais Stiefmutter, aber doch ein wenig lieber. So abstoßend wie diese Frau Platen konnte Barbara gar nicht sein.

»Ach, sooo«, gab Kai gedehnt zurück, »du hast die Flasche gefunden. Das macht doch nichts, Mami. Ich trinke jeden Abend einen kleinen Schluck. Kai tut das auch. Wegen seiner Stiefmutter. Sonst kann er nämlich nicht einschlafen.«

Barbara blieb die Luft weg. »Was soll das heißen?«, fuhr sie Robin an. »Kannst du vielleicht auch nicht einschlafen? Bin ich auch deine böse Stiefmutter, die im Abendkleid mit den Armen fuchtelt und wie wild schreit?«

Hilflos hob er die Achseln. »Nö. Eigentlich nicht, aber trotzdem … Es ist doch nichts dabei.« Seine dunklen Augen blickten sie unsicher an. »So was tun viele. Wenigstens ein bisschen …«

»Wer tut das?«, wollte sie wissen. Dabei stemmte sie ihre Fäuste auf die Hüften, so dass sie trotz ihres elegant schwingenden grünen Rockes wie eine furchteinflößende Erzieherin aussah.

»Die …, die auf der Schule. Von denen hat Kai das ja auch gelernt.«

»Hm.« Das war alles, was Barbara hervorbrachte. Sie ging in die Küche und goss den Gin in den Abfluss. Sie musste die ganze Sache überdenken. Sie wollte nicht zu streng sein, um ihren Sohn nicht in eine Trotzhaltung zu zwingen.

»Wenn das dein Freund Peter sähe«, bemerkte Robin mit einem Blick auf den Schnaps, der gluckernd verschwand. »Dem würden die Augen tränen.« Er lehnte sich gegen den Pfosten der Küchentür und sah lässig zu, wie sein ganzes Taschengeld dahinfloss.

»Wieso?« Barbara sah ihren frechen Sohn verdutzt an.

»Na ja, der gießt sich doch auch sehr gern einen hinter die Binde. Viel mehr als ich. Aber ihm bezahlst du die Flasche ja auch.«

Barbara bemühte sich um Haltung. Das passierte ihr selten, denn zu ihrem heiteren Wesen und ihrer burschikosen Art gehörte auch eine selbstverständliche damenhafte Disziplin. Nun jedoch war sie erschüttert. Sie fühlte sich elend, so elend, dass sie am liebsten geweint hätte.

*

Einer der ersten lauen Frühlingstage ging dem Ende zu. Noch jetzt am frühen Abend lag ein wohltuend milder Hauch der erwärmten Luft in den Straßen. Es roch nach frischem Grün und feuchter Erde.

Barbara Wirthner hatte das Fenster des Wohnzimmers geöffnet und sah melancholisch in die Dämmerung. Sie hatte Robin früh zu Bett geschickt, um von Anfang an mit Peter Knoll allein sein zu können. Ihr Sohn sollte auch gar nicht auf die Idee kommen, an ihrem abendlichen Spaziergang teilzunehmen, denn Barbara musste unbedingt jemanden um Rat fragen. Peter sollte an den Schwierigkeiten teilnehmen, die sie seit diesem Tag auf sich zukommen sah. Behauptete er nicht immer, sie sei der einzige Mensch, mit dem er alles teilen könnte?

Es klingelte. Barbara eilte zur Tür. Im Vorbeigehen prüfte sie den Sitz ihrer modischen Kurzhaarfrisur, ordnete ihre sportliche Bluse und schob die Schnalle ihres Gürtels an den rechten Platz. Dann erst öffnete sie.

Peter strahlte sie an. Sein braun gebranntes Gesicht, sein Lächeln zeugten von hervorragender Laune. Barbara war auch diesmal wieder überrascht, wie gut und ausgeruht er aussah.

Liebevoll lächelte sie ihn an und sagte: »Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, Peter. Lass uns ein wenig an die frische Luft gehen. Der Frühling ist da. Wir wollen ihn genießen.«

Peter Knoll beugte sich über sie und küsste sie flüchtig. Der Duft, der von ihm ausging, war herb und beunruhigend.

»Spazieren gehen«, stieß er leise und belustigt hervor und streifte mit seinen Lippen ihre Wange, »das ist etwas für ältere Semester. Ich habe mich so auf einen guten Cognac bei dir gefreut. Außerdem«, fügte er wichtigtuerisch hinzu, »will ich mir später einen Film im Fernsehen anschauen. Über die neuesten Motorjachten.«

»Motorjachten?« Barbara konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. Was war die erste köstliche Frühlingsluft gegen eine Motorjacht, die sie doch niemals benutzen würde?

»Ja, Barbara.« Peter Knoll zog sein Lederjackett aus und hing es an den Garderobenhaken. Der hellblaue Pullover, den er darunter trug, brachte seine sportliche Figur perfekt zur Geltung. Er umarmte Barbara, führte sie ins Wohnzimmer, nahm im Vorbeigehen zwei Cognacschwenker aus dem Schrank und goss sich ein, als wäre er in dieser Wohnung von Geburt an zu Hause. Dann ließ er sich auf die weiche goldgelbe Couch fallen und legte mit einem eleganten Schwung die Füße auf den Tisch.

»Ich werde mir eine Motorjacht kaufen, Barbara«, verriet er nicht ohne Stolz in der Stimme. Als sie ihn zweifelnd ansah, fuhr er fort: »Schon in diesem Sommer. Dann kreuze ich im Mittelmeer.«

Barbara schwieg. Irgendetwas störte sie an diesem Satz. Warum sagte er nicht ›wir‹?

»Du ganz allein?«, fragte sie unschuldig.

Er lehnte sich zurück und lachte laut auf. »Nein, natürlich nicht. Mit ein paar Geschäftsfreunden und deren Frauen.«

Wie der Stich einer Nadel durchzog es Barbara. So, wie er von diesen Plänen sprach, war sie gar nicht eingeplant. Ohne sich um ihn zu kümmern, ergriff sie nun auch das Glas und nippte an dem Getränk, bis sie von innen her eine Wärme aufsteigen fühlte, die sie im Zusammensein mit Peter immer vermisste.

Ein kurzer Blick zu ihm und sie sah, dass er sein Glas bereits zum zweiten Mal füllte. Eine maßlose Traurigkeit ergriff sie. Sie wollte und musste mit Peter über Robin sprechen, musste ihm von ihrem Fund erzählen und den merkwürdigen Entschuldigungen, die ihr Sohn angeführt hatte. Doch schon flimmerte es auf dem Bildschirm, und die Stimme eines Sprechers kündigte einen Krimi an.

Da riss Barbara die Geduld. Sie sprang auf, knipste den Apparat aus und setzte sich so zu dem erstaunten Peter, dass er ihr gerade in die Augen sehen musste.

»Du musst mir helfen, Peter«, begann sie fast flehentlich. »Robin trinkt Gin, bevor er schlafen geht. Heimlich.«

Als Barbara weitersprach, mied sie den Blick des Mannes, in dem eine kalte Schadenfreude und hochmütiger Triumph lag.

»Na und?«, fragte Peter, als sie mit ihrer Geschichte zu Ende gekommen war. »Der Junge braucht eine Tracht Prügel, weiter nichts.«

»Er braucht ein Vorbild, Peter. So etwas wie einen Vater«, widersprach sie zögernd. In ihren großen grünlich schimmernden Augen flackerte dabei eine Hoffnung auf.

Peter Knoll stieß seinen Atem laut durch die Nase. »Ich habe dir ja immer gesagt, du hättest diesen Hallodri, Robins Vater, zur Ehe zwingen müssen. Oder wenigstens zur Kasse bitten müssen. Dann hätte er jetzt mehr Interesse für den Bengel.«

»Das alles ist längst vorbei, Peter.« Barbaras schmales Gesicht wirkte streng. Aber in ihr sehnte sich alles nach Liebe und Verständnis. Sie erkannte nicht, dass sie das alles von Peter niemals erhalten würde. Sie liebte sein selbstsicheres Auftreten, seinen strahlenden Witz und die Tatkraft, die sein Äußeres und sein Charme vermuten ließen.

Als Peter ihr fast mitleidig über das Haar fuhr, lächelte sie ihn vertrauensvoll an, als würde sich irgendwann doch alles so lösen, wie sie es heimlich ersehnte.

»Wenn alles längst vorbei ist, Barbara«, erwiderte er gönnerhaft, »so vergiss es. Robin wird dir noch viele Sorgen machen. Du hast ihn von Anfang an verwöhnt. Je großzügiger du bist, desto frecher wird er. Und für so einen Bengel findest du niemals einen Vater. Niemals.«

Barbara machte eine so schnelle Kopfbewegung, dass seine Hand von ihren Haaren glitt. Dabei blieb ihr Blick auf der Wohnzimmertür haften. Die Klinke der Tür bewegte sich leise.

»Robin«, rief sie mit heller, fröhlicher Stimme, als könnte die Gegenwart ihres Sohnes sie vor weiteren Geschmacklosigkeiten schützen, »komm herein!«

Die Tür öffnete sich einen Spalt. Robin erschien mit einem verschlafenen Gesicht. »Ich habe mich in der Tür geirrt, Mami«, stammelte er mit halb geschlossenen Augen. »Ich wollte mir nur etwas zu trinken holen. Ich habe Durst. Ist noch Milch im Eisschrank?«

Peter Knoll lachte laut und schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel. »Der kleine Milchbubi will etwas zu trinken, haha!« Er ergriff seinen Cognacschwenker und hielt ihn hoch. »Komm, trink mit mir. Oder ist dir Cognac zu milde?«

Robin war zusammengezuckt. Sekundenlang haftete sein Blick nun auf dem Gesicht seiner Mutter. In seinen dunklen Augen stand Verzweiflung, Scham und ein bitterer Vorwurf.

Barbara hielt dem Blick stand. Sie ahnte, wie sehr sie sich schuldig gemacht hatte, indem sie Peter von Robins Vergehen berichtet hatte. Sie wusste, dass ihr Sohn diesen Mann nicht nur ablehnte, sondern ihn auch verachtete. Würde er seine Verachtung nun auch auf sie übertragen?

In diesem Moment spürte Barbara, wie sehr sie ihren Sohn liebte. Es wurde ihr alles gleichgültig, wenn sie ihn leiden sah. Sie erhob sich, trat mit ihm auf den Korridor und zog ihn an sich.

»Peter redet zuweilen dummes Zeug, Robin. Nimm es nicht tragisch.«

Robin bebte. »Hast du ihm …, hast du ihm etwa auch erzählt, dass Kai manchmal trinkt?«

»Nein«, antwortete sie wahrheitsgemäß. Aus dem Wohnzimmer hörte sie dabei den Fernseher. Peter hatte ihn also wieder angestellt, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte. Er wollte das unterbrochene Gespräch mit ihr gar nicht fortsetzen. Seine Motorjachten waren ihm wichtiger als das Kind der Frau, die er liebte. Die er liebte? Barbara zog Robin an sich. Dann schenkte sie ihm ein mütterliches Lächeln, das alle seine Wunden heilen sollte.

»Ich habe Peter wirklich nichts von Kai erzählt, Robin. Nur von dir. Aber ich verspreche dir, in Zukunft werde ich es für mich behalten, wenn du mir Kummer machst.«

»Ich will dir ja keinen Kummer machen, Mami. Und Kai ist mein bester Freund. Ihn will ich nicht verpetzen. Er hat schon genug auf dem Hals.«

Barbara dachte kurz an Kais Stiefmutter, die ein Baby erwartete und sich nicht wohlfühlte. Müsste diese Frau nicht glücklich darüber sein, ihr Kind in einer glücklichen Ehe heranwachsen zu fühlen, unter der freundlichen Obhut eines liebevollen Mannes?

Barbara goss Robin kalte Milch ein und sah aufatmend zu, wie er sie mit langen Zügen trank. Dann geleitete sie ihn bis zu seinem Bett.

Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, war ihr Gang nicht so beschwingt wie sonst. Der Bericht über die Motorjachten war gerade zu Ende. Trotzdem schaltete Peter das Gerät nicht aus. Barbar schob ihr Cognacglas beiseite und sah ihn an, als warte sie auf etwas, das doch nie eintreffen würde.

*

Barbara erwachte am nächsten Morgen von einem leisen Plätschern. Es regnete also. Sie sah zur Uhr und drehte sich auf die andere Seite. Sie konnte ja ausschlafen. Es war Sonntag, der einzige Tag, an dem sie so richtig faul sein konnte.

Aber Barbara fand keine Ruhe. Wenn es regnete, war es gescheiter, sich irgendeiner dringenden Hausarbeit zu widmen, zu der sie sonst nicht kam. Vor ihren geschlossenen Augen türmten sich Berge von ungebügelter Wäsche und zerrissenen Hosen und Strümpfen ihres Sohnes auf. Sie gähnte und streckte sich. Wie schade, dass sie am Abend zuvor nicht die gute Luft ausgenutzt hatte und spazieren gegangen war. Aber Peter war eben nicht zu solchen Unternehmungen zu überreden. Und heute würde er auch keine Zeit haben. Tagsüber war er immer beschäftigt. Dann musste er – wie er immer wieder stöhnend erzählte – über Kalkulationen seiner Werbefirma sitzen.

Barbara hörte, dass Robin bereits in der Küche hantierte. Die Kaffeemühle surrte. Ihr Sohn bereitete also das Frühstück zu. Sonntags war es seine größte Freude, sie mit einem perfekt gedeckten Tisch zu überraschen.

Barbara schlüpfte in einen leichten Morgenrock und schlenderte zu Robin.

»Hast du gut geschlafen, Mami?«

»Ja, Robin.« Sie drückte ihm ein Küsschen auf das volle Haar und beobachtete gerührt, wie er vorsichtig zwei Eier in kochendes Wasser gleiten ließ. »Und du?«

»Es geht«, antwortete er. »Peter hat die Tür so zugeknallt, als er ging. Da bin ich aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen. Es war Punkt ein Uhr.«

Barbara schwieg. Am liebsten hätte sie eine ironische Bemerkung gemacht über Robins Schlaftrunk, den sie weggegossen hatte. Aber sie unterließ es in der Hoffnung, dass diese Angelegenheit nun ein für alle Mal erledigt war.

»Warum geht Peter Knoll eigentlich immer um Punkt eins, Mami? Warum nicht mal früher oder später?«

Barbara sah ihren Sohn nachdenklich an. Sie hatte sich darüber auch schon Gedanken gemacht, konnte aber keine Erklärung dafür finden.

»Wahrscheinlich braucht er seinen Schlaf, Robin. Wie wir alle. Schließlich muss er sehr viel arbeiten.«

Der Blick, der sie aus den Augenwinkeln ihres Sohnes traf, hatte fast etwas Komisches, so misstrauisch war er.

»Ob der richtig arbeitet?«

»Natürlich arbeitet er richtig«, betonte sie verärgert und verließ die Küche, um sich ins Bad zu begeben. Dort stand sie lange nachdenklich vor dem Spiegel. Sie fand sich nicht sehr hübsch. Die Nase war zu kurz, der Mund zu klein. Nur die Augen waren schön. Sie waren groß und ausdrucksvoll, von dichten dunklen Wimpern umrahmt, wie auch Robin sie hatte.

Patzig, weil sie mit sich unzufrieden war, streckte sie ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und stellte sich schnell unter die Dusche. Das kalte Wasser sollte sie wecken und ihre verbitterten Gedanken fortspülen. Der vergangene Abend hatte ihr gezeigt, wie wenig Peter Knoll an ihrem Leben Anteil nahm. Er machte Pläne für seine Geschäftsfreunde und deren Frauen, an denen sie nicht teilnehmen konnte. Obwohl sie fest überzeugt war, dass er keine anderen Frauenbekanntschaften hatte, überkamen sie doch Zweifel an seiner Liebe zu ihr. Zugleich schämte sie sich, dass sie so an ihm hing. Ihr Leben war schon verworren genug durch die doppelte Belastung im Beruf, als Mutter und Hausfrau. Peter gab ihr jedoch wenigstens das Gefühl, eine anziehende Frau und eine zärtliche Geliebte zu sein. Konnte sie mehr erwarten? Sie hatte ein uneheliches Kind und würde ihm nur Schwierigkeiten aufbürden, wenn er sich an sie binden müsste. Musste sie nicht Verständnis für ihn haben, wie sie es auch für Robin hatte?

Ein verlockender Kaffeeduft stieg Barbara in die Nase. Als sie das Bad verließ, hatte sie ihre Probleme vergessen. Sie freute sich auf das gemeinsame Frühstück mit Robin. Solange er da war, konnte sie auf Peter Knoll verzichten. Wenigstens am Morgen.

»Wenn du willst, besuchen wir heute ein Museum, Robin«, schlug Barbara etwas später vor. »Wir sind so selten beisammen. Ich habe mich entschlossen, heute Abend zu bügeln. Irgendwie wird es schon gehen.«

»Au prima, Mami.« Robins Augen blitzten vor Freude auf.

Barbara lächelte zufrieden. Sie musste nur für ihn da sein, dann würde er gegen die Versuchungen der Großstadt schon gefeit sein. Wenn sie sich Zeit für ihn nahm, würde er weiterhin Vertrauen zu ihr haben und sich nicht dazu anstiften lassen, Schnaps zu trinken oder ähnliche Dummheiten zu begehen.

Zwei Stunden später erschien Kai. Er zeigte stolz eine Handvoll Münzen, die ihm sein Vater geschenkt hatte.

»Im Kino an der Ecke läuft ein Abenteuer-Film«, verkündete er begeistert. »Mein Papi hat gesagt, ich soll Robin einladen.«

»Darf ich?«, fragte Robin und sah seine Mutter bittend an. »Dann gehen wir eben nächsten Sonntag ins Museum.«

Barbara konnte ihm den Wunsch nicht abschlagen. Sie schlug den beiden Jungen vor, auf dem Rückweg ein Stück Kuchen zu kaufen und es nach der Vorstellung bei ihr zu verschmausen.

Robin fiel ihr selig um den Hals. »Du bist die beste Mami der Welt. Wenn du willst, gehe ich heute Abend mit dir spazieren. Oder kommt Peter wieder?«

»Wir können vorher spazieren gehen, Robin. Darauf freue ich mich.«

Sie sah den beiden Jungen nach, als sie in ihren gelben Regenjacken die Straße entlangliefen. Nun waren sie wirklich zwei nette gesunde Jungen, die sich auf ihr sonntägliches Vergnügen freuten. Barbara atmete auf. Das mit dem Gin war bestimmt nur ein harmloser Streich gewesen. Nichts anderes als ein Witz.

Dann begann sie zu bügeln. Es war weniger Wäsche, als sie gedacht hatte. Schon nach einer halben Stunde war sie fertig. Sie ging in Robins Zimmer und warf einen Blick auf die kleinen bunten Fische. Hatte er die Tiere überhaupt gefüttert?

Ganz in Gedanken nahm Barbara eine der runden Blechdosen, in denen Robin gewöhnlich das Fischfutter aufbewahrte, und öffnete sie. Sie musste zweimal hinschauen, um zu begreifen, was sie sah. In der Dose war keine Spur von Fischfutter. Dafür lagen darin drei Zigarettenstummel und Asche.

Barbaras Hände zitterten. Robin trank nicht nur heimlich, er rauchte auch. In ihrer Erregung schloss Barbara die Augen für einen Moment. Sie musste sich konzentrieren und überlegen, was nun zu tun sei. Fieberhaft durchsuchte sie Robins Sachen, spähte zwischen seine frische Wäsche und seine Bücher und suchte nach einer verborgenen Zigarettenschachtel. Eine grenzenlose Wut überkam sie. Wofür gab Robin eigentlich sein Taschengeld aus? Sie gab ihm genau so viel, wie die meisten seiner Altersgenossen bekamen. Sparte er denn nicht wie früher auf irgendein Zubehör für sein Fahrrad oder das Aquarium?

Barbara griff nach der anderen Blechdose. In ihr befand sich wirklich Fischfutter. Barbara streute ein wenig davon ins Aquarium. Dabei kam ihr eine Idee. Sie nahm Robins Schultasche vom Haken und leerte sie hastig aus. Zwischen den Büchern und Heften lag ein zerdrücktes Päckchen einer gängigen Zigarettenmarke. Es war leer.

Barbara zerknautschte das Päckchen nervös zwischen ihren schlanken Fingern, als sie nachdenklich zum Aquarium trat und die fressenden Tiere beobachtete. Sie war ganz sicher, dass ihr Sohn durch Kai Platen auf diese Ideen gebracht worden war. Robins Freund, rein äußerlich ein netter, gut erzogener Junge, stammte aus einem wohlhabenden Elternhaus. Vor einigen Jahren war seine Mutter verunglückt, aber sein Vater hatte vor Kurzem wieder geheiratet. Und wenn Kai auch nicht gerade schmeichelhafte Bemerkungen über seine Stiefmutter machte, so erwähnte er seinen Vater doch immer voller Respekt und Liebe.

Rasch warf Barbara die Zigarettenreste und das Päckchen fort, als könnte sie damit das Problem bereinigen. Dann ging sie ruhig in ihr Schlafzimmer, legte sich mit offenen Augen auf ihr Bett und zwang sich zu klaren Überlegungen.

Sie hatte Peters Telefonnummer, wusste aber aus Erfahrung, dass er tagsüber, wenn er an seiner Arbeit saß, nicht an den Apparat ging. Zudem hatte sie schon am Vorabend begriffen, dass es sinnlos war, mit ihm über Erziehungsprobleme zu sprechen. Außerdem wollte sie, wie sie es versprochen hatte, nicht petzen. Nicht petzen? Aber musste sie nicht mit irgendjemandem über die Angelegenheit sprechen, sich Rat holen?

In einer halben Stunde würden Robin und Kai fröhlich und unschuldig mit einem Kuchenpaket heimkehren. Sie würde sich nichts anmerken lassen. Aber sie musste einiges über den Freund ihres Sohnes in Erfahrung bringen. Sicherlich war es Kai, der Robin zu all diesen Taten anstiftete.

Plötzlich erhob sich Barbara und holte das große Telefonbuch hervor. Kais Mutter erwartete ein Baby und schien sehr unter diesem Zustand zu leiden. Vielleicht ahnte die junge Frau gar nicht, in welche seelischen Qualen sie den Sohn ihres Mannes stürzte? Gab es nicht Kinder, die aus purer Eifersucht auf ein jüngeres Geschwisterchen Unsinn machten, damit ihre Eltern sich mehr um sie kümmerten?

Barbara suchte die Telefonnummer von Kais Vater heraus. Thomas Platen, Bauunternehmer. Es war eine ganze Reihe von Nummern, die unter diesem Namen stand. Barbara wählte die der Villa. Eine sympathisch klingende Stimme meldete sich.

Als Barbara nach einer Weile auflegte, hatte sie sich für den Abend mit Kais Eltern verabredet. Es war ihr ganz egal, ob Peter Knoll kam oder nicht. Dann musste er seinen Cognac eben woanders trinken. Als die beiden Jungen ­unschuldig wie zwei junge Lämmer nach Hause kamen, sagte Barbara nichts. Sie verlebte mit ihnen einen lustigen Nachmittag bei Kakao, Kuchen und einem aufregenden Würfelspiel.

*

Thomas Platen und Barbara Wirthner sahen einander im ersten Moment betroffen an. Beide hatten sich den anderen ganz anders vorgestellt.

Barbara war überrascht, wie jungenhaft der Bauunternehmer wirkte. Trotz seiner von feinen grauen Strähnen durchzogenen Haare und der gebräunten Haut strahlte er Jugendlichkeit und Energie aus. Nichts an ihm erinnerte an den begüterten Mann, der er doch sein musste. Er trug einen zünftigen Jeans-Anzug und eine Pfeife im Mund, die er aber sofort in die Hand nahm, als er Barbara begrüßte.

Thomas Platen machte keinen Hehl aus seiner Verwirrung. Er blickte Barbara von oben bis unten an. »Sie sind Robins Mutter?«, fragte er. »Noch so jung?«

»So jung auch nicht mehr«, entgegnete Barbara lächelnd. Dann trat sie ein. Sie hatte sich nicht besonders schön gemacht. Über ihren feinen weißen Pulli und die karierte Sporthose hatte sie ihren ledernen Trenchcoat gezogen, denn den Weg von ihrer Wohnung zur Platenschen Villa war sie zu Fuß gegangen. Sie liebte es, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, und war so doch noch zu ihrem Sonntagsspaziergang gekommen.

Thomas Platen schritt ruhig und groß vor ihr her. Er nahm ihr den Mantel ab und führte sie in ein luxuriös eingerichtetes riesengroßes Wohnzimmer. Eine kleine Treppe führte zu einer Empore, die als Bibliothek diente. Auf dem Boden des unteren Raumes lagen weiße Felle, in einer Ecke stand ein Flügel. Auf der anderen Seite war ein Kamin in die Wand eingebaut, und gleich daneben schien im Sommer eine breite Tür auf die Terrasse zu führen.

»Wie schön!«, staunte Barbara.

»Schön?«

Hinter dem Flügel stand ein kostbares altes Sofa. Auf ihm lag eine junge Frau, die sich interessiert dem Fernseher zugewandt hatte. Nun erst erhob sie sich. Sie war sehr schmal und von einer überwältigenden Eleganz, die sich nicht nur in ihrem Äußeren, sondern auch in ihren Bewegungen und ihrem Make-up ausdrückte.

»Meine Frau«, stellte Thomas vor.

»Ich heiße Dinah«, fügte sie hinzu und reichte Barbara fast huldvoll die Hand.

Barbara nickte nur. Sie konnte nichts erwidern. Sie war schon von Berufs wegen an Geschmack und Luxus gewöhnt, aber diese Erscheinung kam ihr schlichtweg anbetungswürdig vor. Mit Kennerblick musterte sie den schlichten seidenen Hausanzug Dinah Platens. So etwas Vollkommenes fand man nur in wenigen Läden.

»Bring uns bitte etwas zu rauchen«, bat Thomas seine Frau, während er einen Schrank öffnete und kostbare Gläser hervorholte. »Trinken Sie einen Sherry mit uns, Frau Wirthner?«

»Ja, gern.«

Barbara nahm in einem tiefen Ledersessel Platz. Nur mit Mühe konnte sie ihren Blick von der schönen Frau abwenden.

Dinah Platen ergriff nun eine Schatulle, die früher einmal zur Aufbewahrung von Schmuck gedient haben mochte, und knallte sie merkwürdig achtlos auf den Tisch. »Ich habe keine Lust, dich zu bedienen, Thomas«, zischte sie dabei ihren Mann an. »Du vergisst, dass ich in anderen Umständen bin und der Schonung bedarf.«

Barbara fühlte sich plötzlich unbehaglich. Sie vermied es, Thomas Platen anzusehen, und dankte ihm innerlich, dass er auf diese dumme Bemerkung nichts erwiderte. Dabei hing ihr Blick wie erstarrt an Dinah, die sich wieder auf das Sofa legte. Ihr langes blondes Haar sorgfältig ordnend, nahm sie eine Pose ein, die ihr völliges Desinteresse an dem Gast ausdrückte.

»Ihr Wohlsein«, sagte Thomas Platen leise und hob sein Glas mit einer dezenten Bewegung. Dabei lächelten seine dunklen Augen Barbara besonders freundlich an, als wollte er die peinliche Situation damit überspielen.

Barbara atmete auf. Sie war erleichtert, dass Kais Vater von den Launen seiner Frau unbeeindruckt schien. Doch nun verstand sie auch, warum Kai bei jeder Gelegenheit sein Missfallen an der jungen Frau seines Vaters ausdrückte.

Zwanglos begann Barbara ein Gespräch mit Thomas Platen und erzählte ihm von den Begebenheiten der letzten Tage. Auch er war erschüttert, aber er schimpfte nicht. Nur seine Gesichtszüge bekamen etwas Ernstes. Barbara bemerkte es, obwohl er den Kopf neigte und konzentriert auf das Glas Sherry blickte, das er zwischen seinen kraftvollen Händen hielt.

Dann aber schrak er zusammen. Seine Frau hatte den Fernseher so laut gestellt, dass die Musik quälend durch den großen Raum hallte.

»Dinah«, bat er mit sanfter Stimme. Und dann etwas lauter: »Dinah, was ist denn? Ich bitte dich!«

Sie konnte ihn nicht hören. Er erhob sich und stellte sein Glas ab. Barbara bemerkte, dass seine eben noch so ruhigen Hände jetzt zitterten. Mit ein paar Schritten war er bei dem Gerät und stellte den Ton leiser.

Nun aber sprang Dinah Platen von ihrem Lager auf. »Was fällt dir ein, Tom?«, fuhr sie ihren Mann an. »Ich will diesen Schlager so laut hören. Ich liebe ihn. Er erinnert mich an meine Zeit in Paris. Damals hatte ich noch Erfolg und musste nicht in einem Haus versauern, weil ich ein Kind bekomme und tagtäglich hässlicher werde.«

Thomas Platen tat so, als höre er ihren wütenden Ausbruch nicht. Er strich ihr so geduldig über das Haar, als hätte er ein bockiges Kind vor sich.

Dinah schien seine Bemerkung unangenehm zu sein. Sie reckte ihren Kopf in die Höhe und verließ empört das Zimmer. Als sie grußlos an ihr vorbeischritt, sah Barbara, dass ihr äußerlich noch kaum etwas von ihrem Zustand anzumerken war.

Fragend blickte Barbara Thomas Platen an. Was nun? Sollte sie auch gehen? War die Unterredung, die so angenehm und offen zwischen ihnen begonnen hatte, nun beendet?

Thomas setzte sich wieder zu ihr. Er hatte einen entschlossenen Zug um den energischen Mund, der sich aber gleich darauf verflüchtigte. Freundlich und, wie Barbara meinte, erleichtert setzte er das Gespräch fort.

»Kai hat sehr unter dem Tod meiner ersten Frau, seiner Mutter, gelitten, Frau Wirthner. Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, noch einmal zu heiraten, weil ich glaubte, meinem Sohn zu genügen. Wir haben uns sehr gut verstanden. Auch dann noch, als ich Dinah kennenlernte. Sie war Mannequin, und wir haben uns nicht allzu oft gesehen. Dann aber erwartete sie das Kind. Vor einem Monat heirateten wir. Seitdem hat sich Kai eng an Ihren Sohn angeschlossen.« Er sah auf und sah sie ernst an. »Ich dachte immer, Kai hätte sich von der friedlichen Atmosphäre Ihres Heimes angezogen gefühlt. Ich meinte, er fände dort die Ruhe und Geborgenheit, die er bei uns …«

»Bei mir?« Barbara schüttelte den Kopf. »Bei mir Ruhe und Geborgenheit? Ich arbeite den ganzen Tag, Herr Platen.«

»Das habe ich schon von Kai erfahren, Frau Wirthner. Trotzdem geht es bei Ihnen wohl heiterer und fröhlicher zu als bei uns.« Er wies mit dem Kinn vage auf die Tür, durch die seine Frau eben den Raum verlassen hatte. »Meine Frau leidet sehr unter ihrem Zustand.«

»Ist sie krank?«

»Nein. Aber die veränderte Situation stellt Anforderungen an sie, denen sie nicht gewachsen ist.«

»Eine Schwangerschaft ist doch etwas ganz Natürliches …« Barbara biss sich auf die Lippen. Sie wollte keine Kritik an Dinah Platen üben, nur weil sie vor vielen Jahren, als sie Robin erwartete, ihre Lehre bis fast zu dem Tag, an dem sie in die Klinik musste, fortgesetzt hatte.

»Das dachte ich auch immer«, entgegnete er. »Aber es kommt wohl auf die Einstellung an.«

Seine Augen waren tief dunkelbraun. Doch nun schienen sie fast schwarz zu werden. War es die Melancholie, die sie so veränderte?

Irgendwo im Haus knallte eine Tür. Kurz darauf heulte ein Motor auf. Unruhig horchte Thomas Platen auf, zwang sich dann, das Gespräch weiterzuführen, als sei nichts geschehen.

»Manchmal habe ich schon daran gedacht, Kai in ein Kinderheim zu geben, Frau Wirthner. Wenigstens so lange, bis sich hier alles eingespielt hat. Ich habe von Sophienlust gehört. Es muss ein wunderbares Heim sein. Man nennt es das Haus der glücklichen Kinder. Aber natürlich will ich die Freundschaft der beiden Jungen nicht zerstören. Wenn die Jungen auch rauchen und trinken …«

»Vielleicht waren es nur kleine Dummheiten, die jeder von uns in seiner Jugend macht«, fiel Barbara ihm ins Wort. »Ich weiß nun, wie Sie darüber denken, und werde in aller Ruhe mit Robin sprechen.«

Sollte sie ihm sagen, wie glücklich sie war, überhaupt die Meinung eines anderen Elternteiles gehört zu haben? Wie es sie erleichterte, dass nicht nur sie Erziehungsprobleme hatte? Sie schwieg. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, schwach zu sein. Nicht bei diesem Mann. Hatte er nicht genug Kummer mit seiner bildschönen Frau, die ihm grollte, weil sie ein Baby bekam?

Thomas Platen tat Barbara leid. Auch er hatte das, was man gemeinhin einen Lebensgefährten nannte, aber Dinah war ihm genauso wenig eine Hilfe wie ihr Peter Knoll.

Barbara erhob sich. »Danke schön, Herr Platen. Wir wollen unseren Söhnen die Freundschaft erhalten. Ich werde alles tun, um ähnliche Vorkommnisse zu vermeiden.«

»Auch ich werde mit Kai sprechen, Frau Wirthner. Und ich werde mich bei Ihnen melden, wenn wieder etwas geschehen sollte. Ich bin jetzt gewarnt und werde Kai sorgsamer beobachten. Sollten Sie eine Frage haben, bitte, rufen Sie mich an.«

Er hielt ihre Hand eine Sekunde länger als nötig. Barbara blickte zu ihm empor, wie zu jemandem, der wie ein Fels in der Brandung steht. Sie wusste jedoch, dass er das Gleiche von ihr erhoffte.

Als sie das Haus verließ, begleitete er sie bis zur Gartenpforte.

»Meine Frau ist mit meinem Wagen davongefahren, Frau Wirthner. Leider kann ich Sie nicht nach Hause bringen.«

»Ich gehe sowieso viel lieber zu Fuß, Herr Platen.«

Nach ein paar Schritten sah Barbara sich kurz um. Er stand noch da in der Dämmerung, als überlege er, ob er ihr folgen solle. Barbara beschleunigte ihren Gang. Ihr Herz klopfte ungewöhnlich heftig.

*

Kai und Robin schoben ihre Fahrräder auf dem Fußweg entlang. Das taten sie manchmal, um Schaufenster zu betrachten. Natürlich bevorzugten sie dabei die Sport- und Schallplattengeschäfte.

Es war ein herrlicher Tag. Die Frühlingssonne schien, als müsste sie alle Blumen auf einmal hervorlocken, und in den Cafés auf der Straße saßen die wintermüden Großstädter und boten ihre noch blassen Gesichter den warmen Strahlen dar.

»Sieh mal, Kai!« Aufgeregt hatte Robin seinen Freund am Arm gepackt. »Dort sitzt der Freund von meiner Mami.«

»Wo?«, flüsterte Kai neugierig.

»Da drüben mit den beiden aufgedonnerten Miezen.«

Die beiden Jungen stellten sich hinter eine Litfasssäule und beobachteten die drei. Robins Gesicht bekam etwas Hasserfülltes. »Schon neulich habe ich Peter mit den beiden gesehen«, berichtete er mürrisch. »Er war im Hallenbad. Ich glaube, er ist mit den Mädchen befreundet. Wenn das meine Mami wüsste!«

»Warum erzählst du es ihr nicht?«, wunderte sich sein Freund und schob den Kaugummi von einer Backe in die andere.

Robin hob etwas ratlos die Achseln. »Sie nimmt ihn ja doch in Schutz«, murrte er weiter. »Sie denkt, das gehört zu seinem Beruf.«

»Komischer Beruf. Der tut doch gar nichts.«

Robin biss sich fest auf die Unterlippe. »Einmal werde ich diesen Peter Knoll richtig überwachen«, kündigte er nachdenklich an. »Irgendetwas stimmt nämlich nicht mit dem. Aber ich weiß nicht, was.« Langsam wandte er sich ab und schritt zu seinem Fahrrad zurück.

Kai folgte ihm. »Du bist mein bester Freund, Robin. Wenn ich dir helfen soll, brauchst du es nur zu sagen.«

Fast abschätzend sah Robin ihn an. »Das glaubst du doch selbst nicht. Um Peter Knoll zu überwachen, müsste ich ihm nachts nachspionieren. Traust du dir das zu?«

Sie erreichten einen belebten Platz, auf dem ein Obststand aufgebaut war. Kai kaufte zwei Bananen und gab Robin eine. Beide bissen herzhaft in die Früchte, als wäre das im Moment das Wichtigste auf der Welt. Aber der Eindruck täuschte.

»Heute Nacht um eins, Kai. Pünktlich vor meiner Tür. Schaffst du das?«

»Klar, Robin.« Kai sah ihn an, als hätte er damit einen Schwur geleistet.

»Aber versteck dich gut. Du musst dein Fahrrad vorher neben meins stellen. Dann können wir ihm besser folgen.«

»Klar.« Diesmal nickte Kai Platen noch ernster. Dabei freute er sich wie ein Schneekönig auf das bevorstehende Abenteuer.

Als Kai nach Hause kam, wurde seine Vorfreude auf die nächtliche Spionagetätigkeit jedoch schwer gebremst. Dinah Platen machte ihm nicht nur Vorwürfe wegen seines Zuspätkommens, sie zwang ihn auch noch, sie zu einer entfernten Reparaturwerkstatt zu begleiten.

Kai starrte sie empört an. »Warum denn? Was kann ich dafür, dass du Papis Wagen demolierst?«

Kai wusste, dass seine Stiefmutter an einem der letzten Abende einen geringfügigen Blechschaden beim Einfahren in die Garage verursacht hatte. Es hatte ihn mit Schadenfreude erfüllt. Er war richtig stolz auf seinen Vater gewesen, als dieser darauf bestanden hatte, dass Dinah sich selbst um die Reparatur kümmern müsse.

Das ehemalige Mannequin stand vor dem Spiegel und warf Kai einen wütenden Blick zu. »Du weißt, dass ich ein Kind erwarte, Kai. Ich bin leidend. Irgendjemand muss mich schließlich begleiten.«

»Ph!«, machte Kai und zeigte ihr flüchtig und andeutungsweise einen Piepvogel. »Ph! Du fährst doch abends oft wie verrückt durch die Gegend. Warum stört es dich dann nie, dass du allein bist?«

Dinah stampfte mit dem Fuß auf. »Wenn du nicht mitkommst, rufe ich deinen Vater an und erzähle ihm von deiner Fünf in Englisch.«

»Mahlzeit!« Kai warf ihr einen verächtlichen Blick zu, stopfte sein Mittagessen, das an diesem Tag aus einer Scheibe Brot und zwei harten Eiern bestand, in den Mund und fügte hinzu: »Gewalt ist süß, Erpressung ist fies.« Dann mopste er sich im Vorbeigehen eine Zigarette aus Dinahs Handtasche und fragte unschuldig: »Wann also geruhen Gnädigste aufzubrechen?«

Dinah war zu humorlos, um darüber zu schmunzeln. Außerdem beschäftigte sie ihr enger Rock, der weit über die Knie ausschwang. In der Taille zwickte er bereits. Sie presste die Lippen aufeinander und zog den Bauch ein. »Gleich fahren wir, Kai«, japste sie.

Der Junge beobachtete sie mit gemischten Gefühlen. Er wusste plötzlich nicht, wer ihm mehr leid tat, das winzige Geschöpf unter Dinahs Herzen, das einmal sein Halbbruder oder seine Halbschwester werden sollte, oder diese junge attraktive Frau, die zu dumm war, um sich über das aufkeimende Leben zu freuen.

»O. K. Ich komme mit.«

Die Reparaturwerkstatt lag in einem Außenbezirk. Als Kai mit seiner Stiefmutter das Büro betrat, stand eine andere junge Frau am Tresen und verhandelte mit einer Angestellten. Kais Augen wurden aufmerksam. Dieses merkwürdige Mädchen mit den pechschwarzen Haaren und dem bonbonrosa Hosenanzug aus glänzender Seide hatte er heute Mittag mit Peter Knoll gesehen. Die junge Frau war so auffällig, dass ein Irrtum ausgeschlossen war.

Neugierig trat Kai hinter sie. Er hörte, dass sie ihre Adresse angab. Als sie das Büro verließ, starrte er ihr nach.

»Kai«, tadelte Dinah ihn mit gerümpfter Nase, »solchen Mädchen starrt man nicht nach. Findest du sie etwa schön?«

Mit einem abwesenden Gesicht schüttelte er den Kopf. »Wieso, Dinah? Was ist denn das für ein Mädchen?«

»Eine Hostess oder eine Bardame«, erwiderte Dinah schnell, denn nun war sie dran.

Auf dem Heimweg nahmen sie ein Taxi, und seine Stiefmutter war nun wieder zuckersüß.

»Soll ich dich zu einem Eis einladen, Kai? Oder willst du mit mir in eine Konditorei gehen?«

»Nee.« Kai war mit seinen Gedanken ganz weit weg. Es beschäftigte ihn, dass dieses komische Mädchen einen Beruf hatte, der Dinah nicht gefiel.

»Du warst doch Mannequin, nicht wahr?«, forschte er. »Ist das eigentlich viel besser als eine Hostess? Wenn ich dir nachgucke, stört es dich doch nicht, oder?«

Dinah sah ihn lächelnd an. »Zwischen einem Top-Modell, wie ich es war, und so einem Mädchen ist ein himmelweiter Unterschied, Kai.«

Der Junge hatte überhaupt nichts begriffen, aber er nahm sich vor, noch in der Nacht mit Robin über dieses Problem zu sprechen. Dass es gewisse weibliche Beruf gab, die man besser verschwieg, wusste er schon lange. Nun interessierte es ihn, hinter den Begriff ›Hostess‹ zu kommen, und besonders, was der Freund von Robins Mutter damit zu tun hatte.

Kai sah zu Dinah hinüber. Sie blickte mit großen verträumten Augen auf die eleganten Geschäfte, die an ihnen vorbeihuschten. Wenn sie nicht so hochnäsig wäre, dachte er, würde ich sie noch einmal fragen. Aber sie war eben ein ganz besonderes Modell, ein Top-Mannequin. Deshalb war sie ja früher auch immer in Paris und so. Warum hat mein Vater sie nicht dortgelassen?

*

Es war eine stockdunkle Nacht. Kai war kurz vor eins aus seinem Zimmer geschlichen, hatte sich vom Balkon heruntergelassen und in Windeseile sein Fahrrad aus der Garage geholt. Nun stand er zitternd vor Aufregung im Hinterhof des Etagenhauses, in dem Robin wohnte, und wartete neben dem Fahrrad seines Freundes.

Tatsächlich tauchte Robin gleich darauf hinter ihm auf. »Er muss gleich kommen, dieser Schuft«, wisperte er. Dann schloss er sein Fahrrad auf und machte Kai ein Zeichen, ihm zu folgen.

Die beiden warteten klopfenden Herzens hinter der Hoftür. Peter Knoll verließ pünktlich das Haus. Mit schnellem Schritt ging er zu seinem großen Wagen, setzte sich hinter das Steuer und preschte davon.

Die beiden Jungen hatten alle Mühe, ihm zu folgen. Es war kaum Verkehr um diese Zeit, und sie nutzten die Ruhe auf den nächtlichen Straßen aus, um eine Ampel bei Rot zu überqueren. Trotzdem entwischte ihnen Peter Knoll.

Zornig vor Enttäuschung und völlig außer Atem hielt Robin an. »Es hat keinen Zweck, Kai. Es ist alles umsonst.«

Kai holte die gestohlene Zigarette hervor und zündete sie umständlich an. Zum Trost ließ er Robin ein paarmal ziehen.

»Weißt du, wo dieser Peter wohnt?«

Robin schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich habe die Telefonnummer abgeschrieben.«

Sie fuhren langsam und müde zu der nächsten Telefonzelle und schauten dort nach. Peter Knoll wohnte in der Tranzgasse fünfzehn.

»Nix wie hin, Robin. Wir schauen nur nach, ob sein Wagen dort steht.«

Die Tranzgasse lag in einem eleganten Wohnviertel. Hier gab es aber auch elegante Boutiquen, kleine lauschige Restaurants und verschiedene Bars.

Die beiden Jungen fuhren die Straße aufmerksam auf und ab, ohne den auffälligen Wagen zu entdecken. Als sie um eine Ecke bogen, stutzte Kai. Er hatte das Namensschild der Nebenstraße gelesen. Es kam ihm seltsam bekannt vor. Es war genau der gleiche Straßenname, den die rosagekleidete Hostess angegeben hatte, als sie ihren Wagen in der Reparaturwerkstätte gelassen hatte.

Kai sah sich nach allen Seiten um. Dann zog er seinen Freund unter einen Baum und erzählte ihm, was er am Nachmittag erlebt hatte.

»Eine Hostess?«, fragte Robin ungläubig. »Was soll denn das sein?«

»Was Mieses«, antwortete Kai mit Kennermiene. »Was ganz Mieses. Wenigstens sah sie so aus.«

Während die beiden noch ihren abenteuerlichen Vorstellungen nachhingen, öffnete sich in dem gegenüberliegenden Haus ein Fenster. Die Silhouette einer Frau erschien. Lange schwarze Haare fielen ihr auf die Schultern. Sie trug nur ein wenig Unterwäsche. Die beiden Jungen sahen sich an. Für sie gab es keinen Zweifel, dass es tatsächlich die Dame im rosa Anzug war. Gleich darauf schlug eine Autotür zu.

Robin packte Kai am Arm und schubste ihn in einen dunklen Hauseingang, denn es war Peter Knoll, der die Straße langsam überquerte. Sein Gang war schlendernd. Hinter ihm ging ein großer jüngerer Mann, der sehr brutal wirkte. Schweigend stellten die beiden sich vor dem Haus auf, von dem eben ein Fenster geöffnet und wieder geschlossen worden war.

Jetzt trat ein älterer Herr aus dem Haus. Er sah sich nach rechts und links um, als wollte er auf keinen Fall gesehen werden. Aber schon versperrten Peter Knoll und sein Begleiter ihm den Weg. Sie nahmen ihn in die Mitte, als wäre er verhaftet worden, und geleiteten ihn mit sanfter Gewalt in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Kai machte einige Schritte vorwärts, obwohl Robin ihn daran hindern wollte. Was er sah, ließ ihn erstarren. Die beiden Männer handelten dem älteren Herrn ein Bündel Geldscheine ab.

»Hast du das gesehen?«, japste Kai aufgeregt. »Der andere Typ hat eine Waffe gehabt.«

Die beiden Jungen sahen sich an. In Robins Augen standen Tränen. Daran war nicht der kühle Luftzug, der durch die Straße wehte, schuld.

Kai schlang seinen Arm um die Schulter des Freundes und führte ihn zu der Ecke, in der sie ihre Fahrräder abgestellt hatten. Robin ließ es sich gefallen. Ihm war entsetzlich elend zumute. Trotzdem sah er sich noch einmal um, als hinter ihnen das Geräusch trippelnder Schritte erklang.

Die rosagekleidete Dame mit den schwarzgefärbten Augen folgte ihnen langsam. Sie hatte nun einen breiten goldenen Gürtel um ihre rundliche Taille geschlungen, der wie ein Signal aufblitzte. Sie bemerkte die Jungen nicht, denn sie war damit beschäftigt, nach neuen Kunden Ausschau zu halten. Diese Bubis hier waren für sie uninteressant.

»Verdammt«, ächzte Kai und schwang sich etwas schwerfällig auf sein Rad, »nun weiß ich wenigstens, was Dinah gemeint hat.«

Robin antwortete nicht. Er trat in die Pedale, als müsste er den Ort dieser entsetzlichen Erfahrung schnellstens verlassen.

*

Barbara Wirthner setzte sich im Bett auf. Was war denn los? Hatte eben das Telefon geklingelt? Sie horchte angestrengt, aber es war ganz still in der Wohnung. Da legte sie sich wieder zurück in die Kissen.

Es mochten nur etwa fünf Minuten vergangen sein, da klingelte es doch. Aber diesmal war es die Türglocke. Barbaras erster Gedanke war, Peter Knoll wäre zurückgekommen. Beschwingt hüpfte sie aus dem Bett und suchte in aller Eile ihren elegantesten Morgenrock aus himmelblauer Wildseide aus dem Schrank. Sie hatte ihn gerade fest zugebunden, da klingelte es noch einmal. Diesmal sehr stürmisch.

Barbara öffnete lächelnd die Tür. Dann aber erstarrte ihr Gesicht vor Schreck. Vor ihr stand die große Gestalt Thomas Platens.

»Kai ist fort«, sagte er hastig. »Ich musste mit Ihnen sprechen. Das Telefon haben Sie nicht gehört. Entschuldigen Sie bitte.«

Barbara war so erstaunt, dass sie ihm schweigend die Tür offenhielt.

»Ich habe es zufällig entdeckt, als ich zu Bett gehen wollte, Frau Wirthner. Mein Sohn muss über den Balkon geklettert sein. Sein Fahrrad ist auch verschwunden.«

»Um Gottes willen!« Barbara rang die Hände. »Haben Sie Streit mit ihm gehabt?«

Thomas Platen schüttelte den Kopf.

»Nein, im Gegenteil. Kai war heute sogar mit meiner Frau bei der Autowerkstatt und hat sich sehr nett benommen.«

Barbara sah ihn an, so ratlos wie ein kleines Kind. »Was sollen wir tun, Herr Plate? Soll ich Robin wecken und ihn fragen, ob er etwas weiß?«

Thoma nickte. »Sie sind meine einzige Hoffnung, Frau Wirthner.«

Barbara drehte sich um und ging leise auf Robins Zimmertür zu. Behutsam, um den Schlafenden noch nicht zu wecken, öffnete sie die Tür. Weil sie das grelle Oberlicht meiden wollte, tastete sie sich bis zu Robins Nachttischlampe und knipste sie an. Dann schrie sie leise auf. Auch Robins Bett war leer.

»Herr Platen!«, rief Barbara. »Herr Platen!« In ihrer Erregung stürmte sie auf den großen Mann zu und landete an seiner Brust. Der Schreck war ihr so in die Glieder gefahren, dass sie laut aufschluchzte: »Er ist fort, er ist auch fort! Was soll ich nur tun?«

Thomas Platen atmete in diesem Moment auf. Tröstend drückte er Barbaras Kopf an sich. »Beruhigen Sie sich, Frau Wirthner.«

»Beruhigen? Ich soll mich beruhigen?« Aufgeregt hob sie ihren Kopf. Ihre grünschimmernden Augen funkelten ihn an wie die einer Katze. »Mein Sohn ist fort, Herr Platen. Er ist der einzige Mensch, den ich habe! Da soll ich ruhig sein, wenn er mitten in der Nacht verschwindet?«

Kais Vater legte den Arm um Barbaras Schulter und führte sie ins Wohnzimmer, als kenne er sich in ihrer Wohnung aus. Behutsam setzte er Barbara in einen Sessel und schaltete schweigend die Tischlampe ein. Dabei fiel sein Blick auf zwei Cognacschwenker, die leer neben einer noch halb gefüllten Flasche standen.

Robin ist also nicht der einzige Mensch, den sie hat, durchfuhr es ihn. So etwas wie Ärger stieg in ihm auf.

»Sie sind zu zweit fort, Frau Wirthner«, sagte er laut und ergriff ihre Hände, die sie nervös rang. »Das bedeutet, dass sie einen ganz gewöhnlichen Bubenstreich aushecken. Ich bin ganz sicher, dass sie zurückkommen. Schließlich habe ich in meiner Jugend auch so etwas gemacht.«

Barbaras Augen wurden zu Schlitzen. Sie fasste nach einem der Gläser und füllte sich einen großen Schluck Cognac ein, ohne Thomas zu beachten.

»Darf ich auch einen Schluck haben?«, fragte er nicht ohne Ironie. Er wartete ihr Antwort nicht ab, sondern erhob sich und trat an den Schrank. Es war der falsche. In ihm befanden sich nur Teller und Tassen.

»Gleich nebenan sind die Gläser.« Barbara sagte es nun wieder ruhig. Die Gegenwart dieses Mannes glich etwas in ihr aus, eine ungeahnte Spannung. Sie fühlte so etwas wie eine tiefe Gemeinsamkeit mit ihm. Es ist die Sorge um die beiden Jungen, überlegte sie und wischte damit die Gedanken und das zärtliche Empfinden in sich aus.

Dann aber meinte sie: »Wo mögen sie sein? Ob ihnen etwas geschehen ist? Wollen wir nicht die Polizei rufen?«

Kais Vater hielt ein Glas in der Hand. Während er es füllte, schüttelte er den Kopf und antwortete: »Nein. Zwei Jungen geschieht nichts. Ich wette mit Ihnen, dass unsere Großstadtpflanzen morgen wie üblich in der Schule sitzen.«

»Sie haben sehr viel Vertrauen zu Kai, Herr Platen.«

»Ja. Trotzdem bin ich entschlossen, ihn in ein Kinderheim zu geben.«

Er goss den Cognac hinunter, als müsste er damit seine Entschlusskraft beweisen, aber Barbara erkannte, wie schwer ihm diese Entscheidung sein musste.

»Ist das nicht herzlos, Herr Platen? Sie behaupten, die gleichen Dummheiten in Ihrer Jugend gemacht zu haben, und wollen Kai für dieses Vergehen fortschicken? Fort von seiner Familie? Fort von seinen Spielkameraden?«

Thomas sah sie an. In ihrem hellblauen Morgenrock wirkte sie jung und zerbrechlich. Ihr ungeschminktes Gesicht strahlte Ehrlichkeit und eine Natürlichkeit aus, die sein Herz rührte.

»Bei mir war es ganz anders, Frau Wirthner. Ich hatte einen Vater, der sehr viel zu Hause arbeitete und eine Mutter, die ihr Temperament nicht nur auf der Zunge sprechen ließ.« Er machte eine Handbewegung, die einen kräftigen Klaps andeutete. »Mit ihrer liebevollen Erziehung und ihrer Strenge war ich gegen alle schlechten Einflüsse gefeit, obwohl ich es faustdick hinter den Ohren hatte. Aber Kai fühlt sich unglücklich. Er ist noch zu jung, um auf den Zustand meiner Frau tagtäglich Rücksicht nehmen zu können.«

Ein beklemmendes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Barbara erhob sich. Sie musste sich bewegen, um nicht zu zeigen, welche Kämpfe in ihrem Innern tobten. Mit einem verzweifelten Gesicht lehnte sie sich an die Wand und blickte ratlos nach oben.

»Auch ich kann meinem Sohn keine heile Welt bieten«, meinte sie. »Wie gern würde ich mich um die beiden Jungen kümmern. Sie haben doch ein gutes Herz, sind gescheit und zärtlich …«

»Warum schließen Sie sich meinem Entschluss nicht an, Frau Wirthner? Es wäre für die beiden Freunde wunderbar, wenn sie gemeinsam nach Sophienlust kämen. Dort sind sie in guten Händen. Es muss ja nicht für immer sein.«

Barbara wich seinem Blick aus und sah zu Boden. »Dann bin ich ganz allein, Herr Platen.«

Als sie aufsah, bemerkte sie, dass Thomas auf die beiden Gläser blickte und seines langsam dazustellte.

Barbara biss sich auf die Lippen. Ja, sie war unbewusst unehrlich gewesen, denn sie hatte ja noch Peter Knoll. Vielleicht würde er sein Verhalten ihr gegenüber ändern, wenn Robin nicht mehr da sein würde?

»Und in den Ferien?«, fragte sie. »Was ist dann? Ich habe nur drei Wochen Urlaub im Jahr.«

»In den Ferien werde ich mich um die Jungen kümmern, Frau Wirthner …« Thomas sprach nicht weiter, weil Barbara ihm ein Zeichen machte. Draußen hatte sie ein Geräusch gehört. Eine Tür war zugeklappt worden.

Sie unterhielten sich noch eine Weile, bis es ganz still in der Wohnung war. Als Thomas Platen sich verabschiedete, wusste er, dass auch sein Sohn heil zurückgekehrt war. Erleichtert lächelten die beiden Erwachsenen sich an.

»Bleiben Sie trotzdem bei Ihrem Vorhaben, Kai nach Sophienlust zu schicken, Herr Platen?«

»Ja. Aber nur, wenn Sie mitmachen.«

Sie nickte. Dann schloss sie die Tür und lehnte sich aufatmend dagegen. Was für ein köstliches Gefühl, mit seinem Kummer nicht allein zu sein.

*

Frau Rennert öffnete eine Tür und sagte: »Das wird jetzt euer Zimmer sein. Gleich nebenan wohnt Nick von Wellentin-Schoenecker. Ihr werdet ihn heute Nachmittag noch kennenlernen.«

Kai und Robin wechselten einen vielsagenden Blick. Warum sollten sie Nick von Wellentin-Schoenecker kennenlernen? Sie hatten gar kein Interesse daran.

»Wer hat denn unsere Koffer hochgebracht?«, fragte Kai die Heimleiterin. Die großen Gepäckstücke fielen ihm als erstes ins Auge, obwohl das Zimmer freundlich und gemütlich eingerichtet war.

Frau Rennert lächelte. »Unser Justus, Kai.«

»Hm.«

Kai Platen und Robin Wirthner waren zu einem ungünstigen Zeitpunkt in Sophienlust angekommen, nämlich am Vormittag, zu einer Stunde, da alle Kinder ihres Alters auf der Schulbank saßen. Unglücklicherweise war auch Denise von Schoenecker nicht da gewesen.

Die beiden Jungen kannten Sophienlust noch nicht. Sie hielten die Ruhe in dem großen Haus für ganz normal. In ihrer Fantasie hatte sich ein ganz bestimmtes Bild von dem Kinderheim festgesetzt, in das ihre bösen Eltern sie abgeschoben hatten.

»Soll ich euch beim Auspacken helfen?«, fragte Frau Rennert.

»Wir sind doch nicht krank«, gab Robin patzig zur Antwort.

»Das hoffe ich auch.« Frau Rennert lächelte mütterlich. Dann verließ sie das Zimmer.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, ließen Robin und Kai sich auf ihre Betten fallen und starrten verärgert Löcher in die Luft.

Der Chauffeur von Thomas Platen hatte sie hergefahren. Sie wussten zwar, dass es nicht die Absicht von Barbara und Thomas gewesen war, sie so lieblos hier abzuliefern, aber sie grollten ihnen trotzdem.

»Es ist ja alles unheimlich schnell gegangen«, stöhnte Kai und wälzte sich hin und her. »Dabei wissen sie bis heute nicht, was wir in der Nacht entdeckt haben.«

»Nein. Das wissen sie nicht«, bestätigte Robin. »Aber sie haben sich kennengelernt und sind sich über uns einig geworden. Und Einigkeit macht bekanntlich stark.«

Robin richtete sich ein wenig auf. Das Zimmer gefiel ihm. Dass er es mit Kai teilen sollte, fand er wunderbar.

Ein leichter Luftzug wehte durchs Fenster herein. Mit ihm kam ein ländlicher Duft zu den Jungen. Es roch nach Tieren und frischem Gras. Die bunten Gardinen bauschten sich, als wollten sie die beiden Jungen auf ihr hübsches Muster aufmerksam machen. Rechts und links neben dem Fenster standen zwei Schreibtische, über ihnen hingen Borde an der Wand. Neben Kais Bett stand ein großer Kleiderschrank, ihm gegenüber war eine kleine Sitzgruppe.

Ein idealer Platz zum Schachspielen, dachte Robin.

Kai lag noch immer wie erschöpft auf seinem Bett. Seine Miene drückte eine üble Unlust aus. Von seinem Gesicht wanderte Robins Blick zurück zu dem Kleiderschrank. Dort oben stand eine Topfpflanze. Es war ein efeuartiges Gewächs, dessen Blätter grün und frisch herunterhingen.

Robin erhob sich, kletterte auf einen Stuhl und prüfte, ob die Pflanze Wasser brauchte. Aber sie war frisch gegossen. Sein Finger hatte feuchte Erde berührt. Da fühlte er sich plötzlich zu Hause. Es schien ihm, dass in einem Heim, in dem täglich die Pflanzen gegossen wurden, auch für ihn gut gesorgt werden würde.

»Komm, Kai«, forderte er seinen Freund munter auf, »wir wollen unsere Koffer auspacken. Danach schauen wir uns alles an.«

Statt zu antworten, ließ Kai seinen Blick suchend durch das helle Zimmer schweifen. Schließlich fragte er: »Hast du schon die Hausordnung entdeckt?«

»Welche Hausordnung?«

Nun setzte auch Kai sich auf. »In jedem Heim gibt es eine Hausordnung, auf der ganz gemeine Dinge befohlen werden.«

»Woher weißt du das?«

»Von Erwin Krämer aus unserer Schule. Er war einmal in einem Heim.«

Das leuchtete Robin ein. Aber so viel er auch suchte und sogar an den Innentüren des Schrankes nachsah, er fand keinen Zettel mit strengen Verboten.

»Na ja, sie werden es uns zum Mittagessen vorlesen«, meinte Kai und erhob sich. Doch mitten beim Kofferauspacken lachte er laut auf.

»Warum lachst du?«, wollte Robin wissen.

»Ich lache über deine Mutter und meinen Vater. Richtig ulkig, wie sie das mit uns ausgeheckt haben. Wenn sie sich so gut verstehen, sollten sie doch gleich heiraten. Dann wären wir wenigstens Brüder.«

Robin hielt gerade einen Stoß seiner Lieblingsbücher in der Hand. Er wollte sie auf dem Bord an der Wand abstellen. Nun rutschten ihm die Bücher vor Überraschung fast herunter. Seine großen Augen sahen erstaunt und auch betroffen drein. Noch nie hatte er an die Möglichkeit gedacht, dass seine Mutter heiraten könnte. Nun schmerzte es ihn plötzlich umso mehr, dass er seine Mutter mit dem fiesen Peter Knoll zurückgelassen hatte. Jetzt war sie ihm doch schutzlos ausgeliefert. Ob Kais Vater ihr zur Not beistehen würde?

»Aber dein Vater ist doch schon verheiratet, Kai.«

»Das weiß ich selbst.« Kai warf ein Bündel Unterwäsche lustlos zurück in den Koffer und setzte sich. Er stützte schweigend seinen Kopf in die Hände und blickte verträumt zum Fenster hinaus.

»So’n Mist!«, schimpfte er, und Robin wusste nicht, ob der Freund damit das Heim, die fehlende Hausordnung oder etwa Dinah, die Ehefrau seines Vaters, meinte.

*

»Das ist Barri.« Nick stellte sich neben den bildschönen Bernhardiner und kraulte ihn hinter den Ohren. Voller Stolz präsentierte er den klugen Hund den beiden neuen Heimkindern Kai und Robin.

Nick war nach der Schule in Sophienlust geblieben und nicht nach Schoeneich gefahren. Seine Mutter hatte gerade eine schwere Grippe überstanden und ihn gebeten, sich um die Neuankömmlinge zu kümmern. Als er aus dem Schulbus gestiegen war, hatte Frau Rennert schon dagestanden, auf das Haus gedeutet und erklärt: »Kai Platen und Robin Wirthner sind oben in ihrem Zimmer. Sie packen ihre Koffer aus.«

Das hatte Nick sich nicht zwei Mal sagen lassen. Ohne auf die anderen Kinder zu achten, war er sofort nach oben gestürmt, hatte bei den beiden Jungen angeklopft und sich vorgestellt.

»Es wird gleich gegessen«, hatte er verkündet. »Kommt mit hinunter. Dann stelle ich euch die anderen Kinder vor.«

Und nun war ihnen als erster Heiminsasse Barri begegnet.

Kais eben noch so betrübtes Gesicht hellte sich auf. »Das ist ja ein Prachtkerl«, staunte er. »Der gefällt mir. Darf ich ihn streicheln?«

»Aber natürlich. Du kannst ihn auch mit in dein Zimmer nehmen und mit ihm spazieren gehen. Barri gehört uns allen. Er ist klug genug, um zu wissen, dass er den Kindern gehorchen muss.«

Nick hatte das mit aller ihm gegebenen Selbstverständlichkeit erklärt. Er ahnte nicht, dass er damit den ersten Kummer in Kai wegwischte.

Dann führte er die beiden in den Speisesaal. Hier hatten sich schon etwa zwanzig Kinder um den großen Tisch versammelt. Eifrig schnatternd warteten sie darauf, ihren Suppenteller vorgesetzt zu bekommen. Aber es dauerte ein wenig. Pünktchen hatte Tischdienst und musste Ulla beim Austeilen der Speisen behilflich sein. Als Nick mit Kai und Robin eintrat, sah das Mädchen ihn so selig an, dass die beiden gefüllten Suppenteller in seinen Händen nicht an ihr Ziel kamen. Pünktchen rührte sich nicht vom Fleck. Sie strahlte nur Nick an.

Das blieb den anderen Kindern nicht verborgen, und weil sie nach der Schule alle sehr hungrig waren, stupsten sie sich – belustigt über Pünktchens Träumerei – gegenseitig an.

So kam es, dass Robin und Kai mit einem ungewöhnlich fröhlichen Gelächter begrüßt wurden. Das, und der köstliche Duft der heißen Bouillon mit Fleischklößchen, der ihnen in die Nase stieg, brach das Eis. Gleich darauf saßen sie am Tisch und fühlten sich auch gar nicht mehr von ihren Eltern verbannt.

»Ich mache einen Vorschlag«, verkündete Nick. »Jeder von euch stellt sich jetzt selbst den Neuen vor. Das spart Zeit, und die anderen können weiteressen.«

Else Rennert, die am oberen Ende des Tisches Platz genommen hatte, zwinkerte Nick zu. »Heidi ist die Jüngste«, meinte sie. »Heidi soll anfangen. Dann habe ich mit meiner Vorstellung noch Zeit bis zum Nachtisch.«

Alle lachten. Heidi aber hielt ihren Löffel im Mund, als bringe sie kein Wort heraus. Die Augen aller waren nun auf sie gerichtet.

»Wie heißt ihr denn?«, fragte sie schließlich leise, fast schüchtern. »Seid ihr Zwillingsbrüder?«

»Wir heißen Robin und Kai. Aber Brüder sind wir nicht.« Robin lachte das kleine Mädchen freundschaftlich an. So ein lustiges Kind mit blondem Haar und frechen Ponyfransen hatte er sich immer als Schwesterchen gewünscht. Hier, so schien es ihm, hatte er nun mit einem Schlage alle Sorten von Schwestern und Brüdern bekommen. Ältere und jüngere, stillere und frechere. Das kleine Mädchen schien zu den ganz stillen zu gehören, denn außer der Frage, die es eben gestellt hatte, kam nun nichts mehr aus ihm heraus. Das bemerkte auch Nick. »Du musst weitermachen, Heidi. Du sollst dich vorstellen.«

Unwillkürlich war Nick in einem etwas strengen Tonfall verfallen. Heidi blickte unsicher zu ihm hinüber. Dann legte sie ihren Löffel auf den Teller und erhob sich. Mit der großen Serviette vor dem Bäuchlein wirkte sie kleiner, als sie war.

Alle folgten ihr mit den Augen. Wo wollte sie denn hin?

Da aber fragte Heidi kleinlaut: »Wo soll ich mich denn hinstellen, Nick?«

»Nirgends. Du sollst dich vorstellen.«

»Aber wovor denn?« Ihre Kleinmädchen-Stimme hatte nun etwas Ungeduldiges.

Jetzt begannen die größeren Kinder zu lachen. Auch Nick. Aber er begriff, dass er Heidi Unrecht getan hatte. Sie war noch zu klein, um das Wort ›vorstellen‹ richtig verstehen zu können.

»Ich werde es dir vormachen, Heidi. Du kannst dich ruhig wieder setzen.« Er räusperte sich und begann: »Ich bin Nick, fünfzehn Jahre alt, lebe in Schoeneich, komme oft zu Besuch her, liebe Pferde, Hunde, Fahrräder und …«

»… Pünktchen.« Das war Fabian gewesen, der freche Lausebengel. Als er aber Nicks empörten Blick bemerkte, duckte er sich unwillkürlich und grinste spitzbübisch. Darüber freute sich die große Runde jetzt so lautstark, dass auch Kai und Robin in das Gelächter einfielen. Die Teller der beiden waren bald leer. Und als sich alle Heimbewohner vorgestellt hatten, kam Magda mit zwei großen Schüsseln herein. Darin war das erste Rhabarberkompott des Jahres und eine leckere Schlagsahne. Stolz stellte sie den Nachtisch auf die Tafel.

Magda war mit einem allgemeinen ›Aaaah!‹ begrüßt worden. Es war ganz überflüssig, dass auch sie sich vorstellte. Der süße Duft, der von der Schleckerei ausging, sprach Bände.

*

Einige Wochen waren seitdem vergangen. Über die Großstadt hatte sich ein heißer Sommer gelegt, der die Menschen an ihren Arbeitsplätzen lufthungrig und sonnendurstig machte.

Nach einem anstrengenden Tag kehrte Barbara aus ihrem Betrieb zurück. Sie hatte sich angewöhnt, jeden Abend einen sehnsüchtigen Blick auf den Briefkasten zu werfen, um dort eines der fröhlichen Lebenszeichen von Robin zu entdecken. Nach vielen begeisterten Berichten aus Sophienlust waren Robins Briefe seltener geworden, ohne dass sie etwas von ihrer Herzlichkeit und Anhänglichkeit eingebüßt hatten.

Barbara lächelte, als sie den Briefkasten aufschloss. Robin hatte also doch schon wieder geschrieben. Sie betrachtete die etwas sorglos hingekritzelte Adresse liebevoll und stieg in den Lift.

Ein Brief von Robin hatte in letzter Zeit immer zur Folge, dass Thomas Platen sie anrief. Die beiden Jungen schienen sich immer gemeinsam an ihr Schreibpult zu setzen, um nach Hause zu schreiben. Dadurch kam es gelegentlich zu langen zwanglosen Gesprächen zwischen Kais Vater und ihr.

Barbara betrat ihre stille Wohnung. Sie legte Handtasche und ihr Einkaufsnetz beiseite und öffnete den Briefumschlag. Aber noch während ihre Augen über die Zeilen hinwegglitten, überkam sie eine so große Sehnsucht, dass sich ein Schleier vor ihren Blick legte.

So, als fühle sie sich beobachtet, wischte sie die Tränen verstohlen fort. Robin hatte mit vielen gemalten Herzchen geendet. Doch ganz unten stand ein Satz, der ihr den Atem nahm.

›Hier ist es wunderschön, Mami. Aber hast du mich auch noch lieb?‹

Barbara schluckte. Langsam faltete sie den Briefbogen zusammen, als könnte es ihr wehtun, diesen Schlusssatz noch länger zu betrachten. Sie erhob sich und bereitete ihr Abendessen. Durch die offene Balkontür drang das fröhliche Kreischen spielender Kinder zu ihr. Barbara schloss die Tür. Sie konnte die Stimmen dieser glücklichen jungen Menschen jetzt nicht ertragen. Sie fühlte sich einsam. Ihr Sohn fehlte ihr unsagbar.

Seit Robin fort war, hatte Peter Knoll sie immer wieder enttäuscht. Er nahm nur seinen abendlichen Trunk bei ihr ein und kümmerte sich sonst überhaupt nicht um sie. Sie war nun unglücklicher als je zuvor, wusste aber, dass sie mit keinem darüber sprechen konnte.

Das Telefon klingelte. Barbara eilte über den Korridor. Es konnte nur Thomas Platen sein, der sich erkundigen wollte, ob auch sie einen Brief von Robin erhalten habe.

Aber statt der ruhigen Stimme des Bauunternehmers meldete sich die aufgeregte Stimme Peter Knolls.

»Ich muss dich sofort sprechen, Barbara«, erklärte er. »Du musst mir helfen.«

Einige Minuten später war er schon bei ihr. Er sah müde und abgehetzt aus. Sein blondes Haar klebte an seinen Schläfen, unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab.

»Ich bin in eine geschäftliche Klemme geraten«, erzählte er ihr mit hastigen Worten. »Ich brauche für einige Tage eine größere Summe Geldes …«

Barbaras Liebe zu ihm war geringer geworden. Aus der Leidenschaft, die sie zu diesem charmanten Mann empfunden hatte, war Gleichgültigkeit geworden. Es war nur die Angst vor dem Alleinsein, die sie noch mit ihm verband.

»Handelt es sich um die Motorjacht, Peter?«

Weil sie es so gewohnt war, bot sie ihm Cognac an. Peter kippte drei Gläser hintereinander herunter, bevor er antwortete: »Ja. Ich muss sofort nach Marseille. Ich habe die Jacht zusammen mit einem Geschäftspartner bestellt. In drei Tagen muss die erste Rate auf dem Tisch der Werft liegen, sonst wird das herrliche Schiff an einen anderen Kunden verkauft.«

»Und dein Partner? Wolltet ihr euch nicht den Betrag teilen?«

Peter fuhr sich mit beiden Händen gleichzeitig über sein Haar. Es war eine Geste der Verzweiflung, die sie noch nie bei ihm gesehen hatte.

»Doch, doch«, keuchte er. »Aber nun ist er momentan nicht zahlungsfähig. Wenn ich die Jacht für uns erhalten will, muss ich die Anzahlung ganz allein bestreiten.«

Barbara setzte sich. Zweifelnd sah sie ihn an. »Warum lässt du die Jacht nicht zurückgehen, Peter? Wenn du nicht genug Geld hast, um sie allein zu bezahlen, wäre das doch vernünftig.«

»Vernünftig schon, Barbara. Aber meine Pläne, die ich für dich und Robin gemacht hatte, wären damit auch geplatzt.« Er sah sie an, als erwarte er einen Freudenschrei von ihr. Aber Barbara gab sich kühl, obwohl ihr Herz heftig schlug. Er hatte also doch an sie gedacht. Und nicht nur an sie, sondern auch an Robin.

»Welche Pläne?«, fragte sie zurückhaltend.

Peter Knoll war geschickt. Jetzt plötzlich fiel alle Nervosität von ihm ab. Dafür umschmeichelte ein unschuldiges Lächeln seinen breiten Mund.

»Robin und du, ihr gehört doch dazu. Ich wollte euch in den Ferien auf eine Kreuzfahrt einladen.« Blitzartig verdüsterte sich sein Gesicht. »Aber nun fällt ja wohl alles ins Wasser, außer du …«

Barbara schloss die Augen. Vor ihr stieg ein Bild auf, dessen Schönheit sie erregte. Robin und sie waren auf einer Motorjacht, im herrlichen Sonnenschein des Südens, auf dem blauen Wasser.

»Wann brauchst du das Geld, Peter? Und wie viel?«

Er nannte eine nicht unbeträchtliche Summe, und sie wusste, dass sie einen Kredit aufnehmen musste, um ihm die Summe vorstrecken zu können. Trotzdem sagte sie zu. Als Peter sie kurz darauf verließ, fühlte sie sich nicht einmal durch die Verantwortung belastet. Sie spürte, dass ihr Versprechen sie näher an das Glück heranbrachte. An das Glück mit Robin und Peter.

Barbara setzte sich hin und schrieb einen langen zärtlichen Brief an Robin. Sie vermied es aber, die Sommerpläne zu erwähnen. Dafür berichtete sie ihm mit einfachen einfühlsamen Worten von seinen Fischen, von den Jungen aus seiner Schule, die sie im Schwimmbad gesehen hatte und von dem neuen Fußballplatz, der ganz in der Nähe der Wohnung gebaut worden war.

Es war gegen zehn Uhr, als es klingele und Thomas Platen eintrat. Er sah ebenfalls niedergeschlagen aus. Mit müden Bewegungen ließ er sich auf dem weichen Sofa nieder, als könnte er sich hier endlich ausruhen.

»Meiner Frau geht es nicht gut, Frau Wirthner. Ich kann sie in diesem Zustand nicht allein lassen.« Dabei holte er einen Brief von Kai aus der Tasche seines leichten Sommerjacketts. Sein Gesicht drückte Stolz und Freude aus. »Sie sind sehr glücklich, unsere Jungen«, berichtete er strahlend. »Meine Idee war richtig. Sophienlust hat wieder gesunde, natürliche Kinder aus ihnen gemacht.«

Barbara sah ihn skeptisch an. »Ich verstehe Sie nicht, Herr Platen. Auch ich freue mich über Robins Berichte. Aber warum sagen Sie, Sie können Ihre Frau nicht allein lassen?«

»Weil ich Kai versprochen hatte, ihn vor den Sommerferien zu besuchen.«

»Aber wir haben gerade erst Pfingsten hinter uns, Herr Platen.«

Er sah sie einen Moment lang fast bittend an. Ob sie ihn verstand, wenn er zugab, wie viel Sehnsucht er nach seinem Jungen hatte?

»Es ist noch eine lange Zeit bis dahin, Frau Wirthner. Bitte, besuchen Sie unsere Söhne. Kai wird sich genauso über Ihren Besuch freuen.« Er beugte sich vor und erfasste ihre Hand. »Bitte, wenn Sie es irgendwie einrichten können, dann fahren Sie hin.«

Barbara presste die Lippen aufeinander. Auch sie sehnte sich ja so nach Robin. Ob sie es ihm gestehen sollte?

»Gut«, antwortete sie nach einer Weile. »Ich werde nächstes Wochenende hinfahren, wenn ich alles andere erledigt habe.«

»Alles andere? Haben Sie Probleme, die ich Ihnen abnehmen kann?«

Eine leichte Röte überzog ihr hübsches Gesicht. Sie schüttelte schnell und heftig den Kopf. Nein, sie hatte keine Probleme. Sie brauchte Geld, und das würde sie sich schon beschaffen. Während sie ihn wortlos ansah und gezwungen lächelte, fiel ihr ein, wie schön es wäre, wenn auch Kai die Kreuzfahrt auf der Jacht mitmachen könnte.

»Wann erwartet Ihre Frau das Baby?«, fragte sie.

»In zwei Monaten, Frau Wirthner. In den Ferien hat Kai schon sein Brüderchen.«

Barbara nickte. Ja, wenn Kai sein Brüderchen haben würde, würde sie Robin mit der Fahrt auf dem Mittelmeer überraschen können. Beschwingt schritt sie durch das Zimmer an ihren kleinen alten Sekretär. Dort lag Robins Brief. Sie nahm ihn und las ihn Thomas Platen vor. Nur den letzten Satz, der von Robins Sehnsucht sprach, verschwieg sie ihm. Warum sollte Thomas erfahren, wie sehr Robin an ihr und sie an Robin hing?

*

Denise von Schoenecker trug einen gelben Rock und dazu eine schwarze Bluse. Ihre damenhafte, dennoch schlichte Erscheinung hatte Barbara sofort beeindruckt. Langsam gingen die beiden Frauen auf die Reitställe zu.

»Sie werden sehen«, sagte Denise, »die beiden Jungen sind unzertrennlich. Sogar beim Reiten sind sie beisammen. Nick hat ihnen Reitunterricht gegeben.«

»Reitunterricht?« Barbara sah sie erstaunt an. »Aber davon haben sie gar nichts geschrieben.«

»Oh!« Denise lachte hellauf. Sie legte ihre Hand vor den Mund und machte ein ängstliches Gesicht. »Vielleicht hätte ich das gar nicht verraten dürfen. Sollte es eine Überraschung für Sie werden?«

»Das glaube ich nicht. Eigentlich wollte ja Kais Vater kommen. Für mein kurzes Wochenende ist die Reise hierher viel zu weit …«

Barbara wich Denises Blick aus. Wie sollte sie ihr auch erklären, dass es nicht nur die Entfernung war, die sie von der Fahrt hierher abhielt, sondern in erster Linie Peter Knoll?

Schweigend gingen sie weiter. Von fern war das Wiehern eines Pferdes zu hören. Schwalben umkreisten zwitschernd das Gehöft. Es war ein sonniger Tag, und der Frieden, der über diesem Idyll lag, breitete sich auch in Barbaras Herzen aus.

Ja, sie wusste nun, dass Peter Knoll sie skrupellos betrogen hatte. Er war mit dem Geld, das sie ihm geliehen hatte, spurlos verschwunden. Ihre Nachforschungen hatten außer peinlichen Erkenntnissen über das Leben ihres Freundes keine weiteren Erfolge gebracht.

Barbara biss die Zähne aufeinander und atmete schwer. Keiner sollte wissen, was sie in den letzten Wochen durchgemacht hatte. Keiner, auch Robin nicht. Die Gefahr war zu groß, dass über ihn und Kai auch Thomas Platen von ihrer Blamage erfahren würde.

»Mami!« Aus dem Stall kam Robin. Er blieb stehen, als blende ihn das Sonnenlicht. Aber es war die Überraschung, seine Mutter so völlig unerwartet vor sich zu sehen. Ganz schnell wandte er sich in den Stall zurück und jubelte: »Kai, Nick, kommt einmal, meine Mami ist da!« Dann warf er sich in Barbaras Arme und presste seinen Kopf an ihre schmale Schulter, als habe er diese Zärtlichkeit wirklich viel zu lange vermisst.

Denise betrachtete diese Szene glücklich. »Nicht wahr, Frau Wirthner, aus den Großstadtpflanzen sind richtige Männer geworden?«

Dankbar nickte Barbara ihr zu, während sie immer wieder liebevoll über Robins Haar strich, als müsste sie ihn beruhigen.

Dann aber eilte auch Kai herbei. Er begrüßte Barbara genauso stürmisch, und seine Fragen übertönten Robins Erzählungen, bis Barbara ein Machtwort sprach: »Einer nach dem anderen.«

Denise war in den Stall gegangen, um nach Nick und Henrik zu sehen. Eng umschlungen schlenderte Barbara mit den beiden Jungen auf und ab.

»Wie lange bleibst du, Mami? Musst du heute Abend wieder zurück?«

»Nein, Robin. Ich bleibe über Nacht. Morgen erst heißt es wieder Abschied nehmen.«

Lächelnd schmiegte Robin sich an sie.

»Kai, ich habe dir etwas mitgebracht. Es liegt schon oben in deinem Zimmer.«

Das ließ sich Robins Freund nicht zweimal sagen. »Von meinem Papi?«

»Auch von deiner Mutter, Kai.«

»Sie ist meine Stiefmutter, Frau Wirthner.«

Barbara antwortete nicht. Sie sah ihm wehmütig nach, als er an den anderen Kindern vorbei ins Haus lief, um sein Geschenk auszupacken. Hatte er denn seinen Groll gegen Dinah noch immer nicht überwunden? Konnte er sich wirklich gar nicht auf sein kleines Geschwisterchen freuen?

Barbara fühlte, wie Robins Arm sich fester um ihre schmale Taille schlang. Er genoss es, allein mit ihr zu sein.

»Wie geht es Peter?«, fragte er schließlich. »Trinkt er immer noch so viel, dieser …«

Barbara war stehen geblieben. In ihrem modischen Jeansanzug hätte sie die große Schwester ihres Sohnes sein können. Aber ihre Augen blickten merkwürdig streng. Ganz wie die einer verärgerten Mutter.

»Ich möchte nicht, dass du mich nach Peter fragst, Robin.«

»Warum denn nicht? Er ist doch dein Freund!«

Verzweifelt wandte Barbara den Blick ab. Warum musste Robin diese Fragen stellen? Sie konnte ihm doch nicht die ganze bittere Wahrheit sagen.

Eine schmale hochgeschossene Gestalt kam hinter ihnen hergeeilt. Es war Nick. Er holte sie ein und begrüßte Barbara wie eine alte Freundin.

»Ihr Sohn reitet schon recht gut, Frau Wirthner. Noch einige Stunden – und er macht seine ersten kleinen Sprünge.«

»Robin! Ist das wahr?« Barbara war nicht nur glücklich darüber, dass ihr Sohn so sportlich war. Nicks fröhliche Erzählungen erfreuten sie auch, weil sie sie von den Fragen nach Peter Knoll ablenkten.

Aber das war ein Irrtum. Robin dachte gar nicht daran, lockerzulassen. »Was ist denn nun mit Peter?«, fragte er wieder, ohne auf Nicks Gegenwart Rücksicht zu nehmen. »Liebst du ihn immer noch? Hockt er noch hinter der Cognacflasche?«

»Robin! Ich bitte dich!« Barbara fühlte sich unbehaglich. Ihr Sohn hatte ja völlig recht, aber sie konnte ihm doch nicht gestehen, was geschehen war. Außerdem hinderte sie dieser große nette Junge daran, alles in Ruhe zu erklären. Dieser Nick sandte ihr einen merkwürdig mitleidigen Blick zu und sah dann schnell zum Haus hinüber, als hätte er Robins quälende Fragen gar nicht gehört.

»Aber es interessiert mich doch, Mami!« Robin war jetzt nicht mehr zu beruhigen. »Ich habe dich doch so lange nicht gesehen und möchte gern wissen, was du die ganze Zeit gemacht hast. Willst du Peter Knoll eigentlich heiraten?«

Barbara blieb stehen und blickte ihren Sohn flehentlich an. »Darüber sprechen wir ein andermal, Robin.« Sie zog die Jacke ihres blauen Anzugs aus. Darunter trug sie ein schlichtes weißes T-Shirt, das den rötlichen Ton ihrer duftigen Haare wirkungsvoll zur Geltung brachte.

Nick sah sie bewundernd an, aber er bemerkte auch, dass er in diesem Moment überflüssig war. Robins Fragen an seine Mutter, ihre abweisenden Antworten zeugten von Schwierigkeiten zwischen den beiden, die er gar nicht vermutet hatte. Taktvoll wandte er sich ab, als habe er etwas Eiliges im Stall zu erledigen.

»Bis nachher, beim Abendessen, Frau Wirthner«, verabschiedete er sich flüchtig.

»Bis nachher, Nick.« Sie sah ihm bewundernd nach. Dieser Junge hatte wenigstens ein Gefühl dafür, wie schmerzlich sie Robins Fragen trafen.

Sie umarmte Robin und bat ihn: »Erzähle mir von Sophienlust und zeige mir alles.«

Doch bevor Robin beginnen konnte, sprang Heidi auf sie zu. Sie trug ein hübsches Dirndlkleid und wusste, wie niedlich sie aussah.

»Guck mal, Robin, das Kleid hat Tante Isi mir gekauft.«

Zwischen dem kleinen Mädchen und Robin hatte sich von Anfang an eine besonders dicke Freundschaft entwickelt. So, wie Kai sein Herz an den Hund Barri verloren hatte, so hing Robin mit fürsorglicher Liebe an Heidi Holsten.

»Ist das deine Mami?«, fragte die Kleine und sah Barbara interessiert an.

»Ja, das ist meine Mami.« Robin sprach es stolz aus und fasste die Hand seiner Mutter fester, als habe er Angst, sie ausgerechnet in diesem Moment zu verlieren.

Heidi legte ihr Köpfchen schief und meinte: »Sie hat kein so schönes Dirndl wie ich, aber sie ist auch sehr schön.«

Barbara musste ein Lächeln unterdrücken. Sie wandte sich ab und sah Denise von Schoenecker mit einem kleinen Jungen aus dem Stall heraustreten. Auch sie hatte den Arm um das Kind gelegt und unterhielt sich mit ihm.

»Wer ist denn der nette Junge?«, erkundigte Barbara sich.

»Das ist Henrik von Schoenecker, Mami. Nicks Halbbruder. Er kommt oft her, wenn wir reiten, und ist genauso nett wie die Kinder von Sophienlust.«

Barbara schaute lange hinüber. Es war ein schönes Bild, das sich ihr bot. Mutter und Sohn gingen einträchtig ­nebeneinander her. Man merkte, dass es zwischen ihnen keine Heimlichkeiten oder Probleme gab. Denise von Schoen­ecker war ja auch glücklich verheiratet …

»Tante Isi ist schön, nicht wahr?« Heidi sah auffordernd Barbara an.

»Ja, Heidi, Denise von Schoenecker ist wunderschön.« Barbaras Blick hing voller Bewunderung an dieser damenhaften Erscheinung mit den dunklen Haaren und dem edlen gütigen Gesicht. Das Gelb des schwingenden Rockes leuchtete in der Sonne.

»Ich werde mich zum Abendessen umziehen, Robin«, beschloss Barbara. Sie hatte sich nach der entsetzlichen Erfahrung mit Peter Knoll gehen lassen. Das wusste sie. Aber trotzdem hatte sie eines ihrer wunderschönen Kleider mitgebracht, die Robin so gefielen.

»O ja, Mami, mach dich ganz schön!« Robin blinzelte sie an wie ein kleiner Kavalier. »Ich bringe dich auch in dein Zimmer.«

Er tat es und verließ dann diskret den Raum, als Barbara sich anschickte, sich umzukleiden. Robin wollte zu Kai und sich das Mitbringsel anschauen. Aber als er das Zimmer betrat, hockte Nick auf seinem Bett, sah ihn strafend an und sagte: »Du nervst deine Mutter ja ganz schön, Robin. Ich finde es nicht sehr nett, wie du sie ausfragst.«

»Ph!« Robin trat vor den Spiegel und fuhr sich mit seinem Taschenkamm durch das volle Haar. Das war die einzige Vorbereitung, die er zum Abendessen traf. Darin unterschied er sich nicht von den anderen Jungen seines Alters.

»Schließlich ist deine Mutter eine sehr junge patente Frau. Sie hat ein Recht auf ihr Privatleben. Irgendwann einmal wird sie doch heiraten«, begann Nick von Neuem. »Sie wird schon wissen, welchen Mann sie auswählt. Warum stellst du so böse Fragen, wenn sie dich besucht? Findest du das nett?«

Über den Spiegel hinweg trafen sich Robins und Kais Blicke. Zwischen ihnen war das Geheimnis über Peter Knoll zu einem festen Freundschaftsbund geworden. Keiner durfte davon erfahren. Auch Nick nicht, den sie so bewunderten.

»Meine Mutter hat ja auch zum zweiten Mal geheiratet«, fuhr der Fünfzehnjährige unbeirrt fort. »Da habe ich mich auch nicht eingemischt. Und mein Vater ist der beste Vater der Welt. Ich habe immer Vertrauen zu meiner Mutter gehabt.«

»Vertrauen!« Robin sprach es voller Bitterkeit aus. Nick ahnte ja nicht, wie sehr er seine Mutter liebte, wie es ihn quälte, dass sie sich mit diesem schrecklichen Menschen abgab.

»Ich werde sie nach dem Abendessen doch wieder fragen«, kündigte er trotzig an.

Das gefiel Nick überhaupt nicht. Die zarte Frau mit dem rötlichen Haar hatte ihm direkt leid getan, als sie Robins unangenehme Neugier über sich hatte ergehen lassen müssen. Er erhob sich und schimpfte: »Du bist richtig blöd, Robin. Aus dir spricht nichts als kleinliche Eifersucht. Später, wenn du groß bist, wird es dir einmal leidtun, dass du durch dein dämliches Verhalten das ­Lebensglück deiner Mutter zerstört hast.«

»Was geht dich das eigentlich an?« In Robins Augen glitzerten Tränen der Wut. »Kümmere dich doch um deine eigenen Angelegenheiten!«

Die Tür knallte, Robin hatte das Zimmer verlassen. Verblüfft starrte Nick ihm nach.

Kai hatte sich bis jetzt sehr intensiv mit dem Paket befasst, das Barbara ihm von seinem Vater mitgebracht hatte. Nun aber sah er den größeren Jungen an, als habe er schon lange auf eine Chance gewartet, Robin in Schutz nehmen zu können.

»Das mit Robin und Peter Knoll ist etwas ganz anderes, Nick«, erklärte er mit wichtiger Miene. »Was sich da abgespielt hat, verstehst du gar nicht. Schließlich leben wir in einer Großstadt. Da geschehen Dinge, die du dir nicht erträumst. Hier passiert ja nicht viel, aber bei uns …, huiii!« Er wedelte mit der Hand durch die Luft und zog die Augenbrauen hoch, um Nick den Geschmack des vermeintlich aufregenden Großstadtlebens hautnah zu vermitteln.

»Du spinnst ja!« Nick sprach es von oben herab aus, als habe er ein kleines Kind vor sich.

»Ich spinne überhaupt nicht!«, fuhr Kai auf. Und dann vergaß er alle seine guten Vorsätze und erzählte Nick von der aufregenden Nacht, in der er Peter Knoll zusammen mit Robin beobachtet hatte.

Nick glaubte ihm kein Wort. Die Geschichte hörte sich wirklich zu unmöglich an, und Barbara Wirthner machte so gar nicht den Eindruck eines Gangsterliebchens.

»Du spinnst«, wiederholte Nick verächtlich. »Oder du hast zu viele Krimis gelesen.«

Nick verließ kopfschüttelnd das Zimmer der beiden Jungen. Er hatte nicht einmal Lust, Robin nach dem Wahrheitsgehalt dieser Räubergeschichte zu fragen. Kai schwindelte eben ein bisschen, um ihm, dem Größeren, zu imponieren. Das taten alle mal. Es war kein Grund zur Beunruhigung.

*

Denise hielt ein Schreiben in der Hand und blickte vom Fenster des Biedermeierzimmers hinaus in den Park. Ihre Augen glänzten feucht, ihre Lippen bebten. Warum war immer sie es, die den Kindern so schreckliche erschütternde Mitteilungen machen musste? War es die Quittung dafür, dass sie so viele schöne Augenblicke beim Anblick der glücklichen Kinder auf Sophienlust erleben durfte?

Frau Rennert trat ein. »Sie haben mich rufen lassen, Frau von Schoenecker?«

Denise nickte. »Ja, Frau Rennert. Bitte, rufen Sie Kai Platen zu mir. Und bleiben Sie hier, wenn er kommt. Ich muss ihm eine entsetzliche Nachricht vermitteln …« Ihre Stimme zitterte.

Denise hatte Dinah Platen nicht kennengelernt, aber es tat ihr unsagbar weh, dass die noch so junge Frau einem ­Autounfall zum Opfer gefallen war. Kai hatte schon seine richtige Mutter verloren, und nun war auch seine Stiefmutter tot.

Wenige Augenblicke später stand Kai vor ihr. Strahlend sah er sie an. Es konnte seiner Ansicht nach nur eine angenehme Nachricht sein, die sie ihm ausrichten wollte. Bestimmt hatte sein Vater nun doch noch seinen Besuch angekündigt.

Denise setzte sich mit Kai und Frau Rennert auf das gemütliche Biedermeiersofa. Außer dem Schreiben Thomas Platens an sie hielt sie einen weiteren Umschlag in der Hand. Er war von Kais Vater direkt an seinen Sohn adressiert.

»Wir haben eine traurige Nachricht für dich, Kai. Deine Mutter …«

»Meine Stiefmutter«, verbesserte Kai unerbittlich. Ihm war dabei keine Furcht anzumerken.

»… deine Stiefmutter ist bei einer Autofahrt tödlich verunglückt, Kai.«

Ein bedrückendes Schweigen breitete sich aus. Denise ergriff Kais Hand und presste sie tröstend.

Kai blickte verstört auf das Muster des Teppichs. »Mein armer Papi«, sagte er schließlich und fast verärgert. »Mein armer Papi. Warum musste Dinah auch immer so verrückt fahren? Jetzt ist er wieder ganz allein.«

Frau Rennert und Denise sahen sich an. Kais kühle Reaktion wunderte sie. Der Tod Dinah Platens schien ihn gar nicht zu berühren. Trotzdem empfand Denise eine tiefgreifende Zärtlichkeit für den Jungen. Das Mitleid, das er für seinen Vater empfand, zeugte von einer innigen Verbundenheit mit ihm.

»Mein armer Papi«, wiederholte Kai nun. Dann rieb er sich die Augen mit beiden Händen und schluchzte plötzlich auf. »Nun ist er ganz allein, mein Papi. Nun ist er schon wieder allein. Meine richtige Mutti …«

»Kai, lieber guter Kai.« Denise umfasste ihn und schmiegte ihr Gesicht an seinen Kopf. »Ich weiß, was du nun empfindest. Ich würde dich auch gern trösten. Vielleicht beruhigt es dich zu wissen, dass dein Papi nicht ganz allein ist. Du hast ein Schwesterchen bekommen.«

Kai hob den Kopf. Seine Augen waren rot unterlaufen. »Ein Schwesterchen? Wieso? Von wem?«

»Von deiner Mutter …, von deiner Stiefmutter«, verbesserte Denise sich schnell, bevor Kai es wieder auf seine trotzige Art tun konnte. »Die Ärzte konnten das ungeborene Kind retten. Aber es ist noch sehr klein. Man weiß noch nicht, ob es durchkommt.«

Kais Lippen bebten. Mit einer ungeschickten Bewegung rang er die Hände. Auf einmal lächelte er mit feuchten Augen. Es war ein Augenblick, der Denise und Frau Rennert unsagbar naheging. So vieles hatten sie schon gemeinsam erlebt, aber dies hier war auf eine rührende Art und Weise zutiefst bewegend.

»Ich habe ein Schwesterchen«, flüsterte Kai. »Ein richtiges Schwesterchen. So eine wie Heidi. Da wird Robin aber staunen.«

»Wir wollen beten, dass dein Schwesterchen am Leben bleibt, Kai.« Es war Else Rennert, die das sagte.

Überrascht, als habe er noch gar nicht begriffen, dass sein Schwesterchen in Lebensgefahr schwebte, sah Kai zu ihr auf. »Natürlich bleibt sie am Leben, Frau Rennert«, betonte er voller Überzeugungskraft. »Das geht doch gar nicht, dass sie auch noch stirbt. Das wäre doch eine ganz gemeine Ungerechtigkeit. Erst stirbt meine Mutti, dann Dinah und dann noch meine Schwester. Nein, das geht nicht. Das darf nicht sein.« Auf seiner Stirn bildeten sich feine Schweißperlen. Sein rundliches Gesicht drückte plötzlich eine namenlose Angst aus. »Sie darf nicht sterben. Papi ist doch ein so lieber Mensch. Warum soll er denn immer allein sein?« Nun kullerten doch einige Tränen an seinen Wangen abwärts. Diesmal bemühte er sich nicht, sie vor den beiden Damen zu verbergen.

»Die Ärzte werden alles für das Baby tun«, versuchte Denise ihn zu beruhigen.

Aber Kai schüttelte den Kopf, als misstraue er den Künsten der Mediziner. »Ich will sofort zu meinem Vater«, verkündete er entschlossen und erhob sich, als warte draußen bereits der Wagen auf ihn.

Mit dem ihr eigenen Einfühlungsvermögen hielt Denise den Jungen liebevoll zurück. In dem Brief, den sie von Thomas Platen erhalten hatte, bat er sie, Kai weiterhin bei sich zu behalten, um ihm die Eindrücke einer Bestattung zu ersparen.

»Dein Vater hat dir selbst geschrieben, Kai.« Sie reichte ihm den zweiten Umschlag. »Lies den Brief, bevor du einen Entschluss fasst. Er wird dir alles erklären.«

Kai fasste nach dem Brief und ließ sich wieder auf dem Sofa nieder. Ungeschickt riss er schnell den Umschlag auf und überflog dann die Zeilen seines Vaters.

Mit klopfendem Herzen beobachtete Denise, dass Kai die Lippen aufeinanderpresste und einzelne Tränen auf das Schreiben fielen. Dann ließ er sich vornübersinken und begann hemmungslos zu weinen.

Sofort war Denise wieder bei ihm. »Willst du mir erzählen, was dein Vater schreibt, Kai? Wird es dir helfen, darüber zu sprechen?«

Er nickte stumm. Sein Atem ging unruhig. Auf leisen Sohlen verließ Else Rennert das Zimmer. Nun war Kai mit Denise allein und begann zu sprechen: »Er muss jetzt immer im Krankenhaus sein, bei meiner Schwester. Später will er eine Pflegerin für das Baby suchen. Er hat große Sehnsucht nach mir, aber ich soll noch hierbleiben.«

»Ja, Kai. Es wird am vernünftigsten sein. Sobald es dem kleinen Mädchen besser geht und dein Vater jemanden für die Pflege des Kindes gefunden hat, wird er dich bestimmt gleich besuchen.«

»Ja, das schreibt er auch.« Kai atmete jetzt heftig ein und aus, als könnte er damit seinen Kummer vielleicht abstoßen.

Frau Rennert kam zurück. Sie brachte ein großes Glas Zitronenlimonade. Sie wusste, dass Kai dieses köstliche Getränk über alles liebte. Wortlos stellte sie es vor ihn hin.

Leise klirrten die Eiswürfel. Kai blickte die Heimleiterin voller Dankbarkeit an. Dann ergriff er das Glas und trank einen großen Schluck.

»Sie heißt Susanne«, sagte er danach leise. Ein zartes Lächeln ließ sein bubenhaftes Gesicht wieder aufleuchten. »Sie heißt Susanne, und Papi schreibt, es ist ein Wunder, dass sie lebt.«

Denise fuhr ihm übers Haar und nickte wortlos.

»Finden Sie, dass Susanne ein schöner Name für meine Schwester ist, Frau Rennert?«

»Ja, Kai.«

»Ich auch.«

Obwohl Kais Augen noch verschwollen und verweint aussahen, strahlte nun wieder so etwas wie Daseinsfreude aus ihnen. Denise und Frau Rennert blickten sich an. Sie würden nicht so schnell vergessen, was sich an diesem Sommernachmittag hier abgespielt hatte.

*

In dem schwarzen Kleid aus fließender Seide wirkte Barbara noch schmaler als sonst. Ihr Gesicht war blass, das rote Haar darüber schien wie eine Flamme zu lodern, denn die Sonne brannte erbarmungslos auf die Ansammlung von dunkel gekleideten Menschen herab.

Die Begräbnisfeierlichkeiten für Dinah Platen gingen ihrem Ende zu. Die nächsten Verwandten und Freunde von Thomas Platen hatten bereits ihr Schäufelchen Erde auf den Sarg geworfen. Nun folgten einige sehr große schlanke Damen, die alle ausnehmend elegant gekleidet waren. Es waren die Kolleginnen von Dinah, die ihr die letzte Ehre erwiesen.

Barbara stand hinter ihnen. Auch sie wollte an dem Grabe vorbeigehen und der jungen Frau, die sie selbst dann noch bewundert hatte, wenn ihr das Verständnis für die Launen des ehemaligen Mannequins gefehlt hatte, einen kleinen Strauß weißer Rosen auf die letzte Ruhestätte legen.

Aber nun plötzlich konnte sie sich nicht überwinden, vor das Grab zu treten, Thomas Platen in die Augen zu schauen und ihm die Hand zu reichen. Eine merkwürdige Scheu überkam sie. Sie ließ die nachrückende Trauergemeinde an sich vorübergehen und blickte starr auf den großen Mann, der dort gebeugten Hauptes an dem Grab seiner zweiten Frau stand. Die grauen Strähnen in seinem Haar schienen sich in den letzten Tagen verdoppelt zu haben.

Barbara ergriff ein unsagbares Mitgefühl mit ihm. Dinah Platen hatte ihn zuletzt geradezu tyrannisiert. Der jungen schönen Frau war die ganz normale Schwangerschaft zur Qual geworden. Sie hatte einzig und allein ihrem Mann die Schuld an der Deformierung ihres eleganten Körpers gegeben. Warum hatte sie sich nicht auf das Kind freuen können? Hatte sie wirklich nicht für einige Monate das Opfer bringen können, einen runden Bauch vor sich herzuschieben und stolz die Blicke der anderen hinzunehmen? Musste es nicht wunderbar sein, ein Kind zu erwarten, auf das der Vater sich freute?

Barbara wusste nicht, was sie davon abhielt, auf Thomas zuzugehen. Sie entschloss sich, hinter einem Baum zu warten, bis sich die Ansammlung zerstreute. Dann wollte sie ihren Strauß auf Dinahs Grab tragen.

Barbara wollte sich gerade abwenden, als Thomas Platen seinen Kopf hob und ihr mit einem merkwürdig bittenden Ausdruck in die Augen sah. Barbara erwiderte seinen Blick. Dann aber drehte sie sich abrupt um und verschwand zwischen den schwarzgekleideten Menschen. Sie ahnte, dass Thomas mit ihr sprechen wollte. Für Kai gab es nun keinen Grund mehr, länger in Sophienlust zu bleiben. Bedeutete das nicht, dass sie nun auch Robin heimholen konnte?

Barbara schritt langsam nach Hause. Mit ihrem dunklen Kleid wirkte sie auf der Straße wie verloren. Erschöpft von der Hitze betrat sie ihre Wohnung und kleidete sich um. Sie war gerade im Begriff, an Robin einen längeren Brief zu schreiben, in dem sie ihm erklären wollte, warum es für ihn nötig sei, noch einige Zeit in Sophienlust zu bleiben, als das Telefon klingelte.

Es war ihr Chef. Er wusste, dass sie sich freigenommen hatte, um zu einer Beerdigung zu gehen. Trotzdem musste er dringend mit ihr sprechen.

Barbara nickte und presste den Hörer des Telefons fest an ihr Ohr, aus Angst, etwas von seinem Angebot könnte unklar bleiben. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich eine triumphierende Freude ab. Das Lächeln auf ihren Lippen wurde immer stärker.

»Natürlich mache ich das, Herr Tromann«, sagte sie. »Auf diese Chance habe ich schon lange gewartet. Wann soll es losgehen?«

*

Kai und Robin waren auf einen hohen Baum geklettert. Von hier aus hatten sie einen wunderbaren Ausblick auf das Herrenhaus, die Stallungen und den Park.

»Wenn ich noch höher steige, kann ich vielleicht bis nach Schoeneich gucken«, überlegte Robin laut. Er hockte ein paar Äste höher als Kai und war auch wendiger. Bei solchen Unternehmungen machte es sich bezahlt, dass er einige Pfunde weniger wog.

Kai gluckste vor Lachen. »Du willst doch nur Ausschau halten, damit du den Briefträger rechtzeitig entdeckst, Robin.«

Der Freund schüttelte den Kopf. »Meine Mami ist bestimmt noch in Paris. Ich habe doch erst vorgestern die tolle Karte mit dem Eiffelturm bekommen. Sie kann noch gar nicht wieder geschrieben haben.«

»Mein Papi schreibt ja jetzt ziemlich viel«, gab Kai bewundernd zu. »Man merkt so richtig, dass er mich braucht.«

Von oben sah Robin auf ihn herab, als wollte er ihm am liebsten auf den Kopf spucken. »Meine Mami braucht mich auch«, betonte er. »Aber als Chefdirektrice hat sie natürlich viel mehr zu tun als früher. Und dann hat sie auch Angst, dass wir wieder Unsinn machen, wenn wir zu Hause sind.«

»So, wie mein Vater mich braucht, braucht sie dich aber nicht«, widersprach Kai und schob seinen Kaugummi von der einen Seite zur anderen. »Sie hat ja noch Peter Knoll.« Er warf einen Blick zu Robin empor, aus dem die Furcht sprach, er könnte seinen besten Freund verletzt haben.

Robin nahm das jedoch nicht tragisch. »Lass mich nur erst zu Hause sein«, verkündete er mit einem wild entschlossenen Gesicht. »Dann werde ich ihr schon erzählen, was Peter Knoll für ein Schurke ist.«

»Hm. Meinst du denn, sie hat es noch nicht gemerkt?«

»Als sie uns hier besuchte, habe ich sie nicht mehr danach gefragt, weil Nick es so blöd von mir fand.«

»Nick spinnt eben auch manchmal.« Kai sagte das mit der phlegmatischen Ruhe, die zuweilen von ihm ausging. Dann machte er Robin auf eine Amsel aufmerksam, die sie zu beobachten schien. Die beiden Jungen lachten. Erst als Heidi in den Park lief und zum Nachmittagskaffee rief, stiegen sie von ihrem Baum herunter. Magdas Erbeerkuchen lockte mehr als die Aussicht auf einen Briefträger, der vielleicht doch nichts brachte, weil er schon am Morgen eine Fuhre Post in Sophienlust abgegeben hatte.

Heidi sprang ungeduldig um den dicken Buchenstamm herum, bis die beiden Jungen schließlich unten landeten. »Was habt ihr da oben gemacht?«, fragte sie neugierig. »Doch nicht etwa Vogelnester gesucht und die Eier gegessen?«

Kai und Robin hielten sich den Bauch vor Lachen.

»Die Jungen sind schon längst geschlüpft, Heidi. Und außerdem tun wir so etwas nicht.« Kai erklärte es mit Nachdruck.

»Mögt ihr denn keine Eier?«

»Doch. Aber keine rohen halb angebrüteten Vogeleier.« Robin schüttelte sich bei der Vorstellung vor Ekel.

Heidi sah ihn begeistert an. »Schüttel dich noch einmal, Robin. Du siehst dann aus wie eine Vogelscheuche …«

»Nein, Heidi.« Robin war ernst geworden. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sah Kai fragend an. »Wann schreibst du deinem Vater, Kai?«

Der Freund hob die Schultern und blickte betont sorglos zum Himmel empor. »Vielleicht morgen.«

»Dann bitte ihn doch, meine Mutter und Peter Knoll einzuladen.«

»Wie bitte?« Kai sah Robin verständnislos an.

Aber Robin meinte es ernst. »Jetzt, wo deine kleine Schwester zu Hause ist und dein Vater eine gute Pflegerin hat, würde er seine Tochter doch bestimmt gern meiner Mutter vorführen, nicht wahr?«

»Das weiß ich nicht, Robin. Er ist sehr stolz auf Susanne. Aber sie ist doch keine Schaufensterpuppe.«

»Das weiß ich auch. Ich will ja nur, dass dein Vater einmal sieht, wie dumm Peter ist. Und dann kann meine Mami auch einmal Vergleiche ziehen zwischen einem netten und einem weniger netten Mann.«

»Ach, so meinst du das?« Kai bewunderte nun Robins Idee. Über sein Gesicht zog sich ein breites Lachen. »Klar. Dann schreibe ich ihm, er soll deiner Mutter und ihrem Freund doch einmal Susanne zeigen.« Er schlug Robin vor Begeisterung auf die Schulter. »Schließlich sind sie ja so gute Bekannte!«

Die beiden Jungen steckten die Köpfe zusammen und tuschelten.

»Was habt ihr denn wieder für Geheimnisse?«, wollte Heidi wissen.

»Wir haben keine Geheimnisse, Heidi.« Kai fasste sie an der Hand und lief mit ihr die Freitreppe hoch.

»Doch, Kai, wir haben ein Geheimnis. Vergiss das nicht.«

Kai blieb oben auf der Treppe stehen und sah zu Robin zurück, der ihm das nachgerufen hatte. Eine tiefe Röte überzog sein Gesicht. Ja, sie hatten ein Geheimnis. Das Geheimnis jener Nacht, in der sie die wahre Tätigkeit Peter Knolls entdeckt hatten. Aber eben dieses Geheimnis hatte er, Kai, verraten. Zwar nur an Nick, und der konnte schweigen wie ein Grab. Trotzdem schämte sich Kai zu sehr, um Robin gestehen zu können, dass noch ein Dritter davon wusste. Er konnte nur hoffen, dass sein Verrat niemals herauskam, sonst würde die tiefe Freundschaft zwischen ihm und Robin zerbrechen. Und davor fürchtete er sich wirklich.

Kai nickte Robin zu, der nun auch die Freitreppe erreicht hatte. Dann eilten sie zu der großen Kaffeetafel.

Denise war auch anwesend. Wie immer war das für die Kinder ein Festtag, denn Nicks Mutter verstand es sehr gut, auf die Kinder einzugehen.

Kaum hatten Kai und Robin sich gesetzt, trat Magda ein. Hinter ihr schritt Ulla. Beide trugen in jeder Hand eine Erdbeertorte, die mit kleinen Schlagsahnetupfen verziert war.

»Das sind die letzten Erdbeeren dieses Jahres«, verkündete die rundliche Köchin. »Ihr müsst sie richtig genießen.«

Das allgemeine ›Aaah!‹ der Kinder übertönte ihren letzten Satz. Aber er war sowieso überflüssig gewesen. Bei diesen Prachtwerken ihrer Backkunst bedurfte es keiner Aufforderung, die Schleckerei besonders zu genießen.

Als alle ein Stück Torte auf ihrem Teller hatten, und Ulla die Tassen mit Kakao gefüllt hatte, herrschte für einige Minuten ein genießerisches Schweigen.

Denise blickte sich um. Jedes der Kinder machte einen hochzufriedenen Eindruck, und das beglückte sie. Auch Kai schien keine Sorgen zu haben. Sorgsam verteilte er ein Schlagsahnehäufchen kunstvoll über seinem Stück Torte.

»Wie geht es Susanne?«, fragte Denise ihn.

Kai legte sofort seine Kuchengabel beiseite und holte aus der Tasche seiner Lederhose ein Foto hervor. Es war reichlich zerknittert vom vielen stolzen Herumzeigen, aber das winzige Baby war noch gut zu erkennen.

»Susanne hat schon reichlich viele Falten«, sagte Robin trocken und deutete mit vollem Mund auf das ramponierte Bild.

Alle lachten, besonders Heidi. Denise aber erwiderte: »Keine Angst! Bis ihr beiden Schlingel wieder zu Hause seid, werden sich die Falten schon geglättet haben.«

»Ich fahre ja nicht nach Hause, Tante Isi. Nur Kai darf in einigen Wochen zurück. Aber das stört mich gar nicht«, prahlte Robin nach Jungenart. »Hier gefällt es mir ja prima.«

Denises Herz krampfte sich zusammen. Sie hatte unbewusst einen Fehler begangen, indem sie von der Rückkehr der Jungen gesprochen hatte. Barbara hatte in ihrem letzten Brief gebeten, Robin noch eine Zeit lang auf Sophienlust zu behalten, auch dann, wenn Kai zu seinem Vater zurückkehren sollte. Sie habe nun die Stellung einer Chefdirektrice übernommen und müsse sehr viel reisen.

Es war jedoch zwischen den Zeilen zu lesen gewesen, wie schwer Robins Mutter dieser Entschluss gefallen war. Denise wusste, dass sie eine gute Mutter war. Sie ahnte, dass es auch noch andere Gründe geben musste, die Barbara davon abhielten, ihren Sohn heimzuholen. Vielleicht hatte sie Heiratspläne, von denen Robin nichts wissen sollte? Sie war ja noch jung und eine sehr attraktive Erscheinung.

Denise wandte sich nun Fabian zu und fragte ihn nach den Erlebnissen des Tages, aber in Gedanken war sie immer noch bei Robin, der so ganz ohne Vater aufgewachsen war und sich bestimmt einer klugen männlichen Hand fügen würde.

*

Als Barbara aus Paris zurückkehrte, fand sie einen kurzen Brief von Thomas Platen vor. Darin bat er sie, an einem der nächsten Abende zu ihm zu kommen.

Barbara las den Brief dreimal. Sie traute ihren Augen kaum. ›Sie würden mir eine große Freude machen‹, lautete der letzte Satz, ›wenn Sie Ihren Bekannten, Herrn Knoll, mitbrächten.‹

Barbara musste sich hinsetzen. Ihre Knie zitterten. Was wusste Thomas Platen denn von Peter Knoll? Und warum wollte er ihn sehen? Sie durchforschte ihr Gedächtnis, fand aber keine Anhaltspunkte dafür, dass außer ihr irgendjemand von der Blamage wusste, die Peter Knoll ihr zugefügt hatte. Es konnte nur so sein, dass Robin dahintersteckte. Dann glaubte ihr Sohn also noch immer, dass sie Peter Knoll liebte und mit ihm beisammen sei.

Barbara biss sich auf die Lippen. Dann eilte sie über ihre noch immer unausgepackten Koffer hinweg zum Telefon und rief Thomas an, um ihm zu sagen, dass sie gleich an diesem Abend käme, um seine kleine Tochter zu sehen. Von Peter Knoll sagte sie keinen Ton.

Nachdem Barbara geduscht, ihre Koffer ausgepackt und sich umgezogen hatte, machte sie sich auf den Weg. Sie hatte eines ihrer ganz neuen Kleider angezogen. Es war modisch so perfekt und von so ausgeklügelter Eleganz, dass sie damit ohne weiteres Dinah Platen hätte Konkurrenz machen können. Doch plötzlich schämte sie sich. Niemals hätte sie versucht, Dinah auszustechen. Sie wusste ja, wie sehr Thomas seine Frau geliebt hatte und ihr nachtrauerte.

Kurz entschlossen kehrte Barbara in die Wohnung zurück und wählte ein schlichtes Blüschen zu einem einfachen Rock. Wenn sie sich schon von Thomas Platen angezogen fühlte, so sollte er doch niemals erfahren, wie sehr sie ihn mochte.

»Sie sind allein?« Über das Gesicht Thomas Platens huschte so etwas wie ein erleichtertes Lächeln.

»Herr Knoll ist verreist«, log Barbara.

»Sehr lange oder nur heute?«

Barbara folgte Thomas ins Haus, ohne zu antworten. Von der großen Treppe herunter kam eine ältere, mütterlich aussehende Frau. In ihrem rundlichen Gesicht bildeten sich zwei lustige Grübchen, als sie Barbara freundlich begrüßte.

»Frau Stubenweis«, stellte Thomas vor. »Sie ist die Perle, die meiner kleinen Susanne die Mutter ersetzt.«

»Ich habe schon viel von Ihrem Sohn gehört, Frau Wirthner«, sagte Frau Stubenweis. »Kai und er sind wohl die dicksten Freunde?«

»Sie sind so dicke Freunde, dass man sie in Sophienlust kaum trennen kann«, antwortete Thomas. Dann führte er Barbara in das kleine helle Zimmer neben seinem Schlafzimmer, das früher das Boudoir seiner Frau gewesen war, nun aber als Babyzimmer diente.

In einer alten Bauernwiege lag Susanne. Mit klopfendem Herzen beugte Barbara sich herab, um das Baby genauer betrachten zu können. Dunkle dichte Wimpern säumten die geschlossenen Augen, ein zarter hellblonder Flaum bedeckte das kleine runde Köpfchen.

Barbara stellte überrascht fest, dass der Anblick dieses kleinen Wesens plötzlich alle Bitterkeit der letzten Wochen in ihr verschwinden ließ. Zaghaft strich sie mit dem Finger über eines der rosigen Fäustchen.

»Sie sieht Dinah sehr ähnlich«, flüsterte Thomas. »Sie hat die ganze Schönheit ihrer Mutter geerbt.«

Barbara konnte nicht antworten. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Wenn Dinah Platen dieses Kind gesehen hätte, ob sie dann immer noch so unglücklich über ihren Zustand gewesen wäre?

Ein heftiger Schmerz durchzuckte Barbara. Was würde sie dafür geben, dieses wonnige Baby wie eine Mutter im Arm halten zu dürfen? Wie gern hätte sie selbst noch ein Kind bekommen. Ein Kind, auf das sich ein Mann gefreut hätte.

Thomas Platen schien ihre Gedanken zu erahnen. »Kommen Sie, Barbara«, sagte er mit heiserer Stimme. »Unten wartet eine gute Flasche Wein auf uns. Ich bin sehr froh, dass Sie zu mir gekommen sind.«

Als sie dann in dem großen Wohnraum saßen und Hedwig Stubenweis sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, blickte Barbara ihren Gastgeber zum ersten Mal länger an. Thomas Platen hatte sich verändert. Er war ruhiger und entspannter geworden. Die Trauer um den Tod seiner Frau schien durch den Stolz auf seine kleine Tochter ausgeglichen worden zu sein. Aber er war auch älter geworden. Eine dunkle Hornbrille ließ sein Gesicht schmaler wirken, und zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln hatten sich zwei tiefe Falten eingegraben.

Thomas goss Barbara Wein ein und lehnte sich zurück. Durch die Gläser seiner Brille blickten seine klugen Augen sie aufmerksam an.

»Es gibt nun für mich keinen Grund mehr, Barbara, Kai weiterhin in Sophienlust zu lassen«, begann er, jedes Wort bedächtig aussprechend.

Barbara lauschte ihm mit äußerster Anspannung. Ihr war nicht entgangen, dass er sie schon zum zweiten Mal bei ihrem Vornamen genannt hatte. Während sie das Glas zu ihrem Mund führte, zitterte ihre Hand. Sie hoffte, dass er es nicht bemerken würde. Was geschah bloß mit ihr in seiner Gegenwart? Vergaß sie denn ganz, dass er erst seit Kurzem Witwer war? Konnte sie von einem Mann, der noch vor einem Monat voller Liebe an seiner Frau gehangen hatte, so verwirrt werden?

Während er weitersprach, senkte Barbara ihren Blick. Sie hob ihn erst wieder, als er fragte, ob es nicht auch ihr möglich sei, Robin wieder zu sich zu nehmen.

»Nein«, antwortete sie bestimmt. »Es geht nicht. Ich habe meine Position in unserem Betrieb sehr verbessert. Ich bin ständig auf Reisen.«

Lange sah er sie an. »Soll das heißen, dass Robin für immer in Sophienlust bleiben soll? Haben Sie keine Sehnsucht nach Ihrem Kind? Geht Ihnen die Karriere vor Ihr Mutterglück?«

»Nein, Herr Platen«, antwortete sie etwas energischer. »Aber ich muss schließlich Geld verdienen.«

Er stellte sein Glas ab und sah sie merkwürdig lächelnd an.

»Dann sollten Sie heiraten, damit Sie sich die Aufsicht über Robin mit Ihrem Mann teilen können. Aber«, fügte er fragend hinzu, »Herr Knoll scheint auch sehr viel unterwegs zu sein, nicht wahr?«

Barbara zwang sich zu einem Lächeln. »Genauso ist es«, log sie und versuchte seinem Blick auszuweichen.

»Wenn er einmal für längere Zeit in unserer Stadt ist, würde ich ihn gern kennenlernen, Frau Wirthner. Robin hat mir viel von ihm erzählt.«

Barbara bebte innerlich. Es war nicht nur deswegen, weil Thomas sie eben wieder bei ihrem Nachnamen genannt und damit eine gewisse Distanz zwischen ihnen geschaffen hatte. Sie fühlte sich auch in eine Sackgasse geraten, aus der es kein Zurück mehr gab. Sie konnte Kais Vater doch nicht anvertrauen, welchem üblen Gaunertrick sie aufgesessen war, dass Peter sie um einen großen Geldbetrag erleichtert hatte, dass sie eigentlich Anzeige bei der Polizei gegen ihn hätte erstatten müssen.

Barbara erhob sich, obwohl sie ihr Glas noch nicht ausgetrunken hatte. »Ich bin müde, Herr Platen, da ich erst heute aus Paris zurückgekehrt bin.«

Er stand vor ihr und blickte sie unendlich traurig an.

»Ich weiß«, entgegnete er ernst, »es ist nicht leicht, einer anstrengenden Tätigkeit nachzugehen. Wenn man dann erschöpft nach Hause kommt, fühlt man sich doppelt allein.«

Schweigend schritten sie zur Haustür.

»Ich werde Sie nach Hause geleiten, Barbara.«

»Nein, danke, ich gehe lieber allein.« Sie nickte ihm flüchtig zu und trat in die Dämmerung des Sommerabends hinaus.

Barbara hatte den Garten noch nicht verlassen, da hörte sie seine Stimme noch einmal. »Aber anrufen darf ich Sie doch, Barbara?«

Sie blieb stehen und blickte zurück. »Ja, Thomas.« Und sie war dankbar, dass die Entfernung zwischen ihnen bereits so groß war, dass er die Tränen nicht sehen konnte, die in ihren Augen standen.

*

Durch die hügelige Landschaft schlängelte sich eine schmale asphaltierte Straße. Sie führte an Wäldern und Wiesen vorbei, ließ den Blick auf Felder voll wogenden Korns frei und war wie geschaffen für eine sommerliche Radtour.

Thomas Platen unternahm sie in großer Begleitung. Er hatte nicht nur Kai, sondern auch Robin und Nick mitgenommen. Den Abschluss der Gruppe bildete Barri, der ihnen mit heraushängender Zunge folgte.

Die vier hatten viel zu lachen. Es waren wunderbare Tage gewesen, voller Heiterkeit und Harmonie. Thomas hatte nicht geahnt, wie schön so eine Fahrt sein konnte. Der Entschluss, Robin zu dieser Ferientour mitzunehmen, war ihm nach dem Treffen mit Barbara Wirthner gekommen. Er hatte ihr geglaubt, dass sie viel zu tun habe. An jenem Abend hatte sie merkwürdig nervös und unkonzentriert gewirkt, so ganz anders als sonst. Da er entschlossen gewesen war, Kai bald zu sich zu holen, hatte Robin ihm doppelt leidgetan. War es nicht seine Idee gewesen, die beiden Jungen in ein Heim zu bringen? Sollte Robin nun allein dort bleiben, während Kai die Geborgenheit seines Elternhauses genießen würde?

Thomas blickte zur Seite und sah Robin an. Sie bewältigten gerade eine kleine Steigung, und der Junge strampelte sich ordentlich ab, ohne dass er es sich anmerken lassen wollte.

Thomas Platen musste lächeln. Er sagte: »Dein neues Fahrrad ist wirklich großartig, Robin. Wir müssen deiner Mutter noch schreiben und uns bei ihr bedanken.«

»Habe ich schon«, keuchte Robin.

»Dann werde ich ihr schreiben, wie gut es dir geht.«

Robin sandte dem Mann neben sich einen kurzen Blick zu. »Wenn Sie ihr schreiben, schreibe ich auch noch.«

Kai beschleunigte seine Fahrt und fügte begeistert hinzu: »Wir müssen ihr unbedingt erzählen, wie Nick bei unserem letzten Gasthof die Hühnerdiebe entdeckt und verprügelt hat. Das wird eine lustige Geschichte. Frau Wirthner wird staunen.«

Nick hatte Kais Worte gehört. Er bildete immer den Schluss der Vierergruppe, um Barri am nächsten sein zu können. Nun aber kam er nach vorn.

»Übertreibe bloß nicht so, Kai. Ich habe die Hühnerdiebe doch gar nicht verprügelt. Nur verscheucht habe ich sie.«

Kai zog eine Flunsch und sah seinen Vater an, als erwarte er von ihm Zuspruch. Aber Thomas blickte weit über die Landschaft hinweg und begann ein Lied zu pfeifen. Er wollte sich nicht einmischen. Keine Erziehung war so erfolgreich wie die unter Gleichaltrigen.

Robin blickte ihn bewundernd an. Es imponierte ihm mächtig, wie Kais Vater sich verhielt. Er war nicht so herablassend wie andere Erwachsene und erst recht nicht so kleinlich wie Peter Knoll, der jedes Mal, wenn er auftauchte, zu schimpfen begann.

»Dort drüben winkt ein Kirchturm zu uns herüber«, stellte Thomas jetzt fest. »Das Dorf sieht sehr einladend aus. Dort wollen wir heute übernachten.«

Er ließ sich zurückfallen und blickte Barri an. Der große Hund hatte genau wie der Radler die Steigung mit großer Anstrengung geschafft. Nun aber hing ihm die Zunge zum Hals heraus.

»Lasst uns jetzt schon rasten, Jungens. Barri hat Durst.«

Seine kleinen Freunde ließen sich das nicht zweimal sagen. Sie suchten sich einen Platz zwischen den Bäumen und ließen sich dort im Schatten nieder. Kai holte seine Feldflasche hervor und ließ klares Wasser in ein kleines Näpfchen gluckern, damit Barri trinken konnte.

»So, nun schlabber mal schön, Barri.«

Barri wedelte kurz mit dem Schwanz, dann machte er sich über die köstliche Erfrischung her.

Thomas und die drei Jungen labten sich an einem großen Stück Melone. Sie hatten sich niedergesetzt und spuckten die Kerne auf die Wiese. Dann ließen sie sich ins Gras fallen und sahen in den Himmel, wo kleine weiße Wölkchen dahinsegelten.

Kai hatte sich ganz nah zu seinem Vater gekuschelt, und Thomas nahm ihn glücklich in den Arm. Eine seltsame Ruhe überkam ihn. Weit und breit war kein Autogeräusch, auch nicht der Lärm irgendeiner Maschine zu vernehmen. Er schloss die Augen und dachte an seine kleine Tochter Susanne. Das Baby war bei Frau Stubenweis in den besten Händen. Und doch konnte er in sich eine gewisse Sorge nicht bekämpfen. Ob Susannchen auch weiterhin so viel Appetit entwickelte? Ob sie wohl wie er im Schatten eines Baumes Mittagsruhe hielt?

Nick holte Thomas aus seinen väterlichen Gedanken zurück. »Nur noch ungefähr achtzig Kilometer, Herr Platen. Dann sind wir wieder in Sophienlust.«

Thomas schmunzelte. »Das macht noch genau zwei Tage, Nick. Dann ist unser Ausflug zu Ende. Aber …«, er machte mit Absicht eine Pause, »ich wollte euch noch eine Burg zeigen. Sie liegt nicht direkt auf unserem Weg, aber sie hat ein kleines Museum in ihren dicken Mauern. Es ist wirklich lohnenswert, das Museum anzuschauen.«

»Auch eine Folterkammer?«, fragte Kai ganz begierig.

Thomas nickte. Er hatte sich gedacht, dass es den Jungen Freude bereiten würde, so etwas kennenzulernen. Ihn selbst aber erinnerte es an seine Jugendzeiten. Er hatte damals schon beim Anblick der Geräte eine Gänsehaut bekommen.

Als Thomas seinen Kopf zur Seite wandte, merkte er, dass Robins Augen traurig auf ihm ruhten. Der Junge hatte sich an seiner anderen Seite niedergelassen und schien bis vor Kurzem mit Nick in die Landkarte geschaut zu haben. Nun wirkte er plötzlich wie verloren.

Thomas ahnte, was in ihm vorging. Die enge Verbundenheit zwischen Kai und ihm musste Robin wehtun. Nur noch drei Wochen würde Kai mit ihm auf Sophienlust sein, dann würde Robin allein sein.

Thomas winkte Robin zu sich. »Sei nicht traurig, dass unsere kleine Reise bald zu Ende geht, Robin. Wenn du willst, begleitest du uns nächstes Jahr wieder. Und über Weihnachten bist du ja bestimmt bei deiner Mutter. Dann sind wir wieder Nachbarn.«

Robin senkte den Kopf. »Mhm«, machte er.

»Au backe, prima!« Kai hob den Kopf und blickte Robin mit einem wilden Ausdruck an. »Weißt du, was wir dann machen? Wir bauen eine Folterkammer bei uns im Keller. Wir können ja jetzt auf der Burg genau sehen, wie das gemacht wird. Und dann rächen wir uns an den bösen Kerlen aus der Tranzgasse.«

Robin musste lächeln. Er verstand sehr gut, dass Kai diesen dummen Vorschlag machte, um ihn aufzuheitern. Aber so richtig klappte das nicht.

Angesichts des Fehlschlags fuhr Kai noch aufgeregter fort: »Die braten wir dann und vierteilen sie. Vorher nehmen wir ihnen aber das Geld ab, das …«

»Halt die Klappe«, sagte Robin schnell. Er hatte Angst, Kai könnte sich verplappern.

Es war schon zu spät. Thomas war neugierig geworden. »Was habt ihr denn für Feinde in der Tranzgasse?«, fragte er interessiert. »Das ist doch eine etwas verrufene Gegend. Wohnen da etwa Klassenkameraden von euch?«

Kai sah Robin an. »Ja«, log er schnell. »Ganz fiese Kerle mit sehr viel Taschengeld. Es quillt ihnen nur so aus den Taschen.«

Nick lachte. »Du übertreibst mal wieder. Und abnehmen lassen die es sich bestimmt nicht.«

»Haha«, protzte Kai und machte ein ganz gefährliches Gesicht. »Darum foltern wir sie ja zuerst.«

»Ach, hör doch auf mit deinen Angebereien, Kai. Die Geschichte glaube ich dir nun wirklich nicht.« Nick legte die Karte zusammen und schickte einen verächtlichen Blick zu Kai. »Alles ganz schön. Aber dein sensationelles Großstadtleben besteht ja doch nur in deiner Fantasie.«

Das wiederum konnte Kai sich nicht bieten lassen. Schließlich wollte er nicht gerade vor seinem Vater sein Gesicht verlieren.

»Nichts ist mit Fantasie«, begehrte er trotzig auf. »Alles, was ich dir erzählt habe, stimmt!«

»Ja, ja …« Nick legte sich zurück, verschränkte die Arme unter dem Kopf und blinzelte in die Sonne. »Nichts wie Räubergeschichten mit käuflichen Mädchen, Zuhältern und Gangstern.«

Robin wandte den Kopf von einer Seite zur anderen. Er beobachtete Nick, dann Kai. Sein Freund wurde puterrot und schwieg.

Thomas hatte sich aufgesetzt und starrte seinen Sohn an. »Was erzählst du da? Was sind das nun wieder für üble Geschichten?«

»Nichts, Papi. Gar nichts«, stammelte Kai. Auch Nick schwieg nun. Thomas aber nahm sich vor, dieser recht abenteuerlichen Sache auf den Grund zu gehen. Er kannte Kai als einen fantasievollen Schlingel, der gern übertrieb, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass Kai nun schon Märchen aus diesem Milieu erfand. Deshalb nahm er sich vor, ein Wort unter Männern mit ihm zu reden. Schon an diesem Abend, sobald sie Quartier in einem Gasthof bezogen hatten.

Kurze Zeit später schleppten sie ihre Rucksäcke über eine kleine gewundene Treppe unter das Dach eines Wirtshauses. Hier oben in den Mansardenzimmern gab es rotweiß-karierte Bettwäsche, eine alte Waschkommode mit Schüssel und Krug und knarrende Dielen.

»Heute Nacht schläft Kai bei mir«, verkündete Thomas. »Nick wird sich mit Robin und Barri begnügen.« Er lachte, aber ihm entging nicht, wie traurig der Freund seines Sohnes ihn ansah. »Hast du Angst, dass Barri schnarcht?«, fragte er Robin.

Da lachte der Junge kurz auf. »Nein, Herr Platen.« Er drehte sich um und verließ das Zimmer. Thomas sah nicht mehr, welchen bitteren Blick er seinem Sohn zuwarf.

»Warum darf ich denn heute nicht mit Robin im Zimmer schlafen?«, murrte Kai und ließ sich auf das Bauernbett plumpsen. »Er ist doch mein bester Freund?«

»Weil ich etwas unter vier Augen mit dir besprechen möchte, Kai.« Thomas schnürte seinen großen Rucksack auf und holte ein frisches Hemd hervor. Er streifte sich seine alte Gammelkluft vom Leib, wusch sich und trocknete sich ab. Dann zog er sich frisch an.

Kai rührte sich nicht vom Fleck.

»Komm, Kai, zieh dir auch etwas Frisches an.«

Kai sah ihn misstrauisch an. »Sag lieber erst, was du schon wieder an mir auszusetzen hast, Papi. Sonst schmeckt mir das Essen sowieso nicht.«

Thomas musste ein wenig in die Knie gehen, um sich im Spiegel betrachten zu können. Er fuhr sich schnell mit dem Kamm durch sein graumeliertes Haar. »Ich habe lange nichts mehr an dir auszusetzen gehabt, Kai. Seit Dinah nicht mehr lebt …« Er stutzte und sah sich selbst verwundert an. Ja, seit Dinah nicht mehr lebte, hatte sich sein Leben auf angenehme Weise beruhigt. Es gab keinen Streit mehr, keine hysterischen Anfälle, keine Tränen über Nichtigkeiten. Und zu Hause lag Susannchen. Sie würde ihn schon bald wieder lächelnd begrüßen. Ein wirklicher Frieden war in seinem Haus eingekehrt. Und doch fehlte ihm etwas.

»Nun polter schon los, Papi.«

»Ich will gar nicht poltern, Kai. Ich will nur wissen, warum du so dumme Geschichten über die Großstadt erzählst. Hast du es etwa nötig, zu prahlen? Und warum benutzt du solche Ausdrücke aus der Unterwelt? Habe ich dir das vielleicht beigebracht, oder hast du sie in Sophienlust aufgeschnappt?«

Thomas hatte seinen Sohn nicht einmal besonders streng angesehen. Trotzdem lösten seine Fragen bei ihm eine merkwürdige Reaktion aus. Kai warf sich auf die Kissen und begann hemmungslos zu schluchzen. Es war nicht nur die Scham über seine Angeberei. Es war auch die Furcht, Robins Freundschaft zu verlieren. Der Freund konnte ja nun ahnen, dass er ihr gemeinsames Geheimnis verraten hatte.

Thomas setzte sich zu Kai und fuhr ihm beruhigend über die Schulter. Was war eigentlich geschehen? Sein Sohn hatte geprahlt und übertrieben wie jeder Junge in seinem Alter. Aber warum weinte er so?

»Wenn du mir etwas erzählen musst, Kai, dann tue es jetzt. Wir sind allein. Du weißt, ich werde nicht schimpfen, wenn du ehrlich bist.«

Kai richtete sich auf und schlang die Arme um seinen Vater. »Versprichst du es mir, Papi? Wirst du es keinem verraten? Auch nicht Frau Wirthner?«

»Nein, auch nicht Frau Wirthner.«

Da berichtete Kai von der Nacht, die er mit Robin in der Tranzgasse verbracht hatte. Er ließ keine Kleinigkeit aus und bemühte sich, nicht zu übertreiben.

»Wegen dieses Peter Knoll darf Robin auch nicht wieder nach Hause, Papi. Nur wegen dieses Idioten kann er nicht zu seiner Mutter. Sie liebt diesen Schurken.«

Thomas war blass geworden. Er wandte seinen Kopf ab und sah zum Fenster hinaus. Nur seine schmale Hand berührte seinen Sohn immer noch. Es war, als brauche er plötzlich ebenso viel Trost wie Kai.

*

Es war ein einsames Wochenende für Barbara gewesen. Sie hatte sich eine Menge Arbeit mit nach Hause genommen und zwei Tage unentwegt darüber gesessen. Sie brauchte Geld. Wenn sie Glück hatte, würde sie in einem Jahr den Schuldenberg abgetragen haben, den Peter Knoll ihr aufgeladen hatte.

Müde und abgespannt blickte sie am Sonntagabend auf ihren Arbeitstisch, wo sich Schnitte, Fotos und Stoffmuster stapelten. Sie hatte Robins Aquarium in ihrem Zimmer aufgebaut. Die stummen Fische waren ihre einzige Gesellschaft, aber wenn sie sie länger betrachtete, überkam sie eine heftige Sehnsucht nach ihrem Sohn. Sie wusste ihn in guter Obhut. Die knappe Woche mit Thomas Platen musste für den vaterlosen Jungen eine ganz neue herrliche Erfahrung gewesen sein.

Barbara biss auf ihren Stift. Sie hätte gern an dieser Radtour teilgenommen, aber ihr Herz wäre in Thomas’ Gegenwart in Verwirrung geraten, hatte sie vielleicht in Situationen gebracht, denen ihre Nerven nicht gewachsen gewesen wären.

Es klingelte. Langsam erhob sich Barbara. Eine ihrer Kolleginnen hatte versprochen, vorbeizukommmen und etwas abzuholen.

Während Barbara zur Tür schritt, brachte sie ihre violette Bluse in Ordnung, die ihr zuweilen aus dem Hosenbund herausrutschte. Sie ging so in ihrer Arbeit auf, dass es ihr ganz egal war, wie sie zu Hause aussah.

Als sie die Tür öffnete, stand Thomas Platen vor ihr. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück, bevor sie ihn hereinbat. Kais Vater sah erholt aus. Er war von der Sonne gebräunt. Sein sommerliches Hemd stand offen, und der ganze legere Aufzug ließ ihn jungenhaft wirken.

»Ich komme gerade aus Sophienlust«, erzählte er. »Haben Sie einen Kaffee für mich?«

»Natürlich«, stammelte sie verwirrt.

In ihrer hübschen Küche setzte er sich sogleich auf einen Stuhl und erbot sich, den Kaffee zu mahlen. Dabei erzählte er ihr von den herrlichen Tagen, die er zusammen mit den drei Jungen und dem großen Hund Barri verbracht hatte.

Während Barbara das Wasser aufsetzte, Tassen und ein Kännchen Sahne auf ein Tablett stellte, fiel ihr Herz wieder in den normalen gemäßigten Rhythmus zurück. Es war ihr, als würde sie ein alter Freund besuchen, der sie und ihr Leben so gut kannte, dass sie ihm nichts vormachen konnte. Barbara fühlte sich glücklich, wusste aber auch, dass sie das nicht zeigen durfte.

»Waren Sie etwa die zwei herrlichen Tage ganz allein?«, fragte Thomas und nahm ihr das Tablett aus den Händen. »Ist Ihr Freund Peter Knoll wieder verreist?«

»Ja.«

»Was tut er auf seinen Reisen?«, wollte Thomas wissen.

Barbara bot ihm einen Sessel in ihrem Wohnzimmer an und schenkte ihm seine Tasse voll. Was bedeuteten seine merkwürdigen Fragen? Sie entschloss sich, nicht darauf einzugehen. Die ewige Lügerei führte ja doch zu nichts.

»Wir haben uns getrennt, Herr Platen.«

»Wie vernünftig von Ihnen, Barbara.«

Sie war so perplex, dass die Milch ihre Tasse zum Überlaufen brachte.

»Bestimmt hat Robin über Peter Knoll geschimpft, nicht wahr?« Sie sah ihm gerade in die Augen. »Er konnte ihn nie so recht leiden.«

Langsam schüttelte Thomas den Kopf. »Nein, Barbara. Robin hat kein Wort über Sie und Peter Knoll verlauten lassen.«

»Und warum sind Sie dann so erleichtert, dass ich mich von ihm getrennt habe?« Sie nestelte nervös an der langen Kette, die ihren Ausschnitt schmückte. Sie hatte sie umgelegt, um für ihren arbeitsreichen Sonntag einen kleinen feierlichen Anstrich zu bekommen. Jetzt erschien ihr dieser Schmuck ziemlich albern.

»Weil Robin dann zu Ihnen zurückkehren kann und Kai sich nicht von ihm trennen muss. Außerdem war Peter Knoll nicht der richtige Umgang für Sie.«

»Was soll das, Thomas?« Sie war so empört, dass sie ihn beim Vornamen nannte. »Was wissen Sie von Peter Knoll?«

»Gar nichts.« Nun log auch er. Dabei trank er seelenruhig seinen heißen Kaffee. Auf der Heimfahrt von Sophienlust hatte er sich entschlossen, zwischen Barbara und ihren finsteren Freund einen Keil zu treiben. Um so zufriedener war er nun, dass Barbara das Verhältnis bereits gelöst hatte. Es machte ihn so fröhlich, dass er sie fast spitzbübisch angrinste.

Barbara war aufgebracht. »Sie haben mir nachspioniert, Thomas.« Wütend erhob sie sich und fuchtelte wie wild mit ihren eleganten Händen in der Luft herum. »Sie haben etwas in Erfahrung gebracht, was nur mich angeht. Und wenn Sie so heimtückisch lächeln, beweist das nur, wie schadenfroh Sie sind. Dabei habe ich mich nicht beschwert über das, was mir geschehen ist. Ich werde die Sache ganz allein in Ordnung bringen. Schon in einem Jahr bin ich die Schulden los, und dann kann auch Robin wieder bei mir leben, wenn ich wieder weniger arbeite.«

Thomas Platen sah Barbara verständnislos an. Er war ernst geworden. Seine klugen Augen drückten jetzt plötzlich Reue darüber aus, dass er sich mit ein paar vage hingeworfenen Bemerkungen in ihr Privatleben eingeschlichen und sie zu diesem Ausbruch verleitet hatte.

»Wie schamlos von Ihnen«, schimpfte Barbara weiter. »Wahrscheinlich haben Sie eine Bankauskunft über mich eingeholt und wissen nun, in welcher Lage ich mich befinde!« Sie sah auf seine Tasse Kaffee, als würde sie sie ihm am liebsten ins Gesicht schleudern. Verächtlich fügte sie hinzu: »Sie als großer Unternehmer können sich ja ungestraft solche Indiskretionen leisten.«

»Barbara!« Er fasste nach ihren Händen und zog sie kraftvoll auf das Sofa zurück. »Nichts von allem ist wahr. Ich habe nur Dinge gehört, die mich beunruhigt haben. Das ist alles.«

»Von wem?«

»Das kann ich nicht sagen.«

Wieder traf ihn ein böser Blick. Aber es störte ihn nicht. Er ließ ihre Hand nicht los, beugte sich zu ihr und sagte leise: »Hat dieser Mann etwas von Ihnen verlangt, das Ihrem Wesen nicht entsprach?«

»Wie?« Sie zog ihre Augen zu Schlitzen zusammen. Wie eine schöne Katze wirkte sie, voller Temperament und Leben, zornig und leidenschaftlich. »Von mir etwas verlangt? Geld hat er mir abgenommen! Nichts als Geld und davon eine ganze Menge.«

Thomas ließ ihre Hand los. Er lehnte sich zurück und atmete auf. Sie konnte nicht wissen, wie glücklich ihn das machte. Bedeutete es nicht, dass sie die ganze Zeit völlig ahnungslos an einem Mann gehangen hatte, der nichts von ihr gewollt hatte als ihr Geld? Thomas strahlte sie an. Sie war dumm und naiv gewesen, leichtgläubig in ihrer Liebe. Weiter nichts. War es nicht rührend?

»Lehrgeld«, sagte er leichthin, mit den Achseln zuckend, »bezahlen wir alle einmal. Und nun? Ist es nun wirklich vorbei?«

Sie hielt den Kopf gesenkt und nickte stumm.

»Kann ich Ihnen helfen, Barbara?«

Sie schüttelte den Kopf. »Damit werde ich schon allein fertig.«

Es war ein merkwürdiges Schweigen, das sich nun zwischen ihnen ausbreitete. Nur das Absetzen der Kaffeekanne war zu hören. Thomas hatte sie genommen und Barbara nachgeschenkt. Er gab auch Milch und Zucker in ihre Tasse, als müsste er eine Kranke versorgen.

»Danke«, sagte sie patzig.

Thomas musste lächeln. Dann zündete er zwei Zigaretten an und steckte ihr eine davon zwischen Mittel- und Zeigefinger.

»Ich habe eine Bitte an Sie, Barbara.«

»Sie wollen wohl, dass ich zur Polizei renne und Peter Knoll anzeige, nicht wahr?« Wieder funkelten ihre grünen Augen ihn feindselig an. Aber nun bekam sie einen Dämpfer.

»Sie haben eben gesagt, Sie würden allein mit dieser Angelegenheit fertig werden, Barbara. Dann erwarten Sie auch nicht, dass ich Ihnen Verhaltensmaßregeln gebe. Ich bin kein Jugendaufseher für verliebte Damen.«

Barbara war sprachlos. Sie starrte ihn an, als hätte er ihr eine Ohrfeige gegeben.

»Ich denke nur an Robin, Barbara. Soll ich ihn nicht bei mir wohnen lassen? Würde es Ihnen nicht helfen, den Schock zu überwinden, den Peter Knoll Ihnen versetzt hat? Sie könnten Robin täglich sehen, ohne Ihre Arbeit zu vernachlässigen. Bei mir wäre er gut aufgehoben. Die beiden Jungen wären glücklich, und Sie«, er machte eine Pause und sah sie so zärtlich an, als habe er sie nie zurechtgewiesen, »Sie wären täglich unser Gast. Mein liebster Gast.«

Barbaras Lippen öffnete sich in fassungslosem Staunen. Dann formte sich auf ihnen ein zartes Lächeln. Ihre Augen glänzten.

»Robin«, sagte sie leise, und die ganze Sehnsucht einer liebenden Mutter lag darin. »Mein kleiner Robin …«

Ihr kleiner Robin, dachte Thomas gerührt. Ihr kleiner Robin überredet meinen kleinen Kai, mitten in der Nacht in der verrufensten Gegend unserer Stadt einen Zuhälter zu überwachen. Wie klein sind denn unsere Söhne? Zu klein für das große gefährliche Leben, aber schon zu groß für so naive Eltern, wie wir es sind?

»Ich werde mir nun auch mehr Zeit für meine Familie nehmen, Barbara. Robin und Kai werden in meinem Haus von Frau Stubenweis überwacht und versorgt. Sie ist eine liebevolle Frau und wird aufpassen, dass keine Dummheiten geschehen wie damals.«

Ihre Augen trafen sich in lächelndem Einverständnis.

»Wird Frau Stubenweis diesen beiden Schlingeln denn gewachsen sein?«

»Aber sicher. Sie ist eine erfahrene Mutter und Großmutter. Und schließlich bin ich ja auch noch da«, setzte er selbstsicher hinzu.

»Ich auch. Ich bin auch noch da.« Barbara fühlte sich maßlos glücklich. Sie war Thomas zu großem Dank verpflichtet, aber das störte sie nicht. Er war nicht der Typ, der daraus Vorteile zog. Und wenn schon. Was war das gegen die Einsamkeit, unter der sie jetzt litt?

Aber Thomas dachte ganz anders darüber. »Sie sind also einverstanden, Barbara? Mir fällt ein Stein vom Herzen. So fühlt Kai sich durch sein kleines, umsorgtes Schwesterchen nicht ausgestoßen und empfindet keine Eifersucht wie damals, als …«

Barbara sah ihn flehentlich an. Nein, er sollte nicht von Dinah sprechen. Jetzt nicht. Der Moment dieser engen Verbundenheit, in dem sie für ihre Söhne gemeinsame Pläne machten, sollte nicht durch eine Erinnerung an diese schöne Frau zerstört werden.

»Darf ich Ihnen einen Cognac anbieten?«, fragte sie schnell.

»Ich trinke lieber Wein, Barbara. Und den nur abends. Danke.« Dabei sah er sie an, als habe er ihre Gedanken erraten. Erst viel später brach er auf, um nach Hause zu gehen. Sie hatten alles besprochen, was für ihre Söhne wichtig war. Dabei hatten sie sorgsam vermieden, von dem zu sprechen, was ihnen noch viel mehr bedeutete. Es war wie eine Krankheit, die sich ihrer Herzen bemächtigt hatte.

Aber das begriffen sie erst viel später, als sie wieder – jeder für sich allein – in ihren Zimmern hockten. Zwischen ihnen lagen nur einige Straßen. Aber die schienen unendlich lang zu sein.

*

»Mamilein!«

Robin hatte Barbara schon vom Garten aus entdeckt. Er warf den Rechen, mit dem er die Herbstblätter zusammenharken sollte, auf die Erde und rannte zum Gartentor, um ihr zu öffnen.

Barbara umarmte und küsste ihn, als habe sie ihn eine lange Zeit nicht gesehen. Dabei waren erst drei Tage seit ihrem letzten Treffen vergangen.

Es war Herbst geworden, und Robin lebte jetzt schon mehrere Wochen im Hause Thomas Platens. Es war ihm anzusehen, wie wohl er sich hier fühlte. Morgens verließ er mit Kai das Haus, um zur Schule zu gehen, mittags kehrte er wieder hierher zurück. Immer war Frau Stubenweis da. Sie versorgte die Jungen vorbildlich, obwohl sie nicht mit strengen Tadeln sparte. Aber noch störte die beiden Schlingel das nicht. Und dass die kleine Susanne von Thomas und der Haushälterin nur Liebe und Zärtlichkeit empfing, fanden sie auch ganz richtig.

In der ersten Zeit war Barbara jeden Tag zu Besuch gekommen.

Sie liebte nicht nur die freundliche Atmosphäre dieses Hauses, in dem ihr Kind wie ein Sohn aufwuchs, sie vertrug sich auch blendend mit Hedwig Stubenweis, die Kai von Anfang an ›Tita‹ genannt hatte. Hier vergaß Barbara den beruflichen Zwang, dem sie sich immer mehr ausgesetzt fühlte, hier verschwanden die niederdrückenden Zahlen aus ihrem Kopf, die sie seit der unseligen Geschichte mit Peter Knoll immer noch belasteten.

»Warum bist du gestern, vorgestern und vorvorgestern nicht gekommen, Mami?«

Robin führte sie über die Terrasse in den großen Wohnraum. Im Kamin prasselte ein Feuer. Durch die offene Tür zur geräumigen Küche grüßte Tita den gerngesehenen Besuch. Die Haushälterin bügelte Babywäsche und hielt Barbara gleich ein paar Hemden von Robin entgegen.

»Alles zu klein, Frau Wirthner. Ihr Sohn wächst und wächst.«

»Ich werde neue kaufen, Tita.« Die beiden Frauen begrüßten sich herzlich.

»Wo ist Kai denn?«, fragte Barbara dann.

»Er ist einkaufen gegangen, Mami«, antwortete Robin prompt. »Ich arbeite im Garten, er kauft ein. Das teilen wir jetzt immer so auf. Nächste Woche umgekehrt. Komm, ich zeige dir, was ich schon alles getan habe.«

Es war nur eine Ausflucht von Robin, um sie wieder ganz allein für sich zu haben, aber Barbara konnte ihn verstehen. Sie ging mit ihm im sonnigen Garten spazieren, schaute zur strampelnden Susanne in den Wagen und freute sich an dem Anblick des hübschen Babys.

»So eine Schwester möchte ich auch mal haben, Mami.«

Barbara sah ihn an und schwieg. Robin wusste doch, dass das ganz unmöglich war. Warum sagte er so etwas? War es nicht schon schwer genug für sie, ­ihren Sohn unter Titas strenger Erziehung leiden zu sehen, während sie hinter dem Geld herhetzte?

»Warum bist du so lange nicht gekommen, Mami? Ist Peter Knoll etwa wieder aufgetaucht?«

»Nein, Robin.«

Der Junge kannte die wirklichen Beweggründe von Peter Knolls Verschwinden genauso wenig, wie sie wusste, woher Thomas diese merkwürdigen Dinge über ihren ehemaligen Freund erfahren hatte. Die Männer zwischen zehn und sechsunddreißig hatten Wort gehalten und geschwiegen.

Aber das war nicht der Grund, warum Barbara Thomas’ Haus seit den letzten Tagen mied. Sie wusste nun, wie sehr sie Kais Vater liebte. Zwischen ihr und ihm war ein Vertrauen entstanden, das weit über eine freundschaftliche Beziehung hinausging. Aber sie konnte sein dezentes Werben nicht ertragen. Seit Dinahs Tod war noch nicht einmal ein halbes Jahr vergangen. Würde es nicht so aussehen, als habe sie sich mit Robin in sein Herz geschlichen, um seine dritte Ehefrau zu werden? Barbara war viel zu stolz, um sich dieser Gefahr auszusetzen. Deshalb meinte sie Thomas meiden zu müssen.

»Aber du bleibst doch zum Essen, Mami?«

Barbara kam nicht dazu, diese Frage zu verneinen, denn aus der Küche erscholl ein lautes Gezeter.

»Weißkohl, habe ich gesagt, Kai, Weißkohl! Und nun bringst du mir Wirsingkohl! Was soll ich denn nun tun?«

»Aber der Wirsingkohl ist doch viel grüner? Da habe ich gedacht, er ist reifer als der weiße Kohl …«

Barbara musste hellauf lachen. Sie hielt sich an Robin fest, so viel Vergnügen bereitete ihr das komische Gespräch in der Küche.

Robin sah sie jedoch ernst an. »Das ist nicht zum Lachen, Mami. Tita ist immer ganz außer sich, wenn Kai etwas Falsches mitbringt.«

Eine Tür schlug im Haus zu, gleich darauf kam Frau Stubenweis mit dem Wirsingkohl in der Hand in den Garten gerannt.

»Nun sehen Sie sich das an, Frau Wirthner! Was der Junge mir da wieder anbringt! Ich kann mich auf gar nichts verlassen.«

Bei dem lauten Geschimpfe begann Susanne zu weinen. Es war ein herzzerreißendes Gewimmer, das aus dem Kinderwagen kam. Barbara lief sofort hin.

»Hier, halten Sie mal!« Tita drückte Barbara den Kohlkopf in die Hand und nahm das Baby liebevoll auf den Arm. Barbara lächelte, aber in ihrem Inneren entstand ein Gefühl der Eifersucht. Wie gern hätte sie Susanne selbst an sich gedrückt …

»Das kommt alles von dem dummen Kai, Susannchen«, tätschelte Tita das Baby. »Schon wieder hat er etwas Falsches besorgt.«

»So schlimm ist es doch nicht, Tita. Wirsingkohl ist etwas sehr Feines. Robin mag ihn gern. Nicht wahr, Robin?«

Barbara blickte sich um. Robin war verschwunden. Langsam folgte sie der Haushälterin, die den Kinderwagen in das Haus schob. Die Sonne war schon hinter den Bäumen verschwunden. Die Tage wurden kürzer, der Winter nahte.

Nachdenklich legte Barbara den Kohlkopf in die Küche und setzte schweigend Titas Bügelarbeiten fort. Ja, die gute Frau Stubenweis war überfordert. Susannchen brauchte ihr Recht und noch dazu sehr viel Liebe. Und Kai … Barbara setzte das Bügeleisen ab und zog den Stecker heraus. Leise ging sie die Treppe hinauf. Und während Hedwig Stubenweis mit Susanne scherzte und das Badewasser für sie einlaufen ließ, schritt Barbara auf Kais Zimmer zu.

Auf ihr zartes Klopfen öffnete Robin. Sie sah an ihm vorbei und erblickte Kai. Er hatte sich auf sein Bett gesetzt und den Kopf auf die Hände gestützt. Es sah aus, als weine er.

Barbara hatte Kai noch nie so gesehen. Mit einem ratlosen Blick sah sie Robin an. Der schloss die Tür und trat ihr auf dem Flur entgegen. »Kai weint, Mami. Du sollst es nicht sehen, sonst wird er noch trauriger. Er schämt sich, weil er dich doch so gern …«

»Lass mich zu ihm, Robin.«

Ihr Sohn schüttelte den Kopf. »Es geht nicht, Mami.«

»Und das alles wegen des Kohlkopfes?«

Robin nickte ernsthaft. »Das verstehst du nicht, Mami. Tita ist sehr lieb, aber sie schimpft zu viel mit Kai. Ich habe ja dich, aber Kai hat nur seinen Papi zum Liebhaben. Und Thomas fragt immer nur nach Susannchen.«

Barbara strich Robin übers Haar und sah durch das Fenster in den Garten. Sie wäre zu gern zum Essen geblieben und hätte alles mit liebender Hand in Ordnung gebracht. Aber dann würde sie wieder Thomas begegnen und sie wusste wirklich nicht, wie lange sie seiner ­liebevollen Art noch würde widerstehen können. Wieder stieg dieses quälende Gefühl der Scham in ihr auf. Sie konnte Thomas ihre wahren Gedanken nur verheimlichen. Dinahs Schatten stand noch über ihnen, und er war übergroß.

»Tröste Kai, Robin. Ich muss jetzt gehen.«

Er brachte sie zur Tür und geleitete sie zur Gartenpforte.

»Und wann kommst du wieder, Mami?«

»Besuche du mich morgen, Robin.«

Irgendetwas Dunkles und Trauriges huschte über sein Gesicht. Aber sie schloss die Augen davor. Nach einem flüchtigen Kuss eilte sie nach Hause. Sie wollte Thomas nicht begegnen.

*

»Wach auf, Mami, schnell!«

Barbara blinzelte gegen das Licht, das mitten in der Nacht in ihrem Schlafzimmer angeknipst worden war. Mühsam erkannte sie die Silhouette ihres Sohnes, der sich über sie beugte. Ihr Herz machte einen großen Satz. Dann richtete sie sich auf.

»Robin! Was machst du denn hier?« Ein Blick auf die Uhr verwirrte sie noch mehr. Es war halb eins.

Ihr Sohn hatte einen Wohnungsschlüssel von ihr bekommen, aber warum war er mitten in der Nacht bei ihr eingedrungen? Sie hatten sich doch erst vor ein paar Stunden getrennt?

»Es ist wegen des Kohls, Mami!«

»Was?« Barbara sah plötzlich ein wenig dumm aus. Sie fuhr sich mit den Händen durch ihr verwuscheltes Haar und räusperte sich den tiefen Schlaf aus der Kehle.

»Du musst sofort aufstehen, Mami. Kai will abhauen. Er will wieder zurück nach Sophienlust, weil Tita wegen des Kohls geschimpft hat. Er hat solche Sehnsucht nach Barri und den anderen in Sophienlust. Dort wurde ja auch nicht so viel geschimpft.«

Nun erst war Barbara hellwach. Sie sprang aus dem Bett, angelte einen dicken Pullover aus dem Schrank, wühlte ein Paar zerknautschte Jeans hervor und schlüpfte in aller Eile hinein.

»Woher weißt du, dass Kai fortlaufen will?«

»Er hat sich aus dem Zimmer geschlichen. Ich sollte mitkommen, wollte aber nicht. Dabei dachte ich, er würde es allein nicht tun. Dann konnte ich nicht einschlafen und habe schwaches Licht unten im Garten gesehen. Es kam aus der Garage. Kai pumpt sein Fahrrad auf.«

Barbara war schon auf dem Korridor. Sie holte ihren Trenchcoat von der Garderobe, kramte ihre Autoschlüssel aus ihrer Handtasche hervor und verließ eilig die Wohnung.

»Mit dem Fahrrad!«, schimpfte sie leise, als der Lift ihr nicht schnell genug kam. »Mit dem Fahrrad, so ein Unsinn!«

»Du musst Kai verstehen, Mami. Er ist so allein.«

»Er hat einen Vater, Robin. Einen sehr guten lieben Vater.«

Robin presste die Lippen aufeinander und sah sie verständnislos an. »Aber Thomas ist immer so schlecht gelaunt.«

»Ach, das ist doch gar nicht wahr«, entgegnete sie heftig, hielt ihm die Lifttür auf und drückte auf den Knopf, als könnte sie damit die Geschwindigkeit des Aufzugs erhöhen.

Robin lehnte sich gegen die Wand. Aus halb geschlossenen Augen sah er seine Mutter an. »Natürlich ist er manchmal schlecht gelaunt«, beharrte er auf seinem Standpunkt. »Wenn du da bist, nicht. Aber wenn du nicht kommst, dann ist er gar nicht ansprechbar vor Ärger.«

Barbara wich dem Blick ihres Sohnes aus. So war das also. Dann hatten die Jungen es doch nicht so gut, wie Thomas ihr versprochen hatte. Allem Anschein nach kümmerte er sich längst nicht mehr so viel um seine kleine Schar, wie er geplant hatte. Aber sie hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken. Jetzt war es wichtiger, Kai von einer Riesendummheit abzuhalten.

Ihr kleiner Wagen bog gerade um die Ecke, als eine kleine Gestalt lautlos das Garagentor schloss. Kai hatte sich seine gelbe Öljacke gegen die feuchte Herbstnacht übergezogen und schob nun leise sein Fahrrad über den kleinen Gartenweg auf die Pforte zu. Dabei sah er mehrmals zur Villa seines Vaters zurück, als fiele ihm der Abschied nun doch nicht so leicht.

Kaum hatte er sein Fahrrad draußen vor dem Tor, zuckte er zusammen. Barbara stand vor ihm. Wortlos legte sie den Arm um seine Schulter und nahm ihm das Fahrrad ab. Sie handelte instinktiv und doch entschlossen, so dass er gar nicht dazu kam, Widerspruch zu äußern. Oder war es ihm recht, allein mit Barbara zu sein, sich von ihr mit einer tröstenden Geste zurückführen zu lassen?

Robin hatte inzwischen die Haustür geöffnet und war schnell in seinem Zimmer verschwunden. Denn diesmal galt er als Verräter, als derjenige, der ein Geheimnis ausgeplaudert hatte. Er musste mit Kais Verachtung rechnen.

»Ich will doch aber nach Sophienlust«, protestierte Kai leise.

Barbara hielt ihre Hand offen hin. »Gib mir den Fahrradschlüssel«, flüsterte sie. Sie stellte das Fahrrad in eine Nische, schloss ab, ließ den Schlüssel in ihre Manteltasche gleiten und ging mit Kai ins Haus.

»Komm, Kai. Ich mache dir einen heißen Zitronensaft.«

Barbara sprach sehr leise und winkte ihn in die Küche. Kai folgte ihr. Schweigend beobachtete er, wie sie zu hantieren begann. In seinen Augen standen Tränen. Barbara tat so, als bemerke sie sie nicht. Sie stellte zwei Gläser vor sich hin, gab ausgepressten Zitronensaft, Zucker und heißes Wasser hinzu und drückte Kai ein Glas in die Hand.

»Du musst nicht einfach weglaufen, Kai, wenn du Schwierigkeiten hast. Warum kommst du nicht zu mir, bevor sich so etwas Dummes in deinem Kopf festsetzt?«

Er hob die Achseln. »Sie sind doch Robins Mutter, nicht meine.«

Ein übermächtig zärtliches Gefühl überkam sie für diesen Jungen, der um einiges kräftiger und größer war als Robin, dessen Seele jedoch bedeutend empfindsamer war als die ihres Kindes.

»Wenn du willst, bin ich doch auch deine Mutter, Kai. Ich habe dich auch sehr lieb.«

Er nahm einen kräftigen Schluck. Die Säure des Getränkes zog ihm den Mund zusammen, aber seine Augen strahlten wie zwei leuchtende Sterne. »Wollen Sie denn meinen Vater heiraten?«

Barbara schüttelte so schnell den Kopf, dass ihre sowieso unordentliche Frisur sich noch mehr auflöste. Eine heftige Röte war in ihre Wangen gestiegen.

»Nein, Kai. Eine Mutter muss ja nicht immer die Ehefrau des Vaters sein. Aber wenn man ein Kind liebgewonnen hat, so bleibt das auch meistens so bis ins hohe Alter. Ist das nicht auch schön?«

»Och, ich weiß nicht so recht.«

Da trat sie auf ihn zu, umfing sein rundliches Gesicht mit ihren beiden Händen und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.

»Doch, Kai. Ich habe dich sehr lieb. Und wenn du wieder etwas Falsches machst und Frau Stubenweis schimpft, musst du wissen, dass die arme Tita sich einfach nur zu viel vorgenommen hat. Sie kann die Arbeit nicht allein schaffen.«

»Dann helfen Sie ihr doch!«

Erschrocken sah Barbara sich um. Unter der Küchentür stand Thomas. Er hatte nur einen Schlafrock übergeworfen. Seine Stimme hatte heiser und verschlafen geklungen.

»Was ist das eigentlich für eine nächtliche Konferenz?«, fragte er nun. Doch der Blick seiner Augen war verschmitzt, fast belustigt.

Barbara sah Kai lange prüfend an. Was sollte sie jetzt antworten? Wie ­sollte sie Thomas ihre Zärtlichkeit für seinen Sohn erklären?

Kai half ihr zum Glück aus der Klemme. »Nichts, Papi. Ich wollte Barbara nur etwas fragen. Und jetzt gehe ich schlafen. Gute Nacht.« Er drückte sich an seinem Vater vorbei aus der Küche.

Thomas sah ihn an, als glaube er ihm kein Wort. Als er mit Barbara allein war, schloss er die Tür.

»Schön, dass Sie da sind, Barbara. Auch wenn die Zeit ein wenig ungewöhnlich ist.«

Barbara konnte nichts entgegnen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals hinauf. Morgen, sagte sie sich, werde ich mit ihm telefonieren, ihm alles erklären, mich für mein Eindringen in sein Haus entschuldigen. Jetzt will ich nur nach Hause, fort aus seiner Küche, aus seiner Nähe, die mir so wohltut und mich doch so quält.

»Sie wissen doch selbst, dass hier nicht alles so läuft, wie wir es uns vorgestellt haben, Barbara.« Thomas sprach es aus, ohne sie anzusehen. Er öffnete den Eisschrank, um sich eine Flasche Mineralwasser zu holen. »Heute Abend hat Tita Stubenweis mich gebeten, sie zu entlassen. Sie will nur noch tagsüber kommen, um die Kinder zu versorgen. Die beiden Jungen schaffen sie völlig.«

Peng! Er stellte die Flasche auf den Tisch und sah Barbara ratlos an.

»Hier sind vier Menschen, die Sie brauchen, Barbara. Ziehen Sie zu uns.«

»Das kann ich doch nicht, Thomas.«

»Du kannst viel mehr, als du denkst, Barbara.« Plötzlich stand er ganz nahe vor ihr, fasste sie an den Schultern und zog sie an sich.

Barbara sträubte sich. »Ich mache mir nichts aus dem, was die Leute denken«, sagte sie. »Aber ich fürchte mich davor, dir so nahe zu sein. Alles, was hinter uns liegt, ist einfach noch zu frisch …«

Thomas’ Gesicht war ernst und verschlossen geworden, aber er blickte sie klug und verständnisvoll an.

»Ich verstehe dich ja, Barbara. Bitte, verzeih mir, wenn ich deine Gefühle verletzt habe. Ich werde dich nicht quälen. Beruhigt es dich, wenn ich dich bitte, meinen Kindern die Mutter zu ersetzen, weiter nichts?«

»Ich muss arbeiten, Thomas.« Sie war zum Tisch zurückgewichen und umschloss den Hals der Mineralwasserflasche wie einen Rettungsring.

»Ich auch, Barbara. Aber wir werden uns diese Aufgabe teilen.«

Sie nickte. Ihr Griff um die Flasche löste sich. Dann verließ sie die Küche, ohne ihm eine klare Zusage gegeben zu haben. Als sie sich von ihm verabschiedete, reckte sie sich hoch und hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Wange. Danach verschwand sie in der Dunkelheit, wie jemand, der sich verbergen muss. Genauso war ihr auch zumute. Sie ahnte schon, dass sie einen unmöglichen Fehler begangen hatte. Diesmal ging es nicht um einen hohen Geldbetrag, sondern um eine kleine Zärtlichkeit. Die Folgen waren genauso wenig abzusehen.

*

»Puuuh!«, stöhnte Kai, »dieser dämliche Dreisatz.« Mitleidheischend blickte er zu Robin hinüber. Der hatte sein Mathematikheft schon längst geschlossen und blickte in den grauen Oktobertag hinaus.

Seit Barbara ins Haus gezogen war, hatten sich die schulischen Leistungen der beiden Jungen erheblich verbessert, obwohl Robins Mutter gar keine Zeit hatte, sich darum zu kümmern. Aber Thomas hatte sein Versprechen nun endlich wahr gemacht. Er kam jetzt jeden Tag gegen fünf Uhr nach Hause und sah sich Kais und Robins Hausaufgaben an. Die Besprechungen, die er früher in seinem Büro geführt hatte, wurden nun in die Villa verlegt, und Barbara war eine diskrete Gastgeberin. Sie sorgte dafür, dass die Herren einen Imbiss und etwas zu trinken bekamen. Dann zog sie sich in die beiden Zimmer zurück, die sie ganz oben unter dem Dach bezogen hatte.

Robin erhob sich. »Ich pflücke für Mami noch einen Blumenstrauß. Es sind noch ’ne Menge Astern im Garten.«

»Mein Papi hat ihr doch erst gestern Rosen mitgebracht.«

Die beiden Schlingel grinsten sich an.

»Da hast du eigentlich recht. Dann pflücke ich ihr eben morgen einen Strauß Blumen.«

Kai schüttelte sich vor Schadenfreude. »Morgen kriegt sie eine Orchidee von mir.«

»Bei dir piept’s wohl? Kümmere dich lieber um deinen Dreisatz. Thomas kann jeden Moment kommen. Eine Orchidee!« Robin konnte so viel Verschwendung gar nicht fassen. Er kramte sein Lateinbuch hervor und blätterte lustlos darin. Immer wurde ihm die Stunde zwischen vier und fünf unendlich lang. Wenn Thomas um Punkt fünf aus dem Geschäft kam, fuhr schon eine halbe Stunde später der kleine Wagen seiner Mutter vor. Und dann begann das große Glück im Hause Platen.

Barbara hatte gleich von Anfang an dafür gesorgt, dass die Arbeit unter allen Familienmitgliedern gerecht aufgeteilt wurde. Radikal hatte sie mit allen herkömmlichen Vorstellungen bei der Haushaltsführung gebrochen. Es gab zwei Gruppen, die sich abwechselten, wenn Tita gegen fünf Uhr das Haus verließ und in ihren wohlverdienten Feierabend ging. Die eine badete und versorgte Susanne, die andere bereitete das gemeinsame Abendessen zu.

Diese Woche war Barbara für den Küchendienst eingeteilt. Kai half ihr dabei, Thomas und Robin planschten jedoch oben im Bad herum und schienen mit Susanne um die Wette zu jubeln. Der Lärm drang bis in die Küche.

Kai schälte Kartoffeln, Barbara wickelte große Kohlblätter um ein Häufchen Fleisch.

»Soll ich dir etwas verraten, Barbara?«

»Natürlich, Kai. Du weißt doch, wie neugierig ich bin.« Sie lachte. Nach der hektischen Arbeit im Büro erschien ihr das abendliche Kochen wie eine Erholung, besonders, in so netter Gesellschaft.

»Mein Papi hat vorhin gesagt, Susanne muss jetzt bald getauft werden.«

Barbara sah Kai einen Moment nachdenklich an. Sie war eine viel zu begeisterte Hausfrau und Gastgeberin, um nicht sofort in bunten Vorstellungen über ein delikates Festmenü oder ein appetitliches kaltes Büfett zu schwelgen.

»Das wird herrlich«, begeisterte sie sich. »Weißt du schon, wen dein Vater einladen wird und wann das alles vonstatten gehen soll?«

Ohne seine Antwort abzuwarten, legte sie die Kohlrouladen in das brutzelnde Fett.

»Nee«, gab Kai ehrlich zu und betrachtete selbstkritisch eine dicke Schale, die er von einer Kartoffel geschnitten hatte. »Ich weiß nur, dass du Taufpatin werden sollst.«

»Wer hat das gesagt?«, fuhr sie ihn an, während sie so tat, als müsse sie ihr Schürzenband fester binden.

»Ich, Barbara. Papi hat mich gefragt, wer sich dazu eignen würde. Weil er und ich die einzigen richtigen Verwandten von Susanne sind, habe ich ein Wörtchen mitzureden gehabt«, schloss er mit einem stolzen Blick auf sie.

Barbara wandte sich ab und drehte ihre Kohlwickel auf die andere Seite. Ja, sie war glücklich über diesen Vorschlag und empfand es als große Ehre, Taufpatin zu werden. Denn sie hatte Susannchen tief in ihr Herz geschlossen. Das Baby war ein so heiteres, ausgeglichenes Kind und gedieh als Mittelpunkt dieser friedlichen Hausgemeinschaft so prächtig, dass sie ihre ganzen anfänglichen Bedenken vergessen hatte. Sie war nun nicht mehr eifersüchtig auf Dinah Platen, denn sie ahnte, dass Thomas’ zweite Frau im Grunde genommen schwach und hilflos gewesen war. Schwach und hilflos wie jede Frau, die der Liebe ihres Mannes nicht mehr sicher sein konnte. Thomas hatte ihrer Ansicht nach Dinahs Schönheit Ehr­erbietung und Besitzerstolz entgegengebracht, doch zu einer echten Bindung war er nicht fähig gewesen. Die Launen seiner zweiten Frau hatten seinen ­guten Willen schon von Anfang an auf eine so harte Probe gestellt, dass er seine ­Gefühle zu ihr unter einem dicken Polster von Pflichtauffassung versteckt hatte.

»Und du hast deinem Vater vorgeschlagen, mich als Taufpatin zu nehmen?«

»Klar. Sag ich doch.« Selbstverständlich ließ Kai die letzte seiner geschälten Kartoffeln ins Wasser plumpsen.

»Und dein Vater war sofort damit einverstanden?«

»Klar. Muss er doch.«

Barbara holte ein kleines Töpfchen hervor, um darin Milch für Susannes Abendbrei anzuwärmen. Mit der Babymehl-Packung in der Hand verscheuchte sie Kai scherzhaft.

»Du kannst schon den Tisch decken, Kai.«

»Gibt’s auch Nachtisch?«, fragte er im Hinausgehen.

»Apfelmus, von Tita gekocht.« Barbara lächelte verschmitzt. Sie wusste, dass nun der große Protest einsetzen würde. Um sie zu entlasten, kochte Frau Stubenweis zuweilen in großen Mengen irgendetwas vor. Diesmal war es Apfelmus gewesen. Sie aßen schon eine Woche daran, weil die gute Frau es energisch abgelehnt hatte, die köstliche Fruchtmasse einzufrieren.

Kai lehnte sich nun mit theatralischer Geste gegen den Türpfosten und schüttelte sich. »Geht dieses Mus denn nie zu Ende?«

»Doch, Kai. Heute. Und morgen koche ich Zitronenspeise.«

Er strahlte sie an. »Du bist ein Engel, Barbara. Ein richtiger Zitronenengel.« Dann verkrümelte er sich, um seinen anderen Aufgaben nachzugehen, und Barbara war allein. Mit einem deprimierten Gesicht sah sie in den Milchtopf. Was sollte sie nur tun? Sie konnte Susannchen doch nicht über das Taufbecken halten. Damit würde sie die Familie Platen nur noch mehr an sich binden. Es war schlicht unmöglich, ihnen das zuzumuten. Sie mussten jemand anderen finden.

Barbara holte tief Luft. Sie lebte jetzt zwei Wochen bei den Platens und fühlte sich so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Aber ihre eigene Wohnung hatte sie nicht aufgelöst. Sie wollte damit allen, auch Robin, beweisen, dass ihr Aufenthalt hier nicht endgültig war. Denn irgendwann, wenn Kai sich daran gewöhnt hatte, nun nicht mehr das einzige Kind von Thomas zu sein, konnte sie mit Robin in ihre Wohnung zurückkehren. Sie konnte es dann nicht nur, sie musste es dann auch tun. Sie wollte sich nicht über eine Hintertreppe – als Haushälterin und Ersatzmutter – in das Herz von Thomas Platen einschleichen.

Barbara biss sich auf die Lippen, während sie die Baby-Nahrung in den Kinderteller gab. Sie dachte an den winzigen flüchtigen Kuss, den sie Thomas damals auf die Wange gehaucht hatte. Warum nur hatte sie es getan? Thomas hatte noch nie eine Bemerkung über ihren eiligen Zärtlichkeitsbeweis gemacht. Statt dessen benahm er sich ungewöhnlich zurückhaltend. War es nur die Angst vor einer neuen Bindung? Hatte er erkannt, dass seine überstürzten Annäherungsversuche nur eine Verzweiflungstat gewesen waren, als er sich allein und von den drei Kindern in seinem Haus überfordert gefühlt hatte? Oder hielt er sich wirklich nur an das Versprechen, in ihr nichts als einen Mutterersatz für Kai und Susanne zu sehen?

Ein unbewusst heftiger Stoßseufzer entrang sich ihrer Brust. Es war jetzt alles noch verwickelter geworden.

In diesem Moment schlangen sich zwei Arme um sie. Es war Robin. Er war leise in die Küche geschlichen, um Susannes Breichen zu holen. Liebevoll schmiegte er sich an seine Mutter.

»Es ist so schön, dass du hier bist, Mami. So soll es immer bleiben. Auch wenn du abends noch oben arbeitest und wir dich nicht stören dürfen, ist es viel schöner als früher.«

»Ja, Robin«, antwortete sie ernst. »Das mag sein. Aber immer wird es nicht so bleiben. Eines Tages werden wir wieder in unsere kleine Wohnung ziehen und dort allein leben. Es war doch damals auch schön mit uns zweien, nicht wahr?«

»Och …« Das war alles, was er sagte. Und damit fügte er ihr einen tiefen Schmerz zu. Barbara tat so, als habe sie es nicht bemerkt. Eifrig rührte sie in Susannes Brei herum.

Robin sah ihr zu. »Du musst dich beeilen, Mami. Susanne hat Hunger.« Plötzlich lachte er laut auf. »Sie hat eben sogar in ihren großen Zeh gebissen, als Thomas sie wickelte. Der Arme ist ganz nervös geworden.«

Nun musste auch Barbara lächeln. Es rührte sie, wie der junge Vater sich ihrer Anordnung fügte und nun wirklich selbst mit Hand anlegte. Sie ahnte, dass es dem reichen, verwöhnten Mann nicht leichtfiel, aber er hatte sich mit verbissenem Eifer in seine neue Pflicht eingearbeitet. Und selbst in der Woche, in der er Küchendienst hatte, schmeckte das Essen.

*

Drei Stunden später hatte sich Ruhe über die Villa Platen gesenkt. Nur der Geschirrspüler brummte noch bedächtig in der Küche.

Thomas saß mit einer Pfeife im Mund über seinen Berechnungen in dem kleinen Arbeitszimmer neben dem großen Wohnraum, Kai und Robin hatten sich in ihre Schlafzimmer zurückgezogen und schmökerten noch ein wenig unter der Bettdecke, wie das alle Jungen in ihrem Alter taten. Und Barbara saß hoch oben unter dem Dach. Mit ihrem ganzen Arbeitsmaterial wirkte das kleine Wohnzimmer, das früher den Platens als Gästeschlafraum gedient hatte, wie ein Atelier. Barbara fühlte sich wohl hier. Doch trotzdem ging ihre Arbeit an diesem Abend nicht voran. Sie hatte Thomas noch vor dem Essen klipp und klar erklärt, dass sie nicht die Patenschaft für Susanne übernehmen wolle. Es war ihr nicht entgangen, dass er dabei fast erleichtert aufgeatmet hatte.

»Das war ja auch nur eine Idee von Kai«, hatte er sich entschuldigt. »Wie ich meinen Sohn kenne, wird ihm noch jemand anders einfallen.«

Barbara war ein wenig überrascht gewesen. Im Innersten hatte sie gehofft, es würde aus diesem Anlass zu einer Aussprache zwischen ihnen kommen. Aber Thomas wich ihr – wie schon seit ihrer Ankunft in seinem Hause – merkwürdig freundlich aus.

Jetzt ließ Barbara ihren Bleistift auf ihre Zeichnung sinken und zündete sich eine Zigarette an. Wenn sie nicht genau wüsste, wie sehr ihre Gegenwart den Buben und Susanne half, würde sie sofort ausziehen, überlegte sie. Ja, sie liebte Thomas, obwohl er sich so verändert hatte. Sie begriff auch, dass sie Fehler begangen hatte. Es war nicht nur der flüchtige Kuss gewesen, es war auch ihr unüberlegter Entschluss, hierherzuziehen, tagtäglich mit ihm beisammen zu sein und ihre Gefühle für ihn verbergen zu müssen.

*

»Pst! Robin! Schläfst du schon?«

Zur gleichen Zeit schlich sich Kai in das Zimmer seines Freundes. Ohne viel Umstände zu machen, schlüpfte er zu ihm ins Bett.

»Sie will nicht, Robin.«

»Was will sie nicht?« Robin wusste sofort, wer gemeint war. ›Sie‹, das war seine Mutter, die von allen geliebte Barbara, die Frau, die auf fast unsichtbare Weise die Fäden in ihrer Hand hielt, an denen sie alle zappelten.

»Sie will nicht Taufpatin sein.«

Robins Gesicht drückte Enttäuschung und Wut aus. »Sie spinnt«, stieß er mit liebevoller Respektlosigkeit aus. »Weißt du auch, warum sie nicht will?«

Kai schüttelte den Kopf und räumte das Buch weg, in dem Robin noch bis vor Kurzem gelesen hatte. Es behinderte ihn bei seinen scharfen Überlegungen.

»Wahrscheinlich will sie von meinem Vater nichts mehr wissen. Das mit der Heirat wird nie was, sage ich dir.« Er sagte das mit einem so finsteren Gesichtsausdruck, dass Robin erschauerte.

»Meinst du, es war alles umsonst? Auch der Trick mit deiner Flucht nach Sophienlust?«

»Umsonst war es ja nicht. Sie hat mich geküsst und ist zu uns gekommen.« Kai kicherte glücklich. »Und Papi hat alles brav mitgemacht.«

»Aber nur, weil Tita an dem Tag gesagt hat, sie wolle nicht mehr bei uns bleiben.« Zu viel Triumph gönnte Robin Kai auch nicht.

Sie schwiegen einander an, jeder seinen Gedanken nachhängend.

»’ne neue Taufpatin hätte ich schon«, meinte Kai schließlich und kratzte sich wie ein Alter hinter dem Ohr. »Es könnte Tante Isi sein. Dann müsste sie uns bei der Taufe besuchen und Nick mitbringen.«

»Mensch, Klasse!« Robin stieß Kai so begeistert in die Seite, dass der fast aus dem Bett gefallen wäre. Dann aber wurde er skeptisch. »Meinst du, sie kommen wirklich? Nur wegen so einer Taufe von so einem kleinen Mädchen?«

»Natürlich kommen sie!«, empörte sich Kai. »Was muss denn sonst noch alles passieren, damit sie uns besuchen?«

»Hochzeit oder so etwas«, überlegte Robin laut. Dann überzog ein unheimlich raffiniertes Lächeln sein Gesicht. »Thomas wird ihnen schreiben, um sie einzuladen. Und dann – wenn der Brief fertig ist – sagen wir, wir wollen einen Gruß dazuschreiben. Dabei kritzeln wir einfach was darunter.«

»Was darunterkritzeln? Was denn?« Kai blickte seinen Freund ziemlich verständnislos an.

»Das fällt uns schon noch ein. Es muss etwas nahezu Kriminelles sein.«

»Oje«, stöhnte Kai. Dann verließ er Robins Bett ganz schnell, als würde ihm unheimlich bei so vielen heimtückischen Plänen, die vielleicht doch nichts nützten. Bis jetzt liebten Barbara und sein Vater sich immer noch nicht. Es war wirklich zum Verzweifeln. Aber noch war ja nicht aller Tage Abend.

*

»Sie kommen, Kai!«

Robin hatte am Vormittag des Tauftages oben an seinem Fenster Wache bezogen. Nun jubelte er, als der große Wagen Alexander von Schoeneckers vorfuhr und Denise, Nick und Henrik mit ihrem Vater ausstiegen. Kai trat neben Robin und blickte etwas besorgt hinunter. »Wenn es nur gutgeht, Robin. Wenn es nur gutgeht.«

Robin schneuzte sich. Seine Begeisterung schien nun auch in Furcht überzugehen. Aber dann sagte er mit kräftiger Stimme: »Quatsch, es muss einfach gutgehen. Schließlich vertragen sie sich doch gut. Wir kriegen eine deftige Abreibung, aber das macht nichts. Dafür haben wir hinterher auch richtige Eltern.«

»Und wenn sie sich nun nicht lieben wollen?« Kai war wirklich skeptisch. Ihm war zwischen Barbara und Thomas in letzter Zeit eine merkwürdige Spannung aufgefallen.

»Hauptsache, wir halten zusammen, Kai.« Robin klopfte seinem Freund, der nun endlich sein Bruder werden sollte, auf die Schulter. Sie trugen beide nagelneue Jacken, in denen sie sich noch gar nicht so recht wohlfühlten. Der Klaps war unter dem noch steifen Stoff kaum zu spüren.

Dann rannten sie die Treppe hinunter. In dem großen Wohnraum hatten sich schon einige Gäste versammelt. Mittendrin lag Susanne in ihrem Körbchen, das ihr nun schon fast zu klein wurde, genau wie die alte Bauernwiege. Sie sah sehr feierlich aus in ihrem langen spitzenbesetzten Batistkleid. Aber das kümmerte Susannchen wenig. Immer wieder grapschten ihre kleinen Hände nach der rosaroten Schleife auf ihrem Bauch. Dann sabberte sie das eine Ende nass.

»Aber Susannchen!« Barbara beugte sich über sie. In ihrem bordeauxroten eleganten Kostüm mit der weißen Seidenbluse sah sie heute besonders hübsch aus. Ihr Gesicht drückte in diesem Moment eine Zärtlichkeit für den kleinen Täufling aus, die alle Anwesenden rührte.

Thomas war mit den beiden Jungen hinausgegangen, um die Familie von Schoenecker zu begrüßen. Das Willkommen war herzlich, und über dem ganzen Haus lag eine feierliche Heiterkeit.

Von den anderen Gästen umringt, betrachtete Denise kurz darauf das kleine Mädchen, das sie an diesem Tag über das Taufbecken halten sollte. In ihren Augen standen Tränen. Sie erinnerte sich nun plötzlich an den Tag, an dem sie Kai die entsetzliche Nachricht von Dinahs Tod überbracht hatte. Es war ihr, als höre sie Frau Rennert wieder sagen: ›Wir wollen beten, dass dein Schwesterchen am Leben bleibt.‹

Susanne lächelte. Sie war nun ein halbes Jahr alt und schien es schon jetzt zu genießen, Mittelpunkt zu sein. Immer wieder versuchte sie, das eine Ende ihrer rosaroten Schleife in den Mund zu stecken.

»Das darfst du nicht!« Henrik hatte neugierig in den Babywagen gesehen und kam sich diesem Baby gegenüber wie ein Erwachsener vor.

Barbara lachte. Obwohl sie sich nicht ganz glücklich fühlte, heiterten die vielen netten Menschen sie auf. Die Zuneigung, die die Verwandtschaft Thomas Platens ihr entgegenbrachte, führte dazu, dass sie sich zum ersten Mal in der Villa Platen so ganz zu Hause fühlte. Doch Thomas wich ihr aus. Hatte er ihr nicht verziehen, dass sie die Patenschaft für Susanne nicht hatte übernehmen wollen?

»Und nun zu Ihnen, liebste Barbara!« Denise richtete sich auf und blickte Robins Mutter mit einem so unendlich lieben Blick an, dass Barbara ganz erstaunt war. Sekunden später fühlte sie sich von Denise ans Herz gedrückt. »Es ist die schönste Nachricht, die wir seit langem bekommen haben, Barbara. Wie glücklich werden die beiden Jungen sein, wieder richtige Eltern zu bekommen! Sie haben viel durchgemacht, aber ich glaube, Robin und Kai werden es Ihnen mit echter Dankbarkeit heimzahlen, wenn Sie erst einmal verheiratet sind.«

Barbara blickte sich unsicher und verwirrt um. Sie sah Thomas an, zwischen dessen Brauen sich eine steile Falte gebildet hatte. Es entging ihr auch nicht, dass Robin und Kai sich heimlich anstießen und ihre puterroten Köpfe zusammensteckten.

»Wir haben Ihnen ein Geschenk mitgebracht, Barbara.« Alexander von Schoenecker trat vor und umschloss Barbaras Hände mit einem innigen Griff. Dann ließ er sich von Henrik eine Schachtel überreichen. »Es ist eine uralte Bibel, Barbara und Thomas. Selbst dann, wenn es Ihnen am rechten Glauben mangeln sollte, können Sie darin nachlesen, wie es in einer echten Ehe zugehen soll: Auge um Auge, Zahn um Zahn.«

Susanne tat gurrend und glucksend bei dem allgemeinen Gelächter mit, aber Thomas und Barbara blickten sich todernst an.

»Und das hier ist von mir.« Nachdem wieder Stille eingetreten war, trat Nick vor. Er rollte ein selbstgemaltes Stück Pergament auseinander und las laut und stolz vor:

»Gutschein für Barbara und Thomas. Im Falle einer wie lange auch währenden Hochzeitsreise erkläre ich mich dazu bereit, die drei Kinder des Ehepaare Barbara und Thomas Platen persönlich auf Sophienlust zu betreuen. Zeitpunkt ganz nach Wahl des Ehepaares. Trauschein muss vorgelegt werden.«

Irgendjemand klatschte laut. Barbara sah sich um und blickte in das freundliche Gesicht von Thomas’ jüngerem Bruder. Thomas selbst war jedoch plötzlich verschwunden, und auch Robin und Kai hatten sich verdrückt.

»Leider kann ich Susanne aber noch nicht wickeln, Mutti«, schränkte Nick nun ein. »Ob ich das noch auf die Urkunde schreiben soll?«

Barbara hörte Denises Antwort nicht mehr. Sie machte sich Platz und entschwand nach oben. Ihre Wangen brannten, Tränen der Scham und Empörung stiegen in ihr auf. Was war das für ein entsetzliches Missverständnis! Wie furchtbar musste das alles für Thomas sein.

Mit eiligen Schritten stieg sie zu ihrem Zimmer empor. Es erschien ihr momentan als der einzig sichere Ort vor den Peinlichkeiten da unten. Als sie die Tür öffnete, stand Robin vor ihr. Sein Gesicht drückte Angst, Scham und auch Trotz aus. Da wusste Barbara, wer die ganze Geschichte angezettelt hatte.

Barbara kam nicht dazu, ihren Sohn zur Rede zu stellen. Robin stieß erregt und mit Tränen in den Augen hervor: »Du liebst Thomas doch, Mami! Ich weiß es ganz genau! Wirklich, du musst mir gar nichts sagen. Du liebst ihn!«

Barbara bebte am ganzen Körper. Sie fühlte sich zu schwach, um zu widersprechen, und lügen konnte sie schon gar nicht.

»Ja«, antwortete sie leise, »ich liebe ihn.«

*

Thomas hatte in seiner Wut einen großen Fehler gemacht. Als er begriffen hatte, dass es nur die beiden Schlingel gewesen sein konnten, die dieses Manöver angezettelt hatten, waren Robin und Kai schon verschwunden gewesen. Ohne lange zu überlegen, war er in den Garten gerannt, um sie dort zu erwischen. Aber er hatte sie nicht gefunden.

Nun stürmte er wieder ins Haus zurück und eilte die Treppe empor. Er fand Kai in seinem Zimmer am Fenster stehend. Das runde Gesicht seines Sohnes war puterrot. Thomas drehte Kai zu sich herum und gab ihm eine schallende Ohrfeige.

»Wie kannst du Barbara und mich in diese entsetzliche Situation bringen?«, brüllte er. »Nun hast du alles verdorben. Barbara lebt nur deshalb bei uns, weil sie voller Mitleid für unsere Lage war, nachdem Tita nicht mehr Tag und Nacht bei uns bleiben wollte. Wie konntest du das tun?«

»Ich sage nichts«, stammelte Kai und brachte damit seinen Vater nur noch mehr in Wut. »Ich rede nur in Gegenwart von Robin.«

»So!« Thomas ließ sich auf das Bett seines Sohnes sinken. Auf seiner Stirn hatten sich feine Schweißperlen gebildet. Nervös fuhr er sich durch sein Haar. »Nun werden wir Barbara ganz verlieren, Kai. Und Robin auch.«

»Warum denn?«

»Weil sie mich nicht liebt, Kai. Zwischen Erwachsenen gibt es viele Sorten von Freundschaft, die nichts mit Liebe zu tun haben. Und darum dürfen sich Kinder wie ihr nicht in diese Angelegenheiten einmischen.«

Thomas dachte an den zarten Kuss, den Barbara ihm einmal auf die Wange gehaucht hatte. Er war ganz sicher, dass das nur ein Zeichen ihres Mitgefühls gewesen war, der Beweis einer herzlichen, aber kameradschaftlichen Freundschaft, nicht der Ausdruck eines echten zärtlichen Gefühls.

»Aber mich liebt sie doch, Papi.« Kai sagte es leise und so, als habe er Mitleid mit seinem Vater. »Ich weiß es ganz genau.«

»Gar nichts weißt du, gar nichts!«, schimpfte Thomas. Er wusste, dass er seine Gäste dort unten nicht allein lassen konnte, fürchtete sich aber, ihnen als Bräutigam unter die Augen zu treten, ihre Glückwünsche, die gar nicht angebracht waren, entgegenzunehmen. Er war schließlich auch nur ein Mensch. Was sollte nun werden?

»Wo ist Robin?«, fragte er schroff. Er hätte ihm am liebsten auch eine geknallt. Dabei wusste er, dass das gar nichts an der peinlichen Situation ändern würde.

Jetzt riss jemand die Tür von außen auf. Es war Robin. Hinter sich zog er seine Mutter her wie ein alter Bauer seinen widerstrebenden Esel. Wenn sie nicht alle so erregt gewesen wären, hätte sie der Anblick zum Lachen gebracht.

»Sie liebt dich, Thomas. Sie liebt dich. Sie hat es mir eben gesagt.«

Es entstand ein langes Schweigen. Die beiden Jungen sahen sich aufatmend und blinzelnd an, Thomas und Barbara tauschten einen Blick, der Bände sprach. Aber keiner ergriff das Wort, um Klarheit zu schaffen. Die Jungen dachten gar nicht daran, die Erwachsenen allein zu lassen. Sie sahen von einem zum anderen, als erwarteten sie eine endgültige zärtliche Liebesszene, als säßen sie im Kino.

»Wenn ihr mir erzählt, was ihr eigentlich getan habt, um unsere Gäste so hinters Licht zu führen, könnt ihr wieder nach unten gehen.« Thomas erhob sich und trat neben Barbara. So, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, legte er seinen Arm um sie.

»Wir haben noch einen Nachsatz auf den Einladungsbrief geschrieben«, begann Robin.

»Wir haben geschrieben, Barbara und Thomas lieben sich«, gab Kai zu. »Wenn Susanne getauft wird, feiern wir Verlobung.«

Die beiden Jungen sahen zu Boden, als täte es ihnen nun unendlich leid.

»Ich möchte euch am liebsten noch eine kleben.« Thomas sagte es unwirsch, unterdrückte dabei aber ein Lächeln. Die junge Frau in seinem Arm wirkte auf ihn wie ein kühlender Umschlag auf eine fieberheiße Stirn.

»Noch eine?« Kai sah seinen Vater an. »Robin hat noch gar nichts abgekriegt. Die Erste spüre ich noch immer.«

»So ist das?« Barbara löste sich aus Thomas’ Umarmung und trat auf Robin zu. »Dann musst du auch eine Ohrfeige bekommen.« Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, klatschte es auf Robins Wange. »Und jetzt könnt ihr gehen«, verkündete sie danach feierlich.

Grinsend und so einig wie noch nie, stiegen die beiden Jungen die Treppe hinab. Tita hatte inzwischen einen Aperitif angeboten. Es sah ganz so aus, als hätte keiner der Taufgäste etwas von den Geschehnissen gemerkt. Und Susanne versuchte immer noch, ihre hübsche rose Schleife aufzuessen.

*

Es war ein erhebender Augenblick, als der Pfarrer Susannes Köpfchen befeuchtete und sagte: »Ich taufe dich auf den Namen Susanne Dinah.«

Der Name der Verunglückten ließ einige zusammenzucken. Kai blickte angestrengt auf seine Schwester. Insgeheim hoffte er, dass der Name keinen Einfluss auf ihr heiteres, glückliches Wesen haben werde. Aber das Baby strampelte zufrieden in Denises Armen und machte ›Gla, Gla‹, was wohl so viel wie ›Es wird schon werden‹ bedeutete.

Robin stupste seinen Freund an. Ihm war ganz feierlich zumute. Auch Nicks Gesicht drückte äußerste Beherrschtheit aus. Nur Henrik hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht loszulachen. Dass das kleine Mädchen über dem Becken dort vorn lallte, fand er zu komisch.

Thomas stand dem Taufbecken am nächsten, obwohl er sich hinter den Paten postiert hatte, zu denen auch sein Bruder gehörte. Seine Tochter nahm die ganze Zeremonie so gelassen hin, als nehme sie ihr tägliches Bad. Interessiert sah sie in die Gesichter, die sich über sie beugten. Sie kannte noch keine Furcht und keine schlechten Erfahrungen. Bis jetzt waren alle Menschen voller Liebe und Zärtlichkeit zu ihr gewesen.

Thomas ergriff Barbaras Hand. Nun wusste er, dass seinen Kindern diese Liebe und Zärtlichkeit erhalten bleiben würde. Innig presste er die zarten Finger der Frau, die er schon so lange liebte. Barbara sah kurz zu ihm empor. Ihre Augen waren ernst, aber sie drückten ein so starkes Vertrauen zu ihm aus, dass ihn ein seliger Schauer überlief.

»Was für ein schöner Tag«, sagte Alexander Schoenecker, als sie gemeinsam die Kirche verließen. Dabei war der graue Novembernebel so dicht, dass er die Menschen wie in eine Wolke einzuhüllen schien.

»Ja, so ist es.« Denise trug Susanne immer noch auf den Armen, obwohl Tita schon ungeduldig mit einer Decke neben ihr stand, um das frisch getaufte Kind vor der kühlen Luft zu schützen. Denise schien es nicht zu bemerken. Ihr Blick glitt von dem zarten Gesicht Susannes fort und richtete sich auf Thomas und Barbara. Sie wusste nicht, dass die beiden erst heute zueinandergefunden hatten. Ihr genügte es, dass dort ein Paar stand, das nun das Leben mit den drei Kindern teilen würde. In Freude und Leid, wie auch sie es tat.

Es wurde noch eine heitere Feier. Fast fünfzehn Menschen saßen um den großen Tisch herum und ließen sich Titas Festmenü schmecken. Nick, Henrik, Kai und Robin saßen am Ende der Tafel und machten Pläne, wie sie die Wochen in Sophienlust verbringen würden. Sie konnten es gar nicht erwarten, dass Thomas und Barbara in die Flitterwochen fuhren.

»Wann ist es denn so weit?«, fragte Nick schließlich Thomas. »Wann werden Sie heiraten?«

Thomas blickte fast verlegen drein. Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen. Das große Glück war so plötzlich über ihn gekommen, dass er es noch nicht gewagt hatte, in die Zukunft zu blicken. Ihm genügte es, Barbara neben sich zu wissen.

»Wir werden uns Zeit lassen«, erklärte Barbara ruhig. Doch als sie die enttäuschten Gesichter der Jungen sah, fügte sie hinzu: »Nicht zu viel Zeit.« Sie lächelte Thomas an, als wüsste sie, dass er sie verstand.

Gegen Abend leerte sich das Haus Thomas Platens. Die Familie von Schoenecker wurde herzlich verabschiedet, und auch die anderen Gäste verließen die junge Familie. Susanne wurde zu Bett gebracht, und Tita beseitigte die Spuren des großen Festes. Dabei summte sie lautstark den Choral, den die Gemeinde bei der Taufe gesungen hatte.

Als Barbara herunterkam, waren die beiden Frauen für einen Augenblick allein. Tita unterbrach ihren Gesang und stellte sich breit und selbstbewusst vor Barbara hin. Ihr Gesicht strahlte, obwohl sie sich bemühte, ein wenig Missfallen auszudrücken.

»Das hätten Sie mir aber eher sagen können, Frau Wirthner. Das mit Ihrer Verlobung. Denn nun muss ich mir ja wohl eine andere Stellung suchen.«

Barbara vermied es, zu lächeln. Sollte sie zugeben, dass sie schlichtweg überrumpelt worden war? Nein, denn dann würde Tita wieder eine Schimpfkanonade auf die beiden Jungen loslassen. Und das hatten Kai und Robin wirklich nicht verdient.

»Sie dürfen sich gar keine neue Stellung suchen, Frau Stubenweis. Bei uns werden Sie immer gebraucht.«

Da trat Tita auf sie zu, umarmte sie fest und sagte mit Tränen in den Augen: »Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen, Frau Wirthner. Denn nirgends ist es so schön wie hier, besonders, seit Sie hier sind. Es ist alles so friedlich. Und Herr Platen strahlt jeden Tag mehr vor Glück.«

»Wirklich?«, fragte Barbara etwas verwirrt.

»Ja«, bestätigte die Haushälterin. »Ich habe schon von Anfang an gewusst, dass er Sie liebt.«

Barbara schwieg. Geahnt hatte sie es auch, aber um es zu erfahren, hatten diese frechen Bengel erst eine kleine Intrige anzetteln müssen.

Am Abend war es endlich ganz still im Haus. Tita war gegangen. Barbara hatte einen kleinen Imbiss vorbereitet. Auf vier Tellern hatte sie einen bunten Salat angerichtet und die Teller auf den runden Tisch am Kamin gestellt. Für die Jungen war eine Flasche Limo kaltgestellt, für Thomas und sie eine Flasche Sekt. Nun zündete Barbara die Kerzen an und rief zu Tisch.

Thomas legte die alte Bibel beiseite, die das Ehepaar von Schoenecker dem jungen Paar geschenkt hatte. Lächelnd beobachtete er Barbara.

»Allein schon wegen dieser herrlichen Bibel muss ich dich heiraten, Liebste. Sonst hätte ich sie zurückgeben müssen.« Er erhob sich und umarmte Barbara zärtlich.

Aus der Küche kamen Kai und Robin mit den beiden Flaschen.

»Jetzt feiern wir Verlobung«, verkündete Robin stolz. »Wir gehen erst um Mitternacht ins Bett. Wie die Großen.«

Während Thomas den Sektpfropfen gekonnt entfernte und allen – auch den Söhnen – etwas eingoss, bildete sich auf Barbaras Gesicht ein spitzbübisches Lächeln.

»Das mit dem Spätzubettgehen schlagt euch gleich aus dem Kopf. Kai muss schließlich morgen zur Schule.«

»Ich auch, Mami.«

»Nein, Robin. Du wirst morgen fehlen und mir beim Umzug helfen.«

»Beim Umzug? Bei welchem Umzug?«

Amüsiert sah Barbara sich um. Dann blieb ihr Blick an Thomas’ erstaunten Augen hängen.

»Robin und ich werden morgen wieder in unsere kleine Wohnung ziehen, Thomas. Als deine Hilfe konnte ich hier leben, als deine Braut nicht.«

»Du bist aber reichlich kleinlich.« Thomas war so überrascht, dass er diese Worte nicht bei sich behalten konnte, zumal er wusste, dass er haargenau die Meinung der Jungen teilte.

Mit offenem Mund hatten Kai und Robin Barbaras Entschluss vernommen. Nun nickten sie ernsthaft, um Thomas’ Ausspruch zu bekräftigen.

Barbara lächelte sie alle der Reihe nach unschuldig an. »Kleinlich bin ich nicht, aber naiv und romantisch. Ich will nämlich als richtige Braut über diese Schwelle getragen werden, wie es sich gehört. Wozu habe ich schließlich drei starke Männer?«

»Und deswegen müssen wir extra umziehen?«

Barbara nickte. »Ja, dann freuen wir uns umso mehr, wenn wir endlich richtig zusammengehören.«

Dagegen war nun wirklich nichts einzuwenden, aber Thomas blickte Barbara fast wehmütig an. Nun endlich durfte er zeigen, wie sehr er sie liebte, da entzog sie sich ihm.

»Du musst keine Angst haben, Thomas. Wenn du mich brauchst, bin ich zur Stelle. Und Tita wird bis zum Frühjahr wieder einziehen. Mit Kai allein wird sie schon fertig.«

»Im Frühjahr? Bis zum Frühjahr willst du in deiner Wohnung leben? Das ist ja fast noch ein halbes Jahr.«

Ein ernster Blick traf ihn. »Ich habe noch viel zu tun, Thomas. Ich will unsere Ehe nicht mit Schulden beginnen.«

Schweigend stocherten sie in ihrem Salat.

»Mami kann ziemlich dickköpfig sein«, sagte Robin schließlich altklug. »Hoffentlich gibt sich das in der Ehe.«

Alle lachten. Nur Kai schmollte.

»Du hast es schon verdammt gut, eine Mutter zu haben«, sagte er viel später vorwurfsvoll zu seinem Freund. »Du bekommst die zarteren Ohrfeigen und kannst Schule schwänzen, wenn sie umzieht.«

»Dafür hast du Susanne, Kai.«

»Na ja.« Kai drückte eine Menge Zahnpasta auf seine Zahnbürste. »Aber das kann sich ja noch ändern. Vielleicht kriegst du auch noch eine Schwester.«

Da ließ Robin kaltes Wasser in seine Hand laufen und spritzte es Kai ins Gesicht.

»He, wach auf, alter Knabe. Wenn ich eine Schwester bekomme, ist sie doch auch deine!«

Und weil sich die beiden unbeobachtet wussten, hielten sie sich bei den Händen und schüttelten sie wie zwei alte Box-Veteranen nach einem letzten gut durchstandenen Kampf.

Als sie ausgezogen und gewaschen waren, schlichen sie hinunter, um Barbara und Thomas gute Nacht zu sagen. Aber sie kamen nicht weit. Das Paar saß engumschlungen vor dem Kamin. Barbara hatte ihren Kopf gegen Thomas’ Schulter gelehnt. Es war ganz still.

Da machte Kai Robin ein Zeichen und bedeutete ihm, nach oben zu gehen. Sie hatten nicht nur eine Schlacht geschlagen und den Kampf gewonnen, sie hatten auch das Glück zu sich geholt, das ihnen so lange gefehlt hatte.

Sophienlust Paket 3 – Familienroman

Подняться наверх