Читать книгу Sophienlust Paket 3 – Familienroman - Patricia Vandenberg - Страница 24

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Die Kinder von Sophienlust sowie Dominik von Wellentin-Schoenecker und sein kleiner Halbbruder Henrik von Schoenecker standen auf der Freitreppe und winkten dem weißen Mercedes nach, der eben langsam durch das Parktor davonfuhr.

»Nun sind die Hs auch fort«, stellte Pünktchen ein wenig traurig fest. Damit meinte sie die Brüder Hermann, Helmut und Horst Lochner, die von den anderen Kindern so genannt worden waren, weil ihre Vornamen alle mit H anfängen. »Jetzt sind nur noch zehn Kinder hier.« Sie fing zu zählen an. »Da ist erst einmal Irmela, dann Angelika und Vicky, dann Fabian und Heidi, ja, und ich. Das sind sechs. Dann Helga, Ilse, Werner und Klaus. Ja, es sind zehn. Denn Nina bleibt ja nicht da.«

»Und wir?«, fragte Henrik. »Uns hast du wohl ganz vergessen, mich und Nick?«

»Ihr gehört doch nicht zu den Kindern von Sophienlust«, erwiderte das zwölfjährige Mädchen mit den goldblonden Haaren, den tiefblauen Augen und den lustigen Sommersprossen. Letzteren hatte sie auch den Spitznamen Pünktchen zu verdanken. In Wirklichkeit hieß sie Angelina Dommin. »Nick ist der Besitzer von Sophienlust, und du gehörst ja eigentlich nach Schoeneich.«

»Aber auch hierher.« Henrik stieß Pünktchen unauffällig an und machte sie damit auf ein ungefähr neunjähriges Mädchen mit langen blonden Haaren aufmerksam, die vorn zu einem Pony geschnitten waren.

»Nina, bitte, nicht weinen«, bat Pünktchen mitleidig. Sie fasste nach der Hand der Jüngeren, mit der sie sich während der Sommerferien angefreundet hatte. »Deine Eltern kommen bestimmt morgen. Morgen ist ja schon Sonnabend. Und am Dienstag fängt die Schule wieder an.«

Nina schluckte ihre Tränen herunter. »Ich verstehe nur nicht, weshalb sie nicht einmal angerufen haben. Mutti hat mir zum letztenmal vor drei Wochen geschrieben. Und danach hat sie nichts mehr von sich hören lassen. Dass Vati mir nicht schreibt, verstehe ich ja. Schließlich hat er als Strafverteidiger nur wenig Zeit. Wenn er nicht im Gericht ist, muss er in seinem Stadtbüro sein. Oft kommt er sehr spät nach Hause. Mutti und ich warten dann auf ihn«, erzählte Nina. Dabei leuchteten ihre Augen auf. »Ja, Pünktchen, bestimmt werden meine Eltern morgen Vormittag kommen. Vati hat gewiss heute einen wichtigen Termin bei Gericht.«

Nick, der mit vollem Namen Dominik von Wellentin-Schoenecker hieß, saß auf der obersten Stufe der Freitreppe und kraulte den Bernhardiner Barri hinter den Ohren. Nun mischte er sich in die leise geführte Unterhaltung, von der er jedes Wort verstanden hatte, ein. »Es muss schon sehr interessant sein, als Strafverteidiger einen Einblick in so viele menschliche Tragödien zu bekommen. Er verteidigt doch wirkliche Verbrecher?«

»Du meinst Mörder und so?«, fragte Nina.

»Ja, Nina.«

»Ich weiß das nicht so genau. Aber ich glaube, dass er Raubmörder nicht verteidigt, sondern nur solche, die unter falschem Verdacht stehen. Ja, so ist es. Aber auch andere Menschen, die irgendein Verbrechen begangen haben, verteidigt er.«

»Aber er verteidigt doch nur reiche Leute, nicht wahr?«, fragte Fabian. Er hockte neben seiner großen schwarzen Dogge Anglos auf dem Steinboden.

»Das weiß ich nicht«, entgegnete Nina mit einem unsicheren Lächeln. »Pünktchen, kommst du mit in den Wintergarten? Ich möchte zu Habakuk. Ich finde es schön, dass er nun auch meinen Namen sagen kann.«

»Nina ist ja kein schwerer Name«, erklärte Henrik. »Habakuk ist ein überaus intelligenter Papagei. Er lernt auch viel schwierigere Namen. Zum Beispiel Krambambuli oder Kirschkuchentorte.«

»Das ist doch dumm, was du da sagst.« Vicky sah den Siebenjährigen von oben herab an. »Entweder heißt es Kirschkuchen oder Kirschtorte.«

»Habakuk sagt aber Kirschkuchentorte«, bestand der Junge eigensinnig auf seiner Behauptung.

»Hört zu streiten auf«, ermahnte die vierzehnjährige Irmela Groote die kleineren Kinder. Sie war momentan das älteste Mädchen im Kinderheim und fühlte sich verpflichtet, erzieherisch auf die kleineren Kinder einzuwirken.

»Ich geh jetzt zu Habakuk.« Nina lief schon die Stufen der Freitreppe hinauf. Die anderen folgten ihr. Nur die kleine vierjährige Heidi blieb mit weinerlich verzogenem Mund stehen, als ihr die großen Kinder einfach davonliefen.

Schwester Regine, die Kinderschwester von Sophienlust, die sich gerade im Büro befand und mit der Heimleiterin sprach, erblickte ihren Liebling auf der Freitreppe und sah auch, dass Heidi zu weinen begann.

»Entschuldigen Sie mich bitte«, bat sie Frau Rennert und verließ das Zimmer.

»Alle haben mich nicht lieb«, klagte Heidi und streckte der jungen Kinderschwester die Arme entgegen.

»Heidi, jeder hat dich lieb. Und ich habe dich ganz besonders lieb.« Sie hob das kleine Mädchen auf und drückte es zärtlich an sich. Jedes Mal, wenn sie das Kind so hielt, wurde es ihr ganz wunderlich ums Herz. Ihre kleine Tochter Elke, die sie auf tragische Weise verloren hatte, wäre jetzt auch vier Jahre alt. Heidi glich ihrem verlorenen Kind auch äußerlich auffallend.

»Die anderen sind in den Wintergarten zu Habakuk gegangen, Schwester Regine«, sagte Heidi, schon wieder getröstet. »Gehen wir auch dorthin?«

»Aber ja, Heidi.« Schwester Regine stellte die Kleine wieder auf ihre Füßchen und fasste sie bei der Hand.

»Dann komm.«

Alle Kinder waren im Wintergarten versammelt. Sie umstanden den großen Käfig mit dem bunten Papagei, der gerade seinen ganzen Wortschatz vom Stapel ließ. Er nannte alle Namen der Kinder, die einmal hiergewesen waren. Dann rief er die Kinder, die jetzt vor seinem Käfig standen. Schließlich sagte er mit seiner krächzenden Stimme: »Banane her! Wird’s bald, Nick! Dummer Junge. Böser Schlingel!«

»Na warte, du Racker.« Nick drohte dem Vogel scherzhaft mit dem Zeigefinger. Dann aber nahm er eine Banane aus der Obstschale, die auf dem Tisch stand, und schälte sie ab.

»Guter Nick!«, rief Habakuk sichtlich zufrieden über seinen Erfolg.

Nina lachte am lautesten, doch dann füllten sich ihre Augen wieder mit Tränen. Schnell verließ sie den Wintergarten. Als sie tränenblind durch die Halle eilte, lief sie Denise von Schoenecker, Nicks Mutter, in die Arme.

»Ach, Tante Isi, ich bin so schrecklich unglücklich!«, rief das Mädchen und warf sich in Denises Arme. »Warum kommen meine Eltern nicht? Alle Ferienkinder sind schon abgeholt worden. Nur ich bin noch da.«

»Deine Eltern werden gewiss morgen kommen, mein Kleines.« Denise zog das Kind tröstend an sich. Dass sie selbst beunruhigt war über das Stillschweigen des bekannten Strafverteidigers Peter Hille und seiner jungen Frau, gab sie dem Kind gegenüber natürlich nicht zu und auch nicht, dass sie am Tag zuvor einigemale in der Villa im Süden von Frankfurt angerufen hatte. Doch niemand hatte sich gemeldet.

»Glaubst du das auch? Die Kinder haben das auch gesagt. Dann kommen Mutti und Vati ganz bestimmt morgen.« Nina atmete tief auf. »Ich bin gern hier, Tante Isi. Aber ich freue mich auch auf daheim.«

»Das ist verständlich, Nina. Das tun doch alle Kinder.« Liebevoll strich Denise dem Mädchen über das seidenweiche Haar

»Und in den nächsten großen Fe­rien komme ich auch wieder zu euch. Mir hat es hier sehr gut gefallen. Ich habe doch auch ein Bäumchen in der Baumschule gepflanzt. Gestern ist Justus mit uns allen dort gewesen. Nun steht ein winziges Bäumchen mit meinem Namensschild dort. Und heute Morgen sind wir alle wieder ausgeritten. Bestimmt wird das Pony Judy, das ich immer habe reiten dürfen, traurig sein, wenn ich fort bin.«

»Bestimmt, Nina.« Denise lächelte gütig. Sie bemerkte deutlich, wie sehr das Kind sich bemühte, sie alle nicht zu kränken, obwohl es sehnsüchtig darauf wartete, endlich von seinen Eltern abgeholt zu werden.

»Weißt du was, mein Kleines?«, schlug Denise spontan vor. »Heute fährst du mit Pünktchen, Nick und Henrik noch einmal zum Tierheim Waldi & Co.«

*

So geschah es auch. Glücklich saßen die vier Kinder am Nachmittag in Denises Auto. Jeder Besuch im Tierheim war für sie eine große Freude.

Andrea, die Tochter Alexander von Schoeneckers aus seiner ersten Ehe, hatte mit achtzehn Jahren den Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn geheiratet. Inzwischen hatte das Ehepaar einen Sohn Peter-Alexander, der aber nur Peterle genannt wurde.

Das junge Ehepaar liebte Tiere sehr. Das Tierheim Waldi & Co. war für beide zu einer lohnenden Aufgabe geworden. Den Namen hatte das Heim dem Langhaardackel Waldi zu verdanken. Als dieser einem Kind das Leben gerettet hatte, war das Tierheim nach ihm benannt worden.

Waldi war jedoch nicht der einzige Hund in dem geräumigen modernen Landhaus des Tierarztes. Auch Waldis Frau, genannt Hexe, und die Kinder der beiden, Pucki und Purzel, lebten in der Villa. Das fröhliche Gebell der vier Dackel schallte oft so laut durch das Haus, dass die große schwarze Dogge Severin empört ihre Ohren zurücklegte und sich schüttelte, als habe man sie mit Wasser begossen. Das kümmerte die Dackel allerdings wenig. Sie hielten es für ihre Pflicht, allen kundzutun, dass sie dawaren. Waldi fühlte sich ganz als Chef des Tierheims und ließ sich auch von Severin nicht einschüchtern.

Auch jetzt, als die Kinder aus Denises Wagen stiegen, fingen die Dackel laut zu bellen an, sodass sich Andrea, die von dem Gebell aus dem Haus gelockt worden war, beide Ohren zuhielt und rief: »Seid doch endlich still, ihr Rasselbande.«

Ihre Stimme hatte eine erstaunliche Wirkung auf die vier Dackel. Sofort verstummten sie und sahen ihr Frauchen anbetungsvoll an.

Andrea begrüßte ihre Stiefmutter, die sie innig liebte, lachend. »Mutti, fein, dass ihr kommt. Betti hat heute Apfelkuchen gebacken. So viel, dass ich schon Angst hatte, er wird alt werden.«

»In einem solchen Fall brauchst du nur einige Kinder von Sophienlust einzuladen. Dann lebt der Kuchen kaum einen Tag«, erwiderte Denise fröhlich.

»Guten Tag, Schwesterherz«, begrüßte Nick seine Stiefschwester mit brüderlicher Herzlichkeit. »Bist du nicht dicker geworden?«

»Bin ich das wirklich, Mutti?«, fragte Andrea entsetzt und blickte an sich herunter. Sie war eine grazile mittelgroße Frau mit dunkelbraunen Haaren und auffallend schönen blauen Augen.

Nick grinste von einem Ohr bis zum andern. »Hereingefallen, Schwesterchen!«, rief er übermütig.

»Na, warte!« Andrea drohte ihm mit der Faust. »Dann kann ich ja heute Nachmittag beruhigt Kuchen mit Schlagsahne essen. Hans-Joachim ist noch nicht da. Er hat soeben angerufen und mich gebeten, die Besitzer seiner vierbeinigen Patienten etwas zu vertrösten. In einer guten halben Stunde werden sie bestimmt das Wartezimmer zu füllen beginnen. Bis dahin habe ich aber noch Zeit.«

»Wo ist denn Hans-Joachim?«, wollte Henrik wissen.

»Auf einem Bauernhof. Eine Stute bekommt ihr Fohlen. Na, Nina, du bist auch noch da?«, fragte Andrea und sah die Neunjährige an. Zu spät hatte sie Denises Blick aufgefangen.

»Ja, weil meine Eltern noch nicht gekommen sind«, erwiderte das Mädchen leise und senkte den Kopf, damit niemand die Tränen in seinen Augen sah.

Inzwischen hatten auch die anderen Kinder Andrea begrüßt. Sie folgten ihr nun ins Haus.

Zuerst gingen alle – wie konnte es auch anders sein – zu Peterle. Der Stubenwagen stand auf der Terrasse.

»In diesem Jahr ist der September so schön, dass ich Peterle fast den ganzen Tag draußen lassen kann«, erklärte Andrea und beugte sich über ihren Sohn. Mit mütterlicher Zärtlichkeit strich sie ihm über das flaumige blonde Haar. Aus seinen großen braunen Augen lachte er seine Mutter an.

»Peterle, deine Großmama ist gekommen. Deine beiden Onkel sind auch da«, sagte die junge Frau. »Und Pünktchen und Nina auch.«

Peterle krähte fröhlich. Als Denise sich über den Stubenwagen beugte, streckte er ihr die Ärmchen entgegen.

Denise hob den kleinen kräftigen Jungen hoch und gab ihm einen Kuss.

»Findet ihr nicht auch, dass Peterle Nina ähnlich sieht?«, meinte Henrik. Er war sehr stolz darauf, dass er schon Onkel war.

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte seine große Halbschwester erstaunt.

»Na ja, weil Peterle und Nina braune Augen und blonde Haare haben.«

»Stimmt, mein Junge«, entgegnete Denise lachend.

Das Hausmädchen Betti erschien. Die Dogge Severin folgte ihr auf dem Fuß. Sie beäugte die Kinder misstrauisch, weil sie so dicht bei Peterle standen. Als Severin aber erkannte, wer die Gäste waren, wedelte er freundlich mit seiner spitzen Rute.

Nach dem Kaffee liefen die Kinder zum Tierheim. Es war ein langgestreckter Flachbau mit einer breiten zweiflügeligen Tür und hocheingelassenen Fenstern.

Der Tierpfleger Helmut Koster begrüßte die Kinder und führte sie zu den einzelnen Boxen. Während sie sich dort über die Schimpansen Luja und Batu, über die Braunbärin Isabell und deren Kinder Taps und Tölpl, die unermüdlich die Rutsche hinuntersausten, amüsierten, erzählte Denise Andrea von Ninas Kummer.

»Ich habe das Gefühl, irgendetwas stimmt bei den Hilles nicht. Frau Hille war doch so sehr um Nina besorgt, als sie das Kind zusammen mit ihrem Mann zu Beginn der Ferien nach Sophienlust brachte. Mir ist ihr Schweigen unverständlich.«

»Wenn etwas geschehen wäre, Mutti, hätten wir das bestimmt erfahren.«

»Das sage ich mir ja auch. Trotzdem bin ich in großer Sorge. Ich habe gestern mehrmals in der Villa angerufen und versucht, jemanden zu erreichen. Aber niemand hat sich gemeldet. Dabei haben sie doch Hausangestellte. Nina erzählte das.«

»Das ist merkwürdig«, gab Andrea zu. »Am Dienstag fängt die Schule an. Bis dahin wird Nina bestimmt abgeholt werden.«

»Wenn nicht, fahre ich nach Frankfurt und erkundige mich an Ort und Stelle, was los ist«, nahm sich Denise vor.

»Ich begleite dich dann, Mutti. Hans-Joachim kann schon mal einen Tag ohne mich auskommen. Sieh doch, Mutti, die Kinder haben sich den Esel Fridolin vor den alten Gig spannen lassen.« Andrea deutete auf den Wagen und den Esel. Pünktchen und Nina saßen im Gig, Nick und Henrik liefen nebenher.

Die Dackel, die bisher ruhig im Schatten der Terrasse auf dem Rasen gelegen hatten, sprangen bellend auf und liefen zu dem Gespann hin.

Fridolin nahm ihr Gebell übel und setzte sich kurzerhand auf sein Hinterteil. Selbst Helmut Koster gelang es nicht, ihn zum Weitergehen zu bewegen. Erst als das Liliput-Pferdchen Billy und der alte Esel Benjamin angetrabt kamen, bequemte Fridolin sich endlich zum Aufstehen.

An diesem fröhlichen Nachmittag vergaß Nina ihren Kummer. Sie ahnte nicht, dass es für sie für lange Zeit der letzte glückliche Tag sein sollte.

*

Am nächsten Morgen blickte Nina beim Frühstück immer wieder aus dem Fenster. Sie wusste, wenn Tante Isi und die Kinder recht behalten sollten, mussten ihre Eltern an diesem Tag kommen, um sie abzuholen. Ihr großer Koffer war schon seit zwei Tagen gepackt. Nur der kleine Koffer war noch leer. Sobald ihre Eltern dasein würden, würde sie die Sachen, die sie täglich brauchte, schnell dort hineingeben.

Denise kam gleich nach dem Frühstück von Schoeneich herüber.

»Bis jetzt haben wir immer noch keine Nachricht von den Hilles«, sagte Frau Rennert besorgt. »Hoffentlich sind die beiden nicht verunglückt.«

»Dann hätte man uns benachrichtigt.« Denise schüttelte den Kopf. »Es muss etwas anderes sein. Aber was?«

»Unser Auto kommt!«, rief Nina in diesem Augenblick jubelnd und stürmte aus der Halle. »Es ist unser Auto! Mutti! Vati!«

Barri lief bellend hinter Nina die Treppe hinunter. Die anderen Kinder folgten ihr etwas langsamer.

Nina blieb wie angewurzelt stehen, als sie sah, dass nur ihr Vater aus dem Wagen stieg. Ihre Enttäuschung hätte den hochgewachsenen Mann mit den ernsten dunklen Augen und den dunklen Haaren kränken müssen. Aber er schien nicht einmal zu bemerken, wie enttäuscht seine Tochter war.

Nina hing sehr an ihrem Vati und bewunderte ihn auch, aber ihre Mutti liebte sie weit mehr. »Guten Tag, Vati«, sagte sie mit zuckenden Lippen und gab ihm einen schnellen Kuss. Dabei blickte sie ratlos in den Wagen, so, als hoffe sie, dass ihre Mutti doch darin sei.

»Guten Tag, Nina. Bist du fertig? Ich habe nur wenig Zeit. Zwar ist heute Samstag und kein Termin auf dem Gericht. Aber ich habe noch viel zu tun.«

»Ich bin gleich fertig, Vati. Aber warum ist Mutti denn nicht mitgekommen?«

Dr. Peter Hille wich den großen fragenden Kinderaugen aus. »Sie konnte nicht mitkommen, Nina. Ich erzähle dir alles später.« Er begrüßte nun Denise und dann die Heimleiterin. Schwester Regine war schon in das erste Stockwerk des Herrenhauses, in dem sich die Schlafzimmer der Kinder befanden, hinaufgelaufen, um Ninas restliche Sachen einzupacken.

Den beiden Damen entging nicht die Nervosität des Besuchers und das unruhige Flackern in seinen Augen. Denise hätte zu gern erfahren, was geschehen war. Dass etwas geschehen war, stand für sie nach dem Verhalten Dr. Hilles fest. Aber sie war viel zu diskret, um Fragen zu stellen.

Peter Hille dachte jedoch nicht daran, etwas zu sagen. Für ihn schien es eine Qual zu sein, mit den beiden Frauen beisammen sein zu müssen. Während des Gesprächs über alltägliche Dinge blickte er zwischendurch immer wieder ungeduldig auf seine Armbanduhr.

Unterdessen verabschiedete sich Nina von allen in Sophienlust. Niemanden vergaß sie, auch nicht die Huber-Mutter, eine uralte Frau mit seherischen Fährigkeiten, die ihren Lebensabend in einem hübschen Zimmer des Herrenhauses verbrachte.

»Meine Mutti ist nicht mitgekommen«, erzählte sie allen mit traurigen Augen. »Aber bald sind wir ja in Frankfurt. Dort sehe ich sie dann wieder.«

Als Nina endlich neben ihrem Vater im Auto saß und so lange zurückwinkte, bis sie nichts mehr von Sophienlust sehen konnte, meinte Nick sehr nachdenklich zu seiner Mutter: »Irgendetwas ist bei den Hilles geschehen. Hast du nicht auch das Gefühl?«

»Leider habe ich das gleiche Gefühl, mein Sohn.«

»Ich glaube auch, dass Nina bald wieder zu uns zurückkommen wird. Vielleicht ist ihre Mutti schwer krank geworden?«

»Hoffentlich nicht, Nick.«

»Ich hoffe das auch nicht, Mutti. Aber ich spüre, dass auf Nina daheim ein großer Kummer wartet.«

*

Damit sollte Nick recht behalten.

Nina gab es auf, während der Fahrt weitere Fragen nach ihrer Mutter zu stellen. Ihr Vati gab ihr keine Antwort. Mit zusammengezogenen Brauen saß er am Steuer und blickte mit finsteren Augen auf den Verkehr. Ganz fremd kam er ihr vor. Sonst war er immer zu fröhlichen Späßen aufgelegt gewesen. Wie lustig war dagegen die Fahrt nach Sophienlust gewesen, dachte Nina traurig. Damals hatten sie unterwegs in einem hübschen Restaurant zu Mittag gegessen. Mutti und Vati hatten viel gelacht. Auch sie selbst hatte gelacht, obwohl ihr Herz sehr schwer gewesen war, weil sie sich doch für so viele Wochen von ihren Eltern trennen musste.

Aber die folgenden Wochen waren sehr schnell vergangen. Denn jeder Tag in Sophienlust hatte neue Erlebnisse gebracht. Ja, es war wunderschön in dem Kinderparadies gewesen.

Allmählich verblassten Ninas Erinnerungen an die herrliche Ferienzeit. Dafür trat die Sorge um ihre geliebte Mutti wieder in den Vordergrund. Unaufhörlich geisterten ihre Gedanken um sie. Als der Wagen endlich den stillen Frankfurter Vorort erreichte, klopfte ihr Herz zum Zerspringen. Dann fuhren sie durch die Villenstraße, in der das Haus ihrer Eltern stand.

Nina richtete sich halb auf, als sie durch das offenstehende Tor fuhren. Kaum hielt der Wagen, kletterte sie auch schon heraus.

»Nina, so warte doch!«, rief ihr Vater hinter ihr her.

Nina hörte seinen Ruf nicht einmal. Sie lief die wenigen Stufen zur Haustür hinauf, öffnete die Tür. »Mutti! Mutti!«, rief sie aufgeregt. »Mutti, ich bin da!« Sie durchsuchte zuerst die unteren Räume, übersah die mitleidigen Blicke des Hauspersonals, als sie die Treppe hinauflief.

Mit hängenden Schultern kam Nina wenige Minuten später wieder die Treppe herunter. Sie sah ihren Vater, das Hausmädchen Wally und die Köchin Agi durch den Schleier ihrer Tränen in der Wohnhalle stehen. Angst schnürte ihr die Kehle zu.

»Wo ist Mutti?«, fragte sie ganz leise. Dabei liefen ihr helle Tränen über das Gesicht.

»Nina, Mutti ist nicht da.« Peter Hille fasste seine Tochter bei der Hand und ging mit ihr in sein Arbeitszimmer.

»Wann kommt sie wieder, Vati?« Nina ließ seine Hand nicht los, als sie sich setzte.

»Sie kommt nicht mehr wieder, Nina.«

»Nicht mehr wieder? Aber das geht doch nicht, Vati!«, rief das Kind erregt. Jetzt erst ließ es die Hand des Vaters los. »Warum kommt sie nicht wieder?«

»Du musst jetzt ein vernünftiges kleines Mädchen sein«, erwiderte Peter heiser. »Deine Mutti hat mich nicht mehr lieb. Sie ist zu einem anderen Mann gegangen, den sie lieber hat als mich und auch lieber als dich. Sonst wäre sie bei uns geblieben.«

»Aber das geht doch nicht«, wiederholte Nina fassungslos.

»Ach, mein Kind, du hast keine Ahnung, was alles geht.« Peter Hille seufzte tief auf und zündete sich dann eine Zigarette an.

»Aber ich will zu meiner Mutti.« Nina weinte leise.

»Das ist nicht möglich, Nina.«

»Aber ich habe sie doch so lieb, Vati.« Ninas Schluchzen wurde lauter. »Wo ist sie denn?«

»Ich kann dir das nicht sagen, Nina.«

»Dann weißt du es nicht?« Aus großen verweinten Augen sah Nina zu ihm auf.

»Nein, ich weiß es nicht.« Das stimmte natürlich nicht. Peter wusste nur zu genau, wo Linda war. Aber Nina durfte das niemals erfahren. Jedenfalls nicht, solange sie noch so klein war.

Das Telefon läutete.

Als Peter den Hörer wieder auf die Gabel legte, sagte er: »Nina, ich muss noch einmal fort. Ich bin mit einem Klienten verabredet. Am Montag ist schon die Verhandlung.«

»Ja, Vati, geh nur.« Nina stand auf.

»Ich …« Sie konnte nicht weitersprechen und lief aus dem Raum.

Peter atmete schwer auf. Nina tat ihm unendlich leid. Aber sie würde vergessen. Eines Tages würde sie einsehen, dass er richtig gehandelt hatte, als er sich geweigert hatte, Linda das Kind zu überlassen.

Schweren Herzens verließ er die Villa. Wally und Agi bemühten sich rührend um das einsame kleine Mädchen, doch Nina war für jeden Trost unansprechbar. Sie weinte sich an diesem Abend in den Schlaf. Sie bemerkte nicht, dass ihr Vater noch einmal zu ihr ins Zimmer kam und eine Weile an ihrem Bett stand. Bevor er wieder ging, küsste er sie sanft auf die Stirn und sagte: »Schlaf gut, mein kleines Mädchen.«

Wieder lag ein einsamer Abend vor ihm, an dem er von seinen quälenden Vorstellungen verfolgt wurde. Er sah Linda in den Armen des anderen, hörte ihr zärtliches Lachen, ihre weiche Stimme.

»Was habe ich nur falsch gemacht, dass sie mich um des anderen willen verlassen hat?«, fragte er laut in die Stille des Raumes hinein. »Was nur?«

Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Es war wohl ein Fehler gewesen, dass er kaum Zeit für Linda gehabt hatte. Linda hatte sich gelangweilt. War es aber wirklich so gewesen? Sie hatte doch einen großen Haushalt und eine kleine Tochter, die sie liebte. Allerdings nicht so stark liebte, dass sie ihretwegen auf den anderen Mann hatte verzichten können.

*

Nina erwachte am Morgen von einem Geräusch. Sie setzte sich in ihrem Bett auf und stellte fest, dass es in Strömen regnete. Auch war sie fast ein wenig verwundert darüber, dass sie nicht mehr in Sophienlust war.

Dann fiel ihr alles wieder ein. Ihre Mutti war nicht mehr da, und ihr Vati wusste nicht, wo sie war, sodass sie sie nicht einmal besuchen konnte.

Nina stand auf und wusch sich. Dann schlüpfte sie in ihre Jeans und einen Pulli, den sie in der Kommode fand. Sonst war sie viel eitler, aber an diesem Tag war es ihr gleichgültig, wie sie aussah. Mit der Bürste fuhr sie sich nur oberflächlich über das Haar.

Nina war tief enttäuscht, als sie erfuhr, dass ihr Vati schon in aller Frühe fortgefahren war. Es war doch Sonntag …

Die gutmütige Köchin Agi brachte das Frühstück. Sie bestrich zwei Toastscheiben mit Butter und Marmelade. Doch Nina brachte keinen Bissen herunter. Mit trostlosen Augen starrte sie hinaus in das trostlose Wetter. Dabei überlegte sie, was sie unternehmen könnte, um ihre Mutti zu finden. Sie war überzeugt, dass es ihr gelingen würde, ihre Mutti zurückzuholen. Ihre Mutti hatte sie doch lieb …

Plötzlich dachte Nina an ihren Onkel Tonio. Er war ein bekannter Kunstmaler und immer lustig. Auch Mutti konnte ihn gut leiden. Vielleicht wusste Onkel Tonio, wo Mutti jetzt wohnte?

Nina erhob sich und verließ das kleine Frühstückszimmer. Sie hörte, dass Wally in den oberen Räumen war. Nach einem schnellen Blick in die Küche überzeugte sie sich, dass Agi ebenfalls beschäftigt war. Schnell zog sie sich ihren blaugrauen Regenmantel über und setzte das dazu passende Regenhütchen auf. Dann nahm sie ihren in der Farbe dazu passenden Regenschirm aus dem Schirmständer.

Dann aber fiel ihr ein, dass sie ja Geld brauchte. Denn Onkel Tonio wohnte am anderen Ende der Stadt. Sie war schon oft mit Mutti in seinem Atelier gewesen. Manchmal war auch Vati mitgekommen.

Als Nina ihr Zimmer betrat, um das Sparschweinchen zu plündern, fand sie dort Wally vor.

Verwundert sah das Hausmädchen sie an und fragte: »Wo willst du denn bei diesem Wetter hin?«

»In den Garten«, schwindelte Nina mit rotem Gesicht. »Ich …«

»Schon gut.« Wally musterte sie mitleidig. Armes kleines Ding, dachte sie und verließ das Zimmer.

Nina atmete erleichtert auf. Sie schloss das Sparschweinchen unten am Bauch mit dem winzigen Schlüssel auf und nahm einige Geldstücke heraus. Dann verschloss sie das Sparschwein wieder und stellte es auf das Regal zurück.

Wenig später schlich Nina aus der Villa. Bald darauf stand sie vor dem alten Mietshaus, unter dessen Dach sich das Atelier von Onkel Tonio befand.

*

Linda Hille war innerlich noch zu zerrissen, um zu wissen, ob sie den richtigen Weg eingeschlagen hatte, als sie sich für ihren Geliebten entschieden hatte. Obwohl es bereits später Vormittag war, lag sie noch immer in dem breiten französischen Bett und blickte traurig aus dem schrägen Dachfenster. Viel konnte sie allerdings nicht sehen. Unaufhörlich schlugen Regentropfen gegen die Scheibe.

Voller Sehnsucht dachte Linda an das breite Fenster im Haus ihres Mannes. Dort hatte sie von ihrem Bett aus einen weiten Blick auf den gepflegten parkähnlichen Garten gehabt.

»Ich weiß nicht mehr, wo ich daheim bin«, flüsterte sie. Denn auch in dem möblierten Appartement in der Nähe von Tonios Atelier, das sie gemietet hatte, fühlte sie sich noch fremd. Wahrscheinlich würde sie sich dort auch immer fremd fühlen.

»Willst du denn heute gar nicht aufstehen?« Tonio riss Linda aus ihren Gedanken. »Es ist gleich elf.«

»Bei diesem Wetter liege ich am liebsten im Bett.« Linda setzte sich auf und schlang die Arme um ihre angezogenen Beine. Ihr Lächeln erreichte nicht ihre Augen.

Tonios dunkle kräftige Brauen zogen sich leicht gereizt zusammen. »Mach’ doch nicht schon wieder so ein griesgrämiges Gesicht«, fuhr er sie ungewollt grob an und fuhr sich mit beiden Händen durch sein tiefschwarzes Haar.

»Aber ich mache doch kein griesgrämiges Gesicht«, verteidigte sie sich und sah ihn schuldbewusst wie ein kleines Mädchen an. Wie gut er aussieht, dachte sie dabei. Sie liebte ihn mehr als alles auf der Welt. Deshalb hatte sie auch Peter und Nina verlassen. Doch niemand wusste, was für ein Opfer sie gebracht hatte, als sie sich damit einverstanden erklärt hatte, auf Nina zu verzichten.

In den grauen Männeraugen blitzte es ungeduldig auf. »Steh endlich auf«, bat Tonio mit erzwungener Höflichkeit. »Kaffee habe ich schon aufgegossen.«

»Ich bin gleich fertig.« Linda schob die Decke zurück und stieg aus dem Bett.

Bei ihrem reizvollen Anblick verflog Tonios Ärger. Er nahm Linda in die Arme und küsste sie.

Lachend schob sie ihn von sich fort. »Auf diese Weise wird der Kaffee kalt«, sagte sie.

»Er ist schon kalt.« Er zog sie wieder an sich.

Erst sehr viel später saßen die Beiden einander an dem niedrigen Tisch gegenüber. Sie tranken den frisch aufgebrühten Kaffee und aßen dazu knusprige Semmeln, die Tonio noch schnell aus dem Milchladen im Haus unten geholt hatte.

»Ich kann es kaum erwarten, endlich ganz bei dir zu sein«, erklärte Linda. Sie zog den flauschigen resedafarbenen Morgenmantel über ihrer Brust etwas enger zusammen.

»Eigentlich tut mir Peter leid«, sagte Tonio. »Er hat uns beiden voll und ganz vertraut.«

»Ja, das ist wahr.« Lindas gelöste Stimmung war bereits wieder verflogen. »Peter ist so ein guter Mensch. Er hat nicht verdient, dass wir ihn so hintergangen haben. Und dann mache ich mir auch die größten Gewissensbisse wegen Nina. Kleine Nina! Übermorgen fängt ihre Schule an. Ob Peter sie schon aus dem Kinderheim abgeholt hat?«

»Ich verstehe, dass Peter sie dir nicht überlassen will. Dabei hätte ich Nina gern zu mir genommen. Sie ist ein liebes kleines Ding.« Tonio zündete sich eine Zigarette an und erhob sich. »Seitdem das alles passiert ist, leiste ich nichts mehr. Schau doch dieses Gemälde an.« Er deutete auf die Staffelei. »Früher habe ich so einen Schinken in drei Tagen fertig gehabt. Vor drei Wochen war das Theater bei euch in der Villa, und vor drei Wochen habe ich mit dieser Arbeit begonnen. Ich kann momentan nicht malen.«

»Tonio, das verstehe ich nicht. Früher hast du immer behauptet, ich inspiriere dich. Heute sieht es jedoch so aus, als würdest du mir die Schuld an deinem Versagen geben.« Kreisrunde hektische Flecken zeichneten sich plötzlich auf ihren schmal gewordenen Wangen ab. In ihren großen blaugrünen Augen schimmerten Tränen.

»Hör mit der verdammten Heulerei auf, Linda!«, rief er ungehalten.

»Du weißt, dass weinende Frauen für mich ein Greuel sind. Ich habe mir alles ganz anders vorgestellt. Ja, ich liebe dich schon seit Jahren, aber Peters wegen habe ich mich stets gezwungen, dir nicht nahezutreten. Ich habe versucht, mich in andere Frauen zu verlieben, um dich zu vergessen. Aber dann hast du mir deutlich zu verstehen gegeben, dass du mich ebenfalls liebst. An diesem heißen Augusttag vor drei Wochen …«

»Bereust du es denn?«, unterbrach sie ihn erregt.

»Ja, ich bereue es!«, rief er und warf die halb gerauchte Zigarette in den großen Aschenbecher.

Linda drückte die Zigarette aus. »Dann war alles umsonst? Dann …«

»Unsinn, das meine ich doch nicht. Wir haben uns entschlossen, beisammenzubleiben. Aber ich denke an Peter. Damals, vor vier Jahren, hat er für mich einen Freispruch erwirkt, obwohl ich schuldig war.«

»Mein Gott, du hast eben der Versuchung nicht widerstehen können, den von dir so gut kopierten Goya als echt zu verkaufen – weil du Geld brauchtest.«

»Heute kann ich das nicht mehr verstehen, Linda. Aber ich war damals tatsächlich am Ende. Mit dem Geld wollte ich meine Zukunft sichern. Aber damit nicht genug! Peter hat mich bei sich wie einen Bruder aufgenommen. Er hat mir Geld geliehen, damit ich neu anfangen konnte. Nur ihm habe ich es zu verdanken, dass ich heute ein relativ bekannter Maler bin und gut verdiene. Und ich Schuft nehme ihm nun die Frau fort und Nina die Mutter. Verdammt noch mal, ich bin wirklich ein Schweinehund.«

Linda hörte ihm still zu. Seine sich selbst anklagenden Worte waren für sie ein weiterer Beweis dafür, dass er einen anständigen Charakter hatte. Sie wusste, auch sie hatte Peters Vertrauen in niederträchtiger Weise missbraucht. Sie war immerhin schon achtundzwanzig, also kein junges unerfahrenes Mädchen mehr. Sie hätte die Vernünftigere sein müssen.

»Bitte, Tonio, sag so etwas nicht«, bat sie verzagt und griff nach seiner herabhängenden Hand. Unwirsch entzog er sie ihr und trat vor die Staffelei.

Diese Reaktion auf ihre zärtliche Geste verletzte sie so sehr, dass sie aus dem Atelier lief.

Achselzuckend begann Tonio die Farben zu mischen. Er hatte sich vorgenommen, sich durch nichts mehr ablenken zu lassen. Natürlich liebte er Linda. Aber seit sie Peter seinetwegen verlassen hatte in der Absicht, ihn zu heiraten, hatten sich seine Gefühle für sie geändert.

Ganz ähnlich erging es Linda. Sie presste ihre heiße Stirn gegen die kahle Wand. Das monotone Plätschern des Regens zerrte an ihren Nerven. Ihr Blick fiel auf das zerwühlte Bett. Und plötzlich schämte sie sich. Warum blieb sie immer wieder über Nacht bei Tonio? Sie hatte doch ein hübsches Appartement, in dem er sie jederzeit besuchen konnte. Doch seit sie vor drei Wochen Tonios Geliebte geworden war, hatte sie überhaupt keinen Stolz mehr. Damals hatte es auch geregnet. Lachend war sie zusammen mit Tonio die Treppe zu seinem Atelier hinaufgelaufen. Dann war sie gestolpert. Tonio hatte sie aufgefangen und an sich gezogen. Das war der Augenblick gewesen, der ihm ihre Liebe durch ihre Blicke verraten hatte. Stumm waren sie die Stufen weiter hinaufgestiegen. Als sie das Atelier erreicht hatten, war es um sie beide geschehen gewesen.

In gewisser Weise hatte Tonio recht, überlegte Linda. Sie war viel zu schwerfällig und auch viel zu ehrlich, um ein Liebesverhältnis vor ihrem Mann geheimhalten zu können. Sie war sich sogar noch edel vorgekommen, als sie Peter ihren Ehebruch gestanden und behauptet hatte, sie liebe Tonio so sehr, dass sie sich eine Zukunft ohne ihn nicht vorstellen könne.

Linda lachte unfroh auf. Wäre sie leichtsinniger, dann hätte sie Peter skrupellos betrogen. Er hätte es vermutlich nicht einmal bemerkt, weil er ihr restlos vertraut hatte. Auch war er ja nur selten daheim.

Zum erstenmal fragte sich Linda, ob ihre Liebe zu Tonio nicht aus einem Gefühl der Verlassenheit entstanden war. Sie hatte sich zweifellos von Peter vernachlässigt gefühlt. Tonio aber war immer dagewesen, wenn sie ihn gebraucht hatte. Er war fast täglich zu ihnen in die Villa gekommen. Auch Nina hatte mit kindlicher Schwärmerei an »ihrem Onkel Tonio« gehangen.

Nun aber hatte das tägliche Beisammensein hier im Atelier den Nimbus, mit dem Linda Tonio umgeben hatte, schon ein wenig zerstört. Tonio war oft ungeduldig, manchmal sogar unhöflich. Auch sein krasser Egoismus war für sie enttäuschend. Früher hatte sie diese schlechten Charaktereigenschaften niemals an ihm bemerkt. Sie hatte ihn nur als liebe- und verständnisvollen Freund gekannt. Schlimm war auch, dass sie bereits nach diesen wenigen Wochen Vergleiche zwischen Peter und ihm anstellte. In ihrem Fall sollte sie das lieber bleiben lassen, sagte sie sich.

Aber es nutzte nichts. Peter hätte das nicht getan, dachte sie immer wieder, wenn Tonio sie wie ein dummes Mädchen behandelte und überhaupt keine Rücksicht auf sie nahm. Er ließ sie auch ohne weiteres am späten Abend allein nach Hause gehen, wenn sie bei ihm gewesen war. Dadurch hatte es sich wohl auch eingebürgert, dass sie, wenn es spät wurde, einfach bei ihm übernachtete.

Auf einmal hatte Linda das Zusammenleben mit Tonio satt. »Tonio Bertoldi«, flüsterte sie mit herabgezogenen Mundwinkeln. »Warum nennt er sich nicht Anton Berthold, wie er in Wirklichkeit heißt?«

Linda wusste, Tonio war der Ansicht, dass ein Künstler auch einen Namen haben müsse, der auffiel. Peter war da allerdings anderer Meinung. Er hatte einmal erklärt, ein wirklich großer Künstler sei bescheiden und halte sich lieber im Hintergrund. Tonio dagegen …

Ich stelle ja schon wieder Vergleiche an, dachte Linda und ging ins Atelier zurück. »Tonio, ich habe über alles, was du soeben gesagt hast, nachgedacht«, erklärte sie mit heftig klopfendem Herzen. »Ich verlasse dich.«

»Gut, gut«, erwiderte er und trat einen Schritt von der Staffelei zurück. Mit schiefgelegtem Kopf begutachtete er sein neuestes Werk. »Findest du nicht auch, dass ich mehr Wolken malen sollte?«, fragte er. »Weiße Wölkchen. Einen richtigen Föhnhimmel wie in meiner bayerischen Heimat. Oft denke ich an meine Kinderzeit. Damals lebte ich mit meinen Eltern auf einem Bauernhof. Mein Vater war Bauer. Aber das weißt du ja. Ich bin oft mitten in der blühenden Wiese gelegen und habe sehnsüchtig den Wolken nachgeblickt, die so leicht dahinflogen. Ich …«

»Tonio, ich verlasse dich«, fiel Linda ihm heftig ins Wort. »Und du sprichst von Wölkchen, die über den Himmel fliegen.«

»Du bist hoffnungslos unromantisch, Linda.« Er wandte sich um und sah sie böse an. »Ich brauche aber eine romantische Frau mit Gedanken, die der Wirklichkeit entfliehen, die mich täglich von neuem inspirieren.«

»Das habe ich erkannt, Tonio. Deshalb trenne ich mich ja auch von dir. Vielleicht verzeiht Peter mir. Er hat noch beim Abschied zu mir gesagt, dass er alles vergessen wolle, wenn ich bei ihm bleibe. Nur dich darf ich nicht wiedersehen. Damals hatte ich noch geglaubt, ich könnte nicht auf dich verzichten, ich könnte nicht ohne dich weiterleben. Nun weiß ich, dass es umgekehrt ist.«

»Bist du verrückt geworden?«, rief Tonio heftig. Er warf den Pinsel wie ein ungezogener Junge einfach auf den Boden, sodass die Farbe nach allen Seiten spritzte und auch Lindas Morgenrock befleckte.

»Du bist ein zerstörerisches Element!« Linda kannte sich nicht mehr vor Zorn. »Schau doch, was du angestellt hast!«

»Wie kann man sich über einen blöden Fetzen so aufregen?«

»Der Fetzen, wie du dich auszudrücken beliebst, kostet eine Menge Geld.«

»Geld ist unwichtig.«

»So, Geld ist unwichtig. Jetzt, wo du es mit Peters Hilfe geschafft hast, ist es plötzlich unwichtig.«

»Ich habe Peter jeden Cent zurückgezahlt. Ich schulde ihm keinen Heller mehr. Von mir aus geh! Ich will dich nicht mehr sehen.«

»Ich gehe auch.« Linda wollte ins Schlafzimmer zurücklaufen, als es kurz an der Wohnungstür läutete.

Tonio sah Linda an. »Wer kann das wohl sein? Die Post ist schon dagewesen. Vielleicht Paketpost. Mach doch mal auf.«

»Mach doch selbst auf. Ich reagiere nicht mehr auf einen so unhöflichen Ton. Peter sagt immer bitte und danke. Außerdem bin ich hier nicht zu Hause. Auch bin ich noch nicht angezogen.«

Wieder läutete es. Diesmal etwas länger. Trotzdem war herauszuhören, dass der Besucher draußen vor der Tür etwas ängstlich zu sein schien.

Tonio funkelte Linda böse an und verließ das Atelier. Die Zimmertür ließ er offenstehen. Unwillkürlich wich Linda hinter die Staffelei zurück, um nicht gesehen zu werden.

Tonio blickte Nina mit gemischten Gefühlen an. »Du?«, fragte er ratlos. Er liebte das kleine Mädchen sehr und wollte ihm deshalb auch nicht weh tun. »Bist du denn allein da?«

»Ja, Onkel Tonio. Weil ich doch so unglücklich bin. Mutti ist fortgegangen. Sie liebt uns nicht mehr.«

»Ich weiß, Nina. Du kannst jetzt nicht zu mir hereinkommen. Ich bringe dich aber mit dem Auto nach Hause.«

Linda lauschte mit steigender Erregung auf die geliebte Stimme ihres Kindes. Obwohl ihr klar war, dass das, was sie tat, völlig falsch war, lief sie zu Nina hin und rief: »Nina, mein Liebling!«

»Bist du wahnsinnig geworden?«, fuhr Tonio sie an.

Nina war wie erstarrt. Alles hätte sie erwartet, nur nicht, dass ihre Mutti bei Onkel Tonio war. Sie war schon alt genug, um zu erahnen, was es bedeutete, wenn eine Frau im Morgenrock am Vormittag bei einem Mann war. In der Schule hatten sie bereits über solche Dinge gesprochen.

»Dann liebst du Onkel Tonio?«, fragte Nina maßlos enttäuscht.

»Ja, mein Liebling, ich liebe ihn.«

Linda wollte Nina an sich ziehen, doch diese sträubte sich gegen die Umarmung. Aus tieftraurigen Augen sah sie Onkel Tonio an. »Dann hast du uns Mutti fortgenommen«, stellte sie fest. »Ich mag dich nicht mehr, Und dich auch nicht!«, rief sie bitter enttäuscht und riss die Wohnungstür wieder auf. Laut polterten ihre Füße über die Stufen.

Linda war wie versteinert. Endlich hatte sie ihre Starre überwunden. »Tonio, bitte, lauf Nina nach!«

»Ich denke gar nicht daran«, erwiderte er mit bebenden Nasenflügeln »Das alles ist deine Schuld! Ich hätte Nina nach Hause gebracht, ohne dass sie erfahren hätte, dass wir beide beisammen sind. Ich schäme mich vor dem Kind.«

»Darüber können wir später sprechen. Lauf ihr nach! Ich flehe dich an.«

»Nein!« Er schob sie beiseite und ging zu seiner Staffelei.

Hasserfüllt blickte Linda auf seinen breiten Rücken. Dann lief sie ins Schlafzimmer, um sich in Windeseile anzuziehen. Doch als sie endlich die Wohnung verlassen konnte, war es zu spät. Weit und breit war nichts mehr von Nina zu sehen. Schluchzend kehrte sie in die Atelierwohnung zurück.

Tonio tat sein Benehmen inzwischen schon leid. Sein heftiges unbeherrschtes Temperament ging immer wieder mit ihm durch. Er zog Linda an sich.

»Lass mich!«, stieß sie schluchzend hervor. »Alle lassen mich im Stich, und nur deshalb, weil ich geglaubt habe, dich zu lieben.«

»Nur geglaubt, Linda? Wir benehmen uns wie kleine Kinder. Dabei sind wir erwachsene Leute.« Er küsste ihr die Tränen fort. »Verzeih mir, mein Liebling. Aber manchmal kenne ich mich selbst nicht mehr. Ich liebe dich. Du musst viel Geduld mit mir haben.« Er küsste sie wieder.

Noch einmal bäumte sich Linda innerlich gegen ihre unselige Liebe zu Tonio auf. Aber er hielt sie so fest, dass sie kaum atmen konnte. Sie hörte den gleichmäßigen Schlag seines Herzens und war glücklich.

»Nina muss durch die ganze Stadt fahren«, sagte sie, als er sie auf die Arme nahm und zur Couch trug.

»Nina ist neun Jahre alt. Sie hat allein hergefunden und wird auch wieder nach Hause finden, Linda. Vergiss jetzt alles. Denk nur an mich.«

»Ach, Tonio …«

»Du bist schön, Linda. Du bist die schönste Frau, die ich kenne. Ich werde dich malen. So, wie du jetzt bist.« Entzückt betrachtete er ihren wunderschönen Körper. »Als Gott dich erschuf, war er in bester Stimmung. Keinen Makel gibt es an dir. Auch dein Gesicht ist klassisch schön. Ich liebe dich.«

Linda vergaß tatsächlich wieder alles um sich herum, als Tonio sie verlangend küsste.

*

Die beiden ahnten nicht, dass Nina auf der Treppe einem ungefähr vierundzwanzigjährigen Mädchen in die Arme gelaufen war. Die junge Dame hieß Lucy Snyder und war gebürtige Amerikanerin. Ihre Eltern waren Iren, die vor ungefähr einem Vierteljahrhundert nach Amerika ausgewandert waren. Lucy sah wie eine echte Irin aus. Sie hatte lange rotblonde Haare und tiefblaue Augen. Sie war sehr reizvoll. Aber so etwas bemerkte ein kleines neunjähriges Mädchen natürlich nicht, besonders dann nicht, wenn es so viel Kummer hatte wie Nina.

Lucy besaß ein mitfühlendes Herz und hatte Kinder auch sehr gern. Dass die Kleine aus der Atelierwohnung ganz oben gekommen war, hatte sie noch mitbekommen. Tonios Stimme würde sie unter Tausenden herauskennen. Als er mit dem kleinen Mädchen gesprochen hatte, war sie auf halber Treppe abwartend stehengeblieben. Dann war sie nicht mehr dazu gekommen, eine Entscheidung zu treffen, weil das Kind schluchzend die Treppe heruntergekommen war.

Nun hielt Lucy die Kleine fest an sich gedrückt und wartete darauf, dass deren Tränen versiegten. Behutsam führte sie sie aus dem Haus.

Nina wischte sich mit dem Handrücken über die verweinten Augen und sah Lucy groß an. »Wer sind Sie?«, fragte sie scheu.

»Ich heiße Lucy Snyder.«

»Sie sprechen genauso wie die Amerikanerin, die bei uns in der Schule ist.«

»Ich bin Amerikanerin, mein Kleines. Und wie heißt du?«

»Nina Hille. Ich … Ja, ich wollte Onkel Tonio besuchen, weil ich ihn liebhatte und weil ich ihn nach Mutti fragen wollte. Mutti hat uns nämlich verlassen.« Nina fing wieder zu weinen an. »Mutti ist bei Onkel Tonio. Sie hat nur einen Schlafrock angehabt. Und Onkel Tonio hat Mutti Vati und mir fortgenommen. Ich mag ihn nicht mehr.«

»Sei ruhig, mein Kleines.« Lucy öffnete die Tür des Leihwagens. »Steig ein, Nina, ich bringe dich nach Hause.«

»Aber Vati und Mutti haben mir verboten, zu jemandem ins Auto einzusteigen.« Ihre Augen richteten sich abschätzend auf die junge Amerikanerin. »Aber ich finde, Sie sehen lieb aus.« Kurz entschlossen stieg sie doch ein.

Lucy lächelte, als sie sich ans Steuer setzte. Dabei war ihr alles andere als zum Lachen zumute. Ninas Worten hatte sie entnehmen können, dass die Mutter der Kleinen Tonios Geliebte war.

Tonio Bertoldi! Hatte sie tatsächlich an seine Treueschwüre geglaubt, damals in Paris, als er ihr eingeredet hatte, sie sei die Frau, auf die er ein ganzes Leben lang gewartet habe?

»Ich wohne in Sachsenhausen. Das ist …«

»Ich kenne Sachsenhausen. Trotzdem wäre es nett, wenn du mir ein wenig den Weg erklären würdest. Dann brauche ich nicht so oft zu fragen«, versuchte Lucy das Kind abzulenken.

Nina vergaß wirklich für ein Weilchen ihren großen Kummer. Erst als sie vor dem Gartentor der elterlichen Villa standen, dachte sie wieder an ihre Mutti und an Onkel Tonio.

»Auf Wiedersehen«, sagte sie leise und reichte der netten jungen Dame die Hand.

»Auf Wiedersehen, kleine Nina.« Lucy strich ihr zärtlich über die Wange. »Vielleicht wird alles wieder gut für dich.«

Heftig schüttelte Nina den Kopf. Dann lief sie in den Garten hinein. Lucy wartete noch, bis das Kind im Haus verschwunden war. Dann wendete sie den Wagen und fuhr zu ihrem Hotel zurück.

Auf der langwierigen Fahrt durch die Innenstadt irrten Lucys Gedanken immer wieder von dem Verkehr ab. Sie musste sich gewaltsam zwingen, aufzupassen.

Tonio! Geliebter Tonio! dachte sie.

Lucy hatte Tonio auf einer Ausstellung im Herzen von Paris kennengelernt. Tonio hatte in einer Galerie auf den Champs-Elysees einige seiner Gemälde ausgestellt. Lucy verstand immerhin so viel von der modernen Malerei, dass sie sofort die Begabung dieses eigenwilligen Künstlers erkannt hatte.

Tonio hatte hinter ihr gestanden, als sie wie fasziniert vor einem seiner Bilder gestanden hatte. »Gefällt es Ihnen?«, hatte er sie neugierig gefragt.

Überrascht hatte sie sich umgedreht. Als sie in die grauen Männeraugen geblickt hatte, war eine heiße Welle durch ihren Körper geschossen. »Sehr«, hatte sie mit einem kleinen Lächeln geantwortet. »Ich würde den Künstler gern kennenlernen.«

»Das haben Sie schon getan.« Amüsiert hatte es in seinen Augen aufgeblitzt.

Lucy war noch niemals schwer von Begriff gewesen. »Dann sind Sie Tonio Bertoldi«, hatte sie festgestellt. »Dem Namen nach habe ich Sie für einen Italiener gehalten. Aber nun sehe ich, dass ich mich getäuscht habe.«

»Wieso wollen Sie so genau wissen, dass ich kein Italiener bin? Vielleicht bin ich einer.«

»Das sehe ich doch.« Ihr Lächeln hatte sich vertieft. »Sie sind …« Ihre feinen Brauen hatten sich zusammengezogen. »Lassen Sie mich mal raten. Sie sprechen so gut Französisch, dass ich … Ich habe es! Sie sind Deutscher.«

»Erraten. Und Sie sind entweder Engländerin oder Amerikanerin.«

»Letzteres. Aber meine Eltern sind Iren. Demnach wäre auch ich eine waschechte Irin, obwohl ich in den Staaten geboren bin.«

»Und wie heißen Sie?«

»Lucy Snyder.« Sie lachte wieder. »Und wie heißen Sie in Wirklichkeit?«, hatte sie auf deutsch gefragt.

»Also, Deutsch können Sie auch. Sie scheinen ein Sprachphänomen zu sein.«

»Kunststück, ich studiere Sprachen. Also …«

»Mit richtigem Namen heiße ich schlichtweg Anton Berthold. Ich komme aus Bayern.«

»Aus München? Ich liebe München.«

»Ja, ich bin in einer Münchener Klinik geboren, aber auf dem Land aufgewachsen.«

Das fröhliche Geplänkel zwischen ihnen war auch nicht abgerissen, als sie gemeinsam die Galerie verlassen hatten und die Champs-Elysees entlanggeschlendert waren. Von diesem Tag an hatten sie sich täglich gesehen. Lucy hatte Tonio von der ersten Stunde an geliebt. Vier glückliche Wochen hatten sie miteinander verlebt. Dann hatten sie sich mit dem Versprechen getrennt, aufeinander zu warten. Tonio hatte sie noch nach Orly gebracht. Noch jetzt sah sie sein trauriges Gesicht vor sich, als sie durch die Zollsperre gegangen war.

Lautes Hupen hinter sich riss Lucy aus ihren Erinnerungen. Erschrocken stellte sie fest, dass die Verkehrsampel längst auf Grün geschaltet hatte und bereits wieder auf Gelb wechselte.

Kurz darauf suchte sie einen Parkplatz in der Nähe des Hotels Frankfurter Hof, in dem sie abgestiegen war. Ganz weh wurde ihr ums Herz, als sie das Vestibül betrat. Sie hatte davon geträumt, zusammen mit Tonio ins Hotel zurückzukehren. Aber Tonio hatte sie allem Anschein nach längst vergessen. Und sie hatte auch nicht vor, ihm nachzulaufen. Einmal hatte sie ihm aus den Staaten geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Das hätte ihr eigentlich zu denken geben müssen. Aber sie hatte sich vorgemacht, dass die Adresse falsch gewesen sei und er ihren Brief nicht erhalten habe. Doch jetzt hatte sie sich persönlich davon überzeugen können, dass die Adresse stimmte.

Lucy ließ sich den Zimmerschlüssel geben und fuhr mit dem Lift nach oben. Eigentlich hatte sie nichts mehr in Frankfurt verloren. Am besten wäre es, sie würde mit der nächsten Maschine nach Hause fliegen. Ihre Eltern würden sich freuen, sie so schnell wiederzusehen.

Als Lucy ihrer Mutter von Tonio erzählt hatte, war diese sehr skeptisch gewesen und hatte sie gebeten, sich nicht allzu große Hoffnungen auf den Kunstmaler zu machen. Daran musste Lucy jetzt denken. Ärgerlich wischte sie ihre Tränen fort. Wegen eines Mannes wie Tonio sollte sie keine einzige Träne vergießen, sagte sie sich. Das wäre nur unsinnige Kraftvergeudung.

Lucy begann zu packen. Aber plötzlich hörte sie damit wieder auf. Nein, sie wollte Frankfurt noch nicht verlassen. Sie würde noch ein paar Tage hierbleiben. Vielleicht würde sie Tonio durch Zufall begegnen, obwohl solche Zufälle selten waren.

Lucy packte wieder aus und zog sich um. Sie nahm sich vor, einen Stadtbummel zu machen und verließ das Hotel wieder.

Am Spätnachmittag fuhr sie in das Stadtviertel, in dem Tonio wohnte. Sehr langsam ging sie durch die Straße. Aber sie sah Tonio nicht. Enttäuscht kehrte sie ins Hotel zurück.

*

Dr. Peter Hille kam an diesem Tag kurz vor dem Abendessen nach Hause. Seine erste Frage galt Nina.

»Ich weiß nicht, was mit dem Kind los ist«, erwiderte Wally besorgt. »Nina ist am Vormittag bei dem Regen in den Garten gelaufen. Ich hatte es ihr erlaubt, weil sie gar so unglücklich war. Später habe ich sie dann im Garten gesucht, aber nicht gefunden. Schließlich erschien sie mit völlig verweintem Gesicht und ist seitdem unansprechbar. Auch hat sie zu Mittag keinen Bissen gegessen. Selbst die Nachmittagsschokolade hat sie abgelehnt. Irgendetwas muss geschehen sein.«

»Wo ist Nina jetzt?«

»In ihrem Zimmer.«

Peter lief nach oben und öffnete die Tür von Ninas Zimmer. Das kleine Mädchen lag bäuchlings auf dem Bett und schien zu schlafen.

Leise trat Peter ans Bett und strich Nina zärtlich über den Hinterkopf. Sofort drehte sie sich um und sah ihn aus dick verschwollenen Augen verzweifelt an. »Ach, Vati, endlich!«, rief sie und setzte sich auf. »Ich bin so unglücklich, so schrecklich unglücklich!«

»Mein Kleines, um Gottes willen, was ist denn nur geschehen? Ist es wegen Mutti?«

»Ja, Vati. Ich war bei Onkel Tonio. Ich habe geglaubt, er wisse, wo Mutti ist. Ich wollte doch zu ihr, wollte sie bitten, wieder zu uns nach Hause zu kommen. Onkel Tonio hat mir die Tür aufgemacht. Und dann habe ich Mutti gesehen. Sie hatte nur ihren Morgenmantel an und war furchtbar erschrocken über meinen Besuch. Jetzt weiß ich, wer der Mann ist, den Mutti lieber hat als uns beide. Es ist Onkel Tonio«, stellte sie betrübt fest.

»Nina, wie bist du nur in die Stadt gekommen?« Peter war erschüttert über diese Geschichte. Gerade das hatte er seiner kleinen Nina ersparen wollen.

»Ich habe Geld aus meinem Sparschwein genommen. Zuerst bin ich mit dem Bus gefahren und dann noch mit der Straßenbahn. Als Mutti mich umarmen wollte, bin ich einfach fortgelaufen, weil ich so böse auf sie bin. Und dann hat mich eine liebe Dame heimgebracht.«

»Was für eine Dame?«

»Sie hat gesagt, sie sei Amerikanerin. Ihren Namen habe ich aber vergessen. Aber sie hat mir den Namen gesagt.«

»Wo hast du sie denn kennengelernt? Auf der Straße?« Peter Hille war entsetzt. Während er sich um das Schicksal fremder Leute kümmerte und versuchte, ihnen zu helfen, befand sich Nina in Gefahr. Heutzutage wurden doch oft Kinder entführt. Außerdem war er Strafverteidiger. Wie leicht konnte es geschehen, dass man ihn mit Ninas Entführung unter Druck setzen wollte.

»In dem Haus, in dem Onkel Tonio wohnt. Weil ich doch so viel geweint habe. Als sie sagte, ich solle zu ihr in den Wagen einsteigen, habe ich sie mir zuerst noch einmal genau angeschaut. Weil ihr doch verboten habt, in ein fremdes Auto einzusteigen. Aber sie war so lieb zu mir. Und sie hat mich dann auch nach Hause gefahren.«

»Da hast du aber Glück gehabt. Nina, du musst mir noch einmal ganz fest versprechen, dass du nie wieder in ein fremdes Auto einsteigst.«

»Ja, Vati, das verspreche ich dir.« Sie sah ihn unsicher an. Dann begann sie wieder zu weinen.

Peter setzte sich aufs Bett und nahm sein Kind tröstend in die Arme. Dabei hätte er selbst des Trostes bedurft.

»Vati, du hast doch immer so wenig Zeit für mich«, sagte Nina später, als sie sich etwas beruhigt hatte.

»Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, mein Liebling.«

»Ich möchte so gern zurück nach Sophienlust. Ich kann in Wildmoos in die Schule gehen. Zusammen mit Vicky Langenbach. Sie geht noch in die Volksschule, während ihre ältere Schwester schon ins Gymnasium geht. Und Henrik geht auch in die Volksschule.«

»Du willst nach Sophienlust zurück? Aber das geht doch nicht. Das Kinderheim nimmt doch nur Ferienkinder auf.«

»Nein, Vati, jedes Kind, das traurig ist, darf in Sophienlust bleiben.«

»Ich will es mir überlegen, Nina«, erwiderte er nach langem Zögern. »Ohne dich wird es für mich noch einsamer hier sein.«

Nina sah ihn traurig an. »Aber wir sehen uns doch kaum. Morgens verlässt du ganz früh das Haus, und abends kommst du oft erst nach dem Abendessen heim. Dann liege ich meistens schon im Bett. Mutti war doch auch immer so traurig, weil sie so oft allein war. Das hat sie zu mir gesagt.«

Ja, ich habe Linda viel zu oft allein gelassen, dachte Peter niedergedrückt. Hätte ich mehr Zeit für sie gehabt, wäre das alles wahrscheinlich nicht geschehen. Trotzdem ist es sehr hässlich von ihr, dass sie mich mit Tonio, ausgerechnet mit dem Mann, dem ich mein volles Vertrauen geschenkt hatte, betrogen hat.

»Vati, nicht wahr, ich darf wieder nach Sophienlust? Du musst dir das bald überlegen, weil doch übermorgen schon die Schule anfängt. Heute ist Sonntag. Ja, Mutti hat auch mal gesagt, selbst am Sonntag ist Vati oft nicht daheim.«

»Manchmal muss ich auch am Sonntag arbeiten, Nina. Wenn am Montag ein wichtiger Termin ist, den ich zu spät erfahren habe, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich am Sonntag für die Verteidigung vorzubereiten.«

»Ich weiß das ja auch, Vati. Weißt du, in Sophienlust gibt es immer so viel zu lachen. Und ich möchte doch lachen, weil ich so schrecklich traurig bin.« Sie schluchzte leise auf.

»Gut, Nina, ich rufe gleich morgen vormittag Frau von Schoenecker an und frage sie, ob sie dich wieder aufnimmt.«

»Danke, lieber Vati.«

»So, mein Kleines, nun wasch dir das Gesicht und komm zum Abendessen herunter. Du musst unbedingt etwas essen.«

Obwohl Nina überhaupt keinen Hunger hatte, weil der Kummer ihr den Magen zuschnürte, nickte sie. Sie wollte ihrem Vati eine Freude bereiten.

*

Lucy Snyder hatte bereits am nächsten Tag genug von ihren Streifzügen durch Frankfurt. Auch hatte sie sich damit abgefunden, Tonio nie wiederzusehen. Doch zuvor wollte sie noch bei den Hilles anrufen, um sich nach dem Befinden der kleinen Nina zu erkundigen

Peter war am Montag Ninas wegen zum Mittagessen heimgekommen. Inzwischen hatte er ausführlich mit Denise telefoniert. Diese hatte sich sofort bereit erklärt, Nina in Sophienlust wieder aufzunehmen. Auch war sie der Meinung, dass das Kind in der Gesellschaft der vielen anderen Kinder schneller über seinen Kummer hinwegkommen würde.

Peter hatte mit einem tiefen Seufzer den Hörer auf die Gabel zurückgelegt. Ihm wäre es lieber gewesen, Frau von Schoenecker hätte es abgelehnt, Nina aufzunehmen. Denn nun würde er ganz allein sein, wenn er abends heimkam. Keine erfreulichen Aussichten.

Daran dachte er, als das Telefon läutete. Bei jedem Läuten des Telefons hoffte er, dass Linda am Apparat sein würde. Aber auch diesmal wurde er enttäuscht. »Lucy Snyder?«, wiederholte er fragend, nachdem diese ihren Namen genannt hatte.

»Ich habe gestern Nina nach Hause gebracht, weil sie so unglücklich war. Auch habe ich mir Sorge um sie gemacht.«

»Dann haben Sie meine Tochter heimgebracht? Das war lieb von Ihnen, Fräulein Snyder. Nina hatte Ihren Namen vergessen.«

»Dass sie ihn behalten hätte, wäre auch zu viel verlangt gewesen. Wie geht es ihr?«

»Ich habe heute Nachmittag einmal frei. Wollen Sie nicht zu uns kommen, um sich an Ort und Stelle von Ninas Befinden zu überzeugen?«, bat er impulsiv.

Lucy zögerte keine Sekunde. Sie nahm seine Einladung an. Auf diese Weise würde sie an diesem Nachmittag nicht mehr so allein sein. Denn vor morgen würde sie auf keinen Fall abfliegen können, wie man ihr in der Rezeption des Hotels mitgeteilt hatte.

Lucy freute sich wie ein kleines Mädchen auf das Wiedersehen mit Nina, als sie mit dem Leihwagen durch die Stadt fuhr. Den Weg hatte sie noch im Kopf. Darum dauerte es auch nicht lange, bis sie die Villa erreicht hatte.

Als sie läutete, kam kurz darauf Nina angelaufen. Sie trug lange rote Hosen und ein weißes Blüschen. »Wie nett, dass Sie uns besuchen«, sagte sie höflich. »Vati möchte sich noch einmal persönlich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie mich nach Hause gebracht haben«, fügte sie mit ernstem Gesicht hinzu.

»Ich bin gern gekommen.« Lächelnd reichte Lucy dem Kind die Hand. »Wie geht es dir?«

»Ein bisschen besser. Morgen fahre ich nach Sophienlust. Das ist ein Kinderheim. Mutti hat uns ja verlassen, und Vati hat keine Zeit für mich. Deshalb wollte ich in das Kinderheim. Bleiben Sie noch lange in Frankfurt?«

»Ich will morgen nach Amerika zurückfliegen.« Lucy war überrascht. Der unkindliche Ernst in den großen braunen Kinderaugen und das altkluge Verhalten der Neunjährigen entging ihr nicht. Auch hatte sie kein Verständnis dafür, dass eine Frau eines Liebhabers wegen auf ihr Kind verzichtete. Als sie dann Dr. Peter Hille kennenlernte, war ihr das Verhalten seiner Frau erst recht ein Rätsel. Sie war der Ansicht, eine Frau, die mit einem solchen Mann verheiratet war, sollte sich glücklich schätzen. Er faszinierte nicht nur durch seine äußere Erscheinung, sondern auch charakterlich, wie sie sich bald überzeugen konnte.

Lucy entging nicht der traurige Ausdruck in seinen dunklen Augen. Sie wusste, im Grunde genommen war er ein Leidensgenosse von ihr. Aber das erwähnte sie selbstverständlich genauso wenig, wie er nicht von seiner Frau sprach.

Das Hausmädchen Wally servierte den Tee auf der Terrasse. Bald waren Lucy und Peter in ein Gespräch vertieft. Stumm saß Nina dabei und hörte ihnen zu. Plötzlich aber sagte sie: »Vati, vielleicht möchte Fräulein Snyder morgen mit nach Sophienlust fahren?«

»Nina, ich kann dich erst übermorgen hinbringen. Morgen habe ich kaum eine freie Minute.«

»Ach, Vati, übermorgen ist es doch schon zu spät. Ich meine, da hat doch die Schule schon angefangen.«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Dr. Hille, fahre ich Nina zu dem Kinderheim.«

Überrascht sah er sie an. »Aber Sie wollten doch morgen nach den Staaten zurückfliegen?«

»Ursprünglich hatte ich das auch vor. Aber ich habe es mir anders überlegt.«

»Ich wäre Ihnen unendlich dankbar, wenn Sie Nina nach Sophienlust bringen würden. Sie nehmen mir damit eine große Last vom Herzen.«

Nina nickte. »Sie sehen, Fräulein Snyder, Vati hat nie Zeit für mich.« Sie schluckte ihre Tränen herunter.

»Wie wäre es denn, wenn du mich ganz einfach Lucy nennen würdest, Nina?«, schlug Lucy vor.

»Das möchte ich gern.«

»Also, dann auf gute Freundschaft.«

»Und ich würde mich freuen, wenn Sie morgen Abend für mich Zeit hätten.« Peter sah Lucy bittend an. Die fröhliche Aufgeschlossenheit der jungen Amerikanerin gefiel ihm und half ihm ein wenig über sein Leid hinweg. Ihr natürliches Wesen brachte ihn für eine Weile auf andere Gedanken.

»Gern, Herr Dr. Hille.« Lucy erwiderte seinen Blick mit einem Aufblitzen ihrer tiefblauen Augen. »Bei uns in Amerika ist es üblich, dass sich gute Freunde mit den Vornamen anreden. Bitte, nennen Sie mich einfach Lucy. Und ich nenne Sie Peter. Einverstanden?« Sie streckte ihm die Hand hin, die er mit einem warmen Druck umschloss. »Gut, Lucy, ich bin damit einverstanden.«

Peter war ein wenig überrascht über die Selbstsicherheit der Amerikanerin, denn er hatte im Laufe des nachmittäglichen Gesprächs erfahren, dass sie erst vierundzwanzig war.

Lucy blieb auch noch zum Abendessen. Als sie dann mit Nina nach oben ging, um sich ihr Zimmer anzusehen, fühlte sie sich bereits in der Villa daheim.

Nina zog sich aus und legte sich ins Bett. »Als Mutti noch da war, hat sie ...« Ihre Stimme brach. »Ach, Lucy, ich habe Mutti noch immer lieb. Aber ich will sie nicht mehr lieb haben, weil sie fortgegangen ist.«

»Vielleicht wird sie bald wiederkommen, Nina«, tröstete Lucy das weinende Kind.

»Ich bete jeden Abend zum lieben Gott und bitte ihn darum. Aber ich glaube nicht, dass der liebe Gott mein Gebet hört. Es gibt doch so viele Menschen, die seine Hilfe brauchen. Er hilft auch nur wenigen, weil er nicht überall hinhören kann. Das habe ich mir gestern Abend im Bett überlegt.« Mit dem Handrücken fuhr sie sich über die tränennassen Augen.

»Vielleicht hört er dein Gebet doch, Nina.« Lucy küsste das Mädchen auf die Stirn.

»Ich mag Sie, Lucy«, sagte Nina mit einem traurigen Lächeln.

»Sag ruhig du zu mir.«

»Darf ich das wirklich?« Auf einmal lächelte Nina. »Es ist schön, dass du zu uns gekommen bist.« Impulsiv schlang sie die Arme um Lucys Nacken und gab ihr einen Kuss.

Lucy ging wieder nach unten. Peter wollte nichts davon wissen, dass sie schon gehen wollte. Und Lucy erklärte sich einverstanden, noch ein Weilchen bei ihm zu bleiben.

»Sicherlich wissen Sie schon Bescheid über meine Frau«, meinte er etwas später, als er den Wein eingeschenkt hatte.

»Ein bisschen, Peter. Ich wollte nämlich zu Tonio Bertoldi. Auf der Treppe bin ich dann Nina begegnet und habe von ihr erfahren, dass Tonio Besuch hat.« Ihre Mundwinkel zogen sich mit einem bitteren Lächeln nach unten.

»Ich glaube, wir sind Leidensgenossen. Jedenfalls habe ich den Eindruck«, erklärte er mit Galgenhumor.

»In gewisser Weise schon. Nur mit dem Unterschied, dass ich Tonio erst vier Wochen kannte, während es sich bei Ihnen um Ihre Frau handelt.«

»Ja, das ist wahr. Linda und ich sind zehn Jahre verheiratet. Ich habe sie mit siebzehn kennengelernt. Als sie achtzehn wurde, heirateten wir. Und als sie neunzehn war, kam Nina auf die Welt. Ich glaube, ich habe viel Schuld an allem. Darum habe ich auch mit der Einreichung der Scheidung gezögert. Aber vor vier Tagen habe ich mich dazu entschlossen.«

»Würden Sie denn Ihrer Frau nicht verzeihen?«

»Doch, das würde ich. Ich habe ihr sogar angeboten, alles zu vergessen, wenn sie zurückkommt. Aber sie liebt Tonio allem Anschein nach wirklich. Wäre es nur ein Rausch, würde ich alles versuchen, um sie zurückzuholen. Ja, das würde ich tun.« Er zündete sich mit fahrigen Bewegungen eine Zigarette an. Erregt rauchte er.

»Dann wird Tonio wohl Ihre Frau heiraten?«

»Ich nehme es an. Ich wünschte, ich hätte ihn niemals kennengelernt.«

»Wie haben Sie ihn denn kennengelernt?«

»Ich habe ihn verteidigt. Vor ungefähr vier Jahren.«

»Was … ich meine, wessen hat man ihn beschuldigt?«

»Ich möchte nicht gern darüber sprechen, Lucy. Erzählen Sie mir lieber etwas von sich. Wo leben Sie in den Staaten?«

»In Virginia. Aber meine Eltern sind Iren. Mein Vater hat ein gutgehendes Restaurant in Richmond. Das ist die Hauptstadt von Virginia.«

»Ich weiß.« Peter lächelte. »Und Sie studieren Sprachen?«

»Ja, ich möchte später Lehrerin werden.«

»Ich glaube, dazu werden Sie wohl kaum kommen. Wenn man so aussieht wie Sie, wird man nicht lange allein bleiben.«

»Glauben Sie, dass es mein Ziel ist, mir einen Mann zu angeln, wie man so schön sagt? Nein, ich habe genug von Männern.«

»Sie sprechen gerade so, als hätten Sie schon das halbe Leben hinter sich. Dabei sind Sie noch nicht mal ein Vierteljahrhundert alt.«

»In einem Jahr ist es soweit.« Sie nippte an ihrem Weinglas.

Peter lachte herzlich. Er wunderte sich ein wenig über seine fröhliche Stimmung. Er hatte doch tatsächlich die letzte halbe Stunde seinen Kummer vergessen.

Erst als Lucy gegangen war, dachte er wieder an Linda. Bei dem Gedanken, dass sie bei Tonio war, litt er wahre Höllenqualen.

*

In Sophienlust herrschte freudige Erregung. Besonders Pünktchen strahlte über ihr sommersprossiges Gesicht. »Fast habe ich es geahnt, dass sie wiederkommt«, vertraute sie Nick an.

»Ich auch, Pünktchen. Was mag nur bei den Hilles geschehen sein? Ich werde nachher Mutti fragen. Sie hat ja ausführlich mit Herrn Dr. Hille telefoniert.«

Denise erzählte ihm später, was geschehen war.

Nick schüttelte den Kopf. »Mutti, manche Frauen sind wirklich niederträchtig. Du würdest uns niemals eines anderen Mannes wegen verlassen.«

»Bestimmt nicht. Aber ich führe auch eine glückliche Ehe und habe liebe Kinder.«

»Herr Dr. Hille ist auch ein guter Mensch. Außerdem sieht er sehr gut aus. Und Nina ist ein nettes Mädchen. Frau Hille hätte wirklich keinen Grund gehabt, die beiden zu verlassen.«

»Ach, Nick, man kann einen Menschen nicht einfach verurteilen. Keiner von uns beiden weiß, was vorgefallen ist. Auf alle Fälle müsst ihr euch bemühen, Nina zu helfen, damit sie wieder ein fröhliches Kind wird. Ich habe vorhin mit Herrn Brodmann, dem Leiter der Volksschule, gesprochen, um Nina dort anzumelden. Sie ist ja im gleichen Alter wie Vicky und kommt in dieselbe Klasse.«

»Ob Nina sehr lange bei uns bleiben wird?«

»Das kann ich dir nicht sagen, mein Sohn«, erwiderte seine Mutter lakonisch. »Ich fahre jetzt nach Schoen­eich. Kommst du mit?«

»Heute übernachte ich lieber hier in Sophienlust, Mutti. Morgen ist ja der erste Schultag. Dann bin ich gleich hier, wenn die Schulbusse abfahren.«

»Gut, mein Junge. Henrik bringe ich morgen persönlich in die Schule. Also, dann bis morgen.« Denise nickte ihrem Sohn zu. Fast tat es ihr ein wenig leid, dass Nick schon so groß und so selbstständig war. Es kam ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie zum erstenmal mit ihm nach Sophienlust gekommen war, um das Erbe Sophie von Wellentins zu übernehmen. Doch damals war Nick erst fünf Jahre alt gewesen.

Nick blickte dem Wagen seiner Mutter nach. Dann lief er zu den anderen Kindern zurück.

Pünktchen erwartete ihn gespannt. »Weißt du nun, was geschehen ist?«, fragte sie.

»Du meinst, bei den Hilles? Ninas Mutter hat ihre Familie für immer verlassen.«

»Ist sie mit einem anderen Mann durchgebrannt?«

»Ja, Pünktchen, so ähnlich. Darum musst du besonders lieb zu Nina sein. Du hast dich doch während der großen Ferien gut mit ihr verstanden?«

»Ja, Nick, ich habe sie gern und freue mich, dass sie das Zimmer neben dem meinen bekommt. Ich werde die Verbindungstür immer offenlassen, damit ich sie trösten kann, wenn sie weint. Manche Mütter sind wirklich gemein.«

»Der Meinung bin ich auch.« Nick blickte auf seine Armbanduhr. »Wenn wir uns beeilen, können wir noch schnell zum Tierheim hinüberradeln, um den jungen Gepard zu sehen, der für ein paar Tage bei Hans-Joachim in Behandlung ist.«

»O ja!«, rief Pünktchen begeistert. »Aber dann müssen wir schnell fahren, damit wir pünktlich zum Abendessen zurück sind.«

»Das schaffen wir ganz sicher. Komm!« Nick fasste Pünktchen zu ihrer Überraschung bei der Hand und lief mit ihr zu dem Schuppen hinter dem Haus, in dem die Fahrräder standen.

*

Nina saß stumm neben Lucy im Auto, als sie Bachenau hinter sich ließen. Die Erinnerung an ihre erste Fahrt nach Sophienlust zusammen mit ihren Eltern trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie achtete jetzt nicht einmal auf die hübschen Wegweiser mit den holzgeschnitzten Figürchen, die sie damals so begeistert hatten.

Auch Lucy fielen die Wegweiser nicht auf, weil sie mit ihren Gedanken wieder bei Tonio und Ninas pflichtvergessener Mutter war.

»Gleich dort vorn ist schon das Parktor von Sophienlust!«, rief Nina plötzlich und erwachte damit aus ihrer Lethargie. Aufgeregt richtete sie sich ein wenig auf. »Hier ist es immer so lustig. Nick hat mir einmal erzählt, dass bisher alle Kinder, die schrecklich unglücklich waren, hier wieder fröhlich wurden.«

»Du wirst bestimmt auch wieder fröhlich werden, mein Kleines.«

»Das glaube ich nicht, Lucy. Ohne Mutti ist das Leben furchtbar traurig.« Schon wieder traten Nina Tränen in die Augen.

Dann aber, als das Auto langsam die Auffahrt hinauffuhr und das Herrenhaus mit der Freitreppe, auf der ein Teil der Kinder versammelt war, vor ihnen lag, versiegten die Tränen schnell.

Laut bellend kamen Barri und Anglos herbeigelaufen. Die alte Schäferhündin trottete hinter den beiden her.

Als Nick mit Habakuk auf der Schulter majestätisch die Stufen herunterstieg, brach Nina in helles Lachen aus. »Sieh doch, Lucy, das ist Habakuk. Er ist ein sehr kluger Papagei.«

Das Auto hielt am Fuß der Freitreppe. Nina kletterte aus dem Wagen und sah Nick strahlend an. Habakuk plusterte sein Gefieder auf und krächzte: »Guten Tag, liebes Mädchen. Fein, dass du uns schon wieder verlässt.«

»Aber, Habakuk, das habe ich dir doch nicht beigebracht.« In Nicks dunklen Augen blitzte es übermütig auf. »Ich habe dich gebeten, Nina mit den Worten: Fein, dass du wieder da bist, zu empfangen.«

»Dummer Junge! Böser Junge!« Habakuks gute Laune schien wie weggeblasen zu sein. Böse blinzelte er die Kinder an und schlug dann heftig mit den Flügeln. Als die Kinder daraufhin vor Vergnügen in heiteres Gelächter ausbrachen, flatterte er beleidigt von Nicks Schulter und landete auf Barris breitem Rücken. Entsetzt blickte der große Hund sich um. Dann sträubte sich sein Fell.

»Armer Barri!« Nick lachte und hob Habakuk wieder auf seine Schulter.

Die Kinder begrüßten Nina voller Freude. Dann erschienen auch Frau Rennert und Schwester Regine, um Nina in ihre Arme zu schließen.

»Ich bin so froh, dass ich wieder bei euch bin«, gestand das Kind leise.

»Wir freuen uns auch alle riesig«, antwortete Denise, die nun ebenfalls aus dem Haus kam. »Herzlich willkommen bei uns, mein Kleines. Wir werden dir schon helfen.«

Lucy hatte still neben dem Auto gestanden. Erst jetzt wurden die Erwachsenen und Kinder auf sie aufmerksam. Nick, der inzwischen Habakuk in seinen Käfig zurückgesetzt hatte, begrüßte sie als erster und stellte bei sich fest, dass die junge Amerikanerin ganz toll aussah.

Denise bat Lucy ins Haus, nachdem alle sie begrüßt hatten. Lucy nahm die Einladung dankend an. Während das Hausmädchen Ulla und die größeren Jungen die Koffer aus dem Auto holten und auf Ninas Zimmer trugen, ging Lucy neben der noch so jugendlich wirkenden Mutter von Nick durch die Halle zum Biedermeierzimmer.

Eine der Praktikantinnen, die in Sophienlust ihr Pflichtjahr absolvierten, brachte einen kleinen Imbiss und eisgekühlte Limonade, denn es war für die Jahreszeit viel zu warm.

Lucy war fasziniert von dem alten Herrenhaus. Sie sagte das auch Denise, die die junge Amerikanerin sehr sympathisch fand.

»Herr Dr. Hille hatte heute keine Zeit. Deshalb habe ich Nina hergebracht. Sie konnte es kaum erwarten, wieder hier zu sein. Nun verstehe ich das auch besser. Obwohl ich zum ersten Mal hier bin, fühle ich mich schon wie zu Hause«, gestand sie impulsiv. »Nina wird ihren Kummer hier ein wenig vergessen.«

»Ja, das wird sie ganz gewiss. Unsere Kinder, besonders die, die für immer bei uns sind, haben mitfühlende Herzen und viel Verständnis für das Leid eines anderen.«

»Das mit dem Papagei war eine reizende Idee.«

»Sie stammt von meinen beiden Söhnen Nick und Henrik und von Pünktchen. Das ist das sommersprossige Mädchen mit den goldblonden Haaren. Habakuk hat auf diese Weise schon öfters jemanden begrüßt.«

»Ich habe Nina vorhin zum ersten Mal lachen sehen.«

»Dann kennen Sie die Kleine noch nicht lange?«

»Nein, Frau von Schoenecker. Ich kenne sie erst zwei Tage.« Nur einige Sekunden zögerte Lucy. Dann erzählte sie Denise alles Wissenswerte.

Obwohl Lucy es nicht aussprach, erriet Denise, dass dieser Kunstmaler Tonio Bertoldi der Amerikanerin mehr bedeutete und sie wohl ebenso unter der Situation litt wie Nina und ihr Vater.

Lucy erwiderte Denises Blick mit einem dankbaren Lächeln. Dann erklärte sie: »Ich möchte Dr. Hille und Nina helfen. Das kann ich nur tun, wenn ich versuche, Tonio wieder für mich zu gewinnen. Bis zu diesem Augenblick erschien es mir unmöglich, einfach zu ihm zu gehen und zu sagen, hier bin ich. Wenn ich Nina und ihrem Vater nicht begegnet wäre, wäre ich gewiss schon daheim in Virginia. Aber das Schicksal hat mir wahrscheinlich noch eine Aufgabe zugeteilt. Jetzt, nachdem ich mit Ihnen über alles gesprochen habe, bin ich imstande, meinen Stolz zu überwinden und zu versuchen, Dr. Hilles Ehe zu retten.«

»Es wäre wunderbar, wenn Ihnen das gelingen würde, Fräulein Snyder«, erwiderte Denise ernst.

»Ich werde es versuchen. Aber nun würde ich mich gern noch von der kleinen Nina verabschieden und mir auch noch ihr Zimmer ansehen, damit ich ihrem Vater heute Abend mehr erzählen kann.«

»Dann gehen wir zu den Kindern.« Denise erhob sich schon.

Nina saß auf dem Bett in dem freundlichen Schlafzimmer und sah Pünktchen und Schwester Regine zu, die ihre Sachen einräumten.

Als Lucy und Tante Isi erschienen, stand sie auf und schmiegte sich für einen Augenblick an Denise. »Es ist wunderschön hier«, sagte sie mit einem dankbaren Lächeln. »Und morgen werde ich bestimmt nicht mehr ganz so traurig sein. Bleibst du bis morgen hier, Lucy?«, wandte sie sich an die Amerikanerin.

»Nein, Nina, ich möchte sofort fahren. Heute Abend sehe ich deinen Vati und erzähle ihm, wie hübsch dein Zimmer ist.«

»Und die Verbindungstür zu meinem Zimmer bleibt offen«, warf Pünktchen fröhlich ein. »Dann können Nina und ich uns am Abend noch ein Weilchen unterhalten.«

»Ja, das können wir.« Nina schluckte krampfhaft ihre Tränen herunter.

Lucy zog das Kind an sich und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Auf baldiges Wiedersehen. Wenn es am nächsten Wochenende schön ist, werde ich versuchen, deinen Vati dazu zu bringen, mit mir nach Sophienlust zu fahren, um dich zu besuchen. Soll ich dir etwas mitbringen?«

»Vielen Dank, nein«, erwiderte Nina leise. Ihre Mutti konnte Lucy ihr nicht mitbringen, und alles andere interessierte sie im Augenblick nicht.

*

Lucy überlegte auf der Rückfahrt, wie sie es anfangen sollte, Tonio und Ninas Mutter auseinanderzubringen. Sie kam sich dabei wie eine richtige Intrigantin vor. Als sie das Hotel erreichte, war sie fest entschlossen, am nächsten Tag zu Tonio zu fahren, um ihm Linda Hille auszuspannen.

Da Lucy noch viel Zeit bis zu ihrer Verabredung mit Peter hatte, badete sie lange und legte sich noch ein wenig auf das breite französische Bett. Mit geschlossenen Augen überließ sie sich ihren Gedanken, die ihr um einen Tag vorauseilten. Sie sah sich bereits vor der Tür der Atelierwohnung stehen und läuten. Tonio öffnete ihr.

Doch weiter kam Lucy nicht in ihren Überlegungen, weil sie nicht wusste, ob Tonio sich über das Wiedersehen mit ihr freuen oder ärgern würde. War es möglich, dass er die gemeinsamen Wochen in Paris vergessen hatte und sich auch nicht mehr an sie erinnerte? Das allerdings konnte sie sich nur schwer vorstellen. Sie war doch ganz ansehnlich, ein Typ, wie man sagte. Zumindest hatte das Tonio in Paris oft behauptet. Aber Männer sagen vieles.

Vielleicht sollte ich ihn anrufen und auf meinen Besuch vorbereiten? fragte sie sich. Nein, das Risiko wollte sie nicht eingehen. Sie musste Tonio überraschen. Anders würde sie ihr Vorhaben nicht schaffen. Und wenn Ninas Mutter bei ihm sein sollte? Umso besser. Dann würde sie sogleich wissen, woran sie war. Dann würde es vermutlich zu einem Streit zwischen ihnen kommen, und damit genau das eintreten, was sie plante.

Lucy blickte auf die Uhr. Sie stellte fest, dass es nun höchste Zeit für sie war, sich anzukleiden. Für den lauen Septemberabend wählte sie ein buntes Wollgeorgettekleid mit kurzen Ärmeln und einem Hemdblusenkragen. Eine in der Farbe dazu passende Wolljacke legte sie sich über die Schultern, als sie das Zimmer verließ, um unten im Vestibül auf Peter zu warten.

Lange dauerte es nicht, bis er kam.

»Reizend sehen Sie aus«, stellte er nach der Begrüßung fest. »Ich möchte heute Abend mit Ihnen in ein slowakisches Lokal gehen, in dem man besonders gut speist. Auf Ihre Linie brauchen Sie ja nicht zu achten«, fügte er lächelnd hinzu. »Sind Sie mit meinem Vorschlag einverstanden?«

»Natürlich, Peter.« Sie erwiderte sein Lächeln und verließ mit ihm zusammen das Hotel.

Peter entgingen nicht die bewundernden Blicke der Männer in dem gemütlichen Lokal. »Eigentlich müsste ich rasend eifersüchtig sein«, meinte er.

»Auf mich?« Sie lachte leise auf. »Dazu müssten Sie mich lieben.«

»Das ist bei einem Mann nicht unbedingt nötig. Wenn er mit einer so hübschen Frau ausgeht, sieht er sie als sein Eigentum an und will sie ganz allein für sich haben.«

»Dann finden Sie mich hübsch?«, fragte sie mit kindlicher Offenheit.

»Hübsch? Was für eine Frage? Sie sind mehr als hübsch. Wäre ich Ihnen vor Jahren begegnet, hätten Sie mir gefährlich werden können.«

Ganz plötzlich war seine heitere Stimmung wieder verflogen. Lucy erkannte, wie sehr er noch immer seine Frau liebte. Ihr Entschluss, ihm und Nina zu helfen, stand nun endgültig fest.

Lucy und Peter verstanden sich in jeder Beziehung ausgezeichnet. Peter fand in Lucy eine Frau, der er sich rückhaltlos anvertrauen konnte. Als er sie gegen Mitternacht ins Hotel zurückbrachte, verabschiedete sie sich mit einem Kuss von ihm. »Ich danke Ihnen für die netten Stunden. Sie haben mir sehr geholfen.«

»Sie mir auch, Lucy. Nicht wahr, Sie bleiben noch länger in Frankfurt?«

»Das werde ich. Besonders jetzt«, fügte sie mit einem rätselhaften Lächeln hinzu und ging ins Hotel.

Erst als Peter wieder allein war, überfiel ihn von neuem das Gefühl grenzenloser Verlassenheit.

*

Lucy erwachte am nächsten Morgen ungewöhnlich früh, obwohl sie spät zu Bett gegangen war. Der Gedanke an das Wiedersehen mit Tonio ließ sie nicht mehr schlafen. Darum stand sie auf und badete.

Sie wusste, dass Tonio sie gern in langen Hosen sah. In Paris war sie fast den ganzen Tag so herumgelaufen. Er hatte behauptet, auf diese Weise käme ihre ausgezeichnete Figur noch mehr zur Geltung. Darum wählte sie dunkelgrüne Samthosen und einen weißen leichten Pulli. Da es die Herbstsonne an diesem Tag wieder besonders gut meinte und die Aussicht bestand, dass es sehr warm wurde, nahm Lucy keine Jacke mit, als sie das Hotel verließ. Sie ging zu Fuß, denn sehr weit war es nicht bis zu Tonios Wohnung.

Als sie dann vor dem Haus stand, war es noch nicht einmal zehn. Aber das störte sie nicht. Fast wünschte sie sich, dass Linda Hille wieder bei Tonio war. Dann würde sie ihm einfach um den Hals fallen und ihn laut an ihre glücklichen Wochen in Paris erinnern.

Mit heftigem Herzklopfen betrat Lucy das dunkle Treppenhaus. Sehr langsam stieg sie die Stufen hinauf. Vor der Tür der Atelierwohnung blieb sie lauschend stehen. Doch sie hörte keine Stimmen.

Ob Tonio und seine Geliebte noch schliefen? Das allerdings wäre peinlich. Nein, im Gegenteil, das wäre noch günstiger, überlegte Lucy nach einem tiefen Atemzug und drückte auf die Klingel.

Tonio war allein. Linda und er hatten sich am Abend zuvor wie kleine Kinder gestritten und sich im Zorn voneinander getrennt. Als er versucht hatte, sie in ihrem Appartement telefonisch zu erreichen, hatte sie sich nicht gemeldet. Dass er darüber sogar unendlich erleichtert gewesen war, wollte er sich nicht eingestehen und auch nicht, dass seine Liebe zu ihr allmählich erlahmte.

So ist es immer, hatte er gedacht. Der Alltag tut einer großen Liebe nicht gut. Linda hat mich in vieler Beziehung enttäuscht. Ihr ewig trauriges Gesicht ging mir auf die Nerven.

Das dachte er auch, als es läutete. Für ihn stand fest, dass es Linda war. Er war deshalb nahe daran, sich einfach nicht zu rühren.

Wieder läutete es.

Missmutig legte er die Palette hin und stellte den Pinsel in das alte Einweckglas. Dann wischte er sich die Hände an dem Terpentinlappen ab und verließ das Atelier.

Noch einmal läutete es.

Nach einem unterdrückten Seufzer öffnete er. Fassungslos musterte er dann das reizende Gesicht der jungen rothaarigen Dame. »Du?«, fragte er leise. »Ich hatte …«

»Guten Tag, Tonio!«, rief Lucy fröhlich. »Du machst ein Gesicht, als würdest du mich nicht wiedererkennen. Mir scheint, du hast mich tatsächlich vergessen?«

»Vergessen? Nein, das habe ich nicht, Lucy.«

»Zumindest erinnerst du dich noch an meinen Namen. Darf ich hereinkommen? Oder hast du Damenbesuch?« Sie schnupperte. »Es riecht nicht nach Parfüm, dafür aber nach Terpentin.«

»Das sind meine Hände. Lucy, komm nur herein. Ich habe keinen Besuch.«

»Ausnahmsweise nicht, was?« Sie gab ihm einen freundschaftlichen Kuss. Wie schwer es ihr fiel, die gleichgültige gute Freundin zu spielen, wusste nur sie. Das Wiedersehen mit ihm hatte sie zutiefst aufgewühlt. Mehr denn je war ihr bewusst, dass sie keine Minute aufgehört hatte, ihn zu lieben.

»Stimmt«, erwiderte Tonio in schönster Offenheit.

Darauf antwortete sie nicht, weil sie sich dann verraten hätte. Tonio sollte in ihr das fröhliche Mädchen sehen, das sie damals in Paris gewesen war. Sie kannte ihn schon gut genug, um zu wissen, dass Szenen ihm zuwider waren und dass sie ihn damit nur vor den Kopf stoßen würde.

»Genauso habe ich mir dein Atelier nach deinen Schilderungen vorgestellt, Tonio.«

Sie betrat das Atelier und blieb vor der Staffelei stehen.

»Die Landschaft gefällt mir ausgezeichnet. Aber sie ist ganz anders gemalt als die Bilder, die du in Paris ausgestellt hast. Ja, es ist ein ganz anderer Stil. Aber er gefällt mir. Trotzdem ist es kein echter Bertoldi.«

»Ich weiß, aber um weiterhin gut zu verdienen, muss man auch naturalistisch malen. Lucy, ich bin froh, dass du gekommen bist«, wechselte er das Thema. Er fasste sie bei den Händen. »Du bist noch hübscher geworden. Wenn das überhaupt möglich war.« Er wollte sie an sich ziehen und küssen, aber sie befreite sich lachend.

»Du hast recht«, gab er zu. »Ich habe kein Recht mehr auf dich.«

»Hast du eigentlich meinen Brief erhalten?«

»Deinen Brief habe ich erhalten. Aber ich habe darauf nicht geantwortet, weil ich dich nicht wiedersehen wollte.«

»Dann waren die Wochen in Paris für dich nur ein kleines Abenteuer?«, fragte sie und wich seinem Blick aus.

»Nein, Lucy, das war es nicht. Ganz bestimmt nicht. Die Wochen mit dir gehören zu meinen schönsten Erinnerungen.«

»Tonio, ich halte es für besser, dieses etwas heikle Thema ad acta zu legen. Vermutlich bist du gebunden?«

»In gewisser Weise ja«, erwiderte er. »Wollen wir uns nicht setzen? Ich habe einen guten Rotwein da. Mir ist jetzt nach einem Schluck zumute. Und ich erinnere mich, dass du auch gern Rotwein getrunken hast.«

»Ja, das habe ich.« Lucy setzte sich auf die niedrige Couch. »Stört es dich, wenn ich rauche?«

»Was für eine Frage!« Er reichte ihr das Kästchen mit den Zigaretten. Dann gab er ihr Feuer. Dabei trafen sich ihre Blicke. »Wie habe ich dich nur vergessen können«, sagte er verwundert.

»Die Gegenwart war stärker. Warst du schon damals mit der Frau, die in deinem Leben eine so große Rolle spielt, befreundet, Tonio?«, fragte sie gespannt.

»Befreundet ja. Geliebt habe ich sie aber schon lange. Eigentlich seit Jahren. Aber es war immer eine unerfüllte Liebe, weil sie die Frau meines besten Freundes ist.«

»Ach, so ist das. Und als du mich kennenlerntest, da war … Ich meine, war sie da schon deine Geliebte?«

»Nein, Lucy, damals war sie es noch nicht. Erst nach meiner Rückkehr aus Paris hat es angefangen. Es ist merkwürdig, dass der Alltag der Liebe nicht guttut.«

»Soll das heißen, dass du sie nicht mehr liebst?«, fragte Lucy mit klopfendem Herzen und zog dann an ihrer Zigarette.

»Darauf kann ich dir nicht antworten, Lucy.«

»Tonio, ich will mich nicht aufdrängeln. Sag es mir nur, wenn ich gehen soll. Vielleicht erwartest du sie?«

»Es kann schon sein, dass Linda heute Vormittag kommt. Aber deshalb kannst du doch dableiben. Wir sind schließlich alte Freunde.«

»Das ist wahr.« Lucy verstand sich selbst nicht mehr. Tonio erzählte ihr in schönster Offenheit, dass er kaum an sie gedacht habe und eine andere Frau liebe. Am liebsten wäre sie gegangen, um ihn nie wiederzusehen. Denn je länger sie bei ihm blieb, desto mehr würde sie sich wieder in ihn verlieben. Dabei wollte sie ihm doch nur eine Lehre erteilen und durch Intrigen sein Verhältnis zu Linda zerstören. Vermutlich würde sie dabei aber selbst am meisten leiden müssen.

Tonio sah Lucy ununterbrochen an. Er studierte jede Linie ihres hübschen Gesichtes mit der kleinen geraden Nase und den Sommersprossen darauf. Sie sah jünger aus, als sie war.

»Warum musterst du mich so eingehend?«, fragte sie leise und hielt seinem Blick stand.

»Weil ich vergessen habe, wie schön du bist, Lucy. Wollen wir heute beisammenbleiben? Hier? Wenn es läutet, öffne ich nicht.«

Alles in ihr wehrte sich dagegen, ihm seinen Wunsch zu erfüllen, weil sie sich nicht noch mehr vor ihm erniedrigen wollte. Aber dann dachte sie an Nina und Peter. Sie nickte.

»Lucy!« Er setzte sich neben sie und zog sie an sich.

Als er sie küsste, hatte sie das Gefühl, es habe sich seit Paris nichts zwischen ihnen geändert. Die glückliche Vertrautheit war wieder da.

Sehr viel später lag sie mit einem gelösten Ausdruck auf der Couch und beobachtete ihn. Tonio stand in der Kochnische und bereitete das Mittagessen zu.

Tonio hatte nichts davon wissen wollen, dass sie ihm half. Grinsend drehte er sich jetzt um. »Hoffentlich schmeckt es dir auch?«

»Ich habe einen mächtigen Hunger, Tonio. Außerdem liebe ich Rühreier. Und dein Wein ist wirklich ausgezeichnet.«

Lucy dachte im Augenblick nicht mehr an ihre Rivalin und auch nicht an Peter. Von klein auf hatte sie stets ihren Willen durchgesetzt, wenn es sich gelohnt hatte. Das würde sie diesmal auch tun. Denn sie wollte Tonio haben.

»Dann können wir essen.« Geschickt balancierte er das volle Tablett durch das Atelier und setzte es schwungvoll auf dem niedrigen Couchtisch ab.

Im gleichen Augenblick läutete es.

»Pst!« Tonio legte den Zeigefinger an die Lippen.

»Ich bin schon ruhig«, flüsterte sie. Dabei klopfte ihr das Herz zum Zerspringen.

Tonio setzte sich neben sie und zog sie an sich. »Sie wird wieder gehen, Lucy.«

»Eigentlich tut sie mir leid.«

»Mir auch, Lucy. Aber ich liebe dich, nur dich.«

»Solange ich bei dir bin?«, fragte sie mit einem Anflug von Bitterkeit. Aber er hörte es nicht, weil es in diesem Augenblick wieder läutete. Dann konnte man deutlich Schritte auf der Treppe hören, die sich entfernten. Erleichtert atmete Tonio auf.

»Du wirst es ihr sagen müssen, Tonio.«

»Was, Lucy?« Er schenkte die Gläser wieder voll. »Iss erst einmal. Danach können wir Probleme wälzen.«

»Gut, Tonio.« Plötzlich war ihr der Appetit vergangen. Aber sie zwang sich zum Essen, um ihn nicht zu kränken, denn die Rühreier waren wirklich gut, und die vielen Zwiebeln in den Röstkartoffeln schmeckten ebenfalls ausgezeichnet.

Lucy wusch nach dem Essen das Geschirr ab, und Tonio arbeitete indessen weiter an seinem Bild. Strahlend erklärte er später: »Du inspirierst mich, Lucy. Du solltest für immer bei mir bleiben.«

»Ist das ein Heiratsantrag?«

»Heiratsantrag?«, wiederholte er langsam. »Noch kann ich dir keinen machen, Lucy. Ich muss zuvor noch einiges regeln.«

»Das sehe ich ein.«

Das Telefon läutete. Diesmal zögerte Tonio nicht lange. Er hob ab und meldete sich.

Lucy beschäftigte sich vor dem Spiegel angelegentlich mit ihrer Frisur. Dabei entging ihr aber kein Wort von Tonio.

»Nein, Linda, ich habe heute keine Zeit.«

»Ja, ich rufe dich an.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Nein, nein, ich bin dir nicht mehr böse.«

»Ja, ich rufe dich an.«

Er legte auf.

»Ich glaube, ich sollte jetzt lieber doch gehen«, sagte Lucy leise.

»Nein, bitte nicht, Lucy. Ich brauche dich. Ich liebe dich.«

Lucy entschuldigte ihr Dableiben damit, dass sie dadurch nur ein gutes Werk tue und Peter und Nina helfe. Hätte sie in Lindas Appartement Mäuschen spielen können, hätte sie sich davon überzeugen können, dass ihr Saatkorn auf fruchtbaren Boden gefallen war und schon aufging.

*

Linda war wie vor den Kopf gestoßen. Seitdem sie Peter und ihr Kind verlassen hatte, war so etwas noch nie vorgekommen. Tonio hatte stets für sie Zeit gehabt.

Instinktiv spürte Linda, dass Tonio nicht allein war. Vermutlich war er zuvor auch daheim gewesen und hatte nur nicht aufgemacht.

Linda saß regungslos auf der Couch und blickte hinaus in den strahlenden Septembertag. Auf dem Fenstersims saßen zwei Tauben, die fröhlich gurrten.

»Mein Gott, Tonio, das darfst du mir doch nicht antun«, flüsterte Linda. »Ich habe doch deinetwegen alles aufgegeben, was mir lieb und wert war – und noch ist. Ich habe dir vertraut und an deine Liebe geglaubt.«

Das Telefon läutete. Lindas Herz machte einen Freudensprung, als sie abhob und sich meldete.

»Verzeihung, falsch verbunden«, antwortete eine ihr völlig fremde Stimme. Dann knackte es in der Leitung.

Müde legte Linda auf. Dann erhob sie sich, um nach Zigaretten zu suchen. Sie fand noch eine Schachtel im Nachtkästchen.

Früher hatte sie mäßig geraucht. Aber seit sie mit Tonio beisammen war, rauchte sie oft unmäßig, obwohl sie wusste, dass es ihr nicht guttat.

Mit der Zigarette in der Hand ging Linda durch die kleine Wohnung. Sie kam sich eingeengt vor und sehnte sich mit der ganzen Kraft ihres Herzens nach der geräumigen Villa ihres Mannes. Rasch drückte sie die halb gerauchte Zigarette aus und zog sich um. Dann verließ sie das Appartement, um nach Sachsenhausen zu fahren.

Als sie die stille Villenstraße erreichte, blieb sie stehen. Erst nach einigen Minuten fuhr sie langsam an dem schmiedeeisernen Gartentor vorbei. Vielleicht war Nina im Garten, sodass sie ihr Kind wenigstens von weitem sehen konnte.

Aber weder im Garten noch im Haus rührte sich etwas. Die Villa machte einen fast unbewohnten Eindruck. Nein, jetzt wurde im oberen Stockwerk ein Fenster geöffnet. Wallys Gesicht erschien für einen Augenblick, um dann wieder zu verschwinden.

Linda starrte tränenblind auf die Front der Villa. Die Astern standen in voller Blüte, auch die Rosen blühten noch.

Linda schluchzte leise auf, als sie weiterfuhr, um in die nächste Seitenstraße einzubiegen. Eine Stunde später war sie wieder daheim. Sie saß von da an stundenlang vor dem Telefon und wartete auf Tonios Anruf. Doch der Anruf kam an diesem Tag nicht mehr.

Um schlafen zu können, nahm Linda drei Schlaftabletten. Sie fiel in einen bleischweren, traumlosen Schlaf, aus dem sie erst am späten Vormittag des nächsten Tages erwachte. Kurz darauf läutete das Telefon. Es war Tonio. Aber die glückliche Stimmung, die sie sonst bei seinen Anrufen immer überfallen hatte, stellte sich diesmal nicht ein.

Tonio wollte zu ihr kommen. Mit einer matten Bewegung legte Linda auf und ging ins Badezimmer. Als sie ihr leicht verschwollenes Gesicht und die tiefen Schatten unter ihren Augen im Spiegel sah, riss sie sich zusammen. Es gelang ihr tatsächlich sich durch einige Kunstgriffe so herzurichten, dass ihr kaum noch etwas von ihrem vorherigen Aussehen anzumerken war.

Tonio kam ihr verändert vor, als er eintrat. Sie vermisste das Aufleuchten seiner Augen. Auch zog er sie nicht an sich, wie er das sonst getan hatte. Eine unsichtbare Mauer hatte sich zwischen ihr und ihm aufgetan und schuf eine fremde Atmosphäre.

Linda setzte sich wie betäubt. Die Angst, Tonio auch noch zu verlieren, lähmte ihre Gedanken. »Nicht wahr, gestern war eine andere Frau bei dir?«, fragte sie, noch immer benommen von den Schlaftabletten und auch von dem Schock, den sein Benehmen in ihr hervorgerufen hatte.

Tonio war kein schlechter, skrupelloser Mensch. Darum brachte er es auch nicht fertig, Linda schon jetzt die Wahrheit zu sagen.

»Aber nein«, erwiderte er. »Ich war gestern nur wütend, weil du mich am Abend zuvor so niederträchtig behandelt hattest.«

»Es tut mir leid, Tonio.« Ihre Mundwinkel bebten.

»Bitte, Linda, tu mir den einzigen Gefallen und fang nicht wieder zu weinen an.« Er sah sie gereizt an. Dabei hatte er sich fest vorgenommen, ruhig zu bleiben. Wenn er nur wüsste, wie er Linda beibringen sollte, dass er sie nicht mehr liebte.

Seit gestern war ihm klar, dass Linda und er viel zu verschieden waren, um ein gemeinsames Leben aufbauen zu können. Einerseits fühlte er sich zwar verpflichtet, sie nicht im Stich zu lassen, andererseits würde das Zusammenleben mit ihr aber auf die Dauer für ihn qualvoll sein. Lucy war die Frau, die er brauchte. Sie war tolerant und fröhlich – und sehr reizvoll. Noch wollte er sich nicht eingestehen, dass er sie liebte. Damals in Paris war ihm das nicht so recht bewusst gewesen, weil er da noch immer Linda im Kopf gehabt hatte.

»Ich weine ja nicht«, flüsterte sie. »Tonio, ich hatte geglaubt, du würdest mich nicht mehr lieben. Ich brauche deine Liebe so sehr.«

»Das weiß ich, Linda.« Doch als er sie in die Arme nahm, dachte er nur an Lucy.

Linda spürte, dass er ihr nicht mehr allein gehörte. Sie entzog sich ihm. Eifersucht stieg in ihr auf. Aber sie war klug genug, ihm nicht schon wieder eine Szene zu machen.

Als Tonio sie verließ, hatte Linda einen schalen Geschmack im Mund und die Gewissheit, dass sie und Tonio sich nicht mehr viel zu sagen hatten. Das war eine Feststellung, die für sie entsetzlich war. Hatte sie ihn wirklich verloren?

In diesem Augenblick war Linda fest entschlossen, um Tonio zu kämpfen. Dieser Entschluss stärkte ihren Mut. Sie fuhr noch am gleichen Nachmittag zu ihm.

Als sie aus ihrem Wagen stieg, erblickte sie ein rothaariges Mädchen mit langen hellgrünen Hosen und einem schwarzen langärmeligen Pullover, das das Haus vor ihr betrat. Hinter diesem Mädchen stieg sie die Treppe hinauf. Erst, als die andere ebenfalls vor der Tür von Tonios Wohnung stehenblieb, ahnte sie die Wahrheit.

Linda war nahe daran, einfach kehrtzumachen und fortzugehen. Aber dann überwand sie sich und ging weiter.

Lucy war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie Linda erst bemerkte, als sie neben ihr stand. Die beiden Frauen fixierten sich feindselig.

Tonio war ratlos, als er die Tür öffnete und beide vor sich sah. »Kommt nur herein in die gute Stube!«, rief er mit gespielter Fröhlichkeit. »Linda, das ist Lucy Snyder, eine alte Freundin von mir.«

Lucy lachte. »Tonio, ein Kavalier bist du nicht gerade. Ich bin noch nicht einmal ein Vierteljahrhundert alt.« Sie gab ihm ungeniert einen Kuss.

Tonio reagierte nicht darauf, sondern fuhr fort: »Lucy, und das ist Linda Hille. Sie ist schon lange mit mir befreundet.«

Linda war sehr viel schwerfälliger als Lucy und konnte sich auch kaum noch beherrschen. Ihr Lächeln wurde maskenhaft starr, als sie sich steif in einen Sessel setzte.

Lucy dagegen nahm auf der Couch Platz. Ungeniert zog sie ihre Schuhe aus und zog die Beine unter sich.

»Tonio hat mir schon von Ihnen erzählt. Rauchen Sie, Frau Hille?«, fragte sie und schob Linda das Zigarettenkästchen über den Tisch zu. Sie übernahm wie selbstverständlich die Rolle der Hausfrau und drängte Linda somit in die Rolle des Gastes.

Lindas Augen füllten sich mit heißen Tränen. »Was wird hier gespielt?«, fragte sie leise.

Lucy hatte plötzlich Mitleid mit Linda Hille. Eigentlich hatte sie sich diese Frau ganz anders vorgestellt. Viel kaltschnäuziger und selbstsicherer. Doch Linda Hille glich eher einem verschüchterten kleinen Mädchen, das hilflos zusah, wie ihm sein Lieblingsspielzeug kaputtgemacht wurde. Auch verstand sie nun viel besser, dass Peter Hille seine Frau trotz allem noch immer liebte. Dass sie litt, war offensichtlich.

Auch Tonio tat Lucy leid. Seine gekünstelte Fröhlichkeit war für sie der Beweis dafür, dass er noch immer keine Entscheidung getroffen hatte, obwohl er ihr beteuert hatte, dass er sie liebe.

»Vielleicht störe ich«, sagte Lucy leise und schlüpfte wieder in ihre Schuhe. »Tonio, ich komme lieber ein andermal wieder.«

»Nein, ich gehe.« Um Lindas Fassung war es nun endgültig geschehen. Sie sprang auf und lief davon.

Als die Tür laut zuknallte, zuckte Tonio mit den Achseln.

»Sie tut mir leid, Tonio. Sie ist viel besser, als ich dachte«, erklärte Lucy.

»Du sagst das so, als würdest du sie schon länger kennen.«

»Das tue ich auch. Jedenfalls vom Hörensagen.«

»Das verstehe ich nicht, Lucy.«

»Du verstehst vieles nicht. Aber ich will dir die Wahrheit sagen«, fügte sie entschlossen hinzu. »Ich habe das bestimmte Gefühl, dass es besser wäre, wenn wir alle unsere Karten offen auf den Tisch legen würden.«

»Du sprichst in Rätseln, Lucy.«

»Ich werde dir helfen, das Rätsel zu lösen.« Sie erzählte ihm nun, dass sie schon einmal hiergewesen war und die verzweifelte Nina auf der Treppe getroffen und sie heimgefahren hatte.

»Dann kennst du also die ganze Geschichte, du Biest«, erwiderte er mit einem kleinen Lächeln.

»Ja, Tonio. Und als ich Peter Hille kennenlernte und erkannte, wie sehr er seine Frau noch liebt, habe ich mich entschlossen, ihm und Nina zu helfen.«

»Helfen, indem du versuchtest, Linda und mich auseinanderzubringen. So ist es doch?«

»Ja, Tonio. Wäre ich Nina nicht begegnet, hätte ich Europa schon längst verlassen und wäre daheim bei meinen Eltern.«

»Liebst du mich eigentlich?« Er umfasste ihren Oberarm so fest, dass sie leise aufschrie. »Du Grobian, du tust mir ja weh.«

»Das will ich auch. Dann warst du also schon einigemale mit Peter beisammen.«

»Das war ich, und ich treffe mich heute Abend wieder mit ihm.«

»Also gefällt er dir?«, fragte er erregt.

»Er ist ein wundervoller Mensch.«

»Ein Mann zum Verlieben?«

»Ganz recht, mein lieber Tonio.« Seine offensichtliche Eifersucht erfüllte sie mit Genugtuung. Nur seinetwegen hatte sie in den letzten Tagen sehr gelitten. Deshalb tat es ihr gut, dass sie sich auf diese Weise an ihm rächen konnte.

»Und wenn ich dich bitte, dich nicht mehr mit Peter zu treffen?«

»Dann würde ich dir diese Bitte abschlagen. Am Samstag fahre ich mit ihm zu Nina, die momentan in einem Kinderheim untergebracht ist.«

»Bitte, Lucy, tu es nicht.«

»Ich verlange ja auch nicht von dir, mit Linda Schluss zu machen. Solange ich sie nicht persönlich kannte, habe ich sie anders beurteilt. Nun aber tut sie mir unendlich leid. Du hast dich in der ganzen Angelegenheit wie ein Schuft benommen.« Sie zündete sich eine Zigarette an. Ihr Herz hämmerte wie verrückt. Auch brannten ungeweinte Tränen unter ihren Lidern.

»Das habe ich, Lucy«, gab er zu.

Seine Offenheit überraschte sie immer wieder. Jeder andere Mann hätte in diesem Augenblick versucht sich reinzuwaschen. Aber Tonio tat das nicht. Wenn er zugab, etwas falsch gemacht zu haben, glich er einem liebenswerten Lausbub, dem man ganz einfach nicht böse sein konnte.

»Was wirst du nun tun, Tonio?«, fragte sie mit einem matten Lächeln. »Wir leben schließlich nicht im Orient, wo die Männer ungestraft mehrere Frauen haben dürfen.«

»Ich weiß es nicht, Lucy. Ich weiß es wirklich nicht.« Er setzte sich und vergrub sein Gesicht in den Händen.

Sinnend blickte sie auf sein dichtes schwarzes Haar. Dabei stellte sie nicht zum ersten Mal fest, dass er sehr schöne Hände hatte. Am liebsten hätte sie ihn zärtlich an sich gezogen und geküsst. Aber sie sagte sich, dass sie das nicht tun dürfe. Tonio musste endlich wissen, was er wollte. Bei seiner schwierigen Entscheidung wollte sie ihn in keiner Weise beeinflussen.

Lucy stand auf und nahm ihre Handtasche. »Tonio, ich gehe jetzt«, erklärte sie und blieb vor ihm stehen.

Er ließ die Hände sinken und sah sie unsicher an. Dann nickte er. »Ja, Lucy, es ist das Beste im Augenblick. Ich muss mich um Linda kümmern. Das bin ich ihr schuldig.«

»Ja, Tonio.« Plötzlich konnte sie nicht anders, als ihn noch einmal zu umarmen. Er hielt sie ganz fest, aber er küsste sie nicht. Ihre Blicke versanken ineinander. Dann riss sie sich von ihm los und verließ die Wohnung.

Leise war die Wohnungstür ins Schloss gefallen. Doch Tonio stand noch immer auf der gleichen Stelle, nachdem Lucy ihn verlassen hatte. Endlich raffte er sich auf und zog sich um. Kurz darauf verließ er das Haus und ging zu Linda, um sich mit ihr auszusprechen.

Linda öffnete ihm die Tür mit verweinten Augen. »Ach, du bist es«, sagte sie leise. »Das ist mit der Post gekommen«, fügte sie hinzu und reichte ihm ein Schreiben ihres Rechtsanwaltes. »Ende nächster Woche ist unser Scheidungstermin. Peter scheint es nicht erwarten zu können, mich loszuwerden.«

»Das glaube ich auch«, murmelte Tonio. Dabei dachte er an Lucy. Der Gedanke, dass Peter und sie vielleicht eines Tages heiraten würden, machte ihn wahnsinnig.

»Tonio, ich habe alles falsch gemacht. Ich hatte geglaubt, du liebst mich wirklich.«

Tonios Mitleid siegte. »Das tue ich doch auch, Linda«, erwiderte er und nahm sie in die Arme.

Linda glaubte ihm, weil sie ihm glauben wollte. Tonio aber dachte, leb wohl, Lucy. Er hatte sich nun entschlossen, Linda nach der ausgesprochenen Scheidung zu heiraten, weil er sich dazu einfach verpflichtet fühlte.

*

Nina konnte in Sophienlust nicht wirklich froh werden. Auch wenn sie lachte, blieben ihre Augen ernst. Denise nahm das Kind oft mit nach Schoeneich, um ihm das Gefühl zu geben, dass es eine Sonderstellung in Sophienlust einnehme.

Auch Andrea, die sehr gut mit Kindern umgehen konnte, holte Nina häufig zu sich. In dem hübschen Landhaus des Tierarztes fühlte sich das Mädchen fast glücklich. Stundenlang spielte es mit den vier Dackeln oder saß bei Peterle und sah ihn ernst an.

»Ich habe mir immer ein Brüderchen gewünscht, Peterle«, vertraute Nina dem Baby eines Tages an. »Aber nun kann ich keines mehr bekommen, weil ich keine Mutti mehr habe.«

Peterle lachte übers ganze Gesicht.

Die Dogge Severin stupste Nina freundschaftlich mit ihrer Schnauze an, und Nina streichelte ihren Kopf.

Das Hausmädchen Betti erschien im Kinderzimmer. »Nina, Herr Koster fragt, ob du nicht zum Tierheim herüberkommen möchtest. Er will dir etwas Hübsches zeigen.«

»O ja. Wo ist denn, Tante Andrea?«

»Sie hilft dem Herrn Doktor in der Praxis.« Das Hausmädchen fasste Nina bei der Hand. Als die beiden über den großen Hof gingen, fegte ein Windstoß über sie hinweg. Einige herbstlich gefärbte Blätter schwebten zu Boden.

»Ich glaube, das Wetter ändert sich«, meinte Betti.

»Nick hat gesagt, dass es schon Herbst ist. Danach kommt der Winter. Und dann Weihnachten. Und …« Ninas Stimme brach, weil sie daran dachte, dass sie nie wieder mit ihrer Mutti zusammen Weihnachten feiern würde.

»So, da sind wir«, erklärte Betti und übersah absichtlich Ninas kummervolles Gesichtchen. »Helmut, Nina ist da!«

Betti war mit dem Tierpfleger verlobt. Die beiden hatten die Absicht, bald zu heiraten.

»Nina, komm mit!«, rief Helmut Koster und fasste das Mädchen bei der Hand. »Ich will dir etwas zeigen.«

Nina vergaß für ein Weilchen ihren Kummer, als sie eine bildhübsche Afghanenhündin mit vier kleinen Welpen erblickte.

»Sie sind gerade auf die Welt gekommen.«

»Sind die aber niedlich!«, rief Nina aufgeregt. »Aber sie sind alle blind«, fügte sie erschrocken hinzu.

»Das sind die Welpen in den ersten Tagen meistens. Alle vier sind gesund. Das hat der Herr Doktor bestätigt.«

»Darf ich mal eines nehmen?«, fragte Nina bittend.

»Heute noch nicht, Nina. Weißt du, die Hundemutter würde sich sonst aufregen. Aber in drei bis vier Tagen darfst du sie streicheln. Wer kommt denn da?« Er blickte Waldi entgegen.

Der langhaarige Dackel kam langsam näher und schnupperte. Dann winselte er leise und stemmte sich mit den Pfoten gegen das Gitter der Box, in dem die Afghanenhündin mit ihren Babys lag. Dann bellte er zufrieden.

»Waldi fühlt sich ganz als Chef des Tierheims«, erläuterte Helmut Koster. »Er scheint die Geburt der Welpen gutzuheißen. Daisy, du brauchst nicht zu knurren«, wandte er sich an die Hundemutter. »Waldi tut deinen Kindern nichts.«

Nina verbrachte den Nachmittag im Tierheim. Erst gegen Abend brachte Andrea sie nach Sophienlust zurück, wo sie den Kindern von den Welpen erzählte.

Wie immer ging es beim Abendbrot fröhlich zu. Nina lachte an diesem Tag sogar einigemale. Frau Rennert und Schwester Regine sahen sich überrascht an, als sie das helle Lachen hörten.

»Nina wird bald ihren Kummer überwunden haben«, raunte die Heimleiterin der Kinderschwester erleichtert zu.

»Das hoffe ich auch. Die Kinder bemühen sich rührend um die Kleine. Ich habe heute Frau Köster getroffen. Nina ist in ihrer Klasse. Sie meinte, Nina sei sehr gescheit, aber unaufmerksam.«

»Verständlich.« Frau Rennert seufzte tief auf. »Wenn Frau Hille wüsste, wie sehr sie der Entwicklung ihres Kindes schadet, würde sie ihr Verhalten bestimmt bereuen.«

»Glauben Sie das wirklich? Ich halte Frau Hille für skrupel- und verantwortungslos. Aber das Schicksal wird sie schon strafen.«

Darauf erwiderte die Heimleiterin nichts.

Nach dem Abendessen durften die größeren Kinder noch ein wenig fernsehen, während die kleineren von Schwester Regine und Frau Rennert zu Bett gebracht wurden.

Nina saß neben Pünktchen auf dem dicken Teppich vor dem Fernsehapparat und blickte fasziniert auf den Bildschirm. Tierfilme sah sie für ihr Leben gern.

Dann aber, als ein Fuchs einen Hasen schlug, blickte sie schnell fort und flüsterte: »Das arme kleine Häschen!« Plötzlich fing sie an zu weinen.

Irmela und Pünktchen trösteten sie, so gut sie konnten, aber Nina hörte nicht zu weinen auf. »Ich lauf mal schnell zu Schwester Regine«, flüsterte Irmela Pünktchen zu.

Diese nickte.

»Ich möchte zu meiner Mutti«, klagte Nina, als Schwester Regine erschien und sie an sich zog. »Ich habe so großes Heimweh.«

»Sei ganz ruhig, mein Kleines«, tröstete die Kinderschwester. »Eines Tages wird alles gut werden.«

Im gleichen Augenblick kam Frau Rennert. »Nina, soeben hat dein Vati angerufen. Er wird dich morgen hier besuchen und bringt auch deine große Freundin Lucy mit.«

Nina hörte zu weinen auf. »Das ist aber schön. Und morgen brauchen wir ja auch nicht in die Schule zu gehen.«

Die Köchin Magda kam mit einer Tasse Tee. »So, Nina, das ist für dich«, sagte sie. »Es ist süßer Pfefferminztee. Den trinkst du doch so gern.«

»Ja, Magda.« Nina sah sich im Kreis um. Die Liebe, die sie hier in Sophienlust umgab, hüllte sie wie ein wärmendes Tuch ein. Kaum lag sie dann im Bett, schlief sie auch schon.

Pünktchen legte sich ebenfalls nieder. Als Schwester Regine ihr einen Gute-Nacht-Kuss gab, schlang sie die Arme um deren Hals. »Mir tut Nina schrecklich leid«, wisperte sie.

»Mir auch, Pünktchen.«

»Glauben Sie, dass ihre Mutti wieder zu ihr zurückkommt?«

»Ich hoffe es, Pünktchen.«

»Vielleicht ist es besser, wenn man keine Eltern mehr hat. So wie ich. Dann braucht man nicht so traurig zu sein. Dann weiß man, woran man ist«, erklärte Pünktchen altklug

»Ja, Pünktchen, das ist wahr.« Schwester Regine lächelte das Mädchen an und löschte das Licht. Dann verließ sie das Zimmer.

Pünktchen dachte noch ein Weilchen über das Schicksal ihrer kleineren Freundin nach, aber dann schlief sie ebenfalls ein.

*

Peter fiel sogleich auf, dass Lucy irgendwie verändert war, als er sie am Samstagmorgen vom Hotel abholte, um mit ihr nach Sophienlust zu fahren. Ihm entgingen auch nicht die Schatten unter ihren Augen, der ernste Ausdruck darin. »Guten Morgen«, sagte er lächelnd und reichte ihr die Hand.

»Guten Morgen, Peter. Sie sind pünktlich auf die Minute. Ich habe für Nina einen Stoffaffen gekauft.«

»Da wird sie sich aber freuen. Und ich habe für sie eine Puppe gekauft mit allem Drum und Dran. Sogar ein Koffer ist dabei.« Er öffnete die Autotür. »Ich habe gestern Abend noch mit der Heimleiterin gesprochen. Sie ist der Meinung, dass Nina nicht mehr ganz so traurig ist. Trotzdem glaube ich, dass sie lange brauchen wird, um sich mit ihrem Los abzufinden. Nächste Woche ist der Scheidungstermin«, fügte er sehr viel leiser hinzu, als er sich ans Steuer setzte.

»Hätten Sie ihn nicht noch hinauszögern können?«, fragte Lucy. »Vielleicht …«

»Es heißt doch, lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende«, fiel er ihr ins Wort und fuhr los. »Linda hat sich für den anderen entschieden. Damit habe ich mich bereits abgefunden.«

Luca erwiderte nichts darauf. Lange herrschte Schweigen zwischen ihnen. Lucy versuchte vernünftig zu bleiben und sich ein Leben ohne Tonio vorzustellen. Eigentlich dürfte das nicht so schwer sein, dachte sie. Bevor ich ihn kennenlernte, war ich doch auch glücklich. Es müsste mir doch gelingen, einfach die Zeit mit Tonio aus meinem Gedächtnis zu tilgen.

Aber noch konnte sie das nicht. Noch litt sie unendlich. Sie blickte Peter von der Seite an. Der traurige Ausdruck in seinen dunklen Augen war für sie ein neuer Beweis dafür, wie sehr er noch an seiner Frau hing. Aber sie selbst hatte versagt. Sie hatte nicht über ihren Schatten springen können. Linda liebte Tonio und hatte seinetwegen ihren Mann und ihr Kind verlassen. Deshalb durfte sie ihn ihr nicht fortnehmen. Sie hätte sich gewünscht, dass Linda ihr weniger sympathisch gewesen wäre. Dann wäre für sie alle alles sehr viel einfacher gewesen.

»Peter, wenn Linda nun zu Ihnen zurückkehren wollte? Würden Sie sie wieder bei sich aufnehmen?«

»Ich weiß es nicht mehr, Lucy. Noch vor kurzem habe ich das geglaubt. Aber nun bin ich mir nicht mehr im klaren darüber. Irgendwann kann man nicht mehr. Verstehen Sie das?«

»Und ob, Peter.« Lucy legte für einen Augenblick ihre Hand auf seinen Arm. »Wie gesagt, wir sind Leidensgenossen.«

»Das sind wir.« Er sah sie so seltsam an, dass sie errötete. Dann konzentrierte er sich aber wieder auf den starken Verkehr auf der Autobahn.

Lucy stellte sich vor, wie es sein würde, wenn Peter und sie heirateten. Die Vorstellung war nicht einmal so unangenehm. Im Gegenteil, sie gefiel ihr sogar gut. Eine Ehe mit Peter müsste wirklich harmonisch sein. Die Tage würden dahinfließen wie ein sanft plätschernder Bach. Es würde keine Aufregungen geben, keine schwierigen Probleme. Und sie würde Nina eine gute Mutter werden.

Aber ihr Gefühl für Peter war rein freundschaftlicher Natur. Es war ein Gefühl ohne Höhen und Tiefen, weil sie ihn nicht liebte. Ein Leben mit Tonio würde viel erregender sein, es würde …

Hör auf mit diesen Gedankenspielereien, ermahnte sie sich verärgert.

»Ich glaube, dort vorn ist schon die Abzweigung nach Sophienlust«, stellte Peter fest

»Ja. Von dieser Stelle aus sieht man Sophienlust im Tal liegen.« Lucy gelang es tatsächlich, etwas fröhlicher zu werden, als sie durch Bachenau fuhren und bald darauf Wildmoos erreichten.

Nina saß mit Heidi, Pünktchen und den Schwestern Angelika und Vicky Langenbach auf der untersten Stufe der Freitreppe in der warmen Herbstsonne und wartete voller Sehnsucht auf die Ankunft ihres Vaters. Den ganzen Morgen hatte sie sich ausgemalt, dass ihr Vati und ihre Mutti gemeinsam nach Sophienlust kommen würden, dass sie sich wieder ausgesöhnt hatten und sie überraschen wollten.

Als sie nun das Auto ihres Vaters durch das Tor fahren sah, hielt sie vor Aufregung den Atem an. Tiefe Enttäuschung stieg in ihr auf, als sie merkte, dass sich ihr Wachtraum nicht erfüllt hatte. Nicht Mutti war mitgekommen, sondern Lucy.

Tapfer schluckte Nina ihre Tränen hinunter und begrüßte ihren Vati und Lucy. Beiden entging nicht, dass ihre Freude nur verhalten war. Es war für sie nicht schwer zu erraten, wie sehr sie enttäuscht war.

Lucy holte den großen Affen aus der Plastiktüte und gab ihn dem Kind.

»Vielen Dank!«, rief Nina. »Ich habe mir schon immer so ein Stofftier gewünscht.«

»Und das ist von mir.« Peter gab ihr ein großes längliches Paket.

»Was ist denn da drinnen?«, fragte Nina und sah ihn neugierig an.

»An deiner Stelle würde ich das Paket öffnen«, schlug er schmunzelnd vor und wechselte einen langen Blick mit Lucy.

»Wir helfen dir!«, boten sich ihre Freundinnen hilfsbereit an.

»Ich packe die Schachtel in der Halle aus.«

Aufgeregt liefen die Mädchen ins Haus. Peter und Lucy folgten ihnen langsamer. »Ich glaube, Frau Rennert hat recht«, stellte Peter fest. »Nina ist tatsächlich fröhlicher geworden.«

Lucy nickte nur. Sie wollte ihre Beobachtung von vorhin nicht erwähnen. Denn sie wusste genau, dass Nina gehofft hatte, ihre Mutter wiederzusehen.

Peter und Lucy blieben bis gegen Abend in Sophienlust. Die Stunden verflogen viel zu schnell. Doch Lucy ließ sich sogar zum Reiten überreden. Es gab genug Reithosen und Stiefel in Sophienlust, sodass auch etwas Passendes für sie dabei war.

Der alte Justus, der ehemalige Verwalter von Sophienlust, sattelte für Lucy die Fuchsstute Nike.

»Ich hoffe, dass ich es noch kann«, meinte die junge Amerikanerin mit einem verschmitzten Lächeln.

»Reiten Sie denn daheim auch?«, fragte Nick.

»Ja, Nick. Ich habe sogar ein eigenes Pferd.«

»Dann können Sie doch gut reiten!«, rief Pünktchen. »Herr Dr. Hille, können Sie auch reiten?«

»Nein, mein kleines Fräulein. Darum will ich es jetzt auch nicht versuchen.«

Nick war ganz begeistert von der Amerikanerin, als sie neben ihm mit der Stute den breiten Forellenbach übersprang. Er klatschte in die Hände und sagte dann: »Wenn Sie wollen, können Sie bei uns bleiben.«

»Ich würde deine Einladung gern annehmen, Nick, aber leider muss ich wieder in die Staaten zurückfliegen. Schon in den nächsten Tagen.«

»Schade, wirklich schade.« Nick sah sie bewundernd an.

Lächelnd erwiderte Lucy den Blick der schwarzen Jungenaugen.

Nina stand neben ihrem Vater und hielt seine Hand umklammert, als sich die Reiter entfernten. »Du, Vati, glaubst du nicht, dass Mutti wieder zu uns zurückkommt?«

Nina hatte damit die Frage gestellt, vor der Peter sich die ganze Zeit gefürchtet hatte. Aber er hielt es für richtiger, ihr die Wahrheit zu sagen. »Nein, Nina, Mutti kommt nicht mehr zurück. Nächste Woche wird unsere Scheidung ausgesprochen.«

Nina sah ihn entsetzt an. »Aber dann gehört Mutti uns ja gar nicht mehr.«

»Nein, Nina, dann gehört sie uns nicht mehr.«

»Ich mag Onkel Tonio nicht mehr leiden. Er hat uns Mutti fortgenommen.« Nina begann zu weinen. »Vati, ich möchte wieder nach Hause«, bat sie dann leise. »Damit du nicht so schrecklich allein bist.«

»Bald hole ich dich heim, Nina. Mir wäre es aber lieber, du würdest noch einige Wochen hierbleiben. Denn gerade in der nächsten Zeit habe ich so viel zu tun, dass ich kaum zu Hause sein werde. Dir gefällt es doch hier?«

»Ja, Vati, sogar sehr. Aber es ist nicht mein Zuhause.«

Denise gesellte sich zu ihnen. Peter war froh, dass auf diese Weise die Unterhaltung zwischen Nina und ihm unterbrochen wurde.

Nina blickte später traurig dem Auto ihres Vaters nach. Pünktchen stieß sie an und sagte: »Komm, Nina, es hat zum Essen gegongt.«

»Ich habe keinen Hunger, Pünktchen.«

»Das kann ich verstehen, Nina. Trotzdem musst du etwas essen.«

Als die Kinder im Bett lagen, kam Nina zu Pünktchen und setzte sich auf den Rand ihres Bettes. »Vati hat mir heute erzählt, dass Mutti und er in der nächsten Woche geschieden werden.«

»Das tut mir leid, Nina.«

»Aber ich habe meine Mutti doch noch immer lieb, auch wenn ich eine Weile schrecklich böse auf sie war. Ich wünsche mir so sehr, dass sie wieder nach Hause kommt.«

»Vielleicht tut sie das auch, Nina. Weißt du, bei uns in Sophienlust wa­ren schon oft Kinder, deren Eltern sich scheiden lassen wollten oder schon geschieden waren. Aber eines Tages waren sie wieder beisammen.«

»Ist das auch wahr, Pünktchen?«, fragte Nina und sah ihre Freundin zweifelnd an.

»Manchmal haben die Kinder etwas getan, was die Eltern ausgesöhnt hat.«

»Was denn, Pünktchen?« Die großen dunklen Augen richteten sich gespannt auf das ältere Mädchen.

»Einmal ist ein Kind weit fortgelaufen, so weit, dass wir die Polizei verständigen mussten. Die Eltern hatten den Jungen lieb. Deshalb sind sie beide voller Aufregung nach Sophienlust gekommen, wo sie sich dann ausgesöhnt haben. Nick hat schon recht. Als Sophienlust erbaut wurde, hat eine gute Fee segnend ihre Hände darüber gehalten. Deshalb werden alle Kinder hier wieder glücklich, auch wenn sie zuvor noch so unglücklich waren.«

»Aber ich werde nie wieder glücklich. Gute Nacht, Pünktchen.« Nina rutschte vom Bettrand. »Ich muss nachdenken.«

»Gute Nacht, Nina.« Pünktchen streckte sich behaglich unter der Bettdecke aus, ohne zu ahnen, dass sie Nina auf einen Gedanken gebracht hatte. Nina glaubte nun einen Weg gefunden zu haben, ihre Eltern wieder zusammenzubringen.

*

Das Verhältnis zwischen Linda und Tonio wurde von Tag zu Tag gespannter. Tonio bemühte sich zwar offensichtlich, höflich zu bleiben. Aber Linda spürte mit schmerzlicher Deutlichkeit, dass die Kluft zwischen ihm und ihr immer breiter wurde und schließlich unüberbrückbar zu sein schien.

Tonio arbeitete kaum noch. Sein Schaffensdrang war erlahmt. Stundenlang saß er tatenlos herum, versunken in seine Gedanken, die meist Lucy galten.

Linda war wieder einmal über Nacht bei ihm geblieben. In zwei Tagen war der Scheidungstermin. Darum hatte sie nicht allein bleiben wollen.

Tonio war am Abend auch sehr zuvorkommend gewesen und hatte sichtlich versucht, besonders nett zu ihr zu sein. Doch als er Linda am Morgen verließ, fühlte sie sich irgendwie erniedrigt. Sie lag mit offenen Augen da und starrte zur Decke. Sie hörte Tonio im Atelier herumgehen.

Plötzlich hielt Linda es im Bett nicht mehr aus. Sie schlüpfte in ihren flauschigen Morgenmantel und die Pantöffelchen. Vor dem Spiegel fuhr sie schnell mit dem Kamm durch ihre Haare.

Früher hatte sie nie vor dem Frühstück geraucht. Doch diesmal zündete sie sich eine Zigarette an und ging ins Atelier.

Tonio stand vor der Staffelei und blickte missmutig auf das angefangene Gemälde. Plötzlich riss er es herunter und warf es auf den Boden.

Linda lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete ihn stumm. Er drehte sich um und fixierte sie gereizt. »Nicht wahr, Tonio, du liebst mich nicht mehr? Das Zusammensein mit mir ist für dich eine Qual?«, fragte sie leise.

»Hör damit auf!«, schrie er sie unbeherrscht an.

»Bitte, Tonio, schrei nicht so. Die Leute im Haus müssen ja nicht hören, in welchem Verhältnis wir zueinander stehen.«

»Was willst du eigentlich von mir?«, fragte er böse. »Willst du mich mit Haut und Haaren verspeisen?«

Sein Temperament ging wieder einmal mit ihm durch, obwohl er sich ganz fest vorgenommen hatte, sich zu beherrschen. Aber im Augenblick konnte er das einfach nicht. Daran war sein gestriger Anruf im Hotel Frankfurter Hof schuld. Er hatte sich nach Lucy erkundigt. Man hatte ihm gesagt, Lucy Snyder sei am Tag zuvor ausgezogen. Sofort hatte er im Rhein-Main- Flughafen angerufen, um sich dort zu erkundigen, ob sie einen Platz nach den Staaten gebucht habe. Aber niemand hatte etwas davon gewusst.

Wo war Lucy nur? Bei Peter Hille? Anders konnte es wohl kaum sein. Doch es widerstrebte ihm, in der Villa anzurufen. Zum ersten Mal in seinem Leben war er so eifersüchtig, dass er sich nicht mehr kannte. Er hatte versucht, in Lindas Armen Lucy zu vergessen. Aber es war ihm nicht gelungen. Eher war das Gegenteil eingetreten. Seine Sehnsucht nach Lucy brannte wie ein stetes Feuer in seinem Herzen.

»Tonio, warum quälen wir uns nur so?«, fragte Linda etwas ruhiger. »Wir beide sind erwachsen genug, um offen über alles zu reden. Du liebst Lucy Snyder. Nicht wahr, es ist doch so?« Ihr Blick heftete sich flehend auf ihn, weil sie hoffte, dass sie sich täuschte.

Tonio erwiderte ihren Blick und antwortete: »Ja, ich liebe Lucy Snyder. Aber das ist vorbei. Lucy hat sich in einen anderen verliebt.«

»Und weil das so ist, bleibst du bei mir?« Linda sah ihn mit einem bitteren Zug um den Mund an.

Tonio erzählte ihr von Paris. Still hörte sie ihm zu. »Damals in Paris habe ich mich trösten wollen. Deinetwegen, Linda. Weil ich glaubte, dass meine Liebe zu dir hoffnungslos sei.«

»Was für eine Ironie des Schicksals.« Sie setzte sich auf die Couch und faltete ihre Hände. »Nun, wo ich deine Geliebte geworden bin und du dein Ziel erreicht hast, haben sich deine Gefühle für mich geändert. Ich verstehe.«

»Nichts verstehst du! Verdammt noch mal, drehe mir doch nicht die Worte im Mund herum. Ich bin kein Schuft und lasse dich ganz sicher nicht im Stich.«

»Aber ich lege keinen Wert darauf, dass du nur aus Mitleid bei mir bleibst. Ich bin mir zu schade als Lückenbüßer, Tonio. Ich habe mich entschlossen, dich zu verlassen.« Linda nahm sich wieder eine Zigarette. Als er ihr Feuer gab, schimmerten Tränen in ihren Augen. »Heute weiß ich, dass ich niemals aufgehört habe, Peter zu lieben. Nicht wahr, das ist komisch?«

»Wirklich?«, fragte er desinteressiert.

»Vielleicht verzeiht Peter mir. Sicherlich wird es einen Versöhnungstermin bei Gericht geben.«

»Ich glaube, Peter liebt Lucy.«

»Peter liebt Lucy?«, fragte Linda fassungslos.

Tonio nickte und erzählte ihr, auf welche Weise sich die beiden kennengelernt hatten.

Linda brauchte ein Weilchen, um damit fertig zu werden. »Tonio, unser Verhältnis – denn von Liebe kann man in unserem Fall wohl kaum noch sprechen – war von Anfang an zum Untergang verurteilt. Ich bleibe nicht mehr bei dir.« Sie drückte die Zigarette aus und stand auf. »Ich ziehe mich jetzt an, dann gehe ich.«

»Linda, das ist unmöglich. Wollen wir es nicht trotz allem noch einmal versuchen?«

»Nein, Tonio, ich kann nicht mehr. Ich habe geglaubt, dich zu lieben. Aber meine Gefühle für dich waren nur auf das viele Alleinsein zurückzuführen. Peter war in den letzten Monaten so selten daheim, dass ich mich nach jemandem sehnte, mit dem ich mich unterhalten konnte.« Sie lächelte ihn traurig an.

»Linda …«

»Bitte, Tonio, versuche nicht, mich zurückzuhalten. Ich würde doch nicht bleiben.« Sie verschwand im Schlafzimmer.

Tonio war ratlos. Einerseits war er erleichtert, dass Linda ihn nicht gewaltsam halten wollte, andererseits fühlte er sich für sie verantwortlich.

Dann aber dachte er wieder an Lucy. Sobald Linda fort sein würde, wollte er in Peters Villa anrufen. Er brauchte ja nicht seinen Namen zu nennen. Möglicherweise würde auch das Hausmädchen Wally am Apparat sein. Mit ihr würde er offen sprechen können.

Linda reichte ihm die Hand zum Abschied. »Tonio, ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft.«

»Mein Gott, Linda, das alles tut mir unendlich leid.«

»Das soll es aber nicht. Ich werde mich schon allein im Leben zurechtfinden. Sag, weißt du auch genau, dass Peter und Lucy Snyder sich lieben?«

»Nein, Linda, genau weiß ich es nicht. Aber ich nehme es an. Lucy ist sehr reizvoll, und Peter ist auch nur ein Mann.«

»Ja, Tonio.«

An der Tür wandte Linda sich noch einmal um. Ihr Lächeln schnitt ihm tief ins Herz.

»Linda …«

Aber sie war schon fort.

*

Schüchtern klopfte Nina an die Tür des Zimmers, das die Huber-Mutter bewohnte. Als sie keine Antwort erhielt, klopfte sie noch einmal. Dann drückte sie die Klinke herunter und öffnete die Tür einen Spalt.

Die Greisin saß im Ohrensessel beim Fenster.

»Huber-Mutter!«, rief Nina leise und betrat den Raum. Als sie jedoch feststellte, dass die alte Frau ein Nickerchen machte, zog sie sich ebenso leise, wie sie gekommen war, wieder zurück. Ihr Gesicht drückte große Enttäuschung aus. Sie hatte die Huber- Mutter doch um Rat fragen wollen. Alle Kinder von Sophienlust hatten ihr erzählt, dass die Huber-Mutter in die Zukunft sehen könne. Und sie, Nina, hätte doch so gern gewusst, ob ihre Mutti bald wieder nach Hause kommen würde.

Nina lief den Korridor entlang. Um diese Zeit war es meist sehr still im Haus, denn die Kinder machten ihre Schulaufgaben. Auch Nina hätte Hausaufgaben machen müssen, aber sie war im Moment viel zu traurig, um sich darauf konzentrieren zu können. Sie durchquerte die Halle und lief dann die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Die Fenster standen weit offen. Auf dem Ast der alten Kastanie saß ein Eichhörnchen und lugte neugierig zu ihr herein.

»Du hast es gut«, flüsterte Nina. »Bestimmt lebt deine Mutti noch und ist lieb zu dir. Meine Mutti lebt auch noch, aber sie hat mich nicht mehr lieb.« Nina wandte sich nun dem Stoffaffen Fips und der neuen Puppe Claudia zu, die nebeneinander auf dem Bett saßen. »Seid nicht traurig«, sagte sie. »Ich komme bald wieder. Inzwischen wird sich Pünktchen um euch kümmern.« Sie küsste zuerst die Puppe und dann den Affen. Danach zog sie ihr rotes Wolljäckchen an. Nach einem letzten Blick in ihr Zimmer schloss sie leise die Tür hinter sich und schlich den Gang entlang. Auf der obersten Stufe der Treppe blieb sie stehen und lauschte.

Nichts rührte sich im Haus. Die Hausangestellten waren um diese Zeit meist in ihren Zimmern. Auch Frau Rennert zog sich nach dem Mittagessen in ihre Räume zurück, während Schwester Regine die Kinder bei den Hausaufgaben beaufsichtigte.

Ob man sie vermissen würde?, überlegte Nina. Wahrscheinlich. Deshalb musste sie sich beeilen.

Nina verließ das Haus durch das Portal. Auf der Freitreppe zögerte sie einen Augenblick, bevor sie nach einem tiefen Atemzug die Stufen hinunterlief und dann im Park verschwand.

Auf einmal hörte sie Schritte hinter sich. Erschrocken drehte sie sich um. Es war Barri, der Bernhardiner.

»Geh fort!«, rief Nina. »Ich kann dich nicht mitnehmen.«

Aber der Hund stupste sie freundschaftlich an und fixierte sie vorwurfsvoll aus seinen bernsteinfarbenen Augen.

Nina schüttelte den Kopf. »Barri, das musst du doch verstehen. Ich muss alles tun, um meine Eltern wieder zusammenzubringen. Darum muss ich fortlaufen. Weit fort. Sei ein guter Hund und lauf ins Haus zurück.«

Der Bernhardiner sah sie noch einmal traurig an, dann machte er kehrt. Nina aber verließ durch das kleine Eisenpförtchen den Park und eilte weiter.

*

Dr. Peter Hille wollte gerade die Villa verlassen, um noch einmal in seine Kanzlei zu fahren, als das Hausmädchen ihn zurückrief.

»Was ist los, Wally?«, fragte er.

»Sie werden aus Sophienlust verlangt, Herr Doktor. Ich glaube irgendetwas ist mit Nina geschehen«, sagte sie erregt.

Peter wechselte die Farbe. »Mit Nina? Aber was?«

Das Mädchen zuckte die Achseln, und Peter eilte zum Telefon und meldete sich.

Denise war am Apparat. »Herr Dr. Hille, wir wissen uns keinen Rat mehr«, sagte sie verzweifelt. »Nina ist verschwunden. Sie muss gleich nach dem Mittagessen das Haus verlassen haben. Schwester Regine war bei den Kindern im Aufenthaltsraum, um sie bei ihren Hausaufgaben zu beaufsichtigen. Sie bemerkte zunächst gar nicht, dass Nina fehlte. Dann aber hat unser Hund Barri an der Tür gekratzt. Er lief zu Ninas leerem Platz und stupste dann meinen Sohn Nick an. Erst jetzt fragte Schwester Regine nach dem Kind. Pünktchen meinte, Nina sei schon den ganzen Tag so traurig gewesen und sei sicherlich auf ihrem Zimmer. Als wir sie dort nicht fanden, suchten wir sie im ganzen Haus, dann draußen im Park. Nick hat die halb angelehnte Eisenpforte entdeckt. Ich glaube, Nina befindet sich auf dem Weg nach Frankfurt. Sie wird sicherlich einen Wagen angehalten haben. Sollen wir auf alle Fälle die Polizei verständigen?«

»Ich komme sofort nach Sophienlust. Jetzt ist es drei. Gegen halb fünf werde ich bei Ihnen sein. Vielleicht auch früher. Das kommt auf den Verkehr an. Bestimmt wird Nina inzwischen zurückkommen«, fügte er leiser hinzu.

»Hoffentlich, Dr. Hille.«

Peter legte auf. Dann wählte er die Telefonnummer der Familienpension, in der Lucy nun wohnte.

Lucy war da. Als er sie fragte, ob sie ihn nach Sophienlust begleiten wolle, sagte sie sofort zu. »Peter, Nina ist bereits ein sehr vernünftiges Mädchen«, versuchte sie ihn zu beruhigen. »Sie wird nicht fortgelaufen sein. Sie hat sich bestimmt irgendwo versteckt.«

»Das hoffe ich auch. Ich mache mir nur Sorge, wenn sie per Anhalter nach Hause gefahren ist. Sie ist zwar erst neun, aber auch Mädchen in diesem Alter sind heutzutage gefährdet. Ich hole Sie in zehn Minuten ab, Lucy.«

Peter bat nun das Hausmädchen und die Köchin, sofort in Sophienlust anzurufen, wenn Nina eintreffen sollte. Dann verließ er die Villa.

Lucy wartete schon vor dem Haus auf ihn. Als sie neben ihm saß, fühlte er sich etwas ruhiger und war nun auch zuversichtlicher.

»Mir wird noch eine schwere Zeit mit dem Kind bevorstehen«, erklärte er, als er sich in den Verkehr der Hauptstraße einfädelte. »Nina kann es ganz einfach nicht verkraften, dass meine Frau uns verlassen hat.«

»Nicht wahr, morgen ist der Scheidungstermin?«

»Ja, Lucy, morgen. Am liebsten möchte ich ihn rückgängig machen.«

»Dann tun Sie es doch, Peter.«

»Auf alle Fälle wird es einen Versöhnungstermin geben. Vielleicht …« Er sprach nicht weiter, weil er selbst nicht daran glaubte, dass Linda die Absicht habe, zu ihm zurückzukehren. Sie liebte Tonio und würde ihn niemals verlassen.

Als Peter und Lucy gegen fünf Uhr in Sophienlust eintrafen, herrschte dort noch immer große Aufregung. Denn Nina war noch nicht zurückgekommen.

Denise sprach gerade mit Pünktchen, weil sie hoffte, dass diese ihr etwas mehr über Ninas seelischen Zustand erzählen könne. Die beiden Mädchen waren stets den ganzen Tag beisammengewesen und hatten sich auch noch am Abend im Bett miteinander unterhalten.

»Pünktchen, überlege doch mal ganz genau, ob Nina nicht irgendwelche Andeutungen gemacht hat über ihre Flucht.«

»Tante Isi, ich kann mich wirklich nicht … O doch, jetzt fällt mir etwas ein!«, rief Pünktchen erleichtert. »Vorgestern Abend hat sie gesagt, sie habe ihre Mutti noch immer lieb, obwohl sie ihr doch böse sein müsste. Und dann habe ich gesagt, bestimmt würden sich ihre Eltern wieder aussöhnen. Ja, und dann habe ich auch noch gesagt, dass wir schon mehrere Kinder hier hatten, deren Eltern sich scheiden lassen wollten oder schon geschieden waren. Aber die Kinder hätten sie wieder zusammengebracht. Dabei habe ich an den kleinen Ralph gedacht, der fortgelaufen ist. Sein Vater und auch seine Mutter sind dann doch gleich nach Sophienlust gekommen, um ihn zu suchen. Sie haben sich dann doch tatsächlich ausgesöhnt.«

»Aha.« Frau Rennert, die ebenfalls zugehört hatte, richtete ihren Blick nun ernst auf das zwölfjährige Mädchen. »Und was hat Nina darauf geantwortet?«, fragte sie gespannt.

»Eigentlich nichts. Sie hat mir nur ganz still zugehört, als ich ihr von dem kleinen Ralph erzählte.«

»Ja, Frau Rennert, das wird es sein. Dann kann Nina eigentlich nicht weit sein. Sie wird sich irgendwo verstecken, um ihre Eltern in Angst und Schrecken zu versetzen. Leider wird ihr Plan nicht aufgehen. Denn so, wie ich jetzt Frau Hille einschätze, wird sie wenig Interesse an Nina haben.«

»Das sagen Sie, Frau von Schoenecker? Ausgerechnet Sie? Sie glauben doch sonst immer nur an das Gute im Menschen«, wunderte sich die Heimleiterin.

»Frau Hille hat Nina bestimmt nicht mehr lieb«, meinte nun auch Pünktchen. »Eine richtige Mutter würde doch niemals ihr Kind im Stich lassen.«

»Eine liebevolle Mutter gewiss nicht, Pünktchen. Ich warte jetzt noch, bis Herr Hille da ist. Dann werde ich meinen Mann bitten, die Polizei zu verständigen.«

»Mutti, Herr Dr. Hille und Fräulein Snyder sind da!«, rief Nick in diesem Augenblick von der Tür her.

»Ich komme sofort.« Denise erhob sich und begrüßte kurz darauf die beiden.

»Ist Nina noch immer nicht da?«, fragte Peter aufgeregt.

»Nein, Herr Dr. Hille. Aber ich ahne nun, was Nina dazu bewogen hat, durchzubrennen.« Sie erzählte ihm und Lucy in knappen Sätzen, was Pünktchen ihr soeben berichtet hatte.

»Mein dummes kleines Mädchen.« Peter war zutiefst erschüttert. »Aber wie werden wir sie finden?«, fragte er dann.

Nick blickte sich um und deutete dann auf Barri, der vor dem Portal lag und sie alle beobachtete. »Barri ist ein kluger Hund. Vielleicht sollte man ihm einen Schuh von Nina geben?«

»Oder einen Strumpf!«, rief Pünktchen.

»Ja, oder einen Strumpf«, bestätigte Nick. »Dann nimmt er die Spur bestimmt auf.«

»Wir können es ja mal versuchen«, meinte Lucy.

»Gut, Pünktchen, hole einen Schuh oder einen getragenen, noch nicht gewaschenen Strumpf aus Ninas Zimmer«, bat Denise.

Pünktchen nickte und flog förmlich die Treppe hinauf. Barri aber erhob sich zu seiner ganzen Größe und wedelte aufgeregt mit seiner buschigen Rute.

Kurz darauf erschien Pünktchen wieder. »Ich habe einen ihrer Schuhe gebracht. Die Strümpfe sind alle schon gewaschen. Da, Barri, riech!«, rief sie und hielt dem Hund die Sandale hin.

Barri beschnupperte sie und legte sich dann wieder hin.

»Er versteht uns nicht«, erklärte Nick. Er nahm Pünktchen den Schuh fort und hielt ihn dem Hund wieder unter die Nase. »Barri, such Nina. Such!«, rief er.

Diesmal reagierte Barri. Er trottete, die dicke Schnauze am Schuh, hinter Nick die Stufen der Freitreppe hinunter. Die Erwachsenen und die Kinder folgten den beiden voller Aufregung.

Und dann bellte Barri einmal kurz und lief in den Park hinein, so schnell, dass ihm kaum einer folgen konnte. Nur Nick blieb ihm auf den Fersen. Pünktchen bemühte sich, dicht hinter ihm zu bleiben. Auch die anderen Kinder rannten, so schnell sie konnten, hinter Nick und Barri her.

»Er hat Ninas Spur gefunden!«, rief Lucy erleichtert. »Nun werden wir sie bald gefunden haben.«

»Hoffentlich.« Peter lächelte sie kurz an, um dann sofort wieder gespannt nach vorn zu blicken.

Barri blieb am Waldsee stehen. Peter hielt den Atem an. »Mein Gott«, flüsterte er. »Ist der See tief?«

»Ziemlich«, meinte Denise leise. »Aber Nina ist doch schon groß genug und weiß, dass der See tief ist.«

»Tante Isi! Tante Isi!«, rief in diesem Augenblick Fabian. »Das Boot ist fort!« Er deutete auf den Steg, an dem sonst immer ein Ruderboot befestigt war. »Gestern war das Boot noch da. Nicht wahr, Nick, wir haben es gesehen, als wir am Nachmittag hier waren!«

»Ja, Mutti, es war noch da. Fabian und ich haben festgestellt, dass es eine undichte Stelle hatte. Wir haben das auch gestern Abend gleich Justus gesagt. Er hat versprochen, sich das Boot anzusehen.«

»Ja, er wollte das Leck dichtmachen«, bestätigte Fabian.

Peter wurde immer nervöser. »Meint ihr, dass Nina das Boot genommen hat?«, fragte er erschüttert.

»Wir wissen es nicht.« Nick wich seinem Blick aus. »Nina kann aber rudern. Sie rudert sogar sehr gern. In den Sommerferien bin ich oft mit ihr auf den See hinausgefahren.«

»Ich sehe das Boot!«, rief Pünktchen. »Dort auf dem gegenüberliegenden Ufer liegt es halb auf dem Sand.«

»Wir müssen mit Barri auf die andere Seite«, bestimmte Nick. »Nina ist bestimmt hinübergerudert. Drüben kann Barri dann wieder ihre Spur aufnehmen.«

Schwester Regine bot an, nach Sophienlust zurückzulaufen, um ein Auto zu holen. Die anderen gingen am Seeufer weiter.

*

Linda wusste nicht, wie sie nach Hause gekommen war. Wie in Trance war sie die Straße entlanggegangen. Sie bemerkte nicht die Blicke der Leute, denen sie begegnete, die sie überholten. Sie hatte das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein.

Als sie das Appartementhaus am Ende der Straße erreichte, riss sie sich zusammen. Mit dem Lift fuhr sie hinauf in die siebte Etage und schloss dann die Tür ihres Appartements auf. Als sie die kleine Diele betrat, liefen ihr heiße Tränen übers Gesicht. Nun erst konnte sie sich gehenlassen und sich nach Herzenslust ausweinen.

Aber schnell versiegten ihre Tränen wieder. Eine seltsame Starre nahm von ihr Besitz. Sie trat auf den Balkon und blickte hinunter in die Tiefe. Die Menschen dort unten glichen emsigen Ameisen, die Autos waren nicht größer als Spielzeugautos.

Linda beugte sich weiter über die Brüstung. Sie sah sich im Stillen hinunterstürzen, hörte ihren gellenden Schrei und dann einen harten Aufschlag. Dann war nichts mehr. Ihr Herz schlug wie verrückt, als sie entsetzt einen Schritt zurücktrat. Fast hätte sie den Mut aufgebracht, sich hinunterzustürzen. Der Schweiß brach ihr aus allen Poren. Mit zitternden Knien kehrte sie in den Wohnraum zurück. Sie trat an die niedrige Truhe, auf der eine Fotografie von Nina in einem Holzrahmen stand. »Nein, mein Liebling, das werde ich dir nicht antun. Ich möchte, dass du mich in guter Erinnerung behältst. Es wäre furchtbar für dich, einmal zu erfahren, dass deine Mutter eine Selbstmörderin ist.« Sie küsste das Bild und stellte es auf seinen Platz zurück.

Dann setzte sie sich auf die Couch und zündete sich eine Zigarette an. Jetzt erst überwand sie ein wenig den furchtbaren Schock. Ihre Gedanken begannen wieder zu arbeiten

Ein brennender Schmerz breitete sich in ihrem Herzen aus, als sie daran dachte, dass sie nun mutterseelenallein dastand, dass es keinen Menschen mehr gab, der zu ihr gehörte, für den es sich lohnte zu leben. Aber warum sollte sie nicht versuchen, Peter dazu zu bringen, ihr Nina für einige Zeit im Jahr zu überlassen? Wenn er damit einverstanden war, konnte sie sich eine Arbeit suchen. Dann würde sie nur noch auf die Zeit mit Nina warten.

Linda erhob sich und ging zum Telefon, das auf ihrem Nachttisch stand. Ihre Sehnsucht, Ninas liebe Stimme zu hören, wurde so übermächtig in ihr, dass sie wie in Trance die Telefonnummer der Villa in Sachsenhausen wählte.

Wally meldete sich.

»Wally, ich bin es.«

»Sie, Frau Hille?«

»Ja, Wally. Bitte, holen Sie doch Nina an den Apparat. Ich möchte sie sprechen. Ich weiß, dass mein Mann es nicht wünscht, aber ich möchte nur ein einziges Mal ihre Stimme hören.«

»Tut mir leid, Frau Hille, das kann ich nicht.«

»Wally, bitte …«

»Es ist nicht, weil ich es nicht will. Aber Nina ist doch wieder in Sophienlust.«

»Im Kinderheim?«

»Ja, Frau Hille. Aber sie ist durchgebrannt. Ihr Mann ist zusammen mit Fräulein Snyder nach Sophienlust gefahren.«

»Mit Lucy Snyder?«

»Ja, Frau Hille. Der Herr Doktor hat mich gebeten, sofort dort anzurufen, wenn Nina inzwischen heimkommen sollte. Aber bisher ist sie nicht gekommen.«

»Danke, Wally.« Linda legte auf. Nina war fortgelaufen. Das Kind befand sich vielleicht in Gefahr. Sollte Nina etwas zustoßen, war das nur ihre Schuld, ganz allein ihre Schuld. Sie war eine pflichtvergessene Mutter, hatte ihr Kind wegen eines anderen Mannes verlassen, obwohl sie gewusst hatte, wie sehr Nina sie liebte.

Die Starre wich von Linda. Schluchzend zog sie sich in aller Eile um. Dann verließ sie das Appartementhaus. Als sie die Straße überquerte, wäre sie beinahe in ein Auto gelaufen. Das Geschimpfe des Fahrers nahm sie jedoch nicht einmal wahr. Sie stieg in ihren Wagen ein und fuhr los.

Dass Lucy Snyder zusammen mit Peter nach Sophienlust gefahren war, war für sie die Bestätigung von Tonios Behauptung, dass die Beiden sich ineinander verliebt hatten. Damit hatte sie Peter für immer verloren. Aber Nina war nach wie vor ihre Tochter. Sie würde darum kämpfen, Nina im Jahr einige Wochen bei sich zu haben.

Von nun an konnte Linda nur noch an Nina denken, die irgendwo umherirrte. Als sie die Autobahn erreichte, trat sie das Gaspedal durch.

*

Tonio war kein Trinker. Aber an diesem Tag trank er unmäßig viel. Er saß auf der Couch und starrte vor sich hin. Der Aschenbecher vor ihm auf dem Tischchen war bereits bis zum Rand mit Zigarettenstummeln gefüllt. Im Atelier war eine Luft zum Schneiden.

Tonio goss den letzten Tropfen aus der Rotweinflasche ins Glas und leerte es auf einen Zug. Dann erhob er sich und wählte die Telefonnummer von Peters Villa. Er wünschte sich, dass Peter sich melde, damit er ihm die Meinung sagen könne. Aber Wally war am Apparat.

»Ich möchte Fräulein Lucy Snyder sprechen«, bat Tonio gereizt. »Hier spricht Tonio Bertoldi«, fügte er etwas freundlicher hinzu.

»Ach, Herr Bertoldi? Fräulein Snyder ist mit Herrn Dr. Hille nach Sophienlust gefahren«, erwiderte Wally.

»Ach so!«, rief Tonio und knallte den Hörer auf. »Genauso habe ich es mir gedacht. Also hat sie sich tatsächlich in Peter verliebt, in den bekannten Strafverteidiger!« Wütend fegte er mit der Hand über das Tischchen. Die leere Weinflasche stieß das Glas um.

Tonio gab dem Tischchen noch einen Fußtritt und lachte laut auf, als das Glas auf dem Boden zersplitterte. Dann zog er seine Wildlederjacke über und suchte nach seinen Autoschlüsseln. Auf unsicheren Beinen verließ er die Atelierwohnung

Unten auf der Straße wurde ihm auf einmal so schwindelig, dass er sich an die Hauswand lehnen musste, um nicht umzufallen. Glücklicherweise kam in diesem Augenblick ein Polizeistreifenwagen vorbeigefahren. Der Anblick des grünen Volkswagens brachte Tonio zur Vernunft. Nein, er konnte in diesem Zustand nicht nach Sophienlust fahren. Obwohl er im Augenblick mit Gott und der Welt verfallen war, hatte er doch keine Lust, einen Unfall herbeizuführen. Schließlich war er ein begabter Kunstmaler und hatte vor, noch viel zu malen.

Wie ein Blinder tastete Tonio sich die Stufen hinauf. Erleichtert atmete er auf, als er seine Atelierwohnung ungesehen wieder erreicht hatte. Er schloss auf und taumelte in die Wohnung. Im Atelier fiel er schwer auf die Couch und schlief sofort ein.

*

Nina hatte sich alles viel einfacher vorgestellt. Anfangs war sie voller Optimismus durch den Wald gelaufen und beim See stehengeblieben. Kurz entschlossen hatte sie sich ins Boot gesetzt und war losgerudert.

Am anderen Ufer war sie dann zögernd stehengeblieben, denn so weit hatte sie sich noch nie von Sophienlust entfernt.

Ängstlich blickte sie nun in den dichten Laubwald hinein. Vielleicht sollte sie doch wieder umkehren?, überlegte sie. Auch knurrte ihr Magen plötzlich ganz laut. Sie hätte zum Mittagessen doch mehr essen sollen. Aber da war sie viel zu aufgeregt gewesen, um auch nur einen Bissen herunterzubekommen.

Dann aber dachte Nina an das, was sie mit ihrer Flucht bezwecken wollte. Entschlossen setzte sie ihren Weg nach einem tiefen Atemzug wieder fort.

Ganz still war es im Wald. Der weiche Boden verschluckte ihre Schritte. Einige Wildtauben streiften über ihr durch die Kronen der riesigen Bäume, deren Äste ineinander verzweigt waren und nur wenig Licht durchließen.

Nina schluckte ihre Tränen hinunter und bekämpfte tapfer ihre Angst. Sie hatte keine Ahnung, wann der Wald zu Ende war, aber irgendwann musste er doch aufhören, dachte sie und lief weiter und weiter.

Plötzlich knackte es neben ihr im Gehölz. Entsetzt blieb sie stehen. Und dann sah sie einen Mann. Er war in Lumpen gekleidet und hatte einen Vollbart.

Kichernd kam er auf sie zu. »Na, was machst du denn hier, mein Kind?«, fragte er blinzelnd. »So allein im Wald ist es für ein kleines Mädchen gefährlich. Hast du Angst vor mir?« Er kam noch näher.

Nina war wie gelähmt. Ihre Füße schienen am Boden festgewachsen zu sein. Auch konnte sie keinen Ton über ihre Lippen bringen. Sie dachte mit Entsetzen an die vielen Verbrechen, von denen die Zeitungen immer berichteten. Erst vor einigen Wochen war ein sechsjähriges Mädchen ermordet worden.

Der Mann lachte laut. »Keine Angst, Mädchen, ich tue dir nichts. Ich bin zwar ein Gammler und habe auch nichts zum Beißen, aber ich lasse kleine Mädchen in Ruhe. Trotzdem solltest du vorsichtig sein. Wohin willst du denn gehen?«

Nina atmete beklommen auf. Noch traute sie diesem Mann nicht ganz.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie mit ganz kleiner Stimme.

»Dann bist du wohl durchgebrannt? Lebst du in dem Kinderparadies Sophienlust?«

Nina schüttelte den Kopf. Auf keinen Fall durfte sie diesem Mann die Wahrheit sagen, sonst würde er sie bestimmt verraten.

»Schade. In Sophienlust leben noch Menschen mit goldenen Herzen. Die Köchin kenne ich gut. Sie gibt mir hin und wieder eine warme Suppe, eine Wurst oder ein Brot. Manchmal auch Schnaps.«

»Dann kennen Sie Magda?« Ninas Angst verflog nun endgültig. Erschrocken schlug sie sich zugleich auf den Mund, denn mit ihren Worten hatte sie sich verraten.

»Also doch eine Ausreißerin? Geh zurück, Mädchen. Wenn du willst, bringe ich dich zurück, damit dir nichts geschieht. Auf diese Weise kann ich etwas gutmachen.«

»Nein, nein, ich kann nicht zurück! Ich muss weiter!« Nina lief verzweifelt von ihm fort. Und dann erblickte sie einen Heuschober vor sich und dahinter eine große Wiese, von Häusern begrenzt.

Als sie feststellte, dass es schon zu dämmern begann, öffnete sie ängstlich das Scheunentor und blickte in die Scheune hinein. Auf einmal war sie so müde, dass sie das Verlangen sich für ein Weilchen auszuruhen, nicht unterdrücken konnte. Sie kroch ins Heu. Aufatmend streckte sie sich aus. Hier würde man sie bestimmt nicht so schnell finden, dachte sie noch, bevor sie einschlief.

*

Nick hatte Barri vorsichtshalber an die Leine gelegt, als der Hund Ninas Spur am gegenüberliegenden Seeufer wieder aufgenommen hatte.

Indessen war Schwester Regine mit dem Auto zurückgekehrt. Denise und Lucy waren zu ihr in den Wagen gestiegen. Langsam fuhren sie nun den Waldweg entlang. Von dort konnten sie Barri, die Kinder und Peter genau beobachten.

Der Hund blieb mit seiner Nase die ganze Zeit am Boden. Nick hatte Mühe, das kräftige Tier festzuhalten.

»Dass Nina so weit fortgelaufen ist, hätte ich nicht gedacht«, meinte Pünktchen. »Mir tun schon die Beine weh.«

»Barri wird immer aufgeregter!«, rief Fabian. »Seht doch, der Wald ist zu Ende. Und dort vorn ist eine Scheune!«

»Du, Pünktchen, da kommt ein Mann«, flüsterte Vicky mit großen ängstlichen Augen.

Erschrocken drehten sich die Kinder um.

»Ach, das ist doch nur der alte Kaspar, der von der Gemeinde und auch von Sophienlust durchgefüttert wird«, erwiderte Nick. Er ist ein Tagelöhner, der nichts von der Arbeit wissen will. Aber er ist harmlos. Hallo, Kaspar!«, rief er den Gammler an.

»Hallo, junger Herr!« Der alte Mann kam näher. »Sucht ihr jemanden?«, fragte er. »Vielleicht könnte ich euch etwas sagen.«

»Ja, wir suchen ein neunjähriges Mädchen.«

»Mit langen blonden Haaren und einer roten Jacke?«

»Lange blonde Haare hat sie. Ob sie die rote Jacke anhat, wissen wir nicht genau«, erwiderte Pünktchen.

»Aber sie besitzt eine rote Jacke!«, rief Irmela.

»Wo haben Sie das Kind gesehen?«

»Vor ungefähr einer Stunde mitten im Wald. Ich wollte sie nach Sophienlust zurückbringen. Zuerst hat sie abgestritten, dass sie zu euch gehört, aber dann hat sie sich verraten, indem sie eure Köchin Magda erwähnt hat. Das muss das Mädchen gewesen sein, das ihr sucht.«

Obwohl Nick meist sehr sparsam mit seinem Taschengeld war, gab er dem alten Mann einen Fünfeuroschein für diese Auskunft. Zugleich bellte Barri aufgeregt und zerrte an der Leine.

»Vielen Dank für deine Auskunft Kaspar«, sagte Nick noch, bevor er sich von dem Hund weiterziehen ließ.

Barri blieb vor der Scheune stehen. Peter atmete tief auf, als er das Scheunentor öffnete. Laut knarrte es in seinen Angeln.

Nick ließ den Hund nun los. Wie ein Blitz verschwand er und bellte dann herausfordernd.

Nina fuhr verschlafen hoch, als Barri ihr übers Gesicht leckte und sich wie toll gebärdete.

»Da ist Nina ja!«, rief Pünktchen glücklich.

Peter war stumm vor Glück, als er seine Tochter erblickte.

»Vati, du bist da?«, fragte Nina und fing an zu weinen. »Aber wo ist Mutti? Ich habe mir doch so sehr gewünscht, dass Mutti mich auch sucht.« Nina weinte nun haltlos. Die Aufregungen der letzten Stunden waren zu viel für sie gewesen.

Schwester Regine, Denise und Lucy stiegen schnell aus dem Wagen aus, als sie die Kinder vor der Scheune stehen sahen.

»Sie haben Nina gefunden!«, rief Lucy voller Freude, als Peter mit seiner Tochter aus der Scheune kam.

»Gott sei Dank«, sagte Denise und schickte ein stummes Dankgebet zum Himmel.

Schwester Regine nahm die weinende Nina bei der Hand. »Ich bringe Sie und das Kind auf dem schnellsten Weg mit dem Auto nach Sophienlust zurück, Herr Doktor. Nina, mein Kleines, hör doch zu weinen auf«, bat sie weich.

»Meine Mutti ist nicht gekommen«, schluchzte die Kleine verzweifelt. »Dabei habe ich es mir doch so sehr gewünscht. Mutti! Liebe, liebe Mutti!«, rief sie laut.

»Ich fahre«, erklärte Denise und setzte sich schon ans Steuer. »Ich schicke euch den Wagen gleich zurück!«, rief sie den Kindern noch zu. »Zuerst muss Nina ins Bett. Sie ist ganz erschöpft.«

»Gut, Mutti, wir gehen den Waldweg entlang. Und sag doch Magda, sie soll für Barri einen besonders großen Knochen vorbereiten. Den hat er sich verdient. Ich gehe sowieso mit dem Hund zu Fuß heim«, fügte Nick noch erklärend hinzu.

»Ich komme mit dir.« Pünktchen sah ihn bittend an.

»Ich auch!«, rief Henrik sogleich.

»Bist du denn nicht müde, du Knirps?«, fragte sein großer Bruder besorgt.

»Ich und müde? Was denkst du denn von mir? Außerdem kann ich es nicht leiden, dass du mich immer Knirps nennst. Wenn ich erwachsen bin, werde ich sowieso größer sein als du, weil mein Vati größer ist als deiner. Ätsch!«

Nick hielt es unter seiner Würde, darauf zu reagieren. Er durfte nicht vergessen, dass Henrik noch zu klein war, um wirklich klug zu sein. Versöhnlich nickte er und sagte: »Gut, mein Kleiner, dann komm mit.«

»Und ich schließe mich euch an«, erklärte Lucy fröhlich. »Sonst wird es zu voll im Auto. Bis nachher, Peter.«

Nina saß mit dick verschwollenen Augen zwischen ihrem Vati und Schwester Regine hinten im Wagen. Irmela saß vorn neben Denise.

»Ich bin so unglücklich«, jammerte Nina leise vor sich hin. »Ich möchte zu meiner Mutti. Ich habe so große Sehnsucht nach ihr.«

In diesen Minuten fasste Peter einen schweren Entschluss. Was für einen Sinn hatte es, Nina gewaltsam bei sich zu behalten, wenn sie sich derart nach Linda sehnte? Er würde das Kind Linda überlassen.

Aber noch schwieg er darüber, denn noch hatte er die Hoffnung, dass vielleicht alles zwischen ihnen wieder gut werden würde, nicht ganz aufgegeben. Zugleich sagte er sich aber, dass er ein hoffnungsloser Träumer war, obwohl diese Eigenschaft schlecht zu einem guten Strafverteidiger passte.

Frau Rennert und Schwester Regine bemühten sich sogleich um Nina, als der Wagen in Sophienlust eintraf. Die Heimleiterin flüsterte Denise noch schnell etwas zu. Überrascht blitzte es in den dunklen Frauenaugen auf. »Damit hätte ich gewiss nicht gerechnet«, flüsterte Denise zurück.

»Bitte, Fräulein Snyder und Dr. Hille, entschuldigen Sie mich für einen Augenblick«, bat sie und eilte ins Haus.

Als Denise das Biedermeierzimmer betrat, erblickte sie Linda, die zusammengekauert auf einem Sessel saß und leise weinte.

»Guten Tag, Frau Hille«, begrüßte Denise die verzweifelte junge Frau. Sie reichte ihr die Hand.

»Guten Tag.« Linda trocknete sich die Augen. »Haben Sie Nina gefunden?«, fragte sie angstvoll.

»Ja, wir haben sie gefunden. Die Kinderschwester und Frau Rennert bringen sie ins Bett. Nina muss stundenlang herumgeirrt sein. Sie kann sich kaum noch auf den Beinen halten.«

»Aber warum ist sie nur fortgelaufen?«, fragte Linda unglücklich. »Warum nur?«

»Warum? Ich glaube, den Grund zu kennen. Nina hat damit erreichen wollen, dass sich ihre Eltern wieder aussöhnen.«

»Ich glaube, das ist unmöglich.« Mutlos sah Linda Denise an. Doch in den gütigen Frauenaugen las sie tiefes Verständnis und Mitleid. Da sagte sie spontan: »Frau von Schoenecker, ich brauche einen Menschen, mit dem ich offen über alles sprechen kann. Ich hoffe, dass Sie mich nicht mehr verurteilen werden, wenn Sie mich angehört haben.«

»Ich habe Sie nicht verurteilt.«

»Wirklich nicht?« Linda erwiderte ihren Blick leicht irritiert. »Aber ich bin doch in Ihren Augen eine gewissenlose Mutter, die ihr Kind preisgegeben hat, um einem anderen Mann zu folgen.«

»Bitte, liebe Frau Hille, erzählen Sie mir alles«, bat Denise weich. »Ich glaube, das wird Ihnen helfen.«

»Es hat damit angefangen, dass mein Mann oft bis spät abends fort war. Obwohl er sich bemühte, lieb zu mir zu sein, spürte ich doch, wie müde er immer war. Kein Wunder bei seinem anstrengenden Beruf, denn seine Klienten sehen in ihm so etwas wie einen Halbgott und vertrauen ihm restlos. Nur selten ist es ihm nicht gelungen, einen seiner Klienten freizubekommen.

Tonio war dagegen fast jeden Tag bei uns. Tonio Bertoldi ist Kunstmaler und hat es eigentlich auch meinem Mann zu verdanken, dass er so bekannt geworden ist. Doch ich möchte nicht auf Einzelheiten eingehen, weil ich sein Vertrauen nicht missbrauchen möchte«, warf sie hastig ein. »Darf ich rauchen?«, fragte sie dann und nahm bereits eine Zigarette aus ihrer Handtasche. Sie zündete sie an und sprach dann weiter: »Ja, da war Tonio. Er war immer fröhlich, gut gelaunt und zu jedem Unsinn aufgelegt. Nina liebte ihn sehr. Aber das wird wohl jetzt vorbei sein, nachdem sie weiß, dass Tonio und ich ...« Sie unterbrach sich mit einem matten Lächeln. »Sei es, wie es sei«, fuhr sie fort. »Tonio liebte mich von Anfang an. Ich habe das nicht wahrhaben wollen. Und dann wurde ich seine Geliebte aus einem Gefühl der Verlassenheit heraus. Ich fühlte mich in seinen Armen ... Verzeihen Sie, so weit wollte ich nicht mit meinen Ausführungen gehen«, unterbrach sie sich und errötete bis unter die Haarwurzeln. »Tonio gestand mir, dass er mich schon immer geliebt habe. Und ich war in dieser Zeit sehr empfänglich für zärtliche Worte. Aber leider ist es mir nicht gegeben, ein Doppelleben zu führen. Von jeher habe ich für gerade Linien in meinem Leben gesorgt. Ich legte Peter ein Geständnis ab und sagte ihm, dass ich ohne Tonio nicht leben könne. Zu spät erkannte ich, wie weh ich ihm damit getan hatte. Heute weiß ich, dass ich Peter noch immer liebe, dass ich immer nur ihn geliebt habe. Aber nun ist es zu spät.«

»Zu spät ist nichts, solange man die Möglichkeit hat, etwas wiedergutzumachen, Frau Hille.«

»Ich glaube, auch diese Möglichkeit dürfte verpasst sein.« Linda erzählte Denise nun, wie verfahren die Situation war. »Es ist eine Ironie des Schicksals, dass Peter sich in Lucy Snyder verliebt hat. Tonio liebt aber die Amerikanerin ebenfalls. Und ich habe beide verloren.« Um Lindas Fassung war es nun endgültig geschehen.

Denise ließ sie weinen. Währenddessen schmiedete sie Pläne. Schon manchmal hatte sie schlichtend in ein Ehedrama eingegriffen. Auch diesmal wollte sie das tun. Denn sie hatte nicht den Eindruck, dass Peter Hille und Lucy Snyder mehr als nur Freundschaft füreinander empfanden.

»Ich lasse Sie für einen Augenblick allein, Frau Hille«, sagte Denise gütig. »Ich bringe Ihnen einen Kognak, der Ihnen in Ihrem momentanen Zustand gewiss guttun wird.«

»Sie sind so lieb.« Aus tränenfeuchten Augen lächelte Linda sie an.

Denise war mehr denn je überzeugt, dass Linda Hille kein schlechter Mensch war. Sie hatte sich nur in eine Situation verrannt, aus der sie einfach keinen Ausweg mehr fand.

Lucy und Peter saßen in der Halle. Frau Rennert hatte ihnen einen Imbiss bringen lassen und Bier. Inzwischen waren auch die anderen Kinder in Sophienlust eingetroffen. Nur Nick, Henrik und Pünktchen waren noch nicht da.

»Dabei ist es schon dunkel«, stellte Denise leicht besorgt fest.

»Sie kommen schon!« Der Ausruf kam von Vicky, die Ausschau aus einem der Fenster in der Halle gehalten hatte.

»Gott sei Dank! Herr Dr. Hille, ich glaube, Sie können jetzt zu Nina gehen«, sagte Denise, als Schwester Regine auf der Treppe erschien. »Vielleicht sollten Sie und Fräulein Snyder heute in Sophienlust übernachten«, schlug sie freundlich vor.

»Das wäre nett, aber ich muss morgen um neun auf dem Gericht sein.«

»Und ich möchte morgen nach den Staaten zurückfliegen«, erklärte Lucy.

»Am liebsten würde ich das Kind mit nach Hause nehmen.« Peter erhob sich und folgte der Kinderschwester. Als Lucy ihm folgen wollte, hielt Denise sie sanft am Arm zurück. »Fräulein Snyder, bitte, bleiben Sie unten«, bat sie.

»Ja, natürlich.« Leicht befremdet sah Lucy Denise an.

»Frau Hille ist hier.«

»Linda Hille?«

»Ja, Fräulein Snyder. Sie hatten mir doch damals erklärt, Sie wollten Schicksal spielen. Ich glaube fast, das Spiel ist aufgegangen.«

»Soll das heißen, dass Linda Hille Tonio verlassen hat?«

»Ganz recht.«

Lucy überfiel bei dieser guten Nachricht ein tiefes Glücksgefühl. Am liebsten hätte sie die ganze Welt umarmt. »Bitte, ist es möglich, dass ich hier sofort ein Taxi bekomme, das mich nach Frankfurt zurückfährt? Ich glaube, ich werde dort dringend gebraucht«, fügte sie leiser hinzu.

»Ich rufe sogleich Herrn Müller an. Er hat ein Taxiunternehmen in Bachenau. Für Extrafahrten hat er stets etwas übrig.«

Lucy folgte Denise ins Büro. Der Taxiunternehmer versprach, sofort einen Wagen zu schicken.

»Am besten, ich verlasse Sie jetzt«, sagte Lucy. »Grüßen Sie bitte alle noch einmal herzlich von mir. Auf Wiedersehen, Frau von Schoenecker, und noch einmal vielen Dank für alles.«

»Ich habe es gern getan. Und ich wünsche Ihnen viel Glück.« Denise reichte dem Mädchen die Hand.

»Das kann ich gebrauchen. Aber ich glaube, es wird alles gut werden. Für Nina, für ihre Eltern und auch für mich.«

Denise begleitete die junge Amerikanerin noch die Freitreppe hinunter. Lucy nickte ihr noch einmal lächelnd zu. Dann ging sie zum Parktor, um dort auf das bestellte Taxi zu warten.

Denise kehrte ins Haus zurück und ging zu Linda, die mit dem Rücken zu ihr am Fenster stand, als sie eintrat.

»Frau Hille, wenn Sie wollen, können Sie jetzt Nina sehen«, sagte Denise mit einem geheimnisvollen Lächeln.

»Und ob ich will.« Linda drückte die Zigarette aus. Dabei klopfte ihr Herz zum Zerspringen.

»Kommen Sie.« Denise führte die junge Frau in das obere Stockwerk hinauf.

*

Peter saß am Bett seiner Tochter und redete beruhigend auf sie ein. Aber Nina schien ihn nicht einmal zu hören. Sie blickte an ihm vorbei zur Tür, als erwarte sie, dass jeden Moment ihre Mutti dort auftauchen würde.

»Nina, wie ich sehe, willst du durchaus nicht bei mir bleiben«, sagte Peter schließlich traurig. »Gut, dann darfst du bei deiner Mutter leben.«

»Ach, Vati, ich will aber, dass ihr beide beisammenbleibt und dass ich Eltern habe«, erwiderte sie leise und sah ihn nun endlich an.

»Weißt du, mein Kleines, das geht nicht.«

»Pünktchen und Nick haben gesagt, dass bei einer Scheidung meist die Kinder die Hauptleidtragenden sind.«

»Ja, Nina, das ist leider so.«

»Dann verstehe ich nicht, warum sich Eltern trennen. Wir Kinder zanken uns doch auch manchmal und vertragen uns dann wieder. Warum geht das bei euch Großen nicht?«

»Weil unsere Probleme schwerwiegender sind als eure.«

»Nur, weil ihr das glaubt.« Nina setzte sich auf. Ihre Wangen waren hektisch gerötet, ihre Augen glänzten fiebrig. »Wenn ihr mich richtig lieb haben würdet, wäre alles viel einfacher. Dann würdet ihr nicht nur an euch denken.«

Die Altklugheit seiner Tochter überraschte Peter. Er begriff, dass er Nina viel zuwenig kannte, weil er kaum daheim war. Linda dagegen war stets von morgens bis abends mit ihr beisammen gewesen. War es da ein Wunder, dass das Kind sich vor Sehnsucht nach seiner Mutter verzehrte? Er selbst würde Linda ja auch gern verzeihen, wenn sie das wünschte. Aber sie wollte doch nicht zu ihm zurückkehren.

»Nina, ich muss jetzt fahren. Wenn du willst, hole ich dich Ende der Woche ab.«

»Wenn ich nicht mit Mutti beisammen sein kann, will ich hierbleiben«, erklärte Nina mit einem Anflug von Trotz.

»Nina, bitte …«

Aber das Kind achtete nicht mehr auf ihn, sondern starrte wie gebannt auf die Tür. »Mutti«, flüsterte es dann. »Meine liebe Mutti …«

Langsam drehte sich Peter um. Dann stand er auf. »Linda«, sagte er fassungslos. »Linda, wo kommst du denn her?«

»Ich habe in der Villa angerufen, weil ich Nina sprechen wollte. Wally hat mir gesagt, was geschehen ist. Da habe ich mich sofort ins Auto gesetzt und bin hierhergefahren.«

»Mutti! Mutti!«, rief Nina und schob die Bettdecke zurück.

»Mein Liebling, bleib liegen.« Linda war schon bei ihr und setzte sich auf den Bettrand.

»Muttilein! Liebe, liebe Mutti«, sagte Nina immer wieder und schlang ihre Arme um Lindas Hals. »Geh nie wieder fort von mir. Bitte, bitte, tu es nicht. Ich war so schrecklich unglücklich.«

»Ich bleibe bei dir, mein Liebling.«

»Vati, Mutti bleibt bei uns!«, rief Nina triumphierend.

Peter stand dieser neuen Situation ratlos gegenüber. »Nina, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«

»Vati, Mutti darf uns nicht mehr verlassen. Bitte, sage es ihr doch«, flehte Nina und begann wieder zu weinen.

Linda suchte Peters Blick, und er nickte ihr kaum merklich zu. »Ninalein, du darfst dich jetzt nicht mehr so aufregen, sonst wirst du noch krank. Ich bleibe bei euch.«

»Ganz bestimmt? Versprichst du es mir?« Nina trocknete ihre Tränen.

Wieder blickte Linda ihren Mann an, und wieder nickte er ihr zu. »Ich verspreche es dir, Ninalein.«

»Ach, Mutti, ich bin so glücklich. Seitdem du uns verlassen hast, hat niemand mehr Ninalein zu mir gesagt.«

»Mein Ninalein«, wiederholte Linda zärtlich und wiegte ihre Tochter wie ein Baby in den Armen hin und her. »Du musst aber jetzt schlafen, damit du morgen wieder ganz munter bist.«

»Aber du bleibst doch in Sophienlust?«

»Ja, Ninalein.« Linda hoffte, dass sie das Kind nicht enttäuschen musste. Denn noch hatte sie keine Ahnung, wie alles weitergehen würde.

Nina streckte sich mit einem glücklichen Lächeln aus. »Dann hat sich mein größter Wunsch doch erfüllt. Dann bin ich nicht umsonst fortgelaufen. Es ist alles genauso gekommen, wie Pünktchen es gesagt hat. Auf einmal bin ich so müde, dass ich kaum noch meine Augen aufhalten kann. Mutti, liebe, liebe Mutti.«

Als Linda ihr Kind noch einmal an sich zog, standen ihre Augen voll Tränen. Peter stand stumm dabei und ließ keinen Blick von den beiden. Würde Linda wirklich bei ihnen bleiben?, fragte er sich bange.

»Sie schläft«, flüsterte Linda und löste sich von Nina. Liebevoll deckte sie ihren Liebling zu. »Komm«, sagte sie dann.

Peter folgte ihr auf den Gang hinaus. Sein Blick umfasste ihre zarte Gestalt. Sie trug ihr schönes leuchtendes Haar aufgesteckt. Nur einige Strähnchen hatten sich aus der Frisur gelöst und umschmeichelten ihren Hals.

»Linda, wie stellst du dir das alles vor?«, fragte er, als sie die Treppe hinunterstiegen. »Wir sind verantwortungslos. Wie können wir dem Kind etwas versprechen, was wir nicht halten können? Morgen wird alles noch schlimmer für Nina sein.«

»Ich weiß, dass du dich in Lucy Snyder verliebt hast und sie sich in dich«, antwortete Linda beklommenen Herzens. »Ich weiß auch, dass ich verspielt habe.«

»Was sagst du da?« Peter sah sie betroffen an.

»Tonio sagte es mir.«

»Was sagte er dir?«

»Dass Lucy Snyder und du …«

»Was für ein Unsinn«, unterbrach er sie fast grob. »Lucy und ich sind gute Freunde. Sie ist ein reizendes Mädchen und hat das Herz auf dem rechten Fleck. Zugegeben, sie hat mir viel geholfen. Aber ich liebe sie nicht.«

»Du liebst sie nicht?« Lindas Wangen überzogen sich mit sanfter Röte. In ihren blaugrünen Augen leuchtete es hellauf. »Aber ich dachte …«

»Linda, du weißt, was ich damals zu dir sagte, als du dich für Tonio entschieden und uns seinetwegen verlassen hattest.«

»Stehst du denn auch heute noch dazu?«

»Ja, Linda. Schon Ninas wegen. Nina sagte vorhin etwas erstaunlich Altkluges für ein neunjähriges Mädchen.« Er wiederholte sinngemäß ihre Worte.

»Nina war schon immer sehr klug und hat sich viele Gedanken über alles gemacht.«

»Ich weiß das erst seit heute. Ich habe viel zu wenig Zeit für sie gehabt – und auch für dich, Linda. Vielleicht wäre sonst alles anders gekommen, vielleicht wäre dann das alles nicht geschehen.«

»Bestimmt wäre das dann nicht geschehen, Peter.«

»Linda, ich habe mich entschlossen über Nacht hierzubleiben, damit Nina uns beide morgen früh noch vorfindet. Komm«, bat er und fasste sie bei der Hand. »Mir ist nach einem Spaziergang zumute. Ich glaube, wir haben viel zu besprechen.«

Der zärtliche Druck seiner Hand ließ ihr Herz schneller schlagen. Eine heiße Welle schoß durch ihren Körper. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als seien die letzten Wochen ausgelöscht, als habe es niemals Kummer und Leid zwischen ihnen gegeben.

Peter hängte sich draußen bei ihr ein. Einen Augenblick schmiegte sie sich an ihn. »Peter, wirst du das alles jemals vergessen können?«, fragte sie zaghaft.

»Linda, erst einmal musst du mir erzählen, was geschehen ist und warum du Tonio verlassen hast. Oder hast du ihn gar nicht verlassen?«

»Doch, ich habe ihn verlassen. Ich weiß jetzt, dass ich ihn niemals geliebt habe. Es war für mich wie ein Rausch, aus dem ich jetzt mit Kopfschmerzen erwacht bin. Zurückgeblieben ist ein schaler Geschmack auf der Zunge und das Bewusstsein, dass ich versagt habe. Heute weiß ich, dass ich mich Stunde für Stunde nach euch gesehnt habe, dass es nichts gab, was mir über meine Sehnsucht hinweghalf. Ich bin eine Frau, die beschützt sein will. Aber Tonio ist in erster Linie Künstler und ein Egoist, der glaubt, dass sich die ganze Welt um ihn drehen müsse. Ich habe bei ihm das Lachen verlernt.«

»Linda, ich …«

»Bitte, Peter, lass mich ausreden. Ich muss mir einfach alles von der Seele reden. Ich werde mich auch nie wieder vernachlässigt fühlen, wenn du mal keine Zeit für uns hast. Wichtig ist nur, dass ich weiß, dass du heimkommst, dass du dann bei mir sein wirst. Peter, ich habe keine Stunde aufgehört, dich zu lieben. Trotzdem weiß ich, dass es zu viel verlangt wäre, zu erwarten, dass du so schnell vergessen kannst. Es wird noch eine Weile dauern, bis die Schatten der Vergangenheit endgültig verschwunden sind.«

»An mir soll es nicht liegen, Linda. Wir sind schließlich erwachsene Leute. Außerdem werde ich täglich mit den menschlichen Schwächen konfrontiert.« Er blieb stehen und zog sie an sich. »Linda, ich bin bereit, noch einmal neu anzufangen.«

»Ich auch, Peter.«

Als er sie küsste, spürten beide, dass es nicht mehr so war wie früher. Würde es jemals wieder so werden? fragten sie sich insgeheim.

Der Mond stieg hinter dem Wald hoch. Sein Licht hüllte die Landschaft in ein gespenstisches Licht. Linda fröstelte plötzlich. »Wir müssen ins Haus zurück. Ich habe meine Tasche in der Halle liegenlassen. Außerdem müssen wir Bescheid sagen, dass wir in einem Gasthof übernachten und morgen früh wieder hier sind.«

»Gut, Linda.« Peter legte seinen Arm um ihre Taille, als sie die Freitreppe hinaufstiegen. Plötzlich wusste sie, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, bis Peter und sie wieder eins sein würden.

Frau Rennert hatte auf die beiden gewartet. Nun erst erinnerte sich Peter auch wieder an Lucy. Er fragte nach ihr.

»Fräulein Snyder ist schon lange fort. Sie hat sich ein Taxi bestellt, um nach Frankfurt zurückzufahren. Auch Frau von Schoenecker konnte nicht mehr länger warten. Sie lässt Sie herzlich grüßen. Ich habe inzwischen zwei Fremdenzimmer für Sie herrichten lassen. Nicht wahr, Sie bleiben doch über Nacht hier?«, fragte sie.

»Sehr gern. Wir nehmen Ihre Einladung dankend an.« Peter lächelte die Heimleiterin freundlich an. Er empfand es als große Erleichterung, dass Lucy fort war. Auch ahnte er, was sie nach Frankfurt getrieben hatte.

»Ich habe einen kleinen Imbiss für Sie vorbereiten lassen«, erklärte Frau Rennert noch. »Bestimmt sind Sie hungrig.«

»Das bin ich!«, rief Peter in bester Laune.

»Auch ich habe plötzlich Hunger«, rief Linda fröhlich.

Frau Rennert führte die Gäste in den Speisesaal. Linda und Peter waren entzückt von der Gastfreundschaft in Sophienlust. Die Heimleiterin und ihr Sohn Wolfgang, der als Musik- und Hauslehrer in Sophienlust angestellt war, leisteten ihnen beim Abendessen Gesellschaft.

Später zeigte Else Rennert den Gästen ihre Zimmer. Sie lagen nebeneinander, aber die Verbindungstür war geschlossen.

Als Linda allein war, verließen sie ihre Nerven. Sie weinte leise vor sich hin. Als ihre Tränen versiegt waren, legte sie sich nieder. Sie hörte Schritte im Nebenzimmer und wünschte sich sehnlichst, dass Peter zu ihr käme. Dann aber schlief sie ein.

Peter konnte dagegen nicht einschlafen. Immer wieder stand er auf. Dann aber hielt er es nicht mehr aus und schloss die Verbindungstür auf.

Ein heller Streifen fiel durch den Spalt zwischen den Vorhängen auf Lindas Bett.

»Linda«, flüsterte Peter zärtlich. »Linda!«

Sie drehte sich im Schlaf um und lächelte.

»Linda«, wiederholte er.

Endlich schlug sie die Augen auf. »Peter, ach, Peter, ich habe so sehr auf dich gewartet«, sagte sie glücklich und streckte ihm die Arme entgegen.

*

Lucy erreichte Frankfurt gegen neun Uhr abends. Sie entlohnte den Taxifahrer vor dem Haus, in dem sich Tonios Atelier befand. Dann läutete sie, denn das Haustor war bereits abgeschlossen. Erregt wartete sie. Nichts rührte sich. Enttäuscht drückte sie noch einmal auf den Klingelknopf.

Als es dann surrte, stieß sie gegen die Tür. Licht flammte im Treppenhaus auf.

Lucy stieg die Stufen hinauf. Tonio stand oben vor der Tür und blinzelte sie verschlafen an. Sein schwarzes Haar war zerzaust, auch sah er recht mitgenommen aus.

»Du?«, fragte er böse. »Was willst du hier?«

»Tonio, bitte …«

»Geh zu deinem Peter. Ich hasse euch alle!«, rief er unbeherrscht.

»Tonio, du bist ja betrunken.«

»Und wenn schon. Geht’s dich was an?«

»Tonio, komm zu dir.« Lucy nahm seinen momentanen Zustand nicht allzu tragisch. Sie kannte ihn immerhin schon so gut, dass sie wusste, dass er oft Dinge sagte, die er gar nicht so meinte. Sie schob sich an ihm vorbei in die Wohnung. »Ich werde dir einen starken Kaffee brauen.«

»Kaffee? Ich will Wein!«, rief er und taumelte hinter ihr ins Atelier. »Hat dich Peter hinausgeworfen?«

»Was faselst du nur immer von Peter?«

»Liebst du ihn denn nicht?«, fragte er und musterte sie mit gemischten Gefühlen.

»Lieben? Nein, Tonio, ich liebe Peter nicht. Peter hat doch nur Linda im Kopf.«

»Und wenn es anders wäre? Würdest du ihn dann lieben?«

»Tonio, ich möchte dir auf diese dumme Frage keine Antwort geben. An deiner Stelle würde ich jetzt kalt duschen. Inzwischen koche ich einen Kaffee für uns. Mein Gott, hier scheint ja eine wilde Horde gehaust zu haben«, stellte sie fest, als sie die Flasche und die Scherben auf dem Boden erblickte. »Es war höchste Zeit, dass ich gekommen bin.«

»Das meine ich auch.« Plötzlich grinste er von einem Ohr bis zum anderen. Wieder glich er einem Lausbuben, der etwas angestellt hatte und nun mit schuldbewusstem Gesicht auf die Strafe wartete. Er wollte Lucy an sich ziehen, aber sie stieß ihn lachend zurück. »Erst duschen. Danach sehen wir weiter.«

»Zu Befehl, mein Feldwebel!«, rief er und verschwand im Bad.

Während Lucy das Atelier ein wenig aufräumte und dann den Kaffee aufbrühte, hörte sie Tonio im Bad singen. Tief atmete sie auf. Wie gut, dass sie nicht nachtragend war, dass es ihr gegeben war, zu vergessen. Tonio gehörte ihr. Sie würde ihn auch nie mehr verlassen. Sobald wie möglich würde sie ihn zum Standesamt schleppen.

Bei diesem Gedanken lachte Lucy leise auf.

»Was amüsiert dich denn so?«, fragte Tonio. Er stand unter der Tür und beobachtete sie. Er hatte sich völlig umgezogen, trug nun lichtgraue Flanellhosen und einen weißen Sommerpulli. Sein Haar war noch feucht von der Dusche. Auch hatte er sich rasiert.

»Du willst wissen, worüber ich gelacht habe?«, fragte sie schelmisch.

»Du würdest erschrecken, wenn ich es dir sagen würde.« Ihr Lächeln vertiefte sich.

»Mich kann heute nichts mehr erschüttern, Lucy.«

»Auf deine Verantwortung sage ich es dir.«

»Nur los, mein Feldwebel.« Er grinste sie wieder an.

»Ich habe mir gerade vorgestellt, wie es sein würde, wenn ich dich zum Standesamt schleppte.«

Tonio schnitt eine Grimasse, als ob er in eine saure Zitrone gebissen hätte.

»Sehr ermutigend ist dein Gesicht nicht.« Lucy stellte gelassen die Tassen auf das Couchtischchen. »Hast du Hunger?«

»Auf dich, Lucy.«

»Das kommt vielleicht später.«

»Vielleicht?« Er wollte sie von hinten umfassen.

»Ja, vielleicht. Also, soll ich dir Sandwiches machen, vorausgesetzt, dass du noch etwas im Eisschrank hast?« Sanft schob sie seine Hände von ihren Hüften fort.

»Habe ich.« Seufzend ließ er von ihr ab. »Ich sehe schon, ich komme nicht darum herum, den Umweg über das Standesamt zu machen, wenn ich dich ganz für mich behalten will.« Er setzte sich und sah sie an. »Eigentlich muss eine Ehe mit dir recht lustig sein. Du bist meist fröhlich und nimmst alles so, wie es kommt. Stimmt das?«

»Es stimmt.« Lucy öffnete den Eisschrank. Dann machte sie Sandwiches zurecht. Denn auch sie hatte plötzlich Hunger.

»Dann mache ich dir offiziell einen Heiratsantrag, Lucy.«

»Den ich mit Freuden annehme.«

»Da habe ich Pech gehabt.« Wieder seufzte er laut auf. Dann aber wurde er ernst. »Lucy, ich liebe dich«, gestand er. »Glaub mir, ich habe versucht, Linda nicht im Stich zu lassen. Aber sie wollte nicht mehr bei mir bleiben.«

»Ich weiß das, Tonio. An deiner Stelle würde ich mir nicht mehr allzu große Gedanken über sie machen. Denn ich glaube, ihr Schicksal ist besiegelt.«

»Du sprichst in Rätseln, Lucy.« Er rührte den Zucker in der Kaffeetasse um.

»Wenn ich mich nicht täusche, sind Linda und Peter um diese Zeit auch beisammen.«

»Linda und Peter haben sich wieder ausgesöhnt?«

»Ich hoffe es. Morgen früh rufe ich gleich in Sophienlust an und frage Frau von Schoenecker danach.« Sie erzählte ihm nun alles Wissenswerte.

»Mir fällt ein Stein vom Herzen, Lucy. Eines tut mir nur leid, dass ich die Freundschaft der beiden verloren habe. Peter ist ein wundervoller Mensch.«

»Das ist er«, bestätigte sie aus tiefster Überzeugung. »Sag, Tonio, warum hat er dich damals verteidigt?«, fragte sie.

»Bitte, Lucy, muss ich das sagen?«

»Du musst nicht, Tonio, aber es interessiert mich brennend.«

Er erhob sich und zog hinter einem Stapel Bilder, die an der Wand lehnten, ein Gemälde hervor.

Überrascht sah sie ihn an. »Das ist ja ein echter Goya!«, rief sie. »Wie kommst du zu dem Bild? Zuletzt habe ich es in einer Londoner Ausstellung gesehen.«

»Dieses Bild bestimmt nicht, Lucy.«

»Soll das heißen, dass du es kopiert hast?«

»Ganz recht, Lucy.« Er blinzelte sie schuldbewusst an.

»Ich verstehe. Du hast der Versuchung nicht widerstehen können, es zu verkaufen – als echten Goya. Habe ich es erraten?«

»Das hast du, Lucy.«

»Mein Gott, Tonio, du bist ein Esel!«, rief sie. »Bald ist ein echter Bertoldi mehr wert als ein Goya.«

»Lucy, du bist eine wunderbare Frau.« In seinen Augen stand echte Bewunderung. »Jede andere Frau wäre entsetzt gewesen. Aber du erklärst, dass ich mehr kann als Goya.«

»So ist es, Tonio. Du bist in gewisser Weise ein Genie. Genies sind nun mal nicht mit dem Maßstab des alltäglichen Lebens zu messen. Trotzdem würde es mich kränken, wenn du noch einmal so etwas tun würdest.«

»Lucy, glaubst du das wirklich von mir?«

»Eigentlich nicht. So, nun iss erst einmal etwas. Auch ich tu mir nun keinen Zwang mehr an.« Sie setzte sich neben ihn auf die Couch. »Nach unserer Hochzeit fliegen wir nach Virginia«, sagte sie vergnügt. »Meine Eltern werden aus allen Wolken fallen, wenn ich sie vor die vollendete Tatsache stelle. Besonders meine Mutter, die mich vor dir gewarnt hat.«

»Wie konnte sie das? Sie kennt mich doch gar nicht.«

»Ich habe ihr viel von dir erzählt. Schließlich wollte ich dich schon damals heiraten, Tonio.« Sie schmiegte sich an ihn. Sie war plötzlich unverschämt glücklich.

»Lucy, ich liebe dich, ich liebe dich«, flüsterte er und zog sie an sich. Die Sandwiches wurden erst sehr viel später aufgegessen.

*

Nina schlug die Augen auf. Hell flutete die Sonne durch das offenstehende Fenster. Verwundert setzte sie sich auf. Dann stand sie schnell auf und lief ins Nebenzimmer. Aber Pünktchen war schon aufgestanden.

»Es ist ja schon zehn«, flüsterte Nina nach einem Blick auf die Uhr überrascht. Längst hätte sie in der Schule sein müssen.

Dann fiel ihr alles wieder ein. Sie war von Sophienlust fortgelaufen, und Vati hatte sie gefunden. Aber Mutti war nicht dabeigewesen.

»Mutti! Mutti!«, rief sie plötzlich. Im Schlafanzug stürmte sie aus dem Zimmer und lief dem Hausmädchen Ulla in die Arme. »Ulla, ist Mutti noch da?«, fragte sie aufgeregt.

»Ja, Nina, deine Mutti ist noch da. Auch dein Vater ist hiergeblieben.«

»Oh«, staunte das Kind. »Dann hat er doch Zeit für uns.«

»Ja, Nina. Zieh dich erst einmal an. Ich sage inzwischen deiner Mutti Bescheid, dass du aufgewacht bist.«

»Vielen Dank, Ulla. Sind denn die anderen Kinder schon in der Schule?«

»Ja, Nina. Tante Isi hat dich aber in der Schule entschuldigt. Außerdem wollen deine Eltern dich heute mit nach Hause nehmen.«

»Ist das auch wahr, Ulla?« Nina konnte noch nicht so recht an ihr Glück glauben. »Nicht wahr, ich träume nicht?«, fragte sie unsicher und kniff sich ganz fest in den Arm. »Nein, ich träume nicht, weil es weh tut.«

Ulla lächelte das Mädchen an.

»Siehst du, nun ist doch alles gut geworden«, meinte sie leise.

Nina lief in ihr Zimmer zurück. Glücklich küsste sie ihren Stoffaffen Fips und die Puppe Claudia. »Wir fahren heute wieder nach Hause. Und ihr kommt natürlich mit. Bei uns ist es wunderschön. Viel schöner als hier, weil es doch unser Zuhause ist«, vertraute sie ihren Lieblingen an.

Linda erschien. »Guten Morgen, mein Liebling. Du musst dich beeilen«, sagte sie, nachdem sie Nina einen Guten-Morgen-Kuss gegeben hatte. »Vati muss zurück nach Frankfurt. Er will durchaus nicht vorausfahren.«

»Aber ich fahre in deinem Wagen, Mutti«, bestimmte Nina.

»Ja, Nina, das darfst du.« Linda half ihrer Tochter beim Ankleiden. Schwester Regine packte indessen die Koffer.

Nina blickte sich im Zimmer um, dann rief sie: »Mutti, ich muss mich noch von den Kindern verabschieden. Sie kommen aber erst gegen Mittag aus der Schule.«

»Das sehe ich ein. Ich werde Vati fragen, ob er noch so lange warten will.«

»Ja, Mutti.« Nina blickte sie bittend an

Linda verließ das Zimmer, um kurz darauf mit dem Bescheid zurückzukommen, dass ihr Mann nun doch vorausfahren würde. »Wir bleiben noch zum Mittagessen hier«, fügte sie hinzu. »Und heute Abend sind wir dann daheim. Vati hat versprochen, pünktlich zum Abendessen daheim zu sein.«

»Ich finde es eigentlich wunderschön, dass wir beide noch hierbleiben, Mutti. Alle waren so lieb zu mir.« Nina umarmte ihre Mutter. »Ist Vati schon fort?«

»Ja, er ist schon fort.«

In den Stunden bis zur Rückkehr der Schulkinder zeigte Nina ihrer Mutter alle Sehenswürdigkeiten von Sophienlust. Endlich kamen die beiden Schulbusse.

Aufgeregt kam Pünktchen angelaufen. »Wie schön, dass du noch da bist, Nina!«, rief sie erleichtert. »Ich hatte schon Angst, du würdest fortfahren, ohne dich von uns zu verabschieden.«

Auch die anderen Kinder waren glücklich, dass Nina noch da war. Und Magda hatte zum Abschied Ninas Lieblingsgericht gekocht.

Im Kreis der fröhlichen Kinder fühlte sich Linda sehr wohl. Ihr helles Lachen, ihr munteres Geplauder wirkte auf sie ansteckend.

Als sie dann mit Nina Sophienlust verließ, waren alle auf der Freitreppe versammelt und winkten ihnen nach. Nina winkte fröhlich zurück.

Nick runzelte die Brauen. »Dabei waren wir doch alle sehr lieb zu Nina«, sagte er gekränkt. »Sie war überhaupt nicht traurig, als sie losfuhren.«

Denise lachte. »Unverbesserlicher Nick. Immer ist es das Gleiche. Stets fühlst du dich gekränkt, wenn ein Kind Sophienlust mit glücklichem Gesicht verlässt.«

»Ist doch wahr«, meinte er. »Da gibt man sich die größte Mühe, ihnen zu helfen. Und was ist der Dank?« Er zuckte mit den Achseln. Dann fuhr er Barri über den dicken Kopf. »Komm, Barri, machen wir einen Spaziergang. Undank ist der Welt Lohn.«

Lachend blickte Denise ihrem Sohn nach.

*

Linda erreichte Frankfurt gegen fünf. Um diese Zeit ist Peter bestimmt noch nicht zu Hause, sagte sie sich. »Nina, wir fahren zuerst zu der Wohnung, in der ich in den letzten Wochen gewohnt habe. Ich möchte meine Sachen holen«, wandte sie sich an ihre Tochter.

»Ja, Mutti.« Nina war mit allem einverstanden. Mit Mutti zusammen wäre sie sogar durch die Hölle gegangen, ohne Angst zu haben.

Als sie die Straße erreichten, in der auch Tonio wohnte, wurden Ninas Augen ganz groß. »Fährst du denn zu Onkel Tonio?«, fragte sie erschrocken.

»Aber nein, Nina.« Linda wich dem klaren Kinderblick aus.

»Ich habe Onkel Tonio sehr liebgehabt. Nun bin ich ihm aber böse.«

»Ich weiß, Nina.«

»Eigentlich brauche ich ihm aber nun doch nicht mehr böse zu sein Mutti? Kommt er denn wieder zu uns in die Villa?«

»Nein, Nina, das ist vorbei.«

»Ich verstehe, Mutti. Da ist ja sein Haus. Schau, und dort sind Onkel Tonio und Lucy!«, rief sie aufgeregt und richtete sich ein wenig auf.

Linda zuckte wie unter einem heftigen Schlag zusammen, als sie das Paar erblickte, das Arm in Arm die Straße hinunterschlenderte. Sie horchte in sich hinein und stellte erleichtert fest, dass der Schlag ihres Herzens nicht schneller geworden war.

»So, da sind wir!«, rief sie mit einem glücklichen Lachen. »Steig aus, mein Schatz.«

»Ja, Mutti.« Nina blickte an der Hausfront hoch. »Ist das aber ein hohes Haus.«

»Das ist es.« Linda fasste Nina bei der Hand und schloss dann die Haustür auf. Mit dem Lift fuhren sie nach oben. Dann betraten sie das Appartement.

Linda sah sich um. Auf einmal fühlte sie sich in der kleinen Wohnung wohl. Beinahe tat es ihr jetzt leid, dass sie nun nicht mehr hier wohnen würde.

Nina lief neugierig umher. Dann trat sie auf den Balkon. »Sieh doch, Mutti, von hier oben sehen die Menschen und die Autos ganz winzig aus.«

»Bitte, Nina, beuge dich nicht so weit vor.« Mit Schaudern dachte Linda an die Minuten, in denen sie nahe daran gewesen war, sich vom Balkon hinunterzustürzen. Auf einmal hatte sie es sehr eilig, die Wohnung zu verlassen. Sie packte nur das Nötigste ein. »Ich werde noch einmal mit Wally hierher zurückkommen, um die restlichen Sachen abzuholen«, wandte sie sich an Nina. »Komm schon!«, rief sie.

»Schade, Mutti. Schau, dort ist eine Krawatte. Gehört sie Onkel Tonio?«

»Ich weiß nicht«, murmelte Linda beschämt. »So komm doch, Nina­lein.« Flehend richtete sie ihre Augen auf die Kleine.

»Ja, Mutti.« Das Kind sah sie aus großen wissenden Augen an.

Linda war froh, als sie das Stadtviertel hinter sich gelassen hatten. Eine halbe Stunde später fuhr sie durch das weit geöffnete Tor und hielt kurz darauf vor der Villa.

Zu ihrer Überraschung kam Peter aus dem Haus.

»Vati ist schon da!«, rief Nina glücklich. »Vati! Vati! Ich bin zu Hause!«

Peter hob seine Tochter mit strahlenden Augen hoch und gab ihr einen herzhaften Kuss. »Ja, du bist zu Hause, Nina.«

Linda stand noch immer am Wagen, so, als habe sie Angst, das Haus zu betreten.

Peter kam ihr entgegen und ergriff ihre Hand. »Endlich bist du wieder daheim, Linda«, sagte er ernst.

»Ja, Peter, endlich.« Sie betrat neben ihm die Wohnhalle.

Nina war schon vorausgelaufen. Sie stürmte die Treppe hinauf und riss die Tür ihres Zimmers auf. Auf ihrem Bett saß ein junger Hund, der sie aus großen Augen erstaunt anblickte. »Wer bist du denn?«, fragte Nina glücklich. »Du bist aber niedlich.«

»Gefällt er dir? Es ist ein junger Collie«, erklärte ihr Vater von der Tür her. Er hatte den Arm um die Taille seiner Frau gelegt. »Du hast dir doch immer einen Collie gewünscht, Nina. Ich habe ihn heute Vormittag gekauft.«

»Vati, lieber, lieber Vati.« Nina sah ihn strahlend an.

»Endlich bist du wieder mein kleiner Sonnenschein«, erwiderte Peter lächelnd.

»Unser kleiner Sonnenschein«, verbesserte Linda ihn.

»Ich werde von nun an immer lachen. Mutti, Vati, wie heißt denn der Collie?«

»Ich weiß es nicht, Nina. Den Stammbaum bekommen wir erst später. Denke dir einen Namen aus.«

»Ja, Vati, ich denke mir einen Namen aus«, entgegnete Nina eifrig und streichelte den Hund. »Lassie werde ich ihn aber nicht taufen, weil schon viele Collies so heißen. Ich werde ihn Kaspar nennen.«

»Aber der Collie ist ein Mädchen«, machte ihr Vater sie auf das Geschlecht des Hundes aufmerksam.

»Ach so. Nun, dann taufe ich ihn Cora. Nicht wahr, das ist doch ein hübscher Name?«

»Ja, Nina, der Name passt zu dem Hund. Ich glaube, du musst ihn jetzt in den Garten führen. Dort auf der Truhe liegt ein Halsband und auch eine Leine. Am besten ist es, wenn deine Cora sich von klein auf an die Leine gewöhnt.«

Nina sah ihren Vater selig an und verließ mit dem Hund das Haus.

Linda wurde es ganz seltsam ums Herz, als sie nach so langer Zeit zum erstenmal wieder ihr Schlafzimmer betrat. Dunkelrote Rosen leuchteten ihr vom Toilettentisch und vom Nachtkästchen entgegen.

»Peter, du bist so gut zu mir. Ich habe deine Güte nicht verdient«, sagte sie leise und drehte sich nach ihm um.

»Linda, wahre Liebe verzeiht alles. Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben.«

»Peter, trotzdem fühle ich mich zutiefst beschämt.« In ihren Augen glänzten Tränen.

»Das sollst du aber nicht, Linda. Du musst daran denken, was für eine Freude du Nina und mir mit deiner Heimkehr bereitet hast.«

»Habe ich das auch wirklich?«

»Was für eine Frage!« Er nahm sie in die Arme und küsste sie.

»Hallo, Mutti, Vati!«, rief Nina von der Tür her und riss sie in die Wirklichkeit zurück. Der kleine Collie zerrte spielerisch an der Leine. »Ich wollte euch noch etwas sagen.«

»Ja? Was gibt es?«, fragten beide wie aus einem Mund.

»Nun muss ich noch ein Brüderchen bekommen.«

Verdutzt blickte sich das Ehepaar an.

»Wieso ein Brüderchen?«, fragte Linda verwundert.

»Weil Pünktchen mir erzählt hat, wenn ihr euch versöhnt, bekomme ich einen kleinen Bruder.«

»Und wann wünschst du dir ein Brüderchen?«, fragte Peter amüsiert.

»Am liebsten schon heute«, erwiderte Nina prompt.

»Verschieben wir es doch lieber auf morgen«, entgegnete Linda mit einem schalkhaften Lächeln.

Das anschließende Gelächter ihrer Eltern war Nina ein Rätsel. Es ist schon ein Kreuz mit den Erwachsenen, dachte sie beleidigt und rief: »Komm, Cora, wir laufen wieder in den Garten.«

Laut fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

Sophienlust Paket 3 – Familienroman

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