Читать книгу Sophienlust Paket 3 – Familienroman - Patricia Vandenberg - Страница 27

Оглавление

»Geht es Mutti besser?« Angstvoll waren die großen ausdrucksvollen Augen der kleinen Antje auf Prof. Klaus Martell gerichtet.

»Ja, Kleines. Heute Abend kannst du sie schon für eine Viertelstunde besuchen.«

»Ach, Vati, ich habe so schreckliche Angst gehabt. Bloß gut, dass du selbst ein Doktor bist und unsere Mutti gesund machen kannst. Schwester Inge hat gesagt, jetzt kriegt sie kein Baby mehr. Stimmt das wirklich? Wir hatten uns doch alle so auf das Baby gefreut.« Die Stimme der Achtjährigen zitterte.

Klaus Martell zog die Kleine an sich und strich ihr über das krause Haar, das in zwei Zöpfchen geflochten war. »Schwester Inge hat leider recht, Antje. Mutti hat das Baby verloren. Du musst tapfer sein und darfst ihr nicht zeigen, dass du traurig bist. Sie ist sehr unglücklich.«

Antje begann zu weinen. Die ausgestandene Angst und Aufregung brachen sich nun Bahn. In der Nacht hatte der Professor seine Frau hinüber in die Klinik gebracht. Antje war von der ungewohnten Unruhe im Hause erwacht und hatte blass und stumm zugesehen, wie man die totenbleiche Mutter auf einer Trage aus dem Hause transportiert hatte. Niemand hatte Zeit gefunden, das verstörte Kind zu beruhigen und zu trösten. Denn bei Hanna Martell hatte akute Lebensgefahr bestanden. Jede Minute hatte gezählt.

»Es ist schade, Antje. Aber vielleicht bekommt unsere Mutti nächstes oder übernächstes Jahr ein Baby. Im Augenblick wollen wir dankbar sein, dass ihr nichts zugestoßen ist.«

»Wird sie bald gesund sein? Ihr Gesicht sah ganz weiß aus in der Nacht.«

»Es wird nicht allzu lange dauern, Antje. Genau kann ich es heute nicht sagen. Vielleicht muss sie sich nachher ein bisschen erholen.«

Antje fasste allmählich Mut. »Die Hauptsache, es geht ihr dann wieder gut, Vati.«

»Ja, Kind. Aber jetzt musst du in die Schule.«

»Ich mag nicht, Vati.« Bittend schaute Antje zu dem Professor empor.

»Was willst du denn den ganzen Tag hier anfangen? In der Schule kommst du auf andere Gedanken. Heute Abend besuchst du dann Mutti.«

Antje fügte sich. »Aber es ist kein Frühstück da«, wandte sie nun unsicher ein.

»Lass dir in der Klinik Kakao und ein Butterbrot geben. Mittags kannst du auch drüben essen. Das ist das einfachste.«

»Ja, Vati.«

Antje holte ihre Schultasche und lief durch den Garten zum Klinikbau hinüber, denn sie musste sich beeilen, wenn sie rechtzeitig in der Schule sein wollte.

Klaus Martell sah dem Kind nach. Dann schloss er die Haustür und begab sich ins Wohnzimmer, wo er sich in einen der tiefen Ledersessel sinken ließ und müde den Kopf in die Hand stützte. Nun, da die unmittelbare Gefahr für seine geliebte Hanna vorüber war, kam bei ihm die Erschöpfung. Er hatte in der letzten Nacht nur eine Stunde geschlafen.

Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Die Fehlgeburt bedeutete auch für ihn eine herbe Enttäuschung. Wie sehr hatten Hanna und er sich einen Sohn gewünscht. Auch ein Töchterchen wäre ihnen willkommen gewesen. Nun war alle Hoffnung zerstört.

Klaus Martell zuckte nervös zusammen, als die Hausglocke ertönte. Unwillig stand er auf und ging zur Tür, um zu öffnen. Draußen stand Schwester Inge, seine tüchtige Oberschwester, mit einem Tablett.

»Sie müssen wenigstens frühstücken, Herr Professor«, erklärte sie.

Der Professor wusste, sie meinte es gut. Dass er im Moment keine Lust auf Toast, Ei, Schinken und Kaffee hatte, würde sie nicht verstehen.

»Danke, Schwester Inge. Das ist nett von Ihnen.« Er quälte sich die höfliche Antwort ab.

Schwester Inge achtete nicht darauf. Betulich trug sie das Tablett ins Esszimmer und deckte den Tisch für ihren Chef. Sie bestand darauf, dass er sich an den Tisch setzte und sie ihm die Tasse mit dem heißen Kaffee füllen konnte. Dann allerdings eilte sie davon, denn drüben in der Klinik wartete viel Arbeit auf sie.

Klaus Martell rührte nichts von dem, was auf dem Tisch stand an. Nicht einmal den Kaffee. Blicklos starrte er zum Fenster hinaus. Doch zwei Stunden später, als er mit seinen Ärzten Chefvisite abhielt, war ihm nicht mehr anzumerken, dass er eine anstrengende Nacht ohne Schlaf hinter sich hatte, die ihm persönlich eine große Enttäuschung gebracht hatte.

*

Hanna Martell rang sich ein Lächeln ab, als ihr Mann das Zimmer betrat. Sie sah immer noch blass und angegriffen aus, obwohl die Fehlgeburt nun schon drei Wochen zurücklag. Zwar hatte sie die Klinik schon nach acht Tagen verlassen können, doch machte sich der Professor um ihren Allgemeinzustand Sorgen. Auch Antje entging die Veränderung ihrer Mutti nicht. Sie klagte, dass es daheim nicht mehr so sei wie früher.

Klaus Martell beugte sich über Hanna und küsste sie. »Ich habe heute die genauen Untersuchungsbefunde vom Kollegen Heim bekommen, Hanna. Es ist alles in Ordnung mit dir.«

Müde hob sie die Schultern. »Davon war ich überzeugt, Klaus. Es ist nichts. Aber ich brauche wohl einige Zeit, um mich damit abzufinden.«

»Nimm es nicht so schwer, Hanna. Wir haben uns lieb. Das ist das Wichtigste. Und wir haben Antje.«

Sie griff nach seiner Hand. »Aber Antje ist nicht deine Tochter, Klaus. Ich war so glücklich, dass wir beide endlich ein Kind haben sollten. Zuerst sah es doch so aus, als würde uns Nachwuchs versagt bleiben. Immerhin sind wir seit mehr als sieben Jahren verheiratet.«

»Aus ärztlicher Sicht ist das nichts Ungewöhnliches, Hanna. Da du früher selbst Krankenschwester warst, solltest du es wissen. Deshalb besteht auch durchaus noch Hoffnung, dass du in absehbarer Zeit wieder ein Baby bekommst.«

Hanna nickte. »Ja, vielleicht. Trotzdem muss ich die Enttäuschung erst hinter mich bringen. Ich spüre, dass es für dich nicht weniger bitter ist. Du willst mich trösten. Das ist lieb von dir. Aber ein eigenes Kind hätte dich glücklich gemacht.«

»Ich habe Antje so lieb, als wäre ich ihr Vater, Hanna. Sie gehört zu dir. Hast du ihr eigentlich mal gesagt, dass sie aus deiner ersten Ehe stammt?«

»Nein, Klaus, bis jetzt nicht. Ich meine, wir sollten damit warten, bis sie älter geworden ist.«

»Meinetwegen braucht sie es gar nicht zu erfahren. Ich habe sie adoptiert und ihr meinen Namen gegeben. Sie besitzt alle Rechte eines erstgeborenen Kindes. Denkst du noch oft an ihren Vater?« Er setzte sich ihr gegenüber und sah sie aufmerksam an.

Hanna schüttelte mit erstaunlicher Entschiedenheit den Kopf. »Unsere Ehe war so kurz, Klaus. Wenige Tage vor Antjes Geburt erfuhr ich, dass Georg tödlich verunglückt war. Vorher hatte ich ihn acht Monate lang nicht mehr gesehen und kaum von ihm gehört. Die Expedition, mit der er in Afrika unterwegs war, befand sich im unwegsamen Hinterland. Da gab es keine Postverbindungen.«

»Arme Hanna. Du warst damals noch so jung. Als ich dich kennenlernte, hatte ich nichts als den Wunsch, dich glücklich zu machen. Das Schicksal ist damals gar zu hart mit dir umgesprungen.«

Hanna atmete tief auf. »Es ist vorbei, Klaus. Jetzt bin ich mit Antje glücklich bei dir. Du hast uns alles gegeben, was wir entbehren mussten. Dafür werde ich dir immer dankbar sein.«

»Ach, Hanna, wer redet von Dank? Erst an deiner Seite habe ich den Sinn des Lebens erkannt. Der berufliche Erfolg, die Genugtuung, keinen Schritt vom geraden Weg abzuweichen und seinen Namen jederzeit reinzuhalten, genügt nicht. Nein, ein Mann braucht mehr. Du hast mir das geschenkt, Hanna. Erst durch die Liebe wird unser Dasein reich und erfüllt.«

Hanna sah ihm ernst in die Augen. »Du hast so hohe Ideale und stellst viele Ansprüche. Genügt dir denn eine ehemalige Krankenschwester, die mit einem Tierpfleger aus dem Zoo verheiratet war?«

Der Professor sprang auf und legte die Hände auf Hannas Schultern. »Als ob es auf den Beruf des Menschen ankäme, Hanna. Kennst du mich so wenig? Ein Generaldirektor, der mit dem Gesetz in Konflikt gerät, ist in meinen Augen ein gemeiner Verbrecher, mit dem ich nichts zu tun haben möchte, es sei denn, er braucht meine Hilfe in meiner Eigenschaft als Arzt. Aber gegen den rechtschaffenen Tierpfleger Georg Pflug, den du geliebt hast, habe ich nicht das Geringste einzuwenden. Er war gut zu dir. Als er sich entschloss, mit Wissenschaftlern nach Afrika zu gehen, um die eingefangenen Tiere zu betreuen, bewies er, dass er weiterkommen wollte. Tragisch genug, dass sein Leben so früh endete. Für mich allerdings war es wohl ein vom Schicksal gesetztes Zeichen.« Er lächelte. »Du brauchst dich deiner ersten Ehe nicht zu schämen, Hanna. Georg Pflug war ein Ehrenmann, und Antje kann stolz auf ihren Vater sein, falls sie später einmal erfahren sollte, dass ich sie adoptiert habe.«

Hanna senkte die Lider. Ihr Gesicht wurde noch um einen Schein blasser. Doch Klaus Martell bemerkte nichts davon. Er strich ihr über das krause dunkle Haar, das Antje von ihr geerbt hatte. »Weißt du was?«, rief er halblaut aus. »Wir werden verreisen. Es wird uns beiden guttun, einmal andere Menschen um uns zu sehen und neue Eindrücke zu sammeln. Ich kann mich ganz gut für einige Wochen freimachen und werde mich gleich morgen erkundigen, wohin man um diese Zeit reisen kann.«

»Reisen, ja, das wäre wunderbar, Klaus. Wie ein ganz neuer Anfang. Aber was soll aus Antje werden? Sie kann hier nicht allein bleiben.«

»Stimmt. Daran habe ich nicht gedacht. Schwester Inge hat nicht genügend Zeit, um das Kind zu betreuen und zu beaufsichtigen. Außerdem möchte ich nicht, dass Antje ständig in der Klinik herumhockt.«

»Man müsste ein Kinderheim ausfindig machen«, überlegte Hanna. »Ich könnte Sigi anrufen. Sie hatte ihre Zwillinge im letzten Jahr in einem Heim untergebracht, als sie sich operieren lassen musste. Natürlich müsste man sicher sein, dass Antje sich dort wohlfühlt und dass sie in die Schule gehen kann.«

Die beiden beleuchteten den Plan von den verschiedensten Seiten. Sie fanden es verlockend, den Alltag und die Bitternis der eben erlebten Enttäuschung hinter sich zu lassen. Der spontan gefasste Vorsatz des Professors nahm festere Gestalt an. Er wollte sich mit einem Reisebüro in Verbindung setzen, während Hanna Erkundigungen über das Kinderheim einziehen sollte, in dem die Zwillinge ihrer Freundin Aufnahme gefunden hatten.

Der Professor erhoffte sich von der Abwechslung ein Verblassen der Erinnerungen an das, was eben geschehen war. Sein klarer Verstand sagte ihm, dass eine Fehlgeburt keine Katastrophe war. Selbst dann nicht, wenn seine Ehe doch kinderlos bleiben sollte, er liebte Antje innig und benötigte nicht unbedingt einen leiblichen Sohn oder eine Tochter, um seine Männlichkeit sichtbar bestätigt zu sehen. Derartiges Denken erschien ihm recht einfältig, nachdem er seinen anfänglichen Kummer überwunden hatte.

Klaus summte vergnügt eine Melodie vor sich hin, als er in die Küche ging, um das Abendbrot für seine kleine Familie herzurichten. Das war ein Amt, das er seit Hannas Klinikaufenthalt übernommen hatte und dem er sich mit besonderer Hingabe widmete.

Eine halbe Stunde später rief er Antje aus dem Garten, wo sie mit ein paar Kindern aus der Nachbarschaft gespielt hatte, ins Haus. Sie war heiß und schmutzig, ein fröhliches, unkompliziertes Kind. Das von ihrem Vati aufgetischte Mahl mundete ihr köstlich. Zwischen jedem Bissen plauderte sie und berichtete von den aufregenden Ereignissen des hinter ihr liegenden Tages.

»Ein Glück, dass wir Antje haben«, sagte der Professor später, als sie bereits zu Bett gegangen waren. »Dieses Kind ist ein Geschenk des Himmels.«

Hanna schmiegte sich in die Arme ihres Mannes.

»Du zitterst?«, fragte er bestürzt. »Ist dir kalt?«

»Ein wenig. Aber es wird gewiss gleich besser, Klaus.«

Er hielt sie, bis sie eingeschlafen war. Dann legte auch er den Kopf zurück und schloss die Augen.

*

Es war ein klarer Spätsommermorgen, der schon den Herbst ahnen ließ. Denise und Alexander von Schoenecker saßen mit ihren Söhnen am sonntäglich gedeckten Frühstückstisch. Nick bestrich sich soeben das dritte hausgebackene Brötchen mit Butter und Honig. Er befand sich mal wieder im Wachsen und hatte von früh bis abends Hunger.

»Heute Nachmittag kommen Prof. Martell und seine Frau, um uns ihre Tocher zu bringen«, berichtete Denise. »Es ist dir doch recht, Alexander, wenn ich das Ehepaar zum Tee hierher nach Schoeneich bitte?«

Der Gutsherr von Schoeneich lächelte seiner schönen dunkelhaarigen Frau zu. »Selbstverständlich, Isi. Auf diese Weise verbringst du wenigstens nicht den ganzen Sonntag drüben in Sophienlust.«

»Wenn sie doch nur am Sonntag Zeit haben, Vati«, wandte Nick ein. Er fühlte sich stets verpflichtet, sein geliebtes Sophienlust in Schutz zu nehmen.

»Wie alt ist die Neue?«, warf Henrik vorlaut ein. »Kommt sie in meine Klasse?«

»Sie ist acht Jahre alt. Möglich, dass sie im gleichen Schuljahr ist wie du, Henrik.« Denise nickte ihrem Henrik zu. »Allzu lange wird sie aber nicht bleiben.«

»Kein Ehekrach bei ihren alten Herrschaften? Meist steckt doch so etwas dahinter, wenn ein Kind bei uns abgegeben wird«, ließ sich der fünfzehnjährige Nick respektlos und altklug vernehmen, was ihm einen warnenden und vorwurfsvollen Blick seines Vaters eintrug.

»Frau Martell war sehr krank. Deshalb hat sie eine Erholungsreise dringend nötig, mein Junge.«

»Weißt du, wohin sie fahren wollen?«, lenkte Nick geschickt von seiner kleinen Entgleisung ab.

»Sie planen eine Mitttelmeerkreuzfahrt. Dazu hätten wir auch mal Lust, nicht wahr, Isi?«

»Aber leider keine Zeit und Möglichkeit, Alexander«, gab Denise heiter zurück. »Es wäre mir gar nicht lieb, so ganz von Schoeneich und Sophienlust abgeschnitten zu sein, wie das bei einer Seereise nun mal der Fall ist.«

»Vor allem Sophienlust, nicht wahr?«, neckte ihr Mann sie. »Den Kindern drüben im Heim gilt morgens dein erster Gedanke und abends dein letzter, ob du es nun zugeben willst oder nicht.«

Denise ergriff die Rechte ihres Mannes. »Ich gebe mir Mühe, weder dich und meine eigene Familie noch das Kinderheim zu kurz kommen zu lassen, Alexander.«

»Es war nur ein Scherz, Liebste. Ich weiß, dass ich keinen Grund zur Eifersucht habe. Außerdem bin ich selbst kaum weniger an den Ereignissen in Sophienlust interessiert und innerlich beteiligt als du.«

»Wenn du mal sehr alt bist, Mutti, kannst du dich hier in Schoeneich mit Vati zur Ruhe setzen«, erklärte Nick gönnerhaft. »Dann übernehme ich Sophienlust, und Henrik bewirtschaftet Schoeneich. Vielleicht auch Sascha. Oder beide zusammen.«

»Das hat noch gute Weile«, warf Alexander vergnügt ein. »Vorläufig ist unsere Mutti noch jung. Es ist ein Segen, dass sie dein Erbe so gut verwaltet, Nick. Wir müssen ihr dafür dankbar sein.«

»Wir haben sowieso die beste Mutti der Welt«, ließ sich Henrik vernehmen. Er stand auf und schmiegte sich eng an Denise. Mit seinem vom Honig ein wenig klebrigen Mund küsste er seine Mutter herzhaft und schallend.

»Dürfen wir nach Sophienlust?«, fragte Nick, der seine Mahlzeit nun beendet hatte. »Ich habe Pünktchen und Irmela versprochen, mit ihnen heute auszureiten, wenn gutes Wetter ist.«

Selbstverständlich wurde den Brüdern diese Erlaubnis erteilt. Das Kinderheim, Nicks Erbe nach dem Vermächtnis seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin, übte stets eine besondere Anziehungskraft auf Nick und Henrik aus. Nick nahm regen Anteil an allem, was Sophienlust betraf. Dankbaren Herzens sah Denise, dass er in die ihm vom Schicksal bestimmte Aufgabe mehr und mehr hineinwuchs.

Nach dem Willen von Nicks Urgroßmutter war aus dem früheren Herrenhaus des schönen Gutes eine Zufluchtsstätte für in Not geratene Kinder geworden. Aber auch Erwachsene fanden dort gelegentlich Aufnahme. Das vorhandene Vermögen erlaubte es auch, Bedürftige ohne Rücksicht auf deren finanzielle Verhältnisse aufzunehmen.

Vom Fenster aus blickte das Ehepaar von Schoenecker den beiden Buben nach, die mit ihren Fahrrädern in Richtung Sophienlust entschwanden. Alexander schlang den Arm um Denise, küsste sie und sagte: »Mir kommt es vor, als hätten wir erst gestern geheiratet. Wenn ich mir unseren Henrik anschaue, will es mir einfach nicht in den Sinn, dass er inzwischen ein Schuljunge geworden ist.«

»Nick war fünf, als Sophie von Wellentin starb und ihn als Universalerben einsetzte, Alexander. Wenn du rechnen kannst …«

»Schau in den Spiegel, Denise. Du bist so schlank wie ein junges Mädchen, hast kein einziges graues Haar, und deine Augen haben nichts von ihrem wunderbaren Glanz verloren.« Er küsste sie noch einmal. »Ich liebe dich, Denise. Vielleicht sage ich es dir nicht oft genug. Mit dir ist die Freude am Dasein in mein Leben zurückgekehrt. Was du für meine großen Kinder getan hast, werde ich dir niemals vergessen.«

»Es sind unsere Kinder, nicht anders als Nick und Henrik«, verbesserte Denise ihn flüsternd. »Ich mache da schon lange keinen Unterschied mehr. Zu danken habe ich dir, Alexander. Nick erblickt in dir den Vater. Ich weiß nicht, ob ich allein immer mit unserem lebhaften, eigenwilligen Filius fertig geworden wäre, der seinen leiblichen Vater nie gesehen hat.«

»Danken wir gemeinsam dem Schicksal, das uns zusammengeführt hat, nachdem jeder von uns den geliebten Partner durch den Tod verloren hatte, Denise. Übrigens, um auf das Gespräch am Frühstückstisch zurückzukommen. Hat Nick mal wieder eine besondere Nase? Stimmt etwas nicht bei Prof. Martell und seiner Frau? Eine Mittelmerkreuzfahrt macht nicht unbedingt gleich die Heimunterbringung des Töchterchens erforderlich.«

Denise lachte. »Frau Martell hat mir ausführlich geschrieben. Da sie keine Hausangestellte hat, wäre die kleine Antje darauf angewiesen in der Klinik ihres Mannes versorgt zu werden. Beide Eltern hielten eine solche Regelung nicht für gut. Da die Familie außerdem mit dem Schock, den die Fehlgeburt für alle bedeutete, noch nicht ganz fertig geworden ist, wünschte sich Frau Martell für Antje einen Milieuwechsel und eine fröhliche Kameradschaft mit anderen Kindern.«

»Das klingt einleuchtend. Um ehrlich zu sein, ein Fall ohne Probleme ist mir weit lieber. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Kinder, die in Sophienlust Aufnahme finden, ihr Schicksal mitbringen. Wie sehr dich das immer wieder beansprucht, weiß niemand besser als ich. Die letzten Wochen waren friedvoll und ohne Stürme. Ich möchte, dass es so bleibt. Du verausgabst dich sonst zu stark.«

»Dass du dich ständig um mich sorgst! Dabei hast du mir eben noch versichert, dass ich jung bin. Ich halte viel aus, wenn es sein muss, Alexander.«

Er bot seiner Frau den Arm. Seite an Seite verließen sie das Gutshaus, um einen Gang durch den Park zu unternehmen.

*

Antje fand, dass das Herrenhaus von Sophienlust wie ein Schloss aussehe.

»Dann gefällt es dir hoffentlich, Liebling«, sagte Hanna Martell.

»Ich glaube schon«, erwiderte das Kind unbekümmert. »Schau, sie scheinen uns zu erwarten.«

Der Wagen näherte sich dem Gutshaus, vor dem eine Gruppe von Kindern versammelt war und begeistert winkte und rief.

»Willkommen in Sophienlust – herzlich willkommen!«

Der Professor ließ das Auto ausrollen und zog die Bremse an. Zwei Jungen öffneten die Wagentüren zu beiden Seiten. Klaus und Hanna stiegen aus. Antje folgte ihnen ohne die geringste Verlegenheit.

»Das nenne ich einen festlichen Empfang«, freute sich Klaus Martell.

Der hochaufgeschossene Bub mit den dunklen Locken und den lebhaften dunklen Augen, der ihm beim Aussteigen behilflich gewesen war, nahm seine Hand und verbeugte sich. »Wir freuen uns, dass Sie da sind, Herr Prof. Martell. Ich bin Dominik von Wellentin-Schoenecker, und dies ist mein Bruder Henrik. Das Mädchen neben Ihrer Tochter ist Pünktchen, direkt hinter ihr steht Irmela …«

»Halt, das kann ich mir sowieso nicht merken, Dominik. Wir möchten zu deiner Mutter, wenn es recht ist.«

Nick nahm nun auch Hannas Rechte und verbeugte sich ein zweites Mal. Zuletzt schüttelte er Antje kameradschaftlich die Patschhand.

»Mutti erwartet Sie im Biedermeierzimmer. Ich führe Sie zu ihr.«

Die übrigen Kinder hielten sich im Hintergrund.

»Wenn du magst, zeige ich dir dein Zimmer, Antje«, schlug Henrik vor. »Meine Mutti hat gesagt, dass wir vielleicht in dieselbe Klasse kommen.«

Antje war sofort einverstanden. Hanna Martell konnte mit Beruhigung feststellen, dass ihre allzeit zu neuen Abenteuern bereite Tochter sich schon nach ein paar Minuten in Sophienlust wohlzufühlen schien.

Nick geleitete die Gäste durch die schöne Eingangshalle des Hauses in das stilgerecht eingerichtete Biedermeierzimmer, das einst der Lieblingsaufenthalt seiner Urgroßmutter gewesen war. Denise hatte den Raum zum Gedenken an Sophie von Wellentin so gelassen, wie er zu deren Lebzeiten ausgesehen hatte. Hier pflegte sie Gäste zu empfangen, hier schrieb sie gelegentlich am Kirschbaumsekretär ihre Briefe, und hier hielt sie oft stumme Zwiesprache mit dem überaus lebensechten Ölgemälde, das die gütige alte Dame darstellte, die ihrem Urenkel Dominik alles hinterlassen hatte, was sie ihr eigen genannt hatte.

»Wie hübsch!«, rief Hanna unwillkürlich aus, als sie das Zimmer betrat. »Man stellt sich ein Kinderheim ganz anders vor.«

Denise ging ihr mit ausgestreckten Händen entgegen. »Wir konnten aus dem schönen alten Gutshaus nicht alles hinauswerfen, was sein eigentliches Wesen ausmachte. Unsere Kinder sind glücklich in dieser Umgebung. Selbstverständlich haben wir die Schlafzimmer modern ausgestattet und ausreichende sanitäre Einrichtungen installieren lassen. Ich heiße Sie herzlich willkommen, Frau Martell.«

Der Professor küsste Denise die Hand. In seinen Augen las sie Bewunderung. Denise kannte das. Nicht nur das kostbare Biedermeierzimmer bedeutete für Fremde eine Überraschung. Im allgemeinen stellten sie sich auch unter der Besitzerin eines Kinderheimes eine gänzlich andere Frau vor als sie es war.

Nick zog sich zurück, wenn auch ein wenig zögernd. Am liebsten hätte er am Gespräch der Erwachsenen teilgenommen. Aber seine Mutter gab ihm mit den Augen einen Wink, dem er sich fügen musste. Dadurch festigte sich seine am Morgen geäußerte Vermutung, dass es mit Antjes Eltern eine besondere Bewandtnis haben müsse.

»Ich hoffe, Sie hatten eine glatte Fahrt«, sagte Denise indessen. »Es tut mir leid, dass Sie für Ihre schöne Reise einen so betrüblichen Anlass haben, liebe Frau Martell. Ich hoffe zuversichtlich, dass Sie sich gründlich ausruhen und erholen können. Sie dürfen versichert sein, dass wir Antje liebhaben werden.«

»Wo steckt unsere Tochter eigentlich?«, ließ sich der Professor vernehmen.

»Die Kinder wollten ihr das Zimmer, in dem sie schlafen wird, zeigen. Ich bin froh, dass sie gleich mitgegangen ist, Klaus. Das erspart uns manchen Kummer.«

»Es ist das erstemal, dass Sie sich von Antje trennen?«, warf Denise verständnisvoll ein.

»Ja. Es fällt mir wirklich nicht leicht«, gab Hanna offen zu. »Andererseits sehe ich ein, dass ich diese Reise dringend benötige. Die Zeit geht ja vorüber.« Sie unterdrückte einen Seufzer.

Klaus Martell nahm die Hand seiner Frau. »Es ist für ein Kind von Vorteil, wenn es einmal für eine Weile auf sich selbst gestellt ist. Antje findet hier Geborgenheit und einen Kreis von netten Kindern. Es wird ihr bestimmt an nichts fehlen.«

»Hin und wieder lebt sich ein Kind schwer ein. Doch ich kann sagen, dass das die Ausnahme ist. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, liebe Frau Martell. Falls Antje Lust hat, kann sie auf unseren Ponys reiten lernen und sich ein wenig mit dem Landleben vertraut machen. Für Stadtkinder bedeutet das meist eine große Attraktion. Außerdem haben wir in Bachenau bei meiner verheirateten Tochter noch etwas Besonderes zu bieten.«

»Das Tierheim?«, warf Hanna lebhaft ein. »Die Kinder meiner Freundin sollen von nichts anderem erzählt haben.«

»Mein Schwiegersohn ist Tierarzt. Meine Tochter hat das Tierheim auf dem großen Gelände des Gartens angelegt. Inzwischen hat es schon einige Berühmtheit erlangt. Für unsere Kinder ist es jedes Mal ein Ereignis, wenn sie meine Tochter besuchen dürfen, wobei man schwer entscheiden kann, ob es das Tierheim oder Andrea’s Apfelkuchen ist, der die größere Anziehungskraft ausübt.«

»Eine verheiratete Tochter hätte ich Ihnen beim besten Willen nicht zugetraut«, meinte der Professor kopfschüttelnd.

»Andrea ist meine Stieftochter. Sie und ihr Bruder Sascha stammen aus der ersten Ehe meines Mannes. Auch ich war verwitwet, als ich meinen Mann kennenlernte. Daraus erklärt sich Nicks Doppelname. Nick ist, genaugenommen, ein Wellentin.«

»Es ist schön, wenn sich alles so glücklich fügt«, versetzte Hanna sehr leise.

»Henrik ist unser Jüngster«, ergänzte Denise ihren Bericht. »Er ist ein Schoenecker und gleicht seinem Vater. So ist für uns ein Wunsch offengeblieben.«

»Uns ist …, ist die Hoffnung auf ein zweites Kind nicht erfüllt worden«, brachte Hanna mühsam hervor.

»Aber Sie haben ja Antje. Ich freue mich darauf, Ihr Töchterchen kennenzulernen. Ich meine auch, dass die erlittene Fehlgeburt Sie nicht entmutigen sollte, Frau Martell. Die Wege unseres Schicksals sind oft verschlungen. Doch am Ende lernen wir meist zu begreifen, dass nichts ohne Sinn geschieht, selbst dann nicht, wenn es uns schmerzlich erscheint.«

Hanna sah Denise mit einem seltsamen Blick an und schwieg. Denise konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass diese sympathische junge Frau ihr etwas verschwieg. Sie lenkte auf allgemeinere Themen über und fragte nach besonderen Wünschen der Eltern in Bezug auf ihre Tochter. Gar bald waren alle wesentlichen Punkte geklärt. Denise schlug vor, einen kurzen Rundgang durch Sophienlust zu machen und zum Tee nach Schoeneich zu fahren.

Sie trafen Antje im Kreis der Kinder bei den Ponys. Denise umarmte ihren neuen Schützling. »Ich freue mich, dass du ein Weilchen bei uns bleiben willst, Antje. Wenn du magst, kannst du mich Tante Isi nennen. So rufen mich alle unsere Kinder.«

Antje blickte in die dunklen Augen, die Wärme und Herzensgüte ausstrahlten. »Es gefällt mir in Sophienlust, Tante Isi«, erklärte sie freimütig. »Darf ich wirklich reiten auf den kleinen Pferdchen?«

»Natürlich darfst du. Die Ponys sind für euch da.«

»Gibt es das Tierheim Waldi & Co. wirklich? Oder hat Henrik das bloß so erzählt?«

Denise strich über Antjes krausen Scheitel. »Warum sollte Henrik dich beschwindeln? Du wirst staunen, wenn du zum erstenmal nach Bachenau zu Tante Andrea kommst.«

»Henrik sagt, sie hat schon ein Baby. Er ist ein richtiger Onkel des kleinen Buben. Das glaube ich einfach nicht.«

»Es stimmt, Antje. Meine große Tochter Andrea ist verheiratet und hat ein Söhnchen. Henrik ist der Onkel des kleinen Peterle.«

Der Professor interessierte sich währenddessen für den landwirtschaftlichen Betrieb von Sophienlust. Nick, der rundum gut Bescheid wusste, erzählte ihm bereitwillig, dass sein Vater das Gut zusammen mit Gut Schoeneich bewirtschaftete.

Klaus Martell legte den Arm um Hannas Schultern. »Ich wünschte, ich wäre als Junge auch mal in einem solchen Heim gewesen. Großartig finde ich es. Wir werden wahrscheinlich später unsere liebe Not haben, Antje von hier wegzuholen.«

Antje, die diese Worte hörte, lachte. »Wenn ihr zurückkommt, möchte ich wieder nach Hause. Aber solange unser Haus leer ist, bleibe ich lieber in Sophienlust.«

Wenig später erfolgte ein Aufbruch nach Schoeneich.

Als Hanna ihr Töchterchen zum Wagen rief, erlebte sie eine kleine Überraschung. »Nick und Henrik haben mir verraten, dass es hier heute Schokoladentorte gibt, Mutti«, sagte Antje. »Bist du böse, wenn ich nicht mitfahre?«

Hanna sah Denise von Schoenecker ein bisschen hilflos an. Diese nickte ihr zu. »Lassen Sie die Kleine nur zurück, Frau Martell. Die Schokoladentorte unserer Köchin ist durch nichts in der Welt zu übertreffen. Meine Söhne jedenfalls lassen sich diesen Festschmaus gewiss nicht entgehen.«

Antje seufzte erleichtert auf und ging mit den Kindern in den Speisesaal.

*

»Es hat etwas Besonderes, dieses Sophienlust«, erklärte der Professor eine halbe Stunde später in Schoen­eich am gemütlichen Kaffeetisch.

»Das ist der Verdienst meiner lieben Frau«, erwiderte Alexander von Schoenecker. »Es weht eine besondere Luft in diesem alten Herrenhaus. Unser Nick nennt es deshalb das Haus der glücklichen Kinder. Tatsächlich ist es eine erstaunlich harmonische und heile Welt, die da entstanden ist.«

»Ich glaube, es ist der Geist der Sophie von Wellentin, Alexander. Ohne ihr Testament wäre das Heim niemals entstanden.«

»Meine Frau stellt ihr Licht stets unter den Scheffel«, beklagte sich Alexander.

Als Denise die Tassen zum zweitenmal füllte, fuhr draußen ein Wagen vor. Am Arm ihres Mannes betrat kurz darauf eine bildhübsche Frau mit dunklem Haar die Wohnhalle.

»Das ist unsere Andrea. Darf ich bekannt machen? Dr. von Lehn, unser Schwiegersohn. Prof. Martell und seine Frau, deren Tochter Antje seit ein paar Stunden in Sophienlust ist.«

Andrea von Lehn ließ sich von ihrem Vater umarmen und küsste ihre Mutter. Es wurden neue Teetassen gebracht und zwei weitere Stühle in den Kreis gerückt.

Hanna fragte sofort nach dem Tierheim, von dem Andrea, die begeisterte Tierliebhaberin, nur zu gern berichtete.

»Meine Antje liebt Tiere über alles, Frau von Lehn. Sie wird sicher oft bei Ihnen auftauchen.«

»Das tun die meisten Kinder aus Sophienlust. Ich bin froh darüber. Auf diese Weise verliere ich den Kontakt nicht. In gewisser Weise möchte man für immer dazugehören.«

Hans-Joachim von Lehn lachte. »Ich hatte einst meine liebe Not, meine Andrea von Sophienlust loszueisen.

Andrea wurde rot. »Du schwindelst, Hans-Joachim.«

Das junge Ehepaar tauschte verliebte Blicke. Es war unschwer zu erraten, dass die bezaubernde Andrea ihrem Hans-Joachim nur zu gern in die Ehe gefolgt war.

Denise fragte nach Peterle, dem Nachwuchs der Familie. Die stolzen Eltern überboten sich in begeisterten Schilderungen über die unglaublichen Fortschritte des Kronprinzen. Man war sich darüber einig, dass Andrea’s Erstgeborener ein absolutes Wunderkind sei.

Hanna wurde ein wenig traurig. Der Verlust, den sie erlitten hatte, kam ihr wieder zum Bewusstsein. Wie hatten sie und ihr Mann sich auf das Baby gefreut.

Die feinfühlige Denise merkte, dass Antjes Mutter schwermütigen Gedanken nachhing, und lenkte rasch auf andere Themen über.

Gegen sechs Uhr erfolgte der allgemeine Aufbruch. Andrea musste zurück, um ihr Baby für die Nacht zu versorgen. Sie hatte Peterle in der Obhut ihres zuverlässigen Hausmädchens zurückgelassen. Sein Fläschchen aber sollte der Kleine von der Mutter erhalten.

Klaus Martell und Hanna mussten ebenfalls nach Hause. Sie wollten jedoch zuvor noch kurz nach Sophienlust, um sich von Antje zu verabschieden. Bereits am übernächsten Tag sollten sie in Genua an Bord des Schiffes gehen.

Hanna Martell verabschiedete sich mit ernstem, blassem Gesicht von Denise und Alexander von Schoenecker.

»Fällt ihr die Trennung von dem Kind so schwer?«, fragte Alexander, nachdem der Wagen des Professors abgefahren war.

Denise hob die Schultern. »Ich weiß nicht recht. Eher würde ich meinen, dass sie einen heimlichen Kummer mit sich herumträgt. Vielleicht ist es aber nur die Folge der Fehlgeburt. Hoffen wir, dass sie sich gut erholt und mit klaren, frohen Augen zurückkehrt, Alexander.«

»Der Professor liebt seine Frau«, setzte ihr Mann seine Betrachtungen fort. »Die Ehe ist in Ordnung, soweit man das beurteilen kann. Insofern hat unser lieber Nick mal wieder ein bisschen zu viel Fantasie investiert.«

»Du hast dich ausführlich mit Herrn Martell unterhalten. Ich hatte dazu nicht viel Gelegenheit. Er ist dir sympathisch?«

»Ja, durchaus. Sicher ist er ein ausgezeichneter Mediziner. Allerdings hat er einen etwas übertriebenen Ehrbegriff. Als ich zufällig erwähnte, dass dir die Herkunft der Sophienluster Kinder grundsätzlich gleichgültig sei, fand er das unverständlich. Er fragte sogar, ob zurzeit Kinder im Heim seien, die aus schlechten oder undurchsichtigen Verhältnissen stammen.«

»Meine Güte! Was soll denn das heißen?«, rief Denise leicht amüsiert aus. »Gerade solche Kinder brauchen Geborgenheit und Liebe.«

»Er meinte wohl nicht unbedingt asoziale Eltern. Ihm ging es darum, dass die Väter und Mütter nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten sein sollten. Nun, auch dafür kann man kaum die Hand ins Feuer legen. Trotzdem konnte ich ihm mit gutem Gewissen versichern, dass wir unsere Kinder nicht gerade aus den Gefängnissen holen. Das schien ihn zu beruhigen. Erstaunlich, dass ein moderner Mann, der durch seinen Arztberuf mitten im Leben stehen sollte, so starre Begriffe von Moral und Ehre hat.«

»Zu verurteilen ist er deshalb nicht. Allerdings besteht bei seinen Ansichten die Gefahr, dass er allzu schnell bereit ist, den Stab über andere zu brechen, wenn sie seinen hohen Anforderungen nicht genügen.«

»Da hast du wohl recht. Er verachtet die Leute, die sich etwas zuschulden kommen lassen. Er behauptet ja auch, dass an jeder Klatscherei und üblen Nachrede ein Körnchen Wahrheit sei.«

Denise schlug die Hände zusammen. »Ich halte den Professor für ein kleines bisschen überspannt. Möglich, dass ihm eines Tages eine Lehre erteilt wird. Menschen, die gar so sehr auf Ehre und Wahrhaftigkeit pochen, erleiden im allgemeinen irgendwann Schiffbruch.«

»Das wollen wir den Martells nicht gerade auf ihrer Kreuzfahrt wünschen«, scherzte Alexander »Da kommen die Jungen.«

Nick und Henrik stellten ihre Räder ein und stürmten ins Haus. Sie berichteten, dass Antje unter Nicks Anleitung ihren ersten Reitversuch unternommen und sich dabei sehr geschickt angestellt habe.

»Hat es einen Abschied mit Tränen gegeben, als ihre Eltern wegfuhren?«, erkundigte sich Denise.

Nick schüttelte den Kopf. »Antje hat ihnen nachgerufen, sie können so lange verreisen, wie sie wollten. Ist doch klar, dass es ihr in Sophienlust gefällt.«

»Wo sie sogar in meine Klasse kommt«, fügte Henrik hinzu.

Seine Eltern lachten.

»An Minderwertigkeitskomplexen leidet unser Henrik nicht«, stellte Alexander fest und fuhr seinem Jüngsten über das stets wuschelige Haar.

»Was ist das? Eine Krankheit?«, fragte Henrik misstrauisch.

»So etwas Ähnliches«, ließ sich Nick vernehmen. »Es ist das Gegenteil von Größenwahn.«

»Du spinnst«, beschwerte sich Henrik und wollte auf seinen großen Bruder losgehen.

Nick hielt Henriks geballte Fäuste fest. »Reg dich nicht auf, Kleiner. Du bist schon in Ordnung. Antje freut sich nämlich wirklich, dass sie in deine Klasse kommt.«

Da war der streitlustige Bub schon wieder versöhnt und erkundigte sich, was es zum Abendessen gebe.

*

»Ich glaube, ich finde mich nie auf diesem Schiff zurecht, Klaus. Vorhin musste mir ein Steward den Weg zum Schwimmbad zeigen. Ich hatte schon Angst, dass du dich sorgen würdest.«

Klaus Martell lag in der Sonne und lachte seiner Frau entgegen. Seine Haut war bereits dunkel gebräunt. Auch Hanna, die sich eben ihren Badeanzug geholt hatte, wirkte frisch und hatte gesunde Farbe bekommen. Das Wetter meinte es so gut, wie der Prospekt versprochen hatte.

Hanna ließ sich an der Seite ihres Mannes nieder. »Du verwöhnst mich wie eine Fürstin, Klaus. Ich hätte nie geglaubt, dass eine Schiffsreise so luxuriös ist. Heute Abend ist wieder eine Festveranstaltung. Ein Glück, dass du mich noch zum Kauf der beiden neuen Gesellschaftskleider überredet hast. Ich hatte mir eingebildet, dass ich sie gar nicht brauchen würde.«

»Macht es dir wenigstens Spaß?« Klaus strich seiner Frau zärtlich über den Oberarm. »Ich muss gestehen, dass ich jede Minute dieser Seereise genieße. Schon die absolute Gewissheit, dass ich telefonisch für die Klinik nicht erreichbar bin, macht mich glücklich.«

»Du brauchst dir ja auch keine Sorgen zu machen. Dein Vertreter ist zuverlässig, und Schwester Inge sorgt dafür, dass alles wie am Schnürchen funktioniert.«

»Ja, Hanna. Ich habe in den letzten Jahren nie richtig ausgespannt. Das merkt man erst, wenn man mal zur Ruhe kommt. Wollen wir schwimmen?«

Hanna war sofort einverstanden. Klaus Martell und seine Frau fühlten sich unbeschwert und jung. Sie tobten im Schwimmbecken herum wie Schulkinder, veranstalteten ein Wettschwimmen und lachten so herzlich, dass man sie für ein Paar auf der Hochzeitsreise hätte halten können.

Tatsächlich bildete sich auch bei einigen Mitreisenden diese Überzeugung. Das Ehepaar Thomas und Michaela Wolfsen aus Lüneburg, vor genau einer Woche getraut, nahm es mit Bestimmtheit an. Nachdem Klaus und Hanna sich abgetrocknet hatten und wieder faul und zufrieden in der Sonne schmorten, lagen die Wolfsens neben ihnen.

Michaela blinzelte Hanna wie einer Verschworenen zu.

»Wann haben Sie geheiratet, Frau Martell?«, fragte sie.

Hanna war verblüfft. »Vor mehr als sieben Jahren. Warum wollen Sie das unbedingt wissen?«

Die Wolfsens lachten laut. »Wir dachten, Sie kämen gerade vom Standesamt, wie wir.«

»Nehmen Sie sich ein Beispiel an uns«, mischte sich Klaus Martell in bester Laune ein. »Wir sind nach sieben Jahren noch so verliebt wie in den Flitterwochen. Viel Glück übrigens.«

Nachdem das Gespräch einmal in Gang gekommen war, plauderte man weiter miteinander, bis es Zeit wurde, sich zum Lunch anzukleiden. Der Professor schlug vor, für den Tanzabend einen gemeinsamen Tisch reservieren zu lassen, sofern das Ehepaar Wolfsen nichts dagegen hätte.

»Wunderbar«, freute sich Thomas Wolfsen. »Da wir alle auf der Hochzeitsreise sind, müssen wir fest zusammenhalten.«

»Wenn Sie es oft genug sagen, fangen wir an, es zu glauben«, gab Hanna vergnügt zurück.

Beim Mittagessen sahen sie das junge Paar nicht. Dafür entdeckte Hanna an einem entfernten Tisch einen Mann, der ihr bekannt vorkam. Leider kehrte er ihr den Rücken zu. Im Laufe des Gesprächs mit Klaus vergaß sie dann den flüchtigen Eindruck wieder.

Den Nachmittag verbrachten Klaus und Hanna Martell mit einigen der beliebten Bordspiele. Auf die Buchung eines Landausflugs in Tanger, wo am nächsten angelegt werden sollte, verzichteten sie. Sie fanden, dass ein solcher Ausflug nur anstrengend sein würde. Schließlich wollten sie sich in erster Linie erholen.

Für den Festabend kleidete sich Hanna dann mit besonderer Sorgfalt an. Das fließende lange Kleid aus schwerer Seide saß wie angegossen und ließ sie wahrhaftig sehr jung erscheinen. Zu dem zarten Gelb sah der alte Granatschmuck, der von der Mutter ihres Mannes stammte, besonders prächtig aus. Die dunkelroten Steine leuchteten beinahe wie Rubine.

Klaus Martell trug einen weißen Smoking.

»Du wirst ein paar Herzen brechen, Klaus«, scherzte Hanna.

»Du meine Güte, ich bin ein alter Herr mit zweiundvierzig Lenzen auf dem Buckel. Bei dir ist das schon gefährlicher.«

»Ich bin dreißig, Klaus, wenn ich dich daran erinnern darf. Auch kein Teenager mehr.«

»Die schönsten Jahre einer Frau. Komm, wir wollen die Wolfsens nicht warten lassen. Dass sie uns für Flitterwöchner gehalten haben, macht mir wirklich Spaß.«

Sie trafen gleichzeitig mit dem anderen Paar ein. Der Tisch war wunschgemäß reserviert worden, und ein Steward beeilte sich, das erste Glas eisgekühlten Champagner zu servieren, das die Stimmung der Passagiere beflügeln sollte.

»Solch eine Reise müsste ewig dauern«, schwärmte Michaela Wolfsen.

»Das Schöne daran ist ja gerade, dass man so etwas nicht immer haben kann«, wandte Hanna ein. »Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, verliert gewiss sogar eine Kreuzfahrt an Reiz.«

»Wie weise Sie sind, Frau Martell. Darf ich auf Ihr Wohl trinken?«, sagte Thomas Wolfsen.

Hanna fühlte sich so glücklich wie noch nie zuvor. Sie lächelte ihrem Mann zu, der eben Michaelas Armband bewunderte.

»Ein Hochzeitsgeschenk, Prof. Martell«, berichtete die blutjunge Frau mit leuchtenden Augen. »Es ist sehr wertvoll. Meine Mutter wollte eigentlich nicht, dass ich es auf diese Reise mitnehme. Aber wozu hat man schönen Schmuck, wenn man ihn nicht trägt? Ich gebe schon darauf acht. Wenn das Armband bloß im Safe liegt, freut sich kein Mensch daran.«

Hanna betrachtete das kunstvoll gearbeitete Stück mit einiger Ehrfurcht. Es war mit großen Brillanten und herrlichen Saphiren besetzt und sicherlich ein Vermögen wert.

Die Band begann zu spielen. Allmählich füllte sich der Saal. Am überreich beladenen Büfett konnte man die köstlichsten Gerichte selbst auswählen.

»Wie im Schlaraffenland«, sagte Hanna begeistert. »Ich habe mir das alles nicht träumen lassen.«

Klaus Martell war glücklich über die unbefangene Freude seiner Frau. Er wusste, wie einfach und entbehrungsreich ihre Kindheit gewesen war. Eine entfernte, ältliche Verwandte hatte das verwaiste Kind bei sich aufgenommen. Es hatte an Geld gefehlt und die Tante hatte eine Stellung annehmen müssen, damit sie nicht beide verhungert waren. Hanna hatte im Haushalt helfen müssen und kaum Kontakt zu anderen Kindern gehabt. Die Tante hatte es auf ihre Art gut gemeint, doch sie hatte nicht gewusst, dass das Kind innerlich vereinsamt und tief unglücklich gewesen war.

Nach Beendigung der Schule war Hanna Krankenschwester geworden. Die Berufswahl hatte die Tante getroffen, weil das Mädchen auf diese Weise sofort Unterkunft, Verpflegung, Kleidung und sogar ein Taschengeld erhalten hatte. Noch ehe Hanna das Examen abgelegt hatte, war die Tante gestorben.

Im Krankenhaus hatte Hanna dann ihren ersten Mann kennengelernt, Antjes Vater. Doch das Glück war ihr nicht treu geblieben. Georg Pflug war gestorben, und Hanna war nichts anderes übriggeblieben, als in ihren Beruf zurückzukehren, obwohl das Kind dagewesen war, das sie notgedrungen in einem Säuglingsheim untergebracht hatte.

Die Begegnung mit ihm selbst hatte dann für sie die Schicksalswende gebracht. Doch auch er, bis dahin ein Einzelgänger, hatte erkannt, dass er sein Glück gefunden hatte.

»Wenn es dir nur Freude macht, Hanna«, antwortete er aus seinen Gedanken heraus. »Soll ich dir auch einmal einen so wertvollen Schmuck schenken, wie Frau Wolfsen ihn trägt?«

Hanna wurde vor Schreck ein bisschen blass. »Das wäre zu kostbar, Klaus. Ich hätte immer Angst, dass ich den Schmuck verlieren könnte.«

»Du musst mehr Selbstvertrauen haben, Hanna. Wenn wir zurück sind, werden wir uns in Frankfurt in den Juweliergeschäften umsehen. Der Granatschmuck ist zwar schön, aber ich sehe, dass die Damen Brillanten, Smaragde, Rubine und Saphire bevorzugen. Du sollst nicht zurückstehen.«

»Edelsteine sind etwas Herrliches, Klaus. Aber deine Liebe ist mir tausendmal wertvoller«, flüsterte Hanna ihm zu. »Komm, wir wollen wieder an unseren Tisch gehen. Sonst glauben die Wolfsens, dass wir über sie tuscheln.«

Heiter kehrten sie zu den neuen Freunden zurück, die nun ihrerseits aufbrachen, um sich am Büfett die Teller zu füllen. Hanna hatte inzwischen einen gewissen Blick für Schmuck bekommen und stellte fest, dass ihr Mann mit seiner Behauptung nicht unrecht hatte. Die Damen trugen tatsächlich durchweg wertvollen und ausnehmend schönen Schmuck. Trotzdem fand sie ihren eigenen Granatschmuck, der aus mehreren Teilen bestand, daneben nicht armselig.

Das Essen zog sich in die Länge. Man plauderte, trank eisgekühlten Wein und genoss den festlichen Abend, der alle Passagiere verzauberte und sie den Alltagssorgen entrückte.

Beim Tanz, der erst spät begann, erblickte Hanna dann jenen Mann, der ihr schon mittags aufgefallen war, zum zweiten Mal. Diesmal konnte sie sogar sein Gesicht erkennen. Doch es gelang ihr beim besten Willen nicht, sich daran zu erinnern, wer er sein könnte.

Erst in der Nacht, als sie neben ihrem Mann in der komfortablen Kabine ruhte, kam es wie ein jäher Schrecken über sie. Sie zuckte zusammen und hielt sogleich den Atem an, denn sie wollte nicht, dass ihr Mann etwas bemerkte. Doch sie brauchte sich nicht zu sorgen. Klaus Martell hatte reichlich von dem guten Wein getrunken und schlief ganz tief. Hanna aber lag wach und starrte in die Dunkelheit.

Kein Zweifel! Der Fremde hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Georg Pflug, ihrem ersten Mann.

Es ist Unsinn, versuchte sie ihre Unruhe zu beschwichtigen. Georg trug weder einen Bart, noch hätte er jemals zu den Passagieren eines Luxusdampfers gehört. Außerdem lebte er ja nicht mehr.

Hanna faltete die Hände über ihrem wild schlagenden Herzen. Georg Pflug! Er war Patient in der Chirurgie gewesen. Ein Panther hatte ihn mit einem Prankenhieb gefährlich verletzt. Doch die Wunde hatte erstaunlich schnell geheilt. Denn Georg war kerngesund und sehr robust. Trotzdem hatte sich genügend Zeit gefunden, um zwischen dem Tierpfleger aus dem Zoo und der jungen, erst kürzlich examinierten Schwester eine Zuneigung entstehen zu lassen.

Wie selig war Hanna gewesen. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie mit Liebe umgeben worden. Georg Pflug hatte stürmisch um sie geworben und ihr den Verlobungsring an dem Tage an den Finger gesteckt, an dem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Schon zwei Wochen später hatten sie geheiratet. Georg Pflug hatte eine winzige Wohnung unweit des Zoos gehabt. Hanna hatte ihre Anstellung als Schwester aufgegeben und sich bemüht, aus der ziemlich verwahrlosten Behausung ihres Mannes ein kleines Schmuckstück zu machen.

Etwa einen Monat nach der Hochzeit war dann das bittere Erwachen gekommen. Ein Polizeibeamter in Zivil war in die Wohnung gekommen und hatte der entsetzten jungen Frau eröffnet, dass ihr Mann schon mehrfach vorbestraft sei und jetzt unter dem dringenden Verdacht stehe, den stadtbekannten Einbruch in die Villa des Zoo-Direktors begangen zu haben, wobei Schmuck und Bargeld in einem fünfstelligen Gesamtwert erbeutet worden war. In ihrer Verwirrung hatte Hanna, des Lügens ungewohnt bestätigt, dass ihr Mann in der fraglichen Nacht nicht zu Hause gewesen war. Er hatte ihr gegenüber behauptet, dass er Wachdienst im Zoo habe. Das stellte sich nun als Unwahrheit heraus. Auch wusste sie nicht genau, woher er das Geld für verschiedene Neuanschaffungen gehabt hatte. Georg Pflug hatte von einer Gehaltsnachzahlung gesprochen, die er in Wirklichkeit gar nicht erhalten hatte.

Für die arme Hanna war die ganze Welt zusammengebrochen. Der Mann, dem sie ihr Lebensglück anvertraut hatte und dessen Namen sie trug, war ein Gewohnheitsverbrecher! Ein Ohnmachtsanfall hatte sie für den Augenblick von ihrer Qual erlöst. Der Beamte hatte dafür gesorgt, dass sie in ärztliche Obhut gekommen war.

Im Krankenhaus hatte Hanna nach einigen Tagen erfahren, dass es Georg Pflug gelungen war, sich der Verhaftung durch die Flucht zu entziehen. Sie war mehrmals vernommen worden. Man musste ihr jedoch glauben, dass sie ahnungslos gewesen war. Ihr Entschluss, sich von Pflug scheiden zu lassen, stand fest, obwohl sie inzwischen ein Kind erwartete.

Die Scheidung war ihr jedoch erspart geblieben. Einige Monate nach seiner Flucht war Georg Pflug, der sich unter falschem Namen einer wissenschaftlichen Expedition nach Afrika angeschlossen hatte, ums Leben gekommen. Hanna hatte die Nachricht durch die Behörden erhalten. Man hatte ihr ein Foto gezeigt, und sie hatte bestätigt, dass es sich um Georg Pflug handle. Daraufhin war der Totenschein ausgestellt worden, den sie mit Erleichterung entgegengenommen hatte. Sie hatte ihrem Schöpfer gedankt, dass dieses schlimme Kapitel ihres Lebens beendet war. Niemals sollte ihr Kind erfahren, dass sein Vater ein Gesetzesbrecher gewesen war, dem sie blindlings vertraut hatte.

Die richtige Liebe aber hatte Hanna erst dann kennengelernt, als sie Klaus Martell begegnet war. In seinen Armen hatte sie das Glück gefunden. Doch bisher hatte sie diesem fanatischen Ehrenmann verschwiegen, was es mit Georg Pflug auf sich hatte.

Hanna wagte es nicht, sich zu rühren, um Klaus nicht zu wecken. Warum musste sie gerade nach diesem wundervollen Festabend an die unselige Vergangenheit denken? Besaß der Tote noch immer Macht über sie, sodass eine flüchtige Ähnlichkeit alles wieder heraufbeschwören konnte?

Ich habe ihn niemals geliebt, überlegte sie. Ich suchte einen Menschen, der gut zu mir war. Mir wäre leichter ums Herz, wenn ich einmal offen mit Klaus darüber sprechen könnte. Aber ich weiß nicht, wie er es aufnehmen würde. Er hat schrecklich starre Begriffe von Moral und Ehre.

Würde er Antje genauso lieben, wenn er wüsste, dass ihr Vater einen schlechten Charakter hatte und ein Dieb war? Es war eine Frage, auf die Hanna keine Antwort fand. Sie versuchte krampfhaft, sich das Gesicht des Fremden zu vergegenwärtigen. Er hatte eine große Sonnenbrille getragen, trotz des künstlichen Lichts am Abend. Doch das taten andere Leute auch. Denn Sonnenbrillen waren die große Mode. Der gepflegte Bart des Unbekannten hatte seine Gesichtsform ebenfalls undeutlich gemacht. Nein, es war einfach unmöglich zu entscheiden, ob sie sich die Ähnlichkeit mit Georg Pflug nur einbildete oder ob sie tatsächlich vorhanden war.

Hanna tat in dieser Nacht kein Auge zu. Am Morgen, als Klaus erwachte und sie ahnungslos anlächelte, fühlte sie sich krank und elend wie in den Tagen nach der Fehlgeburt. Trotzdem behauptete sie, gut geschlafen zu haben. Sie duschte kalt, doch mit wenig Erfolg. Am liebsten hätte sie sich gleich wieder ins Bett gelegt, um nichts zu hören und nichts zu sehen.

Beim Frühstück brachte Hanna nur eine Tassse Tee hinunter. Nervös hielt sie nach dem Unbekannten Ausschau, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Teils empfand sie deswegen Erleichterung, teils beunruhigte es sie, denn sie suchte nach Klarheit und Gewissheit. Hätte sie sich überzeugen können, dass die Ähnlichkeit nur in ihrer Einbildung bestand, wäre ihr wohler gewesen.

Die beiden Wolfsens setzten sich auch an diesem Tag wieder zu ihnen. Man sprach vom vergangenen Abend und von der unmittelbar bevorstehenden Landung in Tanger. Im Gegensatz zu Klaus und Hanna Martell wollten Thomas und Michaela sich an dem Landausflug beteiligen. Sie versprachen sich ein Abenteuer davon.

»Es soll hier Schmuggler, Rauschgift- und Mädchenhändler an jeder Straßenecke geben«, behauptete Michaela mit glitzernden Augen.»Wahrscheinlich ist das übertrieben. Aber ich möchte mir die Sache ansehen. Ich hab’s ganz gern, wenn mir mal die Gänsehaut den Rücken herunterläuft.«

Hanna konnte in das fröhliche Lachen der anderen nicht einstimmen. Sie verspürte nicht die geringste Lust, das angebliche Piraten- und Verbrechernest zu besichtigen.

Endlich brach das jüngere Ehepaar auf, um sich für den Landausflug fertigzumachen. Hanna und Klaus beschlossen, auch diesen Vormittag am Schwimmbecken zu verbringen, denn es war heiß und sonnig.

Allmählich wurde Hanna ruhiger. Auf dem bequemen Liegestuhl, dessen Sonnendach angenehmen Halbschatten spendete, schlummerte sie ein wenig ein. Später schwamm sie mit ihrem Mann und stellte fest, dass sie ihr seelisches Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Doch auch beim Lunch hielt sie wieder aufmerksam nach dem Unbekannten Ausschau, aber er tauchte nicht auf.

Am Nachmittag zeigte sich deutlich, dass die meisten Passagiere an Land gegangen waren. Das Schiff wirkte menschenleer. Hanna und Klaus Martell tranken in einem der vielen Aufenthaltsräume Tee und vergnügten sich später beim Tischtennis, wo man sonst ziemlich lange warten musste, bis man einen freien Tisch bekam. Doch an diesem Tag waren sie die einzigen Spieler.

»Tut es dir nicht leid, dass du zurückgeblieben bist?«, fragte Hanna ihren Mann. »Vielleicht bietet Tanger allerlei.«

»Ich genieße diesen Tag«, antwortete der Professor. »Abenteuerhungrig bin ich nicht. Der Zweck dieser Reise war für uns in erster Linie das Ausruhen. Du darfst nicht glauben, dass ich dir zuliebe auf den Landausflug verzichtet hätte.«

»Dann ist es gut, Klaus. Gibst du mir jetzt Revanche? Ich möchte es noch einmal versuchen.«

Wieder flogen die weißen Bälle über den grünen Tisch. Obwohl der Professor volle zwölf Jahre älter war als seine Frau, schlug er sie auch diesmal überlegen.

Auch beim Abendessen gehörte der Speisesaal den Martells und einigen anderen Passagieren mehr oder minder allein, denn die Ausflügler wollten auch das nächtliche Treiben in Tanger genießen.

Neben dem Gedeck des Professors lag ein Häufchen Post.

»Aha, das ist mit der Luftpost nach Tanger gegangen. Lass sehen. Ja, hier ist ein Brief von Antje.«

Hanna öffnete den Umschlag mit den kindlichen Schriftzügen ihrer Tochter. Sechs Luftpostbogen hatte Antje gefüllt. Sie berichtete begeistert von allem, was sie in Sophienlust erlebte.

»Du musst es selbst lesen, Klaus. Antje kann schon mit den anderen Kindern ausreiten, schreibt sie. Im Tierheim bei Andrea von Lehn scheint sie völlig zu Hause zu sein. Die Schule gefällt ihr. Von Sehnsucht oder Heimweh steht kein Wörtchen in dem Brief. Beinahe könnte ich auf Frau von Schoenecker eifersüchtig werden.«

Der Professor hatte seine übrige Post nur flüchtig angesehen. Es war nichts Wichtiges dabei. So griff er nach Antjes Brief und las ihn mit lächelnder Aufmerksamkeit.

»Die Liebe zu den Tieren ist ein schönes Erbteil von ihrem Vater«, meinte er. »Ich freue mich, dass Antje in dieser Hinsicht in Sophienlust auf ihre Kosten kommt.«

Hanna nickte. »Wir sollten ihr zum nächsten Geburtstag einen Hund oder ein Kätzchen schenken. Was meinst du?«

»Wenn sie sich das wünscht? Warum nicht?«

Ich kann wieder ganz ruhig über das sprechen, was früher war, dachte Hanna. Was war nur gestern mit mir?

In diesem Augenblick trat der Unbekannte in den Speisesaal und ging an seinen Platz. Das Licht fiel voll auf sein Gesicht. Wieder trug er die dunkle Brille. Und der sorgsam gepflegte Bart verdeckte völlig die Form seines Mundes und des Kinns.

Er sieht Georg Pflug gar nicht ähnlich!, stellte Hanna erleichtert fest. Was habe ich mir nur eingebildet? Ich bin immer noch mit den Nerven herunter.

Sie ließ sich vom Steward den Teller ein zweites Mal füllen und leerte ihr Weinglas dazu in durstigen Schlucken. »Gehen wir nachher in die kleine Bar auf dem A-Deck?«, fragte sie unternehmungslustig. »Wenn die anderen sich in das Nachtleben von Tanger stürzen, könnten wir wenigstens einen Martini trinken und ein bisschen tanzen.«

»Selbstverständlich, Hanna. Ich hatte ähnliche Gedanken, aber ich war nicht sicher, ob du nicht von gestern noch müde bist.«

Es wurde ein vergnüglicher Abend. Erst später suchte das Paar die Kabine auf. In den frühen Morgenstunden gab es einige Unruhe, als die Ausflügler endlich an Bord kamen. Wenig später setzte das Luxusschiff seine Fahrt fort.

Die Küste Afrikas war schon nicht mehr zu erkennen, als man sich beim Frühstück wiedersah. Thomas und Michaela Wolfsen kamen sofort an den Tisch der Martells. Es war unverkennbar, dass Michaela geweint hatte. Der erste Streit in ihrer jungen Ehe?

»Wie war es in Tanger? Sind Sie auf Ihre Kosten gekommen?«, fragte Hanna so unbefangen wie möglich, nachdem man einander einen guten Morgen gewünscht hatte.

»Es war schön und interessant«, antwortete Thomas Wolfsen. »Man stellt sich das ganz falsch vor. Leider gab es dann hier auf dem Schiff eine böse Überraschung für uns.«

»Wieso?«

Michaela suchte nach ihrem Taschentuch und tupfte sich verstohlen ein paar Tränen fort. »Mein Armband ist weg«, berichtete sie aufschluchzend. »Gestohlen.«

»Du brauchst nicht zu weinen, Liebling«, versuchte ihr Mann sie zu trösten. »Wahrscheinlich findet es sich wieder. Außerdem hatte ich unser gesamtes Gepäck samt dem Schmuck versichert. Lass dir die Freude an der Reise deshalb nicht verderben!«

»Ist es in Tanger passiert?«, fragte der Professor voller Anteilnahme. »Gibt es also doch allerlei lichtscheues Gesindel dort?«

»Nein. Ich hätte dieses auffällige Stück bestimmt nicht mitgenommen. Ich hatte meinen Schmuck und ein paar größere Geldscheine im Koffer eingeschlossen. Jemand hat den Koffer geöffnet und dabei nicht einmal das Schloss beschädigt. Da sieht man, wie primitiv solche Schlösser sind. Mein Armband und das Bargeld fehlen. Sonst ist noch alles vorhanden.« Michaela weinte.

»Jemand, der es nur auf Geld und Wertsachen abgesehen hat. Haben Sie den Verlust schon dem Kapitän gemeldet?«, erkundigte sich der Professor bei Thomas Wolfsen.

»Ja, sofort. Er versprach, der Sache nachzugehen. Natürlich ist ihm der Vorfall recht peinlich. Er gab uns den Rat, weitere Wertsachen und Barbeträge im Safe zu deponieren. Kein schönes Gefühl, wenn man plötzlich auf sein Eigentum achtgeben muss, als befände man sich in einer Räuberhöhle.«

Der Professor nickte. Er konnte die Empfindungen des jungen Mannes nur zu gut verstehen.

»Das Schiff war gestern wie ausgestorben. Wenn es jemand darauf anlegte, gab es genügend Gelegenheit, sich durch einige Kabinen zu schleichen und die Koffer auf Wertsachen zu untersuchen«, erklärte er nachdenklich. »Natürlich verdächtigt man zuerst das Personal. Die Kabinenstewards haben Schlüssel. Aber sie wären eigentlich schön dumm, wenn sie sich auf so etwas einließen. Bei ihnen wird man sowieso nachforschen.«

»Unser Kabinensteward ist seit fünfunfzwanzig Jahren im Dienst der Linie. Er ist über jeden Verdacht erhaben«, versicherte Michaela lebhaft. »Ich mag ihn richtig gut leiden. Er hat ganz weißes Haar und ist auf eine rührend altmodische Art höflich. Auch der Kapitän würde für ihn die Hand ins Feuer legen.«

»Wissen Sie, ob noch andere Passagiere bestohlen worden sind?«, fragte Hanna leise.

»Keine Ahnung. Wir haben niemanden gesprochen. Die meisten, die gestern an Land waren, schlafen noch.«

Obwohl Thomas Wolfsen wiederholte, dass der Verlust ihn nicht allzu sehr treffe, war die Stimmung zunächst gestört. Michaela erinnerte sich daran, dass ihre Mutter sie gewarnt hatte, das kostbare Hochzeitsgeschenk mit auf die Reise zu nehmen. Der Professor verlieh seiner tief verwurzelten Abscheu vor Unehrlichkeit und Verbrechen beredten Ausdruck, was für die arme Hanna nicht gerade angenehm anzuhören war.

Bis zum Mittagessen stellte sich heraus, dass in acht Kabinen Geld und Wertgegenstände abhanden gekommen waren. Es handelte sich bei den Betroffenen durchweg um Teilnehmer am Landausflug nach Tanger. Da sich der peinliche Vorfall nicht verheimlichen ließ, gab der Kapitän am Abend eine Erklärung ab, entschuldigte sich im Namen der Reederei und versprach, dass man alles versuchen wolle, um den Schuldigen zu finden und die entstandenen Verluste zu ersetzen.

Um die aufgeregte Stimmung zu besänftigen, wurden Getränke herumgereicht, und der Kapitän schlug vor, den Tag mit einem allgemeinen geselligen Beisammensein zu beschließen. Niemand solle sich die Ferienlaune verderben lassen.

Der Kapitän blieb bei seinen Passagieren und sorgte durch ein paar sicherlich hundertmal erprobte Gesellschaftsspiele, an denen sich jedermann beteiligen musste, für Abwechslung und vor allem für Ablenkung.

Zwischendurch tanzte man eifrig. Da der Kapitän mit gutem Beispiel voranging, machte seine Anstrengung Schule, dass auch persönlich nicht miteinander bekannte Partner sich zusammen aufs Parkett wagten. Die beiden bildhübschen Damen Hanna und Michaela konnten sich bald der Tänzer, die sich vor ihnen verbeugten, kaum noch erwehren.

Hanna tanzte, bis ihr die Fußsohlen brannten. Es war dem Kapitän gelungen, aus der Not eine Tugend zu machen und seine Passagiere zu einer fröhlichen Gemeinschaft zusammenzubringen, was nicht auf jeder Kreuzfahrt die Regel ist. Dass ihm die Diebstähle Kopfzerbrechen verursachten, merkte man dem welterfahrenen, gewandten Mann nicht an. Er plauderte, tanzte und schien überall gleichzeitig zu sein.

Eben legte er zusammen mit Hanna einen meisterhaft gekonnten Charleston aufs Parkett. Hanna erinnerte sich an die lustigen Abende im Schwesternheim, als sie mit ihren Kolleginnen diesen schwierigen Tanz zum Klang eines Plattenspielers eingeübt hatte. Sie beherrschte die komplizierten Schritte immer noch. Mit lachenden Augen nickte sie ihrem Mann zu, der ihr bewundernd zuschaute.

Ein Steward in weißer Jacke näherte sich dem Kapitän, der mit bedauernder Miene seinen Tanz unterbrach.

»Das ist schade, gnädige Frau. Ich bin leider immer ein bisschen im Dienst, sogar an einem so netten Abend. Wollen Sie mich entschuldigen? Ich bin sicher nicht lange weg. Sehen Sie, da kommt eben Dr. Bruck in den Saal. Er ist gewiss so freundlich, meinen Platz als Ihr Partner einzunehmen. Hallo, Doktor! Können Sie den Charleston?«

Der Mann, der auf Hanna zukam, war der Bärtige mit der dunklen Brille. Er verbeugte sich höflich und versicherte, dass er sein Bestes tun wolle, um den Kapitän zu vertreten.

Inzwischen war der Tanz jedoch zu Ende.

»Darf ich um den nächsten Tanz bitten?«, fragte Dr. Bruck leise. »Sehen Sie, die Band spielt schon weiter.«

Hanna war es, als wanke der Boden unter ihr. Es gab nicht den geringsten Zweifel. Vor ihr stand Georg Pflug.

Sie ließ zu, dass er den Arm um sie legte und zu tanzen begann. »Ich beobachte dich schon lange«, raunte er an ihrem Ohr. »Hast du mich eben erst erkannt?«

Hanna zitterten die Knie. Trotzdem bemühte sie sich krampfhaft weiterzutanzen. Niemand durfte etwas merken. Niemand!

»Offenbar hat es dir die Sprache verschlagen«, spottete der tadellos gekleidete, elegante Mann, dessen gewandtes, sicheres Auftreten kaum noch an den Tierpfleger Georg Pflug erinnerte.

»Du …, du hast einen falschen Namen angenommen. Mit dem Bart hätte ich dich nicht erkannt.«

»Umso besser. Wenn du keinen Verdacht schöpfst, wird es auch kein anderer tun. Das habe ich gut eingefädelt. Bist du sehr unglücklich gewesen, als man dir mitteilte, dass ich tot sei?«

Seine zynische Art war schockierend. Hatte sie diesen Mann wirklich jemals geliebt? Hanna begriff es nicht. Und doch war sie seine Frau gewesen und hatte ein Kind von ihm.

Himmel, wenn er nicht tot ist, besteht sogar meine Ehe mit ihm noch. Was mache ich bloß?, überlegte sie.

»Du hast auf diese Weise einen Strich unter die Vergangenheit ziehen wollen«, brachte Hanna gepresst hervor.

»Stimmt genau. Glaubst du, ich hätte Lust gehabt, ins Kittchen zu gehen? Afrika ist groß. Das war genau die richtige Idee. Allerdings hätte ich nicht geglaubt, dass ich dir jemals wieder begegnen würde.«

»Es scheint dir gutzugehen. Eine solche Kreuzfahrt kostet viel Geld. Hast du ein Studium aufgenommen?«

Er lachte. »Du bist noch dasselbe kleine Schaf wie damals, Hanna. Der Doktortitel ist so unecht wie mein Name. Ich bekam die Papiere in Algier. Sie kosten nicht viel.«

»Arbeitest du wieder in einem Zoo?«

»Quatsch. Ich schlag mich auf meine Weise durch. Das Geld findet man überall, wenn man die Augen offenhält. So ein Doktortitel öffnet viele Türen.«

Hanna fand keine Antwort. Hundert Gedanken auf einmal kreisten in ihrem Hirn. Die Angst, dass ihr Mann etwas bemerken könnte, war die schlimmste Qual.

»Du bist mit dem Professor verheiratet, nicht wahr? Ich stehe mit dem Kapitän auf gutem Fuß. Er sagte mir, dass du jetzt Frau Martell heißt. Ein Witz, wenn man überlegt, dass wir zwei eigentlich noch rechtmäßig verheiratet sind.«

»Rechtmäßig nicht«, widersprach Hanna, indem sie allen Mut zusammenraffte. »Ich wollte mich von dir scheiden lassen. Aber das erübrigte sich dann.«

»Wie herzlos du bist«, spottete er. »Es klingt beinahe, als wärst du heilfroh gewesen, mich loszuwerden.«

»Den Tod habe ich dir ganz gewiss nicht gewünscht«, erwiderte Hanna wahrheitsgemäß. »Aber es war klar, dass unsere Wege sich trennen mussten.«

»Wenn man auf der Sonnenseite lebt, kann man leicht verurteilen, Hanna. Ich nehme mir nur, was mir vom Schicksal nicht von selbst in den Schoß fällt wie anderen Leuten.«

»Dann …, dann hat sich also nichts geändert?«, stammelte Hanna bestürzt, wobei sie eine ungute Ahnung beschlich.

»Geändert hat sich viel. Ich führe heute ein weit besseres Leben als damals mit dir. Verrückt, dass ich dich heiratete. Aber du warst ja so ehrpusselig und prüde. Da ich dich haben wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als mit dir zum Standesamt zu marschieren.«

Es tat heute nicht mehr weh. Hanna hatte für ihren ersten Mann nichts als Verachtung übrig. Vor allem aber bedeutete er eine Gefahr für sie. Darüber gab es keinen Zweifel.

»Hast du etwa mit den Diebstählen an Bord etwas zu tun?«, fragte sie kaum hörbar.

Er kniff ein Auge zusammen. Es war eine typische Geste von ihm, an die sie sich noch gut erinnerte. »Dreimal darfst du raten. Ich werde dir nichts sagen.«

Hanna wünschte sich an einen weit entfernten Platz der Erde. Das Verhängnis war einfach zu groß. Wie sollte sie dies alles vor Klaus Martell geheimhalten? Sie war überzeugt, er würde sich von ihr und Antje lossagen, würde er erfahren, dass ihre erste Ehe noch bestand – die Ehe mit einem polizeilich gesuchten Kriminellen, der unter falschem Namen lebte und inzwischen gewiss viele weitere Straftaten begangen hatte.

»Ich könnte dich anzeigen«, drohte sie matt.

»Das tust du bestimmt nicht, Schätzchen. Wahrscheinlich wäre der Herr Professor wenig entzückt, wenn er erführe, was mit uns beiden los ist.«

»Er darf es unter keinen Umständen erfahren«, entfuhr es ihr. »Du musst mir versprechen, dass du ihn aus dem Spiel lässt. Ich habe ihm verschwiegen, unter welchen Umständen du nach Afrika gegangen bist. Seine Begriffe von Ehre und Moral sind sehr streng.«

»Wenn ich ein reicher Professor wäre, hätte ich auch strenge Ehrbegriffe«, spottete der sogenannte Dr. Bruck. »Na, wir sehen uns noch. Ich werde dir keine Schwierigkeiten machen, solange du mir nicht in die Quere kommst.«

Der Tanz war zu Ende. Hannas Partner besaß die Unverfrorenheit, sie zu Klaus Martell zu begleiten und sich vorzustellen. Ahnungslos wechselte der Professor ein paar höfliche Worte mit dem vermeintlichen Dr. Bruck.

»Er machte einen sympathischen Eindruck«, äußerte Klaus, nachdem Hanna sich müde neben ihm niedergelassen hatte. »Ein Bekannter vom Kapitän? Ich sah, dass er ihn bat, mit dir weiterzutanzen«

»Ich glaube, die beiden haben sich erst auf dieser Reise kennengelernt. Mir gefällt Dr. Bruck nicht sonderlich, wenn ich ehrlich sein soll.«

»Worüber habt ihr gesprochen? Die Unterhaltung war ziemlich intensiv, wie mir scheint.«

Wie genau er hingeschaut hatte!

»Ach, es war nichts Besonderes, Klaus. Der Doktor wollte Eindruck auf mich machen und behauptete, dass er schon an jedem Ort der Welt einmal gewesen sei. Ein Mann, der offenbar nichts zu tun hat und es sich leisten kann, ständig herumzureisen. Ich finde, dass man einen ordentlichen Beruf haben sollte, auch dann, wenn man nicht darauf angewiesen ist, sich sein Brot zu verdienen.«

»Das ist echt meine Hanna«, freute sich Klaus Martell. »Du hast recht. Ein ganzes Leben nur dem Müßiggang zu widmen, ist etwas recht Erbarmungswürdiges. Da kommen unsere Wolfsens. Schau, die kleine Frau Michaela kann schon wieder lachen.«

Man bestellte eine letzte Flasche.

Die Wolfsens brachten eine Nachricht mit, die sich herumgeflüstert hatte. Diesmal handelte es sich nur um Bargeld. Wieder musste sich jemand mit einem Schlüssel zu einer Kabine Zugang verschafft haben. Nichts war beschädigt worden. Der Passagier hatte die Geldscheine leichtsinnigerweise unverschlossen in einer Schublade verwahrt, wenn auch unter seiner Wäsche versteckt.

»Entweder hat sich jemand Nachschlüssel verschafft, oder es ist ein Angehöriger des Personals«, konstatierte Thomas Wolfsen. »Jetzt bleibt uns eigentlich nur die Hoffnung, dass der Dieb durch seine Erfolge leichtsinnig und dadurch ertappt wird. Ich habe mein Geld im Safe deponiert. Mir kann jetzt nichts mehr passieren. Allmählich komme ich mir vor, als spielten wir alle in einem Krimi mit.«

»Fragt sich, ob das ein Urlaubsvergnügen ist«, versetzte der Professor mit krauser Stirn.

»Sicher nicht«, erwiderte Thomas Wolfsen. »Aber ich weigere mich, mir meine Hochzeitsreise verderben zu lassen. Wir werden sofort nach unserer Rückkehr ein neues Armband bestellen und dafür sorgen, dass meine Schwiegermutter nichts erfährt. Seit wir diesen Beschluss gefasst haben, fühlt sich meine arme kleine Michaela schon wieder besser. Sie hat nämlich immer noch ein bisschen Angst vor ihrer Mama.«

Hanna trug kein einziges Wort zu dieser Unterhaltung bei. Sie atmete auf, als der letzte Schluck getrunken war und man sich trennte. Doch als sie dann mit Klaus allein in der Kabine war, wünschte sie, die beiden netten Wolfsens befänden sich noch bei ihnen. Sie war ratlos und tief verzweifelt. Mit niedergeschlagenen Blicken legte sie ihr Kleid ab und schlüpfte in das Nachthemd, das hübsch zusammengefaltet auf dem aufgeschlagenen Bett zurechtgelegt worden war.

Der Professor öffnete seinen Koffer und warf einen kurzen Blick hinein. »Na, unserer Kabine hat man glücklicherweise keinen Besuch abgestattet.«

»Nein.« Hanna lag mit geschlossenen Augen und sprach so leise, dass ihr Mann Mühe hatte, sie zu verstehen.

»War es dir zu anstrengend, Liebste? Als du mit dem Kapitän Charleston tanztest, wirktest du wie ein Teenager. Aber vielleicht war die Hopserei doch ein bisschen zu viel für dich.«

»Schon möglich, Klaus. Ich bin schrecklich müde.«

Er beeilte sich, seinerseits ins Bett zu kommen, und löschte das Licht. »Schlaf gut, Hanna. Die Geschichte mit dem Dieb regt dich doch hoffentlich nicht auf? Ich nehme an, es ist jetzt vorbei mit den Diebstählen. Denn nun wird auch der letzte Passagier seine wertvollen Besitztümer im Safe einschließen lassen.«

»Ich habe keine Angst, Klaus. Schlaf gut.«

»Danke, Liebste.« In der Dunkelheit zog er sie an sich und küsste sie.

Hanna kam sich vor, als wäre sie an den auf dem Schiff geschehenen Diebstählen mitschuldig. Ich kenne den Dieb und bin zum Schweigen verurteilt, weil Klaus mich verstoßen würde, dachte sie. Was sollte dann aus meiner kleinen Antje werden? Ich muss schweigen. Es ist die einzige Möglichkeit. Klaus darf nichts erfahren. Auch Antje soll niemals wissen, was für einen schlechten Vater sie hat.

Trotzdem wollte Hannas Gewissen sich nicht beschwichtigen lassen. Sie musste an Michaela Wolfsens und an die anderen Passagiere denken, denen Verluste entstanden waren. Zwar hieß es, dass eine Versicherung für den Schaden aufkommen müsse, doch war auch die Versicherung genaugenommen betrogen, da sie – Hanna – genau wusste, wo nach den verschwundenen Werten zu suchen war.

Hanna presste wie hilflos die Handflächen gegeneinander. Klaus hat recht, überlegte sie. Wenn man mit Unehrenhaftigkeit erst einmal in Berührung kommt, wird man unweigerlich mit in den Schmutz gezogen. Ich verstehe ihn jetzt viel besser. Was soll ich nur tun?

Hanna rannen Tränen über die Wangen. Lautlos vergossene Tränen des bittersten Leides. Würde der Himmel ein Einsehen haben und ihr verzeihen, dass sie schwieg?

*

Hanna fand den kleinen Brief in der Tasche ihrer weißen Sportjacke, die über einem Deckstuhl gelegen hatte. Sie fühlte sich krank und elend. Ihr Mann hatte deshalb mit ihr einen Rundgang um das Deck gemacht. Die Jacke hatte sie wegen der großen Wärme zurückgelassen.

»So, nun ruhe dich aus, Liebste. Ich hole dir eine Erfrischung.«

Hanna rang sich ein verzerrtes Lächeln ab, und Klaus Martell fragte sich, wodurch sich das Befinden seiner Frau so jäh verändert haben könnte. Sie sah miserabel aus, aß nicht und zuckte beim geringsten Anlass nervös zusammen.

Hanna wartete, bis ihr Mann außer Sichtweite war. Dann riss sie den Umschlag auf.

Es war Georgs Schrift, unverkennbar.

Ich muss dich sprechen. Es ist wichtig. Kannst du heute Abend dafür sorgen, dass ich mit an eurem Tisch sitze.

Sie las die unverschämte Aufforderung zweimal. Dann wurde ihr klar, dass sie sich in seiner Hand befand.

Wie dumm von mir, dass ich ihm offen eingestanden habe, wie Klaus die Wahrheit aufnehmen würde.

»Ich habe einen Kakao für dich bestellt.«

Bei dem Gedanken an das süße Getränk drehte sich ihr fast der Magen um. Trotzdem dankte sie freundlich.

Sie steckte das gefährliche kleine Brieflein wieder ein und zerknitterte es in der Jackentasche. Nur schwer unterdrückte sie das Verlangen, ihrem Mann schluchzend in die Arme zu sinken und ihn um Hilfe zu bitten. Es gab niemanden, der ihr helfen konnte. Sie musste allein versuchen, das unaufhaltsam auf sie zurollende Rad aufzuhalten, das sie zu zermalmen drohte.

Der Tag schleppte sich hin. Hanna nahm an den kleinen Abwechslungen und Vergnügungen, die ihnen zur lieben Gewohnheit geworden waren, nicht teil, sondern entschuldigte sich mit Kopfweh. Doch zum Abendessen kleidete sie sich sorgfältig um, nachdem sie den verräterischen Brief zuvor vernichtet hatte.

»Herr Dr. Bruck hat darum gebeten, mit an Ihrem Tisch speisen zu dürfen«, richtete der Steward aus. »Darf ich ein weiteres Gedeck auflegen?«

Hanna wurde blass, während ihr Mann belustigt lächelte. »Du scheinst einen Verehrer gefunden zu haben, Hanna. Sicher hast du nichts dagegen, wenn er uns Gesellschaft leistet. Es muss ziemlich öde sein, ganz allein am Tisch zu essen.«

»Wenn du meinst«, gab Hanna mit erstickter Stimme zurück. »Wolfsens sind hoffentlich einverstanden.«

»Ich habe die Herrschaften bereits gefragt, gnädige Frau«, berichtete der Steward.

Wenig später erschien Georg Pflug. Mit vollendeter Sicherheit küsste er den Damen die Hand und bedankte sich dafür, dass er mit am Tisch Platz nehmen dürfe.

Hanna saß wie auf glühenden Kohlen. Doch niemand bemerkte etwas davon, mit Ausnahme ihres ersten Mannes, der ihr ab und zu einen ironischen Blick zuwarf.

Das Gespräch war lebhaft. Klaus Martell fragte nach des vermeintlichen Doktors Interessen, und dieser erzählte ein paar spannende Abenteuer aus Afrika. So spielte er die selbstgewählte Rolle des reichen Globetrotters recht glaubhaft.

»Sie sind Arzt wie ich?«, warf der Professor ein.

Georg schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe Zoologie studiert. Aber nur so zum Spaß. Irgendetwas muss man schließlich machen, wenn man von der Schule kommt. Tiere faszinieren mich. Es ging stets ums Einfangen.«

»Warum fängt man so viele wilde Tiere?«, fragte Michaela Wolfsen.

»Für die zoologischen Gärten, zum Beispiel. Aber auch für wissenschaftliche Zwecke. Es gibt immer noch Tierarten, von denen wir wenig wissen.«

Hanna konnte nur staunen, über die Kenntnisse und die große Gewandtheit, die Georg erworben hatte. Jedenfalls brauchte sie keine Sorge zu haben, dass er sich verraten würde. Er schien schon ziemlich lange den vermögenden Akademiker zu spielen.

Als die ausgedehnte Mahlzeit beendet war, ging es gemeinsam in einen der Gesellschaftsräume, wo man Kaffee und Cognac bestellte. Der offenbar mit allen Wassern gewaschene ›Dr. Bruck‹, ließ es sich nicht nehmen, die kleine Runde zum Champagner einzuladen. Er zeigte sich von der charmantesten Seite. Hanna musste hilflos und stumm erleben, dass ihr Mann und die beiden Wolfsens von ihrem neuen Freund entzückt waren.

Der Kapitän durchquerte den Raum und setzte sich ein Weilchen zu ihnen.

»Etwas Neues von der Front?«, fragte der falsche Doktor seinen Freund mit selbstverständlicher Vertraulichkeit. »Haben Sie unseren Juwelendieb schon in Ketten gelegt?«

»Leider nicht, Dr. Bruck. Ich habe noch einmal an die Passagiere appeliert, Geld und Wertsachen in unserem Safe zu deponieren. Wenn jetzt noch etwas abhanden kommt, ist es eigenes Verschulden.«

»Hm, ich habe zwar sonst das Prinzip, selbst auf meine Sachen zu achten, aber inzwischen bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass dieser Kerl jedes Schloss aufschließen kann. Vielleicht ist es sogar eine Sie. Wer weiß? Jedenfalls bleibt zu hoffen, dass der Safe für den Dieb unzugänglich ist. Das wäre nämlich eine Katastrophe, fürchte ich.«

Hanna erschauerte bei dieser Unverfrorenheit. Offenbar hatte Georg Pflug seine Beute im Safe deponiert. Einem verschlossenen Umschlag oder Päckchen konnte niemand ansehen, was sich darin befand.

Es wurde noch ein paar Minuten über die Diebstähle gesprochen, dann entschuldigte sich der Kapitän und ging weiter. Erst nach einer weiteren Stunde, die Hanna wie eine Ewigkeit erschien, ergab sich die Gelegenheit zu einem hastigen Wortwechsel mit Georg.

»Ich brauche Geld, Hanna. Wenn du Wert darauf legst, dass dein Professor nichts über das Strafregister deines ersten Mannes erfährt, würde ich dir raten, mir keine Schwierigkeiten zu machen.«

»Dann würdest du dich zugleich selbst verraten, Georg. Außerdem habe ich hier kein Geld.«

»Warum sollte ich mich verraten? Es genügt ein kurzer Brief unter einem fingierten Namen. Ich könnte zum Beispiel behaupten, dass ich jenen Tierpfleger Georg Pflug gut gekannt hätte. Den Rest kann der Herr Professor selbst bei der Polizei erfragen. Deine Schuld, dass du ihm nicht von Anfang an reinen Wein eingeschenkt hast. Wahrscheinlich hätte er sich die Ehe mit dir dann ziemlich schnell aus dem Kopf geschlagen. Oder sehe ich das nicht richtig? Er scheint Wert auf Anstand und Moral zu legen.«

»Sei still, die anderen kommen zurück!«, stieß Hanna verzweifelt hervor.

»Wir werden noch öfter miteinander sprechen. Ich gehöre ja jetzt zu deiner Clique. Ich brauche das Geld nicht sofort, sondern später, wenn du wieder zu Hause bist, Schätzchen.«

Hanna zitterte am ganzen Leib. Trotzdem brachte sie die Kraft auf, ihre Angst zu verbergen. Dem weiteren Verlauf der Reise sah sie allerdings mit banger Furcht entgegen. Sie wusste, dass ihr erster Mann sie nicht mehr aus den Augen lassen würde.

Ich verliere noch den Verstand, dachte sie unglücklich. Sie konnte kaum mehr essen, schlief schlecht und hatte das Lachen verlernt.

Der Professor fragte sich, ob das Seeklima mit der ständigen Sonneneinstrahlung zu anstrengend für seine Frau sei, und machte sich Vorwürfe, ihr zu viel zugemutet zu haben.

So verlief der Rest dieser Kreuzfahrt für Hanna und ihren Mann nicht besonders erfreulich. Zur Erleichterung aller Passagiere ereigneten sich keine weiteren Diebstähle. Allerdings verringerte sich auch die Wahrscheinlichkeit der Aufklärung derselben, obwohl an einem der letzten Anlegeplätze ein Polizeibeamter in Zivil an Bord kam, der sich bemühte, Licht in das Dunkel dieser Affäre zu bringen.

Da Hanna und Klaus Martell nichts vermissten, wurden sie zu Hannas grenzenloser Erleichterung auch nicht befragt. Die Versicherung des Professors, dass sie weder größere Summen Bargeld, noch allzu wertvollen Schmuck mit sich geführt hätten, genügte.

Auch der falsche Dr. Bruck brachte das Kunststück zuwege, sich jeder Vernehmung zu entziehen. Das Vertrauen, das er von seiten des Kapitäns genoss, kam ihm dabei zustatten.

Am Abend vor der Ankunft in Genua, wo die Kreuzfahrt enden sollte, fand das traditionelle Abschiedsfest statt. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, riss sich Hanna zusammen. Sie zog eines ihrer Abendkleider an und behauptete, dass sie sich glänzend fühle.

Klaus war erfreut. »Nun macht sich die Erholung bemerkbar. Du siehst heute endlich ein bisschen besser aus, Hanna.«

»Ja, Klaus.« Sie hatte sich angemalt und mit der Tönungscreme nicht gerade gespart.

»Ich melde mich bei dir«, flüsterte Georg Pflug ihr zu, als er am Büfett neben ihr stand und sich den Teller mit Hummer und Mayonaise füllte.

Hanna wusste nur zu gut, dass er sein Versprechen einlösen würde. Die Aussicht, dass sie von nun an keine ruhige Minute mehr haben würde, raubte ihr fast den Verstand.

*

Die zwei Tage zwischen der Ausschiffung in Genua und der Heimkehr waren eine letzte Gnadenfrist. Hanna lebte auf, weil sie in diesen Tagen vor Georg Pflug sicher war.

Klaus Martell verwöhnte seine Frau nach Kräften. Sie legten einen ausgedehnten Einkaufsbummel in München ein und entschlossen sich, den Schmuck für Hanna schon hier zu erwerben.

»In Frankfurt habe ich nicht mehr soviel Zeit. Heute sind noch Ferien für mich, Hanna.«

»Willst du noch einmal soviel Geld ausgeben? Die Reise war doch teuer genug.«

»Ich bin kein armer Mann, Hanna. Willst du mir die Freude nehmen, dir ein wirklich kostbares Geschenk zu machen?«

Es war gut und tröstlich, seine Liebe zu spüren. Hanna bemühte sich, nicht an die Angst zu denken, die schon morgen wieder da sein würde.

Sie fanden ein Kollier mit passendem Armreif, beides aus Weißgold mit leuchtenden Rubinen besetzt. Hanna betrachtete die beiden Stücke mit ehrfürchtiger Bewunderung. Als sie den Preis hörte, zuckte sie erschrocken zusammen. Doch da hatte ihr Mann den Scheck bereits ausgeschrieben.

»Still, Hanna. Es ist das Schönste, das wir finden konnten, und es ist gerade gut genug für meine Frau.«

Der alte Juwelier verneigte sich. Sorgsam und liebevoll legte er Kollier und Armreif in hübsche Kästen, die er dem Professor überreichte.

Wie glücklich ich sein könnte, dachte Hanna. Heiß brannten ungeweinte Tränen in ihren Augen.

Am folgenden Tag kehrten sie heim. Die fürsorgliche Oberschwester hatte das Wohnhaus des Chefarztes bis in den letzten Winkel putzen lassen. Blumensträuße standen in allen Zimmern

»Es ist schön, wieder in den eigenen vier Wänden zu sein«, stellte Klaus fest. »Ich wünschte nur, du hättest dich besser erholt, Hanna.«

»Man sagt, dass die Wirkung manchmal später kommt, Klaus«, erwiderte sie leise. »Jedenfalls war es wunderbar, Klaus. Ich möchte dir danken für diese Reise und auch für den herrlichen Schmuck.«

Der Professor schloss sie in seine Arme. Warum kann ich mich ihm nicht anvertrauen?, dachte sie. Warum muss ich schweigen? Doch es gab kein Zurück auf dem einmal eingeschlagenen Weg.

Bereits am ersten Abend ging der Professor in die Klinik hinüber, um sich von seinem Vertreter berichten zu lassen, was während seiner Abwesenheit geschehen war. Hanna packte indessen die Koffer aus.

Einmal läutete das Telefon. Doch Hanna brachte es nicht fertig, den Hörer abzunehmen. Sie wartete mit angstvoll angehaltenem Atem, bis das Klingeln verstummte. War es bereits Georg Pflug gewesen? Er hatte sich Adresse und Telefonnummer ohne jede Geheimnistuerei notiert. Klaus selbst hatte ihm seine Karte überreicht und dem sogenannten Dr. Bruck das Versprechen abgenommen, sich zu melden, falls ihn der Weg einmal vorüberführen sollte.

Als Klaus am späten Abend ins Haus zurückkehrte, lag Hanna schon im Bett. Klaus neigte sich über sie und küsste sie zärtlich. »Verzeih, dass ich dich warten ließ, Liebste. Man möchte gleich alles auf einmal erfahren, wenn man wieder im Betrieb ist. Warum bist du nicht ans Telefon gegangen? Ich wollte dir mitteilen, dass es länger dauern wird.«

»Ich kam zu spät. Zuerst muss ich das Läuten überhört haben. Dann war schon aufgelegt. Es tut mir leid. Ich habe nicht daran gedacht, dass du es sein könntest.«

Er ging ins Bad.

»Hast du wenigstens etwas gegessen?«, fiel ihr ein. »Ich bin eine schlechte Hausfrau geworden.«

»Schwester Inge hat mir etwas vorgesetzt, Hanna. Mach dir deswegen keine Gedanken. Allmählich werden wir uns beide wieder an den Alltag gewöhnen.«

Später, als das Licht gelöscht war, fragte sie scheu: »Wann holen wir Antje zurück, Klaus?«

»Jederzeit, sofern unser Fräulein Tochter einverstanden ist. Wenn du willst, rufen wir morgen in Sophienlust an und fahren am Sonntag hin. Das Haus wirkt ziemlich öde ohne unsere Kleine.«

»Ja, sie fehlt mir auch«, seufzte Hanna.

Dann war es wieder wie in den Nächten auf dem Schiff. Neben ihr schlief Klaus, beneidenswert tief und fest. Sie selbst aber wurde von nagender Angst gequält und fand keine Ruhe.

Trotzdem stand sie am Morgen um sechs Uhr auf und bereitete das Frühstück. Forschend ruhten Klaus Blicke dabei auf ihr. »Du hast abgenommen, Hanna. Was ist nur mit dir?«

»Ich fühle mich gut«, behauptete sie mit erzwungener Munterkeit. »Wenn Antje wieder da ist, bin ich restlos zufrieden.«

Klaus Martell ließ sich beschwichtigen. Er war mit seinen Gedanken bereits bei den Patienten drüben in der Klinik.

Hanna ging mit ihm bis an die Haustür und war erleichtert, als sie allein war. Ich muss mich zusammenreißen und ganz ruhig bleiben, dachte sie. Georg hat auf dem Schiff genug zusammengestohlen. Er meldet sich wahrscheinlich vorerst gar nicht. Wenn es soweit ist, kann er mein Sparbuch haben. Klaus hat sich nie für meine persönlichen Ersparnisse interessiert. Es wird ihm nicht auffallen, wenn ich das Geld weggebe.

Hanna räumte das Geschirr in die Küche und machte die Betten. In Antjes liebevoll eingerichteten Zimmer, in dem sie das Fenster weit öffnete, wurde ihr bewusst, dass sie sich die ganze Zeit nach ihrem Kind gesehnt hatte.

»Für dich stehe ich es durch, kleine Antje«, flüsterte sie und strich mit zärtlicher Hand über das Bett. »Wenigstens weiß er nicht, dass ich damals schwanger war und dass du seine Tochter bist. Das darf er nie erfahren.«

Hanna verstummte und legte erschrocken die Hand über den Mund. Nein, nicht einmal dann, wenn sie allein war, durfte sie darüber sprechen. Es war zu gefährlich.

Im Wohnzimmer suchte sie die Telefonnummer von Sophienlust heraus. Sie erreichte Denise von Schoen­ecker sofort persönlich.

»Antje geht es blendend«, versicherte Denise auf Hannas Frage. »Sie ist ein richtiges Landkind geworden bei uns. In der Schule hat sie keine Schwierigkeiten, und in unsere Gemeinschaft hat sie sich vom ersten Tag an eingefügt. Ich kann ohne Übertreibung sagen, dass wir Antje liebgewonnen haben und dass wir uns ungern wieder von ihr trennen.«

»Wir möchten am Sonntag kommen, Frau von Schoenecker. Wäre Ihnen das recht?«

»Selbstverständlich. Besuch ist bei uns stets herzlich willkommen. Antje wird sich besonders freuen. Haben Sie sich gut erholen können, liebe Frau Martell?«

»O ja, es geht mir gut«, versicherte Hanna mit krampfhafter Fröhlichkeit. »Eine Seereise ist genau das Richtige, wenn man mal gründlich faulenzen will.«

»Wie schön. Am Sonntag werde ich mich mit eigenen Augen davon überzeugen können. Wir erwarten Sie zum Mittagessen, wenn das möglich ist.«

»Vielen Dank. Macht es auch nicht zu viel Mühe?«

»Gar nicht. Gekocht wird sowieso. Die Kinder freuen sich, wenn Gäste mit am Tisch sitzen. Antje wird sicher Wert darauf legen, Ihnen alles zu zeigen. Sie hat reiten gelernt. Im Übrigen ist sie eine leidenschaftliche Tiernärrin. Sie ist fast täglich in Bachenau und beschäftigt sich im Tierheim. Sie werden kaum darum herumkommen, das Heim zu besichtigen.«

»Wenn das für Ihre Tochter und Ihren Schwiegersohn am Sonntag keine Störung bedeutet?«

»Aber nein. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Also, bis Sonntag, Frau Martell. Ich werde Antje von Ihnen grüßen, wenn sie nachher aus der Schule kommt.«

Hanna bedankte sich und legte den Hörer auf.

Antjes Liebe zu den Tieren war eindeutig ein Erbteil von Georg Pflug. Er mochte einen minderwertigen Charakter haben und mit dem Gesetz in Konflikt geraten sein. Doch die Tatsache, dass er mit Tieren ausgezeichnet umgehen konnte, ließ sich nicht abstreiten.

Ist es möglich, dass Antje neben der Tierliebe auch den Hang ihres Vaters zum Verbrechen geerbt hat?, überlegte Hanna. Es war eine Frage, die sie tief verwirrte und erschreckte.

Nein, Antje war gut geartet, liebevoll und aufrichtig. Gewiss hatte Georg Pflug in seiner Jugend unter schlechtem Einfluss gestanden und hätte sich anders entwickelt, wenn ihm der rechte Weg gewiesen worden wäre. Trotzdem war dieser Gedanke ein Grund mehr, Klaus gegenüber zu schweigen.

Werde ich das durchhalten?, fragte sich Hanna. Kann ich von Georg Pflug die feste Zusage erkaufen, dass er mir meinen Frieden lässt, wenn ich ihm mein gesamtes Geld gebe?

Hanna grübelte und sann. Immer mehr Probleme und Fragen bedrängten sie. Schließlich raffte sie sich auf, um das Mittagessen vorzubereiten, denn ihr Mann pflegte zu Hause zu essen, wenn es sich einrichten ließ. Doch als alles fertig war, läutete das Telefon. Eine Schwester richtete ihr aus, dass der Herr Professor wegen einer dringenden Operation nicht kommen könne.

Hanna war erleichtert, denn sie hatte sich davor gefürchtet, Klaus am Tisch gegenüberzusitzen. Erschöpft, als habe sie ein schweres Tagewerk hinter sich, legte sie sich nieder und schloss die Augen. Sie schreckte hoch, als das Telefon klingelte. Obwohl sie mit untrüglicher Sicherheit wusste, dass es diesmal Georg Pflug sein müsse, hob sie ab. Es war sinnlos, dem Schicksal auszuweichen, dem sie doch rettungslos ausgeliefert war. »Gut angekommen? Wie geht’s?«, fragte er, als sei er der beste Freund des Hauses.

»Als ob dich das interessierte«, gab Hanna zornig zurück. »Was willst du?«

»Geld. Das habe ich dir auf dem Schiff doch wohl klar genug mitgeteilt. Ich bin in Schwierigkeiten und muss schnell eine größere Summe flüssig haben.«

»Ich bin nicht reich, Georg.«

»Gewöhne dir lieber an, mich Matthias zu nennen. Dr. Matthias Bruck heiße ich. Man kann nicht vorsichtig genug sein.«

»Wir werden nur noch dieses eine Mal miteinander sprechen. Es ist also gleichgültig, wie ich dich anrede. Auf meinem Sparbuch sind viertausendneunhundert. Die kannst du haben, wenn du mir versprichst, dass es damit zu Ende ist. Lebe du dein Leben und lass mir das meinige. Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben.«

»Knapp fünftausend. Das ist nicht allzu viel. Warum kannst du mir nicht mehr geben? Wenigstens zehntausend?«

»Weil ich’s nicht habe«, stieß sie ungeduldig hervor. »Du machst dir falsche Vorstellungen.«

»Fünftausend sind besser als nichts, Hanna. Können wir uns treffen? Ich wohne in Frankfurt im Hotel Intercontinental.«

Er lebte also weiterhin auf großem Fuß. Deshalb brauchte er wohl ständig Geld.

»Morgen Vormittag«, sagte sie leise. »Ich werde gegen zehn Uhr im Hotel sein.«

»In Ordnung. Vergiss das Geld nicht.«

Hanna legte ohne ein weiteres Wort den Hörer auf. Sie war am Ende ihrer Beherrschung. Ein Weinkrampf schüttelte sie.

Bis zum Abend hatte sie sich so weit erholt, dass sie ihrem Mann von dem Gespräch mit Denise Schoenecker berichten konnte. Die Fahrt nach Sophienlust wurde für den kommenden Sonntag fest aufs Programm gesetzt.

»Morgen muss ich nach Frankfurt, um Besorgungen zu machen«, erklärte Hanna so gleichmütig wie möglich. »Kann ich den Wagen nehmen?«

»Natürlich, ich brauche ihn nicht. Lass dir mal wieder die Großstadtluft um die Nase wehen. Wenn du ein schönes Kleid siehst, kaufe es dir. Es tut mir leid, dass ich dich nicht begleiten kann. Aber es gibt zurzeit eine ganze Menge Arbeit in der Klinik.«

»Ja, schade.«

Lügen über Lügen! Hanna wäre entsetzt gewesen, wenn Klaus die Absicht gehabt hätte, mit ihr zu fahren. Sie musste allein sein, um sich ungestört mit Georg Pflug treffen zu können.

»Besorge auch ein Geschenk für Antje. Sie erwartet gewiss ein Mitbringsel von ihren weitgereisten Eltern.«

»Ja, Ich werde mich umsehen.«

»Du bist so seltsam heute Abend, Hanna.« Klaus war nun doch aufmerksam geworden, denn Hanna konnte sich nicht allzugut verstellen.

»Kopfweh, Klaus. Wahrscheinlich ist es das veränderte Klima. Heute war es richtig schwül.«

»Ob der Kollege Heim etwas übersehen hat bei deiner Untersuchung? Du gefällst mir nicht. Es klingt verrückt, aber es ging dir bei unserer Abreise eigentlich besser als jetzt. Oder irre ich mich?«

Hanna bekam glühende Wangen. »Es geht mir nicht schlecht, Klaus. Schau, ich bin tüchtig braun gebrannt.« Sie streckte den Arm ein wenig vor.

»Auf die Farbe kommt es nicht an, Hanna. Du bist dünner geworden, obwohl du gar nichts zuzusetzen hattest. Außerdem bist du erschöpft, nervös, appetitlos und bis zu einem gewissen Grad sogar apathisch, wenn man sich mit dir unterhält. Du wirst mir doch nicht krank werden, Liebes?« Er nahm sie in den Arm und betrachtete sie forschend und liebevoll.

Ängstlich mied sie seinen Blick. Warum durfte sie nicht aufrichtig zu ihm sein und ihm anvertrauen, was sie quälte?

»Ich gebe dir heute Abend ein Beruhigungsmittel«, meinte er nach kurzer Überlegung. »Dass du nicht sonderlich gut schläfst, habe ich schon auf der Reise bemerkt.«

Hanna erhob keinen Widerspruch und schluckte die kleine blaue Tablette, die er für sie aus dem Apothekenschrank holte. Schon nach kurzer Zeit spürte sie angenehme Mattigkeit und ging zu Bett. Sie versank sofort in einen bleiernen Schlaf. Ihr letzter Gedanke war Dankbarkeit gegen Klaus, der ihr dieses Ausruhen geschenkt hatte.

»Ich liebe dich«, stammelte sie schlaftrunken.

»Ja, Hanna, ich liebe dich auch. Schlaf nur. Das wird dir guttun.«

Die Meinung des Professors, dass es sich bei dem Zustand seiner Frau um eine nervöse Dystonie handeln müsse, festigte sich. Er hatte von Fällen gehört, in denen sich allzu viel Sonne in Verbindung mit dem Seeklima ungünstig auf zarte Personen ausgewirkt hatte. Deshalb war er überzeugt, dass Hanna sich in der heimatlichen Umgebung rasch erholen würde.

Am nächsten Morgen wirkte Hanna etwas frischer. Der tiefe Schlaf hatte ihr wohlgetan.

»Es wird bestimmt besser, Klaus«, behauptete sie so munter wie möglich. »Die Abwechslung, mal nach Frankfurt zu fahren, ist ganz gut. Sonst sitze ich bloß hier herum und schüttele den Kopf über mich, weil ich nicht so fantastisch erholt bin wie du.«

Klaus Martell, sonnengebräunt und sehr jugendlich aussehend, lachte sie an. »Also, viel Vergnügen in Frankfurt, Hanna. Fahre bitte vorsichtig.«

»Natürlich, Klaus.«

Hanna wartete ungeduldig, bis er das Haus verlassen hatte. Dann legte sie für die Zugehfrau einen Zettel zurecht, auf dem sie notierte, was im Hause zu tun war.

Schon zehn Minuten nach dem Aufbruch des Professors lenkte sie das Auto aus der Garage. Zuerst fuhr sie zur Kreissparkasse, wo sie den gesamten Bestand ihres Sparbuches abhob. Außerdem ließ sie sich von dem Konto, das dem Ehepaar gemeinsam gehörte, noch einmal dieselbe Summe auszahlen. Hanna hatte Vollmacht über dieses Konto und brauchte ihrem Mann nicht über jede Abbuchung Rechenschaft abzulegen. Schmerzlich kam ihr jedoch zum Bewusstsein, dass sie im Begriff stand, einen Vertrauensbruch zu begehen, denn sie wollte die Summe für Georg Pflug auf fünftausend abrunden – vom Geld ihres Mannes!

Ich muss es tun, überlegte sie. Nur so komme ich frei von Georg.

Sie steckte die Geldscheine in ihre Handtasche und verließ eilig den Kassenraum.

Die Fahrt nach Frankfurt dauerte nicht allzu lange. Es war kurz nach neun Uhr, als Hanna das Auto in einer Tiefgarage einstellte und mit dem Lift in das darüberliegende Kaufhaus fuhr. Da der Sommer schon vorgerückt war, gab es viele im Preis heruntergesetzte Kleider. Hanna wählte zwei besonders billige aus, von denen die Verkäuferin behauptete, dass sie ursprünglich fast das Dreifache gekostet hätten.

In der Lebensmittelabteilung tätigte Hanna in aller Eile die nötigen Bestellungen für die Klinik. Wie üblich sollten die Sachen zugeschickt werden.

Schließlich wählte Hanna in der Spielwarenabteilung nach einigen Zögern ein Buch mit Tiergeschichten aus aller Welt für Antje aus. Nachdem sie die Kleider und das Buch im Wagen deponiert hatte, nahm sie ein Taxi zum Hotel Intercontinental, denn sie wollte nicht mit ihrem eigenen Auto hinfahren.

In der Hotelhalle herrschte reges Kommen und Gehen. Hanna schlug das Herz bis zum Halse. Verstohlen schaute sie sich um. Sie sah niemanden, den sie kannte. Aber auch von Georg Pflug war keine Spur zu entdecken.

Unruhig und aufgeregt setzte Hanna sich in einen Sessel und griff nach einer der bereitliegenden Zeitungen. Sie blätterte darin, ohne eine Zeile zu lesen. Er kann mich hier nicht warten lassen, dachte sie. Das ist unmöglich.

Ein Boy fragte nach ihren Wünschen. Sie bestellte eine Tasse Tee, weil ihr nichts anderes einfiel.

Georg Pflug erschien mit einer vollen Stunde Verspätung. Er sah abgehetzt und müde aus. Offenbar war sein Leben nicht gerade erfreulich.

»Tut mir leid. Ich wollte dich bestimmt nicht warten lassen. Ich bin aufgehalten worden. Du kannst dir vorstellen, dass ich schon wegen des Geldes pünktlich sein wollte.«

Hanna reichte ihm nicht die Hand. Er setzte sich und kam allmählich ein bisschen zur Ruhe.

»Zehntausend?«, fragte er leise.

»Fünf. Ich habe nicht mehr.«

»Ich komme nicht aus damit. Ich sitze in der Klemme.«

»Was hättest du gemacht, wenn wir uns auf dem Schiff nicht getroffen hätten?«

Er verzog den Mund zu einem hässlichen Lächeln. »Das brauchen wir nicht zu überlegen, denn ich habe dich ja getroffen, mein Schatz. Zuerst dachte ich, dass das für mich gefährlich werden könnte. Aber nun ist mir klargeworden, dass es sogar einbringlich ist. Die brave Schwester Hanna hat dem Herrn Professor natürlich nichts von dem bösen Georg Pflug erzählt. Denn der Herr Professor legt Wert auf eine makellose Vergangenheit. Allerdings musst du nun ein paar Tausender dafür bezahlen. Sonst lasse ich nämlich alles auffliegen, Hanna.«

»Du hast mir versprochen, dass du schweigen wirst.« Ihre Stimme schwankte.

»Daran kann ich mich nicht erinnern. Aber ich weiß genau, dass ich von Geld mit dir gesprochen habe, Hanna. Du wirst die restlichen fünftausend schon zusammenbringen. Es bleibt dir gar nichts anderes übrig. Sonst sorge ich dafür, dass dein Mann eine säuberliche Zusammenstellung der Straftaten des verstorbenen Georg Pflug erhält. Das wäre für dich ziemlich unangenehm, weil du deinen lieben Professor offenbar angeschwindelt hast. Für mich hingegen ist es vollkommen ungefährlich, denn der arme Georg Pflug ist ja tot.«

»Wie gemein du bist.«

»Ich bringe nur mein Schäfchen ins trockene, wie das andere Leute auch tun. Dass du mir das Konzept nicht verderben kannst, ist ganz klar, denn du müsstest sonst zugeben, dass du Mitwisserin der unaufgeklärten Diebstähle auf der Kreuzfahrt bist. Das würde dich wahrscheinlich selbst ins Gefängnis bringen. Merke dir das auf alle Fälle, sofern du in Versuchung kommen solltest, der Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen.«

Hanna schluckte die Tränen herunter. »Warum bist du so grausam? Woher soll ich denn Geld nehmen?«

»Lass dir etwas einfallen. Das ist deine Sache. Jetzt gib mir wenigstens die fünftausend. Oder hast du sie nicht bei dir?« Misstrauisch musterte er Hannas Tasche.

Sie raffte ihren Mut zusammen. »Ich gebe dir das Geld nur, wenn du mir versprichst, mich in Ruhe zu lassen.«

»Nach Zahlung der zweiten fünftausend kannst du damit rechnen, dass ich aus deinem Gesichtskreis verschwinde. Eher nicht.« Kalt sah er sie an.

»Ich will’s versuchen, Georg. Aber ich brauche etwas Zeit.«

»Wie lange? Eine Woche?«

»Ich …, ich werde dich benachrichtigen.«

»In Ordnung. Ich wohne ja hier. Vertu’ dich nicht beim Namen. Ich heiße Dr. Matthias Bruck. Kannst mir auch einen Scheck zuschicken. Ich habe sogar ein Bankkonto. Ist allerdings leider nichts drauf. Deshalb wäre mir bares Geld sympathischer.«

»Was wirst du tun? Gehst du wieder ins Ausland? Könntest du nicht versuchen, eine Stellung zu finden? Nur mit gestohlenem und erpressten Geld kommt man nicht weit.«

»Keine Moralpredigten, Schwester Hanna. Ich habe keine Lust, wieder im Zoo den Bärenmist wegzuräumen und die Tiger zu füttern. Das wäre ja auch für einen Dr. Bruck eine höchst komische Arbeit, nicht wahr? Es geht dich nichts an, was ich mache. Gib mir das Geld. Dann hast du Ruhe und Frieden.«

Hanna öffnete ihre Tasche und schob ihm so unauffällig wie möglich ein Päckchen Scheine zu. Doch Georg Pflug besaß die Unverfrorenheit, das Geld nachzuzählen. Hanna schämte sich entsetzlich, aber niemand in der Halle schien etwas von der geschäftlichen Transaktion zu bemerken.

»Stimmt. Es ist genau die Hälfte.« Er stopfte das Geld in die Tasche seines maßgeschneiderten Jacketts.

Ich bin nicht besser als er, dachte Hanna und fühlte sich sterbenselend. Anstatt ihn anzuzeigen, wie es meine Pflicht als gute Bürgerin wäre, lasse ich mich von ihm erpressen.

»Jetzt bist du ziemlich wütend auf mich, nicht wahr?« Er sah sie spöttisch an.

Hanna antwortete nicht.

»Es macht mir nichts aus«, fuhr er fort. »Hauptsache, ich kriege mein Geld. Schmuck ist allerdings auch ganz gut. Man muss nur wissen, wo man die Sachen verkaufen kann. Hast du vielleicht etwas in der Richtung? Ich könnte die Sachen in diesem Fall sogar zum ehrlichen Schätzpreis verkaufen …«

Hanna hob die Hand. »Sei still! Ich habe keinen Schmuck.«

»Das kann sogar stimmen. Dein Professor scheint ein Geizkragen zu sein. Der altmodische Granattrödel aus Urgroßmutters Zeiten, den du auf dem Schiff getragen hast, ist nicht viel wert. Halbedelsteine! Damit halte ich mich nicht auf. Das lohnt ganz einfach nicht.«

»Lass meinen Mann aus dem Spiel. Ich glaube, wir haben uns nichts mehr zu sagen.« Hanna legte einen Schein auf den niedrigen Tisch. »Bezahle bitte meinen Tee. Ich möchte an die frische Luft.«

»Na, deinen Tee hätte ich dir schon gestiftet«, erklärte der falsche Dr. Bruck herablassend.

»Ich mag nichts von dir haben, nicht einmal einen Schluck Tee.«

»Auch gut. Wie du willst. Ich bin nicht empfindlich. Aber vergiss nicht, dass du mir noch runde fünftausend versprochen hast, und zwar für bald.«

»Du hörst von mir.«

Hanna stand auf und verließ die Halle. Sie ging mit seltsam steifen Knien. Es war ihr, als bewege sich der Teppichboden unter ihren Schuhsohlen. Draußen fand sie glücklicherweise sofort ein Taxi. Als sie im Wagen saß, wurde ihr schwarz vor den Augen.

»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte der nette Chauffeur und drehte sich zu ihr um.

»Es wird gleich besser. Ich habe mich ein bisschen aufgeregt.« Sie kurbelte das Seitenfenster herunter und holte ein paar Mal tief Luft. Dann bat sie den Mann, sie zu ihrer Tiefgarage zu bringen.

Erst auf der Heimfahrt wurde Hanna bewusst, dass sie alles Geld geopfert hatte, das sie besaß, und trotzdem noch mehr beschaffen musste. Woher sollte sie nun weitere fünftausend nehmen?

Hanna lenkte den Wagen in ein Waldstück am Straßenrand, um in Ruhe nachdenken zu können. Doch es kam dabei wenig heraus. Wenn sie behauptete, dass sie heimlich Schulden gemacht habe, würde sich das als Unwahrheit erweisen. Denn sie gab niemals viel Geld für sich persönlich aus. Eine solche Summe würde sie ihrem Mann nicht erklären können. Auch verlieren konnte sie einen so großen Betrag nicht zum Schein. Denn höhere Rechnungen wurden im allgemeinen vom Professor durch Scheck oder Überweisung bezahlt. Er gehörte zu den vernünftigen Leuten, die es für sträflichen Leichtsinn hielten, viel Bargeld mit sich herumzutragen.

Hanna schluchzte auf.

Vielleicht würde Georg es nicht wagen, sich mit ihrem Mann in Verbindung zu setzen. Es war eine Drohung, mehr nicht. Aber gehörte denn viel Mut dazu, einen Brief zu schreiben und Klaus an die Polizei zu verweisen?

Ich werde im Lotto spielen, dachte Hanna. Vielleicht hat das Schicksal ein Einsehen und lässt mich gewinnen. Es ist meine einzige Chance.

*

Antje hielt unter jedem Arm eine junge Katze und strahlte Denise von Schoenecker an. »Sind sie nicht goldig, Tante Isi?«

»Ja, Kleines, ganz reizend. Trotzdem musst du sie jetzt ins Heu zu Muschi setzen. Deine Eltern kommen in einer halben Stunde. Du bist ziemlich schmutzig und musst dich umziehen.«

Antje brachte die Kätzchen zu ihren Geschwistern zurück. »Ich gehe ins Haus und dusche mich, Tante Isi.«

»Freust du dich, dass deine Eltern kommen?«

Antje verzog nachdenklich das hübsche Gesicht. »Genau weiß ich’s nicht, Tante Isi. Natürlich ist es prima, dass ich sie endlich wiedersehe. Aber am liebsten würde ich noch ein bisschen bei euch bleiben. Bei uns gibt es kein einziges Tier. Nur ein paar Amseln und Finken im Garten.«

»Du kannst uns ja mal besuchen.«

»Das mache ich ganz bestimmt, Tante Isi.«

Antje lief ins Herrenhaus. Denise folgte ihr. Sie hatte das unkomplizierte, allzeit vergnügte kleine Mädchen ins Herz geschlossen.

Nick, der bei dem ehemaligen Gutsverwalter Justus im Pferdestall gewesen war, gesellte sich zu seiner Mutter. »Ob sie sie gleich mitnehmen wollen?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht genau. Frau Martell hat es am Telefon nicht ausdrücklich gesagt.«

»Antje ist in Ordnung. Sie kann bleiben, solange sie mag«, meinte Nick. »Henrik ist bestimmt traurig, wenn sie nach Hause muss. Er schwärmt sie nämlich regelrecht an.«

Denise lachte leise. »Unser Kleiner hat sich sehr herzlich mit Antje angefreundet. Warum auch nicht? Aber es stand von Anfang an fest, dass sie nicht allzu lange bleiben würde.«

»Es ist immer dasselbe«, seufzte Nick. »Ich möchte am liebsten, dass alle Kinder bei uns bleiben.«

»Hm, ich weiß es, Nick. Aber dann wäre unser liebes Sopienlust inzwischen restlos überfüllt. Es ist ein Segen, dass selbst heimatlose Kinder wieder ein neues Zuhause finden.«

»Ja, das sehe ich natürlich ein, Mutti. Trotzdem tut’s mir leid. Du, das ist ihr Wagen. Sie sitzen beide drin. Also kein Ehekrach und gar nichts.«

»Aber Nick, wünschst du dir denn so etwas, damit Antje bei uns bleibt?«

»Ach wo. Aber du musst zugeben, dass wir solche Sachen schon erlebt haben.«

Denise war einer Antwort enthoben, denn eben hielt der große Wagen neben ihnen. Sie erschrak bei Hannas Anblick.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte sie besorgt und schlang stützend einen Arm um die abgemagerte Frau, die so erschöpft war, dass sie kaum stehen konnte.

Klaus Martell stieg eilig aus und verbeugte sich. »Meine Frau verträgt offenbar das Autofahren über längere Strecken nicht mehr. Sie fühlt sich nicht wohl. Wäre es vielleicht möglich, dass sie sich ein bisschen niederlegt?«

»Selbstverständlich. Ich bringe Sie ins Gästezimmer, Frau Martell.«

Hanna sprach kein Wort. Mit schleppenden Schritten ging sie an Denises Arm ins Herrenhaus, wo Frau Rennert, die Heimleiterin, sofort zu Hilfe eilte. Schon wenige Minuten später ruhte Hanna in einem freundlich eingerichteten Zimmer. Ihr Mann kam und fühlte ihren Puls.

»Ein Kollaps«, murmelte er. »Wie ist das nur möglich? Heute früh warst du doch ganz munter, Liebes.«

»Ich …, ich weiß es nicht«, flüsterte Hanna mühsam. »Wenn ich jetzt ein Weilchen liegen kann, wird es sicher rasch besser.«

»Vielleicht gibt es hier eine Hausapotheke. Mal sehen, ob ich ein Kreislaufmittel finden kann.«

Schwester Regine, für die Kleinen verantwortlich, wurde befragt. Sie konnte glücklicherweise mit einem Medikament aushelfen.

Nick und Pünktchen übernahmen es, Antje abzufangen, damit sie keinen allzu großen Schrecken bekam. Das kleine Mädchen erschien mit feuchtem Haar in einem sauberen rot-weißen Kleidchen.

»Sind sie nicht eben angekommen?«, fragte Antje aufgeregt.

Pünktchen nahm Antjes Hand.

»Ja, Antje. Aber deiner Mutti ist die Autofahrt nicht gut bekommen. Sie musste sich gleich hinlegen. Du sollst ein bisschen warten, ehe du hingehst. Sie braucht jetzt Ruhe.«

»Ist sie immer noch krank?«, fragte Antje mit erschrockenen Augen. »Sie sollte doch wieder ganz gesund werden auf der Reise.«

»Ein bisschen krank sieht sie aus«, berichtete Nick. »Wenn’s nach mir ginge, müsste sie ein paar Wochen bei uns in Sophienlust bleiben, damit sie sich erholt. Landluft ist nämlich das Beste.«

»Wenn sie hierbleibt, könnte ich auch bleiben«, seufzte Antje. »Aber das geht nicht. Vati muss ja die Kranken in der Klinik gesund machen. Er hat Mutti lieb und mag nicht allein sein.«

Sie beleuchteten den Fall von den verschiedensten Seiten, bis endlich Klaus Martell erschien. Antje rannte wie der Wind auf ihn zu und ließ sich hoch durch die Luft wirbeln zur Begrüßung.

»Fein schaust du aus«, freute sich der Professor. »Wir hätten Mutti auch hier in Pflege geben sollen, scheint mir. Die Seereise war ganz offenbar nicht gut für sie.«

»In Sophienlust kann man sich prima erholen, Herr Professor«, warf Nick ein. »Es werden auch Erwachsene aufgenommen. Mutti lädt Ihre Frau bestimmt gern ein, wenn ich sie frage.«

Klaus Martell lächelte. »Das ist sehr freundlich von dir, mein Junge. Aber ich denke, dass sie ärztliche Behandlung braucht.«

»Die kann man hier auch haben.« So leicht ließ sich Nick nicht abweisen.

Denise, die Hanna auf deren Wunsch allein gelassen hatte, legte die Hand auf die Schulter ihres Sohnes. »Wir wollen zunächst abwarten, wie sich Antjes Mutter in einer Stunde fühlt. Es gibt Menschen, die beim Autofahren sterbenskrank werden und sich dann sehr schnell erholen.«

Klaus Martell schwieg. Er fand den Zustand seiner Frau nachgerade besorgniserregend. Trotzdem glaubte er nicht an eine ernste körperliche Erkrankung, sondern schob ihren Zusammenbruch auf nervöses Versagen. Vergeblich suchte er nach dem Grund dafür.

Denise führte den Gast ins Biedermeierzimmer, und Antje wich nicht von der Seite ihres Vaters. Sie erzählte von den jungen Kätzchen, von den Ponys, auf denen sie geritten war, von Andrea’s Tierheim und von den Sophienluster Kindern, wobei Henriks Name besonders häufig fiel.

Kurz vor Tisch gesellte sich Alexander von Schoenecker zu ihnen. Der Einfachheit halber sollte heute gemeinsam in Sophienlust gegessen werden.

»Ich schau mal nach meiner Mutti. Darf ich?«, fragte Antje leise und sehnsüchtig.

»Ja, geh nur.« Denise lächelte ihr zu und dachte, vielleicht würde die Freude über das Wiedersehen mit dem Kind ein gutes Heilmittel sein.

»Wenn es die angegriffene Gesundheit Ihrer lieben Frau erfordert, behalten wir Antje gern noch bei uns in Sophienlust, Herr Martell«, bot Denise dem Professor an, sobald Antje das Zimmer verlassen hatte. »Ich gestehe, dass mich das Aussehen Ihrer Frau gleich bei der Ankunft erschreckte.«

»Ob es ein Fehler war, mit ihr die Mittelmeerfahrt zu unternehmen? Ich habe mir diese Frage in letzter Zeit schon mehrmals gestellt. Wir hatten uns so viel von der Reise versprochen. Ich selbst fühle mich um Jahre verjüngt.«

»Gibt es etwas, das Ihrer Frau Kummer bereitet? Mein persönlicher Eindruck ist, dass sie unter einem seelischen Druck leidet.«

Klaus Martell hob ratlos die Schultern.

»Sie kann sich die Fehlgeburt doch nicht so zu Herzen genommen haben. Es war der erste Schatten in unserer Ehe. Wir freuten uns beide auf das Kind.«

»Manchmal ist eine solche Enttäuschung für eine Frau sehr tiefgreifend«, erwiderte Denise nachdenklich.

Der Gong rief zu Tisch.

Antje erschien ohne ihre Mutter. »Sie möchte nicht essen, Tante Isi«, richtete die Kleine betrübt aus. »Dabei hat Magda doch Hähnchen gebraten.«

»Vielleicht bekommt sie später Appetit«, tröstete Denise. Sie bemühte sich bei Tisch, Antje und ihren Vater ein wenig abzulenken. Alexander von Schoenecker fragte nach der Route der Seereise, und Klaus Martell begann zu erzählen, wobei er auch die Diebstähle auf dem Schiff erwähnte. Die Erwachsenen schüttelten darauf den Kopf, während die Kinder die Sache abenteuerlich und spannend fanden.

»Was so alles passieren kann«, äußerte Nick. »Wenn ich mit an Bord gewesen wäre, hätte ich mich auf die Lauer gelegt. Ist Ihnen auch etwas geklaut worden, Herr Professor?«

Klaus Martell unterdrückte ein Schmunzeln, und Nick übersah den mahnenden Blick seiner Mutter. »Nein, wir hatten wohl nicht genügend Wertvolles bei uns, und das Geld gaben wir dann in den Safe.«

»Was tut ein Dieb mit dem Schmuck?«, fragte Henrik mit runden Augen. »Wenn er ihn verkaufen will, fällt es doch gleich auf.«

»So etwas wird von ganz bestimmten Leuten gekauft«, belehrte Nick ihn mit der Miene eines welterfahrenen Mannes. »Dann wird der Schmuck umgearbeitet und wieder verkauft. Man findet die Stücke nie wieder.«

»Gemein«, sagte Irmela. »Mir tut die junge Frau leid, die auf der Hochzeitsreise war. Es stört mich auch, dass der Dieb nicht gefunden wurde.«

»Da hast du recht«, bestätigte der Professor. »Mir ist das genauso unangenehm. Es sind leider so viele Menschen auf einem solchen Schiff, dass es fast unmöglich ist, einen geschickten Dieb zu finden. Die Polizei hat sich viel Mühe gegeben, aber ohne Erfolg.«

Den Kindern war dieses Thema interessanter als die fremden, bunten Hafenstädte, von denen der Professor eigentlich hatte erzählen wollen. Sie stellten immer neue Fragen. Erst Magdas wohlgelungene Eisbombe mit Früchten brachte eine Ablenkung. Sobald die Teller gefüllt waren, senkte sich andächtiges Schweigen über das große Esszimmer. Die Kinder vergaßen über der kalten Schleckerei alles andere, während die Erwachsenen lächelnde Blicke tauschten.

Als das Essen vorüber war, bat Klaus Martell Denise um Entschuldigung, weil er sich um seine Frau kümmern wollte.

Antje schob ihre Hand in die ihres Vaters. »Darf ich mitgehen, Vati?«

»Ja, gewiss. Mutti hatte Sehnsucht nach dir.«

»Ob sie sich nachher die jungen Katzen ansehen kann? Nach Bachenau zu Tante Andrea wollten wir eigentlich auch. Zu dumm, dass Mutti nicht gesund ist.«

Sie fanden Hanna unverändert matt. Auch jetzt wollte sie nichts zu essen haben.

Antje legte den Kopf neben den ihrer Mutter aufs Kissen. »Vati hat beim Essen von eurer Reise erzählt. War es sehr aufregend, als der Dieb kam?«, fragte sie gespannt.

Über Hannas blasses Gesicht ging ein Zucken. »Hat Vati davon erzählt? Es war nicht schön, Antje. Man möchte sich doch auf einer Ferienreise freuen und nicht über einen Dieb ärgern.«

»Nick hätte ihn bestimmt erwischt. Er ist sehr klug und kann alles.«

»Aber Nick war leider nicht mit auf dem Schiff, Antje«, meinte der Professor. »Du darfst nicht so auf Mutti einreden. Das strengt sie an. Setz dich da drüben still hin.«

Antje küsste Hanna auf die Wange und ging zu einem Sessel beim Fenster. Dort machte sie es sich bequem und sah ihre Mutter unverwandt an.

Klaus Martell zog sich einen Stuhl an das Bett und hielt Hannas Hand, die eiskalt war. Der Puls ging viel zu schnell, doch Fieber hatte Hanna nicht.

»Wir hätten die Fahrt um eine oder zwei Wochen verschieben sollen.«, flüsterte Hanna mutlos. »Jetzt mache ich hier nur Ungelegenheiten.«

»Frau von Schoenecker ist sehr verständnisvoll, Hanna. Sorge dich deshalb bitte nicht.«

Hanna schloss die Augen, doch er sah, dass sie nicht schlief. Mehr als zwei Stunden vergingen so. Dann richtete sich Hanna unvermutet auf. »Ich denke, es geht jetzt einigermaßen. Vielleicht kann ich einen starken Kaffee bekommen?«

Antje strahlte. »Ich laufe in die Küche zu Magda, Mutti. Tante Isi wird sich freuen.«

Der Professor strich seiner Frau über das wirre Haar. »Du willst es erzwingen. Das sehe ich dir an. Frau von Schoenecker machte mir vorhin das Angebot, Antje weiterhin hier in Sophienlust zu behalten, damit du dich gründlich ausruhen kannst. Was hältst du davon? Ich glaube, Antje bliebe ganz gerne.«

Hanna seufzte. »Es …, es ist vielleicht das Beste. Aber es fällt mir schwer, mich noch einmal von meiner Kleinen zu trennen.« Sie stand auf und ging mit unsicheren Schritten ins angrenzende Bad, um sich etwas zu erfrischen und ihr Haar zu richten.

Es klopfte. Denise von Schoenecker erschien mit einem Tablett, auf dem sich eine Kaffeekanne, Milch und Zucker und zwei Tassen befanden. Sie bewirtete Hanna und ihren Mann.

»Das tut gut«, flüsterte Hanna dankbar.

»Fahren wir gleich nach Bachenau?«, warf Antje hoffnungsvoll ein. »Das Tierheim müsst ihr nämlich unbedingt sehen. Tante Andrea wollte Apfelkuchen backen. Nicht wahr, Tante Isi?«

»Ich fürchte, das wird deiner armen Mutti zu viel, Antje.«

»Wir holen die Besichtigung später nach«, fügte Hanna scheu hinzu. »Es beschämt mich, dass Ihre Tochter umsonst Vorbereitungen getroffen hat.«

»Wir schicken ihr dafür eine Abordnung von Buben und Mädchen zusammen mit Schwester Regine. Andrea freut sich auch, wenn Sie selbst ein andermal kommen. Es ist nicht Ihre Schuld, dass es heute unmöglich ist.«

Denise lächelte Hanna aufmunternd zu.

Diese fasste sich ein Herz. »Mein Mann sagte mir, dass Sie bereit wären, Antje noch für einige Zeit zu behalten, Frau von Schoenecker. Vielleicht ist es richtig, wenn wir dieses Angebot annehmen, sofern Antje nicht einem anderen Kind den Platz wegnimmt.«

»Ich bleibe gern noch ein bisschen hier, Mutti«, rief Antje lebhaft aus. »Nicht wahr, ich darf, Tante Isi?«

»Gewiss, mein Kleines. Du siehst selbst, dass deine Mutti sich noch ein Weilchen schonen muss.«

»Ja. Außerdem wäre es schade, wenn wir jetzt nach Hause fahren müssten, ohne dass Mutti und Vati das Tierheim gesehen haben. Ich wollte ihnen auch zeigen, wie gut ich reiten kann. Und die kleinen Kätzchen müssen sie auch sehen. Sie müssen wiederkommen.«

»Wir sind Ihnen sehr dankbar, Frau von Schoenecker«, sagte Klaus Martell rasch.

»Es ist unsere Aufgabe zu helfen, lieber Professor. Nicht immer ist es Geldnot, die Kinder in Schwierigkeiten geraten lässt. Es kann auch ein Krankheitsfall sein wie bei Ihnen oder ein anderes Problem. Werden Sie die Rückfahrt einigermaßen überstehen, Frau Martell? Selbstverständlich können Sie sich ein paar Tage hier erholen, wenn Sie das möchten.«

»Nein, ich muss nach Hause«, stieß Hanna hastig hervor. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich einzuladen. Aber ich glaube, ich kann nur zu Hause wieder zu Kräften kommen.« Sie wirkte bei dieser Erklärung so erregt, dass ihr Mann und Denise sie verwundet ansahen.

Gegen fünf Uhr nachmittags fuhr das Ehepaar ab. Denise und Alexander von Schoenecker standen mit Antje auf der Freitreppe und winkten. Die Mehrzahl der Sophienluster Kinder, die sonst bei der Abfahrt von Besuchern den traditionellen großen Bahnhof veranstalteten, befand sich bei Andrea und Hans-Joachim von Lehn, um wieder einmal das Tierheim Waldi & Co zu besichtigen. So ergab sich für den leckeren Apfelkuchen der jungen Frau reichlich Verwendung. Die zurückgebliebenen Kinder aber hatten mit dem Hauslehrer Wolfgang Rennert einen ausgedehnten Waldspaziergang unternommen.

»Was fangen wir jetzt mit dir an?«, fragte Denise ein bisschen ratlos.

»Ich hab’ ja das neue Tierbuch von Mutti und Vati.« Besonders begeistert klang das jedoch nicht. »Tante Ma ist im Haus.« So wurde Frau Rennert, die Heimleiterin, genannt. »Aber sie ist jetzt bestimmt bei Tante Carola und bei ihren Enkeln und möchte jetzt ungestört sein. Weißt du, wir fahren am besten nach Bachenau zu Tante Andrea.«

Alexander war einverstanden. »Wir haben Peterle eine ganze Woche nicht gesehen. Antje kann mit den anderen Kindern im Schulbus zurückfahren.« Er ging mit langen Schritten auf seinen Wagen zu, der unter einem schattigen Baum geparkt war.

»Zwei Minuten, Alexander«, bat Denise. »Ich möchte im Haus Bescheid sagen. Sonst wird Antje vermisst.«

Denise fand Frau Rennert in ihrem Büro. Carola und die niedlichen Zwillinge leisteten ihr Gesellschaft. Die gewissenhafte Heimleiterin hatte ihren Posten nicht verlassen wollen, weil sie sich allein im Hause wusste.

»Jetzt behält Nick doch recht«, sagte Frau Rennert gedankenvoll. »Er hat seit drei Tagen ständig davon geredet, dass Antje hierbleiben soll.«

»Tut er das nicht bei jedem Kind, das uns verlassen will?«, meinte Denise.

»Ja, das stimmt«, bestätigte Carola. »Für Nick ist Sophienlust nun mal der Himmel auf Erden. Er ist ständig in Sorge, dass es die Kinder woanders nicht so gut haben könnten wie bei uns.«

Denise warf der jungen Mutter einen liebevollen Blick zu und verabschiedete sich dann. Rasch verließ sie das Haus, das so vielen Kindern zur Heimat geworden war.

*

Hanna wurde kreidebleich, als sie die Stimme Georg Pflugs am Telefon erkannte. Ihr Mann saß neben ihr. Er war für eine halbe Stunde aus der Klinik herübergekommen, um bei ihr eine Tasse Kaffee zu trinken.

»Sie müssen falsch gewählt haben«, sagte sie mühsam. »Hier ist die Wohnung von Prof. Martell.« Dann legte sie den Hörer so schnell auf, als wäre er aus glühendem Metall und verbrenne ihr die Finger.

»Falsch gewählt?«

»Ja, das kommt schon mal vor, Klaus. Heute kam übrigens ein Briefchen von Antje. Willst du es lesen?«

»Erzähle mir nur, was sie schreibt. Geht es ihr gut?«

»Sie hat sich eine junge Katze schenken lassen. Große Anfrage bei uns, ob sie das Tier mit nach Hause bringen darf.«

»Meinetwegen. Aber sie muss selbst für die Katze sorgen. Das mache ich zur Bedingung.«

»Das tut sie gewiss.«

»Frau von Schoenecker erzählte Wunderdinge über Antjes Umgang mit Tieren. Die Freundschaft mit der Familie von Lehn wird zur Folge haben, dass wir hier auch eine Art Zoo einrichten müssen.«

»Eine Katze, Klaus, ist doch kein Zoo.«

»Immerhin ein Anfang. Bei Frau von Lehn war es zuerst auch nur ein herrenloser Dackel namens Waldi. Jedenfalls kann unsere Antje ihr väterliches Erbe nicht verleugnen. Möglich, dass sie mal Tiermedizin studiert. Warum auch nicht?«

Hanna schwieg. Von Antjes Vater mochte sie jetzt nicht sprechen. Ihr schlug das Herz noch immer bis zum Halse. Klaus Martell trank seinen Kaffee aus.

»Ich werde mir Mühe geben, heute nicht zu spät zurückzukommen, Hanna.«

Er stand auf und küsste sie auf die Stirn. »Geht es dir eigentlich besser? Zugenommen hast du nicht. Und die gute Farbe vom Schiff ist inzwischen weg.«

»Du bist auch nicht mehr so dunkelbraun wie zuvor, Klaus. Ich fühle mich wirklich besser.«

Erleichtert atmete Hanna auf, als sich die Haustür hinter ihrem Mann geschlossen hatte. Vom Fenster aus vergewisserte sie sich, dass er nicht zurückkam. Dann erst wagte sie es, die Nummer des Hotels in Frankfurt aus ihrem Notizbüchlein herauszusuchen und zu wählen.

»Bitte Dr. Bruck!«

Wieder die verhasste Stimme. Trotzdem war Hanna froh, dass sie Georg erreicht hatte. Nun würde er wenigstens nicht noch einmal anrufen.

»Hier ist Hanna. Du hattest versprochen, mich nicht anzurufen. Mein Mann saß unmittelbar neben dem Telefon. Tu das bitte nicht wieder.«

»Deine Schuld, mein Schatz. Ich warte nämlich auf mein Geld.«

»Ich habe dir doch geschrieben, dass ich Zeit brauche.«

»Ich habe leider nicht soviel Zeit, Hanna. Allmählich wird es mir zu dumm. Ich glaube, du führst mich bloß an der Nase herum. Heute ist Freitag. Am Montag erwarte ich dich um zehn hier im Hotel. Dann musst du mir das Geld bringen. Wenn nicht, dann hat der Professor am Dienstag einen Brief ohne Unterschrift in seiner Post, aus dem er das Nötige über die Vergangenheit seiner Ehefrau erfährt.«

»Georg, ich …«

»Georg ist tot. Ich bin Dr. Matthias Bruck. Also bis Montag, Hanna. Lass dir etwas einfallen. Der Professor ist kein armer Mann. Fünftausend kann er schon entbehren.«

»Ich komme am Montag. Auf Wiedersehen.« Hanna drückte auf die Gabel, um nichts mehr hören zu müssen.

Drei Wochen waren seit der ersten Zahlung vergangen. Hanna hatte im Lotto getippt und natürlich nicht gewonnen. Sie hatte etwas Geld beiseite gelegt und kam sich deswegen wie eine Diebin vor. Fünfhundert. Das war genau ein Zehntel von dem, was Georg verlangte.

Vergeblich sann und grübelte Hanna um einen Ausweg zu finden. Ehe ihr Mann zum Abendessen heimkehrte, trank sie gegen jede sonstige Gewohnheit ein Glas Likör, weil sie sich irgendwie Mut machen musste, um das Zusammensein mit Klaus zu überstehen, ohne ihm alles zu sagen. Ihr Wunsch, sich einem Menschen anvertrauen zu können, wurde immer sehnlicher. Doch sie durfte es nicht wagen. Sie war dazu verurteilt, zu schweigen und diesen schrecklichen Weg allein zu gehen. Bis zum bitteren Ende.

Der Sonnabend brachte eine Überraschung. Nachmittags standen unangemeldet Thomas und Michaela Wolfsen vor der Tür.

»Hoffentlich stören wir nicht«, sagte Michaela lachend. »Wir mussten nach Frankfurt. Da fiel uns ein, dass wir einen Abstecher zu Ihnen machen könnten.«

»Eine großartige Idee«, freute sich der Professor. »Jetzt fehlt nur noch Dr. Bruck. Dann wäre unser Tisch vom Schiff wieder vollzählig.«

Hanna beeilte sich, Kaffee zu machen. Dazu schnitt sie den Nusskuchen auf, den sie für den Sonntag gebacken hatte.

»Wo mag der Doktor jetzt sein?«, fragte Michaela Wolfsen, als man mitten im schönsten Erinnern an die ereignisreiche Reise war. »Er wollte eine Asienfahrt antreten, erzählte er mal. Genau wusste er es allerdings noch nicht.«

»Vielleicht bekommen wir eines Tages eine Postkarte aus Peking«, scherzte ihr Mann. »Bruck ist ein interessanter Mensch. Ich habe ihn insgeheim ein bisschen um seine Unabhängigkeit beneidet.«

»Na, hör mal! Jetzt bin ich aber beleidigt«, beschwerte sich Michaela.

»Ich meine seine finanzielle Unabhängigkeit, Liebling. Es muss herrlich sein, wenn man ohne Sorgen durch die Welt reisen kann.«

»Das wird auf die Dauer bestimmt langweilig«, erklärte Michaela. »Du würdest es nicht sechs Monate aushalten ohne deine Arbeit.«

Thomas Wolfsen war Architekt. Er liebte seinen Beruf und hatte sich darin bereits einen Namen gemacht.

»Na ja, vielleicht würde ich unterwegs mal Halt machen und etwas bauen«, räumte er ein. »Luftschlösser, zum Beispiel.«

Hanna umsorgte die Gäste, beteiligte sich aber kaum an der fröhlichen Unterhaltung. Wenn Klaus und die beiden Wolfsens wüssten, dass der sogenannte Dr. Bruck in Frankfurt im Hotel wohnt, dachte sie.

Natürlich kam die unvermeidliche Frage nach dem gestohlenen Schmuck. Klaus Martell stellte sie, obwohl Hanna ein Stoßgebet zum Himmel geschickt hatte, er möge nicht daran denken.

»Die Sache wird von der Versicherung noch bearbeitet. Wir müssen uns in Geduld fassen. Aber uns ist zugesagt worden, dass der Schaden voll ersetzt wird«, erwiderte Thomas Wolfsen. »Michaelas Mutter weiß nichts davon. Das ist besser so. Sobald klar ist, dass wir das Armband nicht wiederbekommen können, werde ich ein neues besorgen.«

Am Abend beschlossen die beiden Ehepaare, gemeinsam nach Frankfurt zum Essen zu fahren. Hanna wäre am liebsten zurückgeblieben. Doch das wäre aufgefallen.

Glücklicherweise waren die drei anderen in so guter Stimmung, dass ihnen Hannas Schweigsamkeit nicht recht zum Bewusstsein kam.

Es war ein Uhr nachts, als man sich voneinander verabschiedete. Das Ehepaar Wolfsen wollte in Frankfurt übernachten.

»Wo wohnen Sie?«, fragte Hanna.

»Im Intercontinental. Da steigen wir gern ab.«

Hanna schwieg betroffen. Die Kehle war ihr eng geworden. Was würde geschehen, wenn die beiden dort zufällig Georg Pflug begegneten?

»Reizende Leute, die beiden«, sagte Klaus Martell auf der Heimfahrt. »Wir müssen sie mal besuchen am Bodensee.«

»Ja, das wäre schön« Hanna wunderte sich, dass sie trotz ihrer Angst ruhig mit ihrem Mann sprechen konnte. Das Bewusstsein, dass sie nichts tun konnte, wirkte fast tröstlich. Sie ergab sich in ihr Schicksal und fasste in der Nacht einen Entschluss. Wenn die Wolfsens im Hotel Georg Pflug nicht begegnen sollten, wollte sie ihrerseits einen Schlussstrich unter die ganze Geschichte ziehen. Bisher hatte sie diese Möglichkeit stets von sich gewiesen. Nun wurde ihr klar, dass sie sich loskaufen musste – um jeden Preis.

Wenn es vorbei ist, wird Georg mich in Ruhe lassen, dachte sie. Ich werde meine kleine Antje holen, und alles wird so sein wie früher.

Hanna schlief nicht in dieser Nacht. Trotzdem fühlte sie sich am Sonntag nicht allzu müde. Das Telefon klingelte mehrmals. Aber eine alarmierende Nachricht kam nicht. Der Sonntag verlief sogar ein bisschen eintönig, weil Klaus sich hinter Fachzeitschriften vergrub und nicht gerade gesprächig war.

Am Montagmorgen teilte Hanna ihm mit, dass sie nach Frankfurt fahren wolle.

»In Ordnung, Hanna. Bleibst du über Mittag? Ich kann drüben in der Klinik essen. Dann brauchst du dich nicht zu beeilen.«

»Ja, ich bleibe vielleicht über Mittag. Ich habe eine ziemlich lange Liste von Besorgungen. Wir brauchen allerlei neue Wäsche für die Klinik. Ich muss mir ein paar Muster zeigen lassen.«

»Ich weiß. Also bis zum Abend, Hanna. Fahr bitte vorsichtig. Du weißt, dass ich dich sehr lieb habe. Es wäre schrecklich, wenn dir etwas passierte.«

»Ich gebe schon acht, Klaus. Leb wohl.«

Hanna war nicht einmal aufgeregt. Sie nahm ihre Handtasche und holte den Wagen aus der Garage. Die Putzfrau wusste, was zu tun war. Da sie einen Schlüssel hatte, brauchte Hanna nicht auf sie zu warten.

Sie erreichte die Stadt ohne Zwischenfall. Diesmal wagte sie es auch direkt zum Hotel zu fahren.

Georg saß bereits in der Halle. Wenigstens war er diesmal pünktlich. Er sprang auf und kam ihr ein paar Schritte entgegen. Es fiel ihm schwer, seine Aufregung zu verbergen.

»Hast du das Geld mitgebracht?«

»Nein, kein Geld …«

»Bist du verrückt? Es war doch abgemacht. Jetzt lasse ich mir nichts mehr gefallen. Denkst du, das ist ein lustiges Gesellschaftsspiel?«

»Ich habe dir Schmuck mitgebracht. Mein Mann hat ihn erst neulich für mich in München gekauft.«

»Ist er wenigstens etwas wert? Wenn ich an das altmodische Zeug auf dem Schiff denke …«

»Weißgold und Rubine. Leider kann ich dir die Stücke nicht hier zeigen. Es würde auffallen.«

»Allerdings. Ich muss sie mir nämlich sehr genau ansehen. Bilde dir nicht ein, dass du mich hereinlegen könntest. Ich verstehe mich auf Wertsachen.«

»Meinetwegen können wir zu einem Juwelier gehen. Mein Wagen steht ganz in der Nähe. Hast du übrigens Herrn und Frau Wolfsen hier im Hotel getroffen?«

»Die vom Schiff? Nein. Das wäre mir auch nicht sonderlich angenehm gewesen. Es wäre auch nicht gut, wenn sie uns beide hier beisammen sähen.«

»Gehen wir besser. Komm, schnell.«

Hanna wäre am liebsten im Laufschritt aus der Halle gestürmt. Doch sie nahm sich zusammen und ging langsam. Georg Pflug folgte ihr. Er ließ sie keine Sekunde aus den Augen, denn er traute ihr nicht.

»Da steht mein Wagen.«

»Ein schicker Schlitten.«

Hanna antwortete nicht, sondern schloss auf und stieg ein. Dann beugte sie sich zur rechten Tür hinüber und öffnete von innen die Verriegelung, damit Georg sich neben sie setzen konnte.

»Ich dachte schon, du wolltest davonfahren. Zeig mir jetzt gleich den Schmuck.«

Hanna öffnete ihre Tasche und reichte ihm die beiden hübschen Kästchen, die er sofort aufschnappen ließ.

»Ich nehme die Sachen. Ich hätte mir denken können, dass du viel zu dumm bist, um mich hereinzulegen. Du bist schon früher auf jeden Schwindel hereingefallen, weil du selbst immer ehrlich warst. Das solltest du dir schnellstens abgewöhnen, denn es bringt nichts ein im Leben.«

»Wenn du die Sachen akzeptierst, kannst du ja wieder aussteigen«, antwortete Hanna zornig und ohne auf seine Beleidigungen einzugehen. »Je schneller wir es hinter uns bringen, desto besser.«

»Ganz meine Meinung. Aber da wir gerade so schön im Wagen sitzen, könnten wir gleich zu einem Bekannten von mir fahren, bei dem man sofort bares Geld für die Stücke bekommt.«

»Ich möchte damit nichts zu tun haben, Georg.«

»Ich wollte Geld haben. Vorläufig ist es Schmuck. Jetzt kannst du schon noch ein halbes Stündchen opfern, damit auch wirklich Geldscheine daraus werden.«

Hanna zuckte die Schultern. »Versprich mir, dass du mich danach für immer in Ruhe lässt.«

»Großes Ehrenwort, Hanna. Ich gönne dir ein gutes Leben mit deinem Professor. Er schenkt dir bestimmt neuen Schmuck.«

Sie wartete, bis er ausgestiegen war. Dann rutschte sie auf den Platz neben dem Steuer. Er ließ den Motor an und ordnete sich schnell in den fließenden Cityverkehr ein. Hanna saß stocksteif neben ihm und hatte den Wunsch, dass diese Fahrt recht schnell zu Ende sein möge.

»Achtung, Georg!«

Die Bremswirkung war so stark, dass Hanna mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geschleudert wurde. Dann verlor sie das Bewusstsein.

Georg Pflug traf an dem Unfall keine Schuld. Ein Straßenbahnzug, der auf dem Mittelstreifen der Straße in voller Geschwindigkeit dahingebraust war, entgleiste und blockierte plötzlich die Fahrbahn. Nicht weniger als elf Kraftfahrzeuge wurden in Mitleidenschaft gezogen. Einer der drei Wagen des Straßenbahnzugs stürzte um. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich die Straße in ein Inferno verwandelt.

Weder Georg Pflug noch Hanna nahmen von diesen Begleitumständen etwas wahr, denn beide hatten die Besinnung verloren. Georg Pflug war zwischen Sitz und Lenker eingeklemmt. Die Rettungsmannschaften hatten Mühe, ihn aus seiner Lage zu befreien.

Polizei und Krankenwagen, sowie zwei Notärzte waren schnell zur Stelle. Die Verletzten wurden teilweise sofort versorgt. Hanna und ihr erster Mann wurden in ein Unfallkrankenhaus abtransportiert.

*

»Na, jetzt geht’s schon wieder, nicht wahr?«

Hanna sah einen fremden Mann im weißen Arztkittel, der sich über sie beugte und ihr ermutigend zunickte. Sie konnte sich zunächst an nichts erinnern.

»Wir haben Ihren Mann verständigt, Frau Martell. Sie hatten Ihre Handtasche mit den Papieren noch fest in der Hand. Es ist Ihr Wagen gewesen, nicht wahr?«

»Ja, natürlich ist es unser Auto. Ach so, jetzt weiß ich es wieder. Die Straßenbahn! Wie kam es, dass sie plötzlich aus dem Gleis sprang?«

»Keine Ahnung, gnädige Frau. Ich bin Arzt. Sie haben Glück gehabt. Vorsichtshalber behalten wir Sie bis morgen früh hier. Aber soviel wir feststellen konnten, handelt es sich nur um eine leichte Gehirnerschütterung und um einen kleinen Schock. Das geht vorüber, wenn Sie sich zu Hause ein bisschen schonen. Allerdings sind Sie ziemlich lange ohne Bewusstsein gewesen. Das kann auf die Schockwirkung zurückzuführen sein. Ich soll Ihnen Grüße von Ihrem Mann ausrichten. Er will gegen Abend kommen.«

Hanna hörte nicht genau zu. Die Worte: Wir haben Ihren Mann verständigt, hallten dumpf und drohend in ihr nach. »Was …, was haben Sie ihm gesagt?«, flüsterte sie etwas mühselig.

»Nun, dass Sie hier eingeliefert wurden nach einem Unfall und dabei noch Glück gehabt haben.«

»War er sehr aufgeregt?«

»Ich denke schon. Aber wir konnten ihn beruhigen.«

»Wie …, wie geht es Dr. Bruck?«

»Er hat zwei Rippen gebrochen. Schmerzhaft, aber nicht gefährlich. Außerdem war ein Arm ausgekugelt.»

»Muss er hier im Krankenhaus bleiben?«

»Nein. Er wollte in sein Hotel zurück. Zimperlich ist er nicht. Wir haben ihm einen Leukoplastverband angelegt.«

Hanna besaß nicht den Mut, weitere Fragen zu stellen. Jedenfalls nicht nach dem falschen Dr. Bruck. Sie fühlte sich befreit, weil Georg die Klinik bereits verlassen hatte.

»Wissen Sie, was mit unserem Wagen geschehen ist?«

»Keine Ahnung. Er wird in eine Werkstatt gebracht worden sein. Das erfahren Sie morgen früh bei der Polizei.«

»Ja, natürlich.» Hanna schwieg. Das Sprechen hatte sie angestrengt. Der fremde Arzt, der nicht einmal daran gedacht hatte, ihr seinen Namen zu nennen, verließ das Zimmer, versprach aber in einer Stunde wieder nach ihr zu sehen.

Hanna hob den Kopf und entdeckte auf dem Nachttisch ihre Armbanduhr, die sie zu sich heranzog. Zwei Uhr nachmittags. Das Hämmern hinter ihren Schläfen war fast unerträglich.

Nach einer Weile kam eine Schwester herein. Sie trug Hannas Kleidung über dem Arm.

»So, Frau Martell. Wir hatten die Sachen in der Ambulanz liegen. Die Handtasche steht da im Wandschrank Die beiden Schmuckkästchen habe ich dazugelegt. Die Rettungssanitäter hatten alles fein säuberlich aufgesammelt, als sie Sie zu uns brachten.«

»Die Schmuckkästchen? Darf ich mal sehen?«

»Sicher. War etwas darin? Im allgemeinen geht bei Unfällen nichts verloren. Unsere Rettungssanitäter sind gewissenhaft.« Die Schwester reichte Hanna die beiden Kästchen.

Ja, die beiden kostbaren Stücke lagen unversehrt darin. Hanna starrte darauf und konnte sich keinen Reim machen.

»Alles in Ordnung, Frau Martell?«, erkundigte sich die Schwester.

»Ja. Die Sachen müssen heruntergefallen sein im Wagen.«

»Möglich. Bei einem Zusammenstoß kommt alles durcheinander. Darf ich mal sehen? Wie wunderschön! Gehören die beiden Stücke Ihnen?«

»Ja, ein Geschenk von meinem Mann.«

»Herrlich. Beinahe könnte man ein bisschen neidisch werden. Soll ich die Sachen wieder in den Schrank tun?«

»Das wäre nett von Ihnen. Vielen Dank.«

»Die Kleider tue ich auch weg. Es sieht dann ordentlicher aus.«

Hanna konnte beobachten, wie die Schwester Mantel und Kleid sorgsam über einen Bügel hängte.

»Haben Sie noch einen Wunsch, Frau Martell?«

»Nein, danke. Ich will versuchen, ein bisschen zu schlafen.«

Die Schwester nickte ihr freundlich zu und ging hinaus. Hanna schloss die Augen. Ich kann’s nicht ändern, dachte sie. Nun sind die beiden Schmuckstücke eben hier. Sie müssen Georg aus der Tasche gefallen sein bei dem Zusammenprall.

*

Georg Pflug hatte den Verlust der beiden Schmuckkästchen gar bald festgestellt. Deshalb hatte er darauf bestanden, so rasch wie möglich aus dem Krankenhaus entlassen zu werden. Er kaufte sich Schmerztabletten und fuhr mit einer Taxe zum Hotel, um sich umzuziehen, nahm einige Tabletten und machte sich erneut auf den Weg. Erst nach einigen vergeblichen Bemühungen gelang es ihm den arg mitgenommenen Wagen des Professors, der von der Polizei sichergestellt worden war, zu finden. Seine Enttäuschung war groß, als man ihm nicht gestattete, das Wageninnere zu durchsuchen. Seine ärgerlichen Erklärungen, dass ihm bei dem Unfall Wertgegenstände abhanden gekommen seien, nützten ihm nichts.

»Am besten ist es, Sie geben genau zu Protokoll, was fehlt. Falls sich die Sachen nicht finden, müsste man Anzeige gegen Unbekannt erstatten. Es kommt schon mal vor, dass Wertsachen in der allgemeinen Verwirrung gestohlen werden, wenn ein Unfall passiert und eine Menge Leute herumstehen. Aber meist findet sich alles wieder. Sorgen Sie sich also nicht allzusehr, Herr Dr. Bruck.« Der Beamte war vollkommen ruhig und ahnte nicht, wie schwierig die Lage für den sogenannten Herrn Dr. Bruck nun geworden war. »Das wichtigste ist, dass niemand ernstlich verletzt worden ist«, fügte er hinzu. »Möchten Sie nun, dass wir über die in Verlust geratenen Gegenstände ein Protokoll anfertigen?«

»Jetzt nicht. Ich werde wiederkommen.«

Georg Pflug verließ das nüchterne Büro des Wachtmeisters, der den Kopf über diesen aufgeregten Besucher schüttelte. Wenn die Sachen so wertvoll waren, musste doch unter allen Umständen ein Protokoll angefertigt werden …

»Wohin jetzt?«, fragte der Taxifahrer, der draußen gewartet hatte.

Georg Pflug zögerte ein paar Sekunden. Dann nannte er die Klinik, in der man ihn ärztlich versorgt hatte. Er war aufgeregt und zugleich zornig. Die entgleiste Straßenbahn hatte für ihn eine regelrechte Katastrophe heraufbeschworen. Ich muss den Schmuck wiederkriegen, überlegte er. Er kann ja nicht vom Erdboden verschwunden sein.

Er fragte sich zu Hannas Zimmer durch, klopfte an und trat ein.

Hanna fuhr aus ihrem Halbschlummer auf. »Was willst du?«, fragte sie erschrocken.

»Die beiden Kästchen mit dem Schmuck sind weg, Hanna.«

Hanna holte tief Atem. Sie sah die Angst in seinen Augen flackern. Etwas wie Mitleid überkam sie. Obwohl er sich auf dem Schiff an Geldsachen und Schmuck bereichert hatte, schien er wirklich in der Klemme zu stecken.

»Geh dort an den Schrank«, flüsterte sie. »Jemand hat den Schmuck gefunden und angenommen, dass er mir gehört. Die Sachen sind dir wohl aus der Tasche gefallen und lagen im Wagen.«

Mit einem Schritt war Georg am Schrank und riss dessen Tür auf. Seine Hände zitterten, als er die beiden Kästen an sich nahm und öffnete.

»Tatsächlich, es ist alles noch da.« Er steckte die beiden Kästchen ein. Plötzlich lachte er. »Mensch, Hanna, das nenne ich Glück im Unglück. Ich werde das Zeug noch heute zu Geld machen. Dann reise ich ab. Gleich morgen früh. Mit der Beweisaufnahme für den Unfall will ich nichts zu tun haben. Es könnte peinlich werden, wenn dein Mann erfährt, dass wir uns getroffen haben. Ich reise ins Ausland – auf unbestimmte Zeit.«

»Es wird vielleicht zur Sprache kommen, dass ich nicht selbst am Steuer saß. Was soll ich sagen, wenn dein Name fällt?«

»Lass dir etwas einfallen. Es waren doch genügend Leute da, denke ich. Man wird dich nicht groß befragen. Für den Wagen kommt bestimmt die Versicherung auf. Solche Sachen verlaufen meist im Sand. Hast du dich arg verletzt?« Seine Stimmung war umgeschlagen. Er fühlte sich plötzlich großartig.

»Nein, nicht schlimm. Ich kann morgen nach Hause. Versprich mir bitte, dass du mich von nun an in Frieden lassen wirst, Georg.«

»Matthias«, verbesserte er. »Kannst du dich nicht daran gewöhnen, dass ich der Dr. Matthias Bruck bin, den du auf der Schiffsreise getroffen und vorher nie gesehen hast?«

»Es ist jetzt unwichtig. Geh, sonst kommt mein Mann.«

»Schon gut, ich verschwinde. Ich wünsche dir viel Glück, Hanna. Du hilfst mir aus einer gewaltigen Patsche. Am liebsten würde ich dich zum Dank noch einmal küssen.« Er beugte sich über das Bett und versuchte, seine Lippen auf Hannas Mund zu legen. »Du bist ja meine Frau.«

Hanna wollte sich wehren.

»Ein einziges Abschiedsküsschen, Hanna. Nur eins.« Lächelnd hielt er sie fest.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Klaus Martell trat ein. Er sah die Szene so, wie sie jeder sehen musste. Als Liebesszene!

»Dr. Bruck? Sie hier?« Der Professor maß den falschen Doktor mit einem eiskalten Blick.

Erkannt hatte er ihn gleich.

Georg Pflug erfasste die Situation nur halb. Er dachte nur an den wiedergefundenen Schmuck.

»Der Herr Professor! Das ist wirklich ein Vergnügen für mich. Leider bin ich sehr in Eile, denn ich muss noch etwas Geschäftliches hinter mich bringen. Der Unfall hat uns ein bisschen aufgehalten. Auf Wiedersehen! Ich empfehle mich. Tschüs, Hanna.«

Er ging hinaus. Niemand hielt ihn zurück. Hanna war schneeweiß geworden.

»Dass er dich verehrte, habe ich schon auf dem Schiff bemerkt. Dass du dich aber heimlich mit ihm treffen würdest, hätte ich für unmöglich gehalten. Ich erfuhr eben, dass er am Steuer unseres Wagens saß. Doch da glaubte ich noch, dass ihr euch rein zufällig getroffen hättet. Wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie es wirklich steht …«

»Klaus, ich …«

»Spare dir bitte die Ausreden, die ich dir doch nicht glauben würde. Tschüs. ›Tschüs, Hanna‹, waren seine Worte beim Weggehen. Ihr scheint auf sehr vertrautem Fuß zu stehen. Ich möchte euch nicht im Weg sein, Hanna. Dass ich dich jemals wieder in meinem Haus aufnehme, kannst du allerdings kaum erwarten.«

»Bitte, Klaus lass mich dir alles erklären. Ich will …«

Er schüttelte unwillig den Kopf. »Es hat keinen Sinn, Hanna. Ich schicke dir morgen früh deine Koffer ins Hotel Intercontinental. Wohin du dann gehen willst, magst du selbst entscheiden. Ich muss noch darüber nachdenken, ob ich eine Scheidungsklage einreiche. Ich hasse jeden Skandal, wie dir bekannt sein dürfte. Zunächst rate ich dir, dir irgendwo eine Unterkunft zu suchen, bis ich mich von diesem Schock erholt habe. Lass mich deine Adresse wissen.«

»Du schickst mich fort?«, stammelte Hanna entsetzt. »Mich und meine kleine Antje?«

»Wieso Antje? Ich habe die Verantwortung für dieses Kind übernommen. Ganz gewiss werde ich nicht zulassen, dass du das Kind mitnimmst. Antje hat Anspruch auf eine gute Erziehung und Ausbildung in einer sauberen Atmosphäre. Glücklicherweise ist sie zurzeit in Sophienlust gut aufgehoben.«

»Klaus, du hast kein Recht …«

Er ließ sie auch diesmal nicht ausreden. »Du hattest kein Recht, dich heimlich mit diesem Mann zu treffen. Jetzt ist es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Antje aus der Sache herausgehalten wird. Als ich Antje adoptierte, habe ich alle Pflichten eines leiblichen Vaters für sie übernommen. Sie soll mir später nicht vorwerfen können, ich hätte in dieser Stunde der Krise versagt.«

Hanna fühlte Schmerzen im Kopf, die ihr fast den Verstand raubten. Jedes der unbarmherzigen Worte ihres Mannes traf sie wie ein Hammerschlag. Sie war so elend, dass sie die Augen schloss und endgültig schwieg.

Der Professor sprach weiter. »Du wirst Geld brauchen. Hier ist Geld, damit du etwas in der Tasche hast. Außerdem gebe ich dir einen Scheck. Damit kannst du dir ein Konto einrichten. Teile mir die Nummer und das Bankinstitut bitte später mit, damit ich jeden Monat etwas an dich überweisen kann.« Er legte drei Scheine und einen Scheck auf ihren Nachttisch. »Das wäre es wohl. Um das Auto brauchst du dich nicht zu kümmern. Ich habe unsere Werkstatt beauftragt, den Wagen abzuholen. Ein Segen, dass dir nichts Ernstliches zugestoßen ist. Leb wohl, Hanna. Alles Gute.«

Er gab ihr nicht einmal die Hand. Mit starrem Gesicht und hoch erhobenen Hauptes verließ er das Zimmer.

Wenn er wüsste, dass Antje das Kind des Mannes ist, den er für Dr. Matthias Bruck hält, würde er Antje verstoßen, überlegte Hanna. Aber solange er es nicht weiß, wird er mir wahrscheinlich jeden Kontakt mit meiner Tochter verbieten. Was soll ich nur tun?

*

Hanna war blass und litt unter Kopfschmerzen, als sie ins Hotel übersiedelte. Dort erfuhr sie, dass ihr Mann ein Zimmer für sie bestellt hatte. Auch drei große Koffer waren für sie gebracht worden.

Als sie in Begleitung eines Pagen zum Lift ging, kam ihr Georg Pflug entgegen. Er sah schlecht aus und machte ein missmutiges Gesicht.

»Du hier?«, fragte er verblüfft. »Ausgerechnet in diesem Hotel?«

»Das ist Zufall«, antwortete sie müde.»Ich bleibe nur bis morgen.«

»Kann ich dich sprechen?«

»Was gibt es denn noch zwischen uns zu reden?«

»Es ist wichtig, Hanna.«

»Gut, setzen wir uns für fünf Minuten dort drüben hin. Bringen Sie das Gepäck bitte schon ins Zimmer«, wandte sie sich an den Pagen, der mit einem schneidigen: »Jawohl, gnä’ Frau«, reagierte.

»Ich muss in einer halben Stunde bare fünftausend auf den Tisch legen, oder es geht mir an den Kragen, Hanna.« Georg wirkte gehetzt und außerordentlich nervös.

»Hast du den Schmuck nicht verkauft?«, stieß Hanna hervor.

»Ich kann dir nichts mehr geben. Mein Mann hat uns zusammen gesehen und mir das Haus verboten. Es ist alles aus für mich.«

»Blödsinn. Es war Pech, dass er gerade hereinkam. Gestern ging eben alles schief. Mein Bekannter ist nach Paris gereist und kommt nächste Woche wieder. So lange kann ich nicht warten, und mit dem Schmuck als Zahlungsmittel komme ich bei meinem Gläubiger nicht klar.«

»Du kannst den Schmuck überall verkaufen.«

»Ja, aber das geht nicht innerhalb von ein paar Minuten.«

Hanna zögerte eine Sekunde. »Gib mir den Schmuck«, flüsterte sie. »Ich habe einen Verrechnungsscheck über diese Summe bei mir. Du sagtest, dass du ein Konto führst. Dort kannst du den Scheck bestimmt sofort einlösen.«

»Ist der Scheck gedeckt?«, fragte er misstrauisch.

»Er ist gedeckt. Deine Bank kann telefonisch Rückfrage halten. Ich gehe jetzt in mein Zimmer. Du kannst den Scheck bei mir holen, wenn du mir den Schmuck zurückgibst. Ich will ihn meinem Mann wieder zustellen. Wahrscheinlich hat er schon danach gesucht.«

»Du bist schön dumm. Warum verscherbelst du die Sachen nicht? Wenn er dich an die Luft setzt, wird er dir keine weiteren Schecks geben.«

»Das ist meine Sache.«

Hanna stand auf und fuhr mit dem Lift nach oben. Sie hatte ihr Zimmer kaum betreten, als es auch schon klopfte. Georg musste ihr auf dem Fuße gefolgt sein.

»Gib mir den Scheck.«

Hanna holte das Formular aus ihrer Tasche. Georg legte die beiden Kästchen auf den Tisch. Er ließ sogar die Deckel aufschnappen, sodass Hanna sich davon überzeugen konnte, dass die beiden herrlichen Schmuckstücke noch darin lagen.

»Alles klar?«, fragte er heiser.

»Ja, leb wohl. Eigentlich wundere ich mich, dass du mir den Schmuck zurückgegeben hast.«

»Es ist ziemlich mühsam, so etwas zu verkaufen. Man würde mir wahrscheinlich nicht einmal glauben, dass die beiden Stücke nicht gestohlen sind.« Er lachte leise. »So geht es einem, wenn man allzu oft heiße Ware an den Mann bringen muss, Hanna. Schau zu, dass du mit deinem Professor wieder Frieden schließt, tschüs.«

Schon war er hinausgegangen.

Hanna verschloss hinter ihm die Tür. Mit Tränen in den Augen betrachtete sie den Schmuck, der ihr nun doch geblieben war. Das letzte Geschenk ihres Mannes.

»Klaus, ich liebe dich. Warum hast du mir nicht zuhören wollen? Es ist alles ganz anders, als du denkst«, flüsterte sie. Doch zugleich musste sie sich eingestehen, dass alles ihre eigene Schuld war. Sie hatte zu lange geschwiegen.

*

Antje saß im Wintergarten und mühte sich mit einem Strickzeug ab. Handarbeiten lagen ihr wenig.Viel lieber beschäftigte sie sich mit Tieren, wobei ihr ein bisschen Schmutz und schlechter Geruch nichts ausmachten. Aber Tante Ma hatte gesagt, dass Stricken auch gelernt sein wolle. Also versuchte Antje ihr Bestes. Doch sie hoffte auf eine Unterbrechung, als Denise von Schoenecker in den Wintergarten kam.

»Fährst du zum Tierheim, Tante Isi?«

»Isii, Isiii«, kreischte der Papagei Habakuk laut und begeistert.

Antje lachte. »Er ist wirklich frech. Nimmst du mich mit zu Tante Andrea?«

»Nein, Kind, ich will gar nicht zu ihr. Ich möchte dir Grüße von deinem Vati ausrichten. Er wird dich am Sonntag besuchen kommen.«

»Bloß Vati? Mutti nicht?«

»Nein, er kommt allein.«

Antjes eben noch so glückliches Gesichtchen umschattete sich. »Ob sie krank geworden ist?«

»Mach dir keine Sorgen, Antje. Freue dich lieber, dass dein Vati kommen will. Zeig mal das Strickzeug! Schau, du musst die Maschen so aufnehmen, sonst gibt es einen dicken Knoten.« Denise nahm die Nadeln und zeigte dem Kind, wie man es machte.

»Ach so, jetzt verstehe ich es, Tante Isi. Du kannst wirklich alles.« Antje strahlte Denise an. »Siehst du, jetzt klappt es.«

»Ja, Antje. Nun versuche die Reihe bis ans Ende zu schaffen. Ich zeige dir dann, wie man umdreht.«

Denise setzte sich geduldig neben das Kind, dessen Finger noch sehr ungeschickt waren. Es dauerte ziemlich lange, bis die erste Nadel ordnungsgemäß abgestrickt war.

»So, jetzt geht es genauso weiter. Du musst nur umwechseln. Ja, in die andere Hand. Nun wieder die erste Masche. Richtig, Antje. Das ist das ganze Geheimnis.«

»Eigentlich ganz einfach«, freute sich Antje. »Vorhin dachte ich, ich lerne es nie.«

Henrik erschien atemlos und fragte: »Willst du mit mir reiten, Antje? Lass doch das blöde Strickzeug.«

Antje sah Denise schwankend an. »Muss ich weiterstricken?«

»Später. Jetzt zieh dich rasch um und geh mit zum Reiten. Die Ponys werden sonst faul und dick. Sie müssen bewegt werden.«

»Du bist die beste Tante Isi der Welt.« Antje warf das Strickzeug auf einen Sessel und umarmte Denise stürmisch. Dann rannte sie davon, um das Kleid mit ihren Reithosen zu vertauschen.

Henrik trollte sich. Er wusste, dass Antje ihn bei den Ställen finden würde.

Nachdenklich blieb Denise zurück. Sie trat an den großen Käfig von Habakuk und kraulte ihn ein bisschen, was er sich gerade von ihr besonders gern gefallen ließ.

»Also, hier finde ich dich!« Alexander umarmte seine Frau. »Ich habe dich wie eine Stecknadel gesucht.«

»Ich wollte nachdenken. Außerdem musste ich Antje Grüße ausrichten. Ihr Vater hat angerufen. Antje war nämlich eben noch hier und kämpfte mit dem Strickzeug da.«

»Ach so. Sind damit für heute deine Pflichten im Heim erledigt? Können wir nach Schoeneich fahren und gemütlich Tee trinken?«

»Ja, Alexander. Frau Rennert kümmert sich um alles andere.«

Alexander sah seine Frau prüfend an. »Du bist müde oder enttäuscht. Was hast du?«

»Warte, wir sprechen gleich dar­über. Es hat keinen Zweck, wenn ich versuche, es vor dir zu verheimlichen.«

Denise verabschiedete sich herzlich von Frau Rennert und setzte sich zu ihrem Mann in den Wagen. »Prof. Martell hat sich von seiner Frau getrennt, Alexander. Er rief an und teilte mir mit, dass sie ihn verlassen habe. Er hat die Anweisung erteilt, dass Antje mit der Mutter keinen Kontakt haben darf.«

»Meine Güte. Das klingt grausam und ziemlich dramatisch.«

»Vor allem klingt es, als sollte Nick recht behalten mit seinen vorlauten Bemerkungen«, seufzte Denise. »Herr Martell machte ein paar Andeutungen, als habe seine Frau sich eine Verfehlung zuschulden kommen lassen. Mir ist das unbegreiflich. Sie wirkte verängstigt, als sie bei uns war. Aber sie machte durchaus nicht den Eindruck, als wollte sie ihren Mann verlassen. Im Gegenteil, sie sah ihn ständig an, als könnte von ihm allein eine Rettung kommen. Ich weiß allerdings nicht, wovor er sie retten sollte.«

»Frau Martell sah nicht aus wie eine Frau auf Abwegen«, entgegnete ihr Mann. »Trotzdem muss irgendetwas vorgefallen sein. Ob ihr Mann allerdings das Recht hat, der Mutter jedes Wiedersehen mit ihrem Kind zu verbieten, bezweifle ich. Aber wir können im Augenblick nichts daran ändern. Wenigstens bleibt die kleine Antje vorerst unberührt von der Sache. Wie gut, dass sie in Sophienlust ist.«

Denise nickte. »Der Professor kommt übrigens am Sonntag. Natürlich fragte mich Antje sofort, ob ihre Mutter auch käme. Wir müssen es ihrem Vater überlassen, ihr darauf eine Antwort zu geben.«

In Schoeneich ließ Denise den Teetisch decken und saß dann still und nachdenklich mit ihrem Mann beisammen. Es gab nichts mehr zu sagen über den rätselhaften Fall. Umso mehr gab es darüber zu grübeln.

Gegen sechs Uhr klingelte das Telefon.

Alexander ging an den Apparat. »Für dich, Denise. Es ist Frau Martell.«

Denise stand auf und übernahm den Hörer. »Guten Abend, Frau Martell.« Sie bemühte sich, ruhig und freundlich zu sprechen. Das Herz schlug ihr bis zum Halse. Würde sie jetzt etwas erfahren?

»Guten Abend, Frau von Schoenecker. Wie …, wie geht es Antje? Ist sie gesund?«

»Ja, es geht ihr ausgezeichnet. Sie ist gerade dabei, das Stricken zu erlernen. Heute Nachmittag ist sie mit unserem Henrik geritten. Sie brauchen sich um Antje keine Sorgen zu machen.«

»Frau von Schoenecker, mein Mann hat …, hat mir verboten, Antje zu besuchen.«

»Er hat heute Mittag angerufen. Ich weiß es schon, Frau Martell.«

»Bitte, glauben Sie mir, Frau von Schoenecker, ich habe nichts von dem getan, was er denkt. Er ließ mich nicht zu Wort kommen. Aber vielleicht hätte ich auch nicht den Mut aufgebracht, ihm alles zu erklären. Ich habe schon zu lange gewartet und zu viel falsch gemacht. Jetzt ist es zu spät.«

»Es gibt immer einen Weg, Frau Martell. Sie dürfen den Mut nicht verlieren. Haben Sie sich gesundheitlich etwas erholen können?«

»Ach, das ist so unwichtig geworden. Es kommt auf mich nicht mehr an. Nur auf Antje! Behalten Sie meine Kleine lieb, Frau von Schoenecker. Ich bitte Sie von Herzen darum.«

»Natürlich habe ich sie lieb. Wie gern wir Antje ein bisschen länger aufnehmen, wissen Sie. Ich hoffe zuversichtlich, dass in ein paar Wochen alles wieder anders aussehen wird.«

»Das ist kaum möglich. Ich muss schauen, wie ich damit fertig werde. Darf ich gelegentlich in Schoeneich anrufen und mich erkundigen, wie es Antje geht?«

»Jederzeit, Frau Martell. Und wenn ich Ihnen sonst irgendwie helfen kann, dann lassen Sie es mich wissen. Sie dürfen nicht verzweifeln. Es ist schwer für mich, Ihre Lage richtig zu beurteilen. Aber die Möglichkeit, einen Brief zu schreiben, gibt es immer. Wenn Sie das, was geschehen ist, schriftlich niederlegen, wird Ihr Mann es in Ruhe lesen. Wäre das nicht denkbar?«

»Ich fürchte nein. Es ist sehr schwer … Ich danke Ihnen, Frau von Schoenecker.«

Denise sah ihren Mann betroffen an. »Sie hat aufgelegt. Ich kann nicht zurückrufen, denn ich habe keine Ahnung, wo sie sich aufhält. Sie machte einen unglücklichen, verstörten Eindruck. Hoffentlich tut sie sich nichts an.«

Alexander von Schoenecker strich Denise das Haar aus der Stirn. »Hoffentlich nicht, Liebes. Sie sehnt sich nach der kleinen Antje. Das ist ein starkes Band, das sie an das Leben bindet.«

Denise faltete die Hände. »Das gebe Gott«, flüsterte sie. »Weißt du, der Professor hat allzu strenge Ehrbegriffe. Wenn die arme Frau wirklich irgendeinen Fehler gemacht hat, verurteilt er sie mutmaßlich in Grund und Boden.«

»Hm, das könnte ich mir vorstellen.«

Traurig und ratlos sahen die beiden einander an.

*

Ein paar Wochen gingen ins Land. Prof. Martell war gekommen und hatte sich liebevoll und intensiv mit Antje beschäftigt. Die Fragen des Kindes nach der Mutter hatte er beschwichtigend und ausweichend beantwortet. Doch auch Denise von Schoenecker gegenüber hatte er sich über das Problem seiner Ehe nicht ausgesprochen.

Von Hanna Martell waren in unregelmäßigen Abständen Anrufe gekommen. Sie hatte stets nur hören wollen, wie es ihrer kleinen Tochter ging.

»Wie soll das enden?«, fragte Denise so manches Mal. Doch darauf wusste niemand eine Antwort.

Nick hatte sich natürlich sein Teil zusammengereimt, als der Professor allein erschienen war. Sein Kommentar war kurz und bündig: »Sie bleibt halt hier, Mutti. In Sophienlust wird Antje trotzdem glücklich sein. Oder will der Professor sie wegholen?«

In dieser Hinsicht konnte Denise Nick beruhigen. Denn Klaus Martell hatte mit ihr besprochen, dass Antje bis auf weiteres in Sophienlust leben sollte.

An einem verregneten Samstag fuhr Nick mit Henrik und Antje zu Andrea. Wolfgang Rennert nahm die drei im Auto mit, denn er musste in Bachenau einen Besuch machen.

»Vergesst nicht, dass ihr fest versprochen habt, tüchtig zu helfen«, erinnerte der Hauslehrer die drei Kinder, als er sie vor dem Lehnschen Grundstück absetzte.

»Klar helfen wir«, versicherte Nick. »Andrea hat extra deswegen angerufen. Helmut Koster hat wieder Ärger mit seiner Kiefervereiterung und kann kaum etwas machen.«

Andrea von Lehn hielt ihren Sohn auf dem Arm, als die Kinder ankamen.

»Jetzt regnet es wenigstens mal für fünf Minuten nicht. Willkommen, ihr drei. Betti hat Kakao gemacht. Wollt ihr welchen?«

»Erst die Arbeit«, verkündete Nick. »Wir sollten doch im Tierheim helfen.«

»Das hat sich eigentlich erledigt«, berichtete Andrea und streichelte Peterles Köpfchen. »Ich habe eine Aushilfskraft eingestellt. Ein Mann, der offenbar mit Tieren umzugehen versteht. Er ist vor einer Stunde gekommen und fühlt sich schon ganz zu Hause bei uns.«

»Na, dann trinken wir natürlich erst Kakao, damit er nicht kalt wird.«

Andrea brachte das Kind in sein Zimmer und setzte sich zu ihren Brüdern und Antje.«

»Wie heißt der neue Tierpfleger?«, fragte Nick.

»Matthias Bruck. Helmut Koster hat ihn zufällig unterwegs kennengelernt und sich ein bisschen mit ihm unterhalten. Er sagt, dass er es nicht für immer machen kann. Für den Augenblick sind wir jedenfalls froh und dankbar.«

Sie sprachen noch ein Weilchen über die Tiere. Dann schlug Nick vor: »Kommt, jetzt schauen wir uns den neuen Helfer mal an.«

Sie fanden Matthias Bruck bei der Braunbärin Isabell und ihren tapsigen Jungen.

Nick übernahm die Vorstellung. »Haben Sie keine Angst vor der Bärin?«, fragte er scherzend.

»Nein«, antwortete der neue Pfleger. »Man merkt sofort, dass sie ganz zahm ist. Sag mal, wie heißt das kleine Mädchen? Hast du gesagt, Antje Martell?«

»Stimmt genau. Ihr Vater ist Arzt. Ein Professor sogar.«

Antje spielte mit dem Esel Benjamin. Die Hunde waren auch bei ihr. So konnte sie nicht hören, was Nick und der Pfleger miteinander redeten.

»Ist sie schon lange hier? Sie scheint es mit den Tieren besonders gut zu verstehen. Die Hunde sind ganz verrückt nach ihr.«

»Das war von Anfang an so. Antje hat etwas an sich, was die Tiere mögen. Herr Koster sagt, das gibt es manchmal. Dabei ist Antje erst vor ein paar Wochen zu uns ins Kinderheim gekommen. Ihre Eltern wollten eine Schiffsreise machen. Danach wurde ihre Mutti ein bisschen krank. Deshalb ist Antje immer noch hier.« Dass es da neuerdings auch ein Problem gab, plauderte Nick nicht aus. – Dass er trotzdem schon viel zu viel gesagt hatte, konnte er freilich nicht ahnen.

Matthias Bruck, der eigentlich Georg Pflug hieß und zurzeit auf den falschen Doktortitel verzichtete, arbeitete weiter und plauderte dabei wieder mit Nick. Schließlich näherte er sich Antje, die eben dabei war, der zahmen Dohle frisches Wasser zu geben.

»Fein machst du das, Antje«, lobte er sie.

Waldi und Severin fingen wie auf Kommando an zu knurren. Severin zeigte sogar die Zähne. Antje sah die beiden Hunde vorwurfsvoll an. »Was habt ihr? Könnt ihr euch nicht anständig benehmen? Herr Bruck ist so nett und hilft hier aus. Da dürft ihr ihn nicht anknurren.«

»Die sind bloß eifersüchtig«, meinte Matthias Bruck. »Ich komme schon mit ihnen aus.«

Doch die Hunde umringten Antje und stellten sich an, als drohe dem kleinen Mädchen Gefahr.

Das blieb den ganzen Nachmittag über so. Aber niemand nahm die Abneigung der Hunde ernst. Außerdem wurde der hilfreiche Matthias Bruck im Moment viel zu nötig gebraucht. Denn Helmut Koster hatte sich hinlegen müssen, und Andrea wäre kaum in der Lage gewesen, die ganze Tiergesellschaft allein zu versorgen. So kam niemand auf den Gedanken, dass das feindselige Knurren der beiden Hunde eine Bedeutung haben könnte.

Abends wurden die Kinder von Wolfgang Rennert wieder abgeholt.

Matthias Bruck sah dem Auto nach. In seinem Gesicht zuckte und arbeitete es. Da er nichts mehr zu tun hatte, ging er zu Helmut Koster und sagte, dass er sich noch ein wenig in der Ortschaft umschauen wolle. Er zog seinen Regenmantel über und schlenderte davon.

*

Hanna arbeitete als Schwester im Kreiskrankenhaus von Maibach. So war sie nicht allzu weit von Sophienlust entfernt und hatte sogar schon zweimal aus einem Versteck heraus Antje beobachten können. Einmal in der Nähe der Dorfschule von Wildmoos, als die Kinder aus dem Schulbus gestiegen waren, das zweite Mal auf dem Gelände des Kinderheims.

Georg Pflug hatte es verstanden Hannas Spur zu verfolgen. Er war unangemeldet in ihrem bescheidenen möblierten Zimmer aufgetaucht und hatte erklärt, dass er den Schmuck nun doch noch brauche.

Hanna aber hatte sich nicht mehr vor ihm gefürchtet. »Du hast meine Ehe zerstört«, sagte sie. »Jetzt ist es mir gleich, was du unternimmst. Außerdem habe ich den Schmuck meinem Mann zustellen lassen. Ich besitze nichts mehr.«

Georg hatte eingesehen, dass er sie nicht mehr in der Hand hatte. Nur weil er nicht wusste, was er anfangen sollte, war er weiterhin in der kleinen Stadt geblieben. In einem Restaurant hatte er eine mit mehreren großen Scheinen gefüllte Brieftasche gestohlen. So hatte er sich auf seine Art über Wasser gehalten, bis ihn ein Zufall mit Helmut Koster zusammengeführt hatte.

Nun sah Georg Pflug in diesem Zufall eine Schicksalsfügung. Er konnte es an diesem Abend kaum erwarten, sich Gewissheit zu verschaffen.

Per Anhalter fuhr er nach Maibach und klingelte bei Hannas Zimmerwirtin.

»Sie haben Glück«, sagte die freundliche Frau arglos. »Frau Martell ist vor einer halben Stunde aus dem Dienst gekommen. Ich habe ihr eben eine Tasse Tee ins Zimmer gebracht.«

Georg klopfte und trat ein. Hanna trug noch die Schwesterntracht.

»Warum lässt du mich nicht in Ruhe?«, fragte Hanna gequält.

»Weil ich Geld brauche.«

»Ich muss arbeiten, genau wie du es tun solltest. Jeder Mensch muss arbeiten.«

»Schickt dir dein Professor nichts?«

»Das geht dich nichts an.« Hanna hatte ihrem Mann bisher nicht mitgeteilt, wo sie sich aufhielt. Sie wollte nichts von ihm haben, sondern selbst für sich sorgen. Zu tief war sie verletzt.

»Wieso bist du eigentlich ausgerechnet in dieses Nest geraten?«, fuhr er lauernd fort.

Hanna gab ihm keine Antwort.

»Etwa, weil sich eine gewisse Antje Martell im Kinderheim Sophienlust in Wildmoos befindet?«

Hanna hatte sich noch nie gut verstellen können. Er las die Antwort in ihren weit aufgerissenen Augen.

»Siehst du, jetzt kommen wir dem Grund schon näher. Was sagst du dazu, dass ich Antje heute persönlich kennengelernt habe?«

»Das …, das ist nicht wahr. Wie konntest du das wagen?«

»Ich habe nichts dazu getan. Es ergab sich ganz einfach. Ich bin zurzeit Tierpfleger bei Frau von Lehn. Du hast gesagt, man muss sich Arbeit suchen. Viel ist da leider nicht zu holen. Aber sie geben mir wenigstens ein nettes Zimmer. Auch das Essen ist in Ordnung. Eigentlich wollte ich mich bloß umsehen, ob die kleine Frau Andrea vielleicht ein bisschen Familienschmuck hat. Aber nun habe ich etwas Besseres entdeckt. Antje! Ich habe sie gefragt, wie alt sie ist und wann sie Geburtstag hat. Das sagen Kinder ja immer gern. Und da ich nicht ganz auf den Kopf gefallen bin, ist mir blitzartig klargeworden, dass Antje Martell eigentlich Antje Pflug heißen müsste. Stimmt’s?« Triumphierend blickte er sie an.

Hanna brachte kein Wort über die Lippen.

»Meine Tochter«, setzte er seine boshaften Betrachtungen fort. »Das hast du mir doch tatsächlich verheimlicht. Jetzt verstehe ich, warum du alles darangesetzt hast, dass der Herr Professor nichts über die Straftaten des leider verstorbenen Georg Pflug erfuhr. Er hat Antje adoptiert, ja? Ich kann das auffliegen lassen, denn ich bin noch mit dir verheiratet. Also ist sie auch noch meine Tochter.«

»Das ginge nur, wenn du dich gleichzeitig zu deinen Einbrüchen und allem anderen bekennen würdest. So dumm wirst du nicht sein.«

Seine Augen wurden schmal. »Du bist nicht mehr so leicht einzuschüchtern, Hanna.«

»Du kannst mir nichts mehr tun. Geh jetzt. Und lass Antje in Ruhe. Hast du denn kein Gefühl dafür, dass ein Kind in einer heilen Welt aufwachsen muss? Antje gehört jetzt zu meinem Mann.«

»Meine Welt ist immer dann heil, wenn ich genug Geld in der Tasche habe. Leider hat mir jemand Schwierigkeiten gemacht, sodass ich die zehntausend von dir und noch allerlei dazu sozusagen zum Fenster hinausgeworfen habe. Jetzt fange ich mal wieder bei Null an. Kein schöner Zustand. Kannst du nicht wenigstens einen Tausender auftreiben.«

»Ich kann es nicht, und ich sehe auch keine Notwendigkeit dazu. Nur um des Kindes willen unterlasse ich es, dich bei der Polizei anzuzeigen.«

Er nickte mehrmals und lächelte unschön dazu. »So sieht es also aus. Du legst immer noch Wert auf die tadellose Vergangenheit des in Afrika gebliebenen Helden Georg Pflug? Ich wusste gleich, dass meine kleine Tochter mir Glück bringen würde. Das Strafregister ihres Vaters würde für den ehrenwerten Herrn Professor wahrscheinlich ein arger Schock sein, ein Anlass, die Adoption rückgängig zu machen.«

»Wenn du es wagst, etwas Derartiges zu unternehmen, ist mir alles gleichgültig, Georg. Dann zeige ich dich an wegen Erpressung und wegen der Diebstähle auf dem Schiff. Außerdem sage ich, wer du bist. Wenn du Antje zu schaden versuchst, wirst du dir selbst am meisten schaden.«

»Ich will ihr gar nichts tun. Mir geht es bloß um ein paar lumpige Geldscheine, mit denen ich mich ins Ausland absetzen kann. Sei vernünftig Hanna. Der Professor schwimmt in Geld.«

»Ich habe nichts mehr mit ihm zu tun. Wir leben getrennt. Antje darf ich nicht sehen. Nun weißt du es. Wenn du an meinen Mann schreibst, kann ich dich wenigstens unbesorgt anzeigen.«

»Du würdest selbst Ärger bekommen. Vergiss das nicht.«

»Das macht mir nichts mehr aus, Georg. Das Leben hat seinen Sinn für mich verloren. Ich dachte, dass die Begegnung mit Klaus Martell für mich die Wende gebracht hätte. Heute sehe ich, dass das ein Irrtum war. Das Unglück verfolgt mich immer weiter. Aber Antje soll es besser haben.«

»In dem Kinderheim soll es piekfein zugehen. Der Tierpfleger von Bachenau hat mir eine Menge erzählt. Die Kleine braucht sich bestimmt nicht zu beklagen. Ob sie Mitleid hätte, wenn ich ihr sagte, dass ich ihr Vater bin?«

»Das kannst du gar nicht. Damit brächtest du dich ins Gefängnis. Antje würde es dir auch nicht glauben, denn sie hält Klaus Martell für ihren Vater.«

»Du hast auf alles eine Antwort. Aber mir fällt bestimmt ein Dreh ein, wie ich dich dazu kriege, dass du Angst bekommst. Ich kenne das. Wenn man Angst hat, dann zahlt man. Mir ist es nämlich auch so ergangen. Da war jemand, der wusste, dass ich unter falschem Namen lebe.«

Hanna wies auf die Tür. »Geh jetzt. Ich will dich nicht mehr sehen. Und lass das Kind in Ruhe.«

Georg Pflug ging tatsächlich. Er war wütend, denn er musste sich eingestehen, dass bei seiner ehemaligen Frau nichts mehr zu holen war. Diese Geldquelle floss nicht mehr.

Ein Wagen nahm ihn mit zurück nach Bachenau. Waldi und Severin knurrten böse, als er heimkehrte.

*

Es ließ Hanna keine Ruhe mehr. Schon am nächsten Tag machte sie sich auf den Weg nach Bachenau, wo sie jenen Mann wusste, der ihr so viel Leid verursacht hatte. Es war Sonntag, und Hanna hatte dienstfrei. Sie wollte Andrea von Lehn aufsuchen und sie warnen. Dabei brauchte sie Georgs Identität nicht unbedingt preiszugeben.

Bald stand Hanna in der hellen Nachmittagssonne unschlüssig in der Nähe des Lehnschen Grundstückes und versuchte sich zurechtzulegen, was sie sagen wollte, wenn sie Andrea von Lehn gegenüberstand.

Plötzlich trat sie unwillkürlich hinter einen mächtigen Baumstamm zurück, um nicht gesehen zu werden. Der rote Schulbus mit der Aufschrift ›Kinderheim Sophienlust‹ fuhr vor. Hanna sah Denise von Schoenecker, Nick, Henrik, Irmela, Pünktchen, einige andere Kinder und Antje aussteigen. Fröhlicher Lärm ertönte.

Andrea von Lehn kam herbei, um ihre Gäste zu begrüßen. Die Dackelfamilie und die schwarze Dogge drängten sich um Antje, die die Tiere liebevoll streichelte.

Hanna hatte auf einmal keinen Mut mehr, das Grundstück zu betreten. Sie beobachtete die Kinder, die sofort das weitläufige Freigehege betraten, in dem die Tiere den nötigen Auslauf hatten. Sogar die Hunde durften mit hinein. Die bunt zusammengewürfelte Tiergemeinschaft schien keine Feindseligkeiten untereinander zu kennen. Friedlich zupfte das Reh ein paar frische Grashälmchen ab, die Jungfüchse unterbrachen nicht einmal ihr Spiel, der Dachs blieb faul in der Sonne liegen, und die Bärin mit ihren Jungen kam sofort heran, um zu betteln.

Antje schien in ihrem Element. »Isabell hat sich an der Pfote verletzt«, rief sie eben aus. »Hat das noch niemand gemerkt?«

Nick betrachtete die Bärentatze. »Das müsste saubergemacht und verbunden werden. Aber Hans-Joachim ist nicht da.«

Der Tierarzt war vor einer halben Stunde mit dem Auto weggefahren. Das hatte Hanna gesehen.

Nun erschien Georg Pflug. Hanna wagte kaum zu atmen. »Zeig mal, Antje. Ja, da hat Isabel sich wohl irgendwo am Zaun zu schaffen gemacht. Gut, dass du so genau hingesehen hast, Antje. Wollen wir zusammen etwas holen und Isabell behandeln?«

»Ja, gern. Ich kann die Pfote halten, wenn Sie die Wunde sauber machen, Herr Bruck. Das habe ich in der Praxis bei Dr. von Lehn auch schon machen dürfen.«

»Hast du keine Angst?«

»Doch nicht vor Isabell.« Antje lachte.

»Na, komm!« Georg Pflug wollte Antje bei der Hand nehmen. Weder er noch das kleine Mädchen hatten bei ihrem Gespräch auf die knurrenden Hunde geachtet. Doch jetzt sprang die starke Dogge so schnell zu, dass dem Mann keine Zeit mehr blieb, auszuweichen oder sich zu wehren. Wütend biss Severin zweimal zu.

Es war Nick, der das mächtige Tier zurückriss. »Bist du verrückt geworden, Severin?«

Antje war schneeweiß geworden. »Er hätte mich nicht anfassen dürfen«, flüsterte sie entsetzt. »Severin und Waldi sind furchtbar eifersüchtig. Severin wollte mich verteidigen.« Tränen rollten über ihre Wangen.

Andrea, Denise, Betti und Helmut Koster eilten herbei. Doch auch Hanna hielt es nicht länger in ihrem Versteck. Sie ließ alle Bedenken außer acht und eilte zum Freigehege.

»Mutti! Ach, Mutti, wie gut, dass du da bist!« Antje flüchtete sich in die weit ausgebreiteten Arme ihrer Mutter.

»Antje, meine süße kleine Antje. Ich dachte schon, der Hund würde dir etwas zuleide tun.«

»Mir doch nicht, Mutti. Schau, jetzt ist er wieder ganz brav.«

Nick hatte die Dogge nur zögernd losgelassen, während sich die Erwachsenen um den stöhnenden am Boden liegenden Mann bemühten. Sofort begab sich Severin zu Antje und stieß zärtlich mit dem Kopf nach ihr.

»Schau, Mutti, dich mag er auch. Severin ist sehr klug. Nur auf Herrn Bruck ist er böse. Das ist dumm von dir, Severin.«

»Nein, Antje, Severin ist wirklich klug«, flüsterte Hanna und liebkoste ihr Töchterchen mit zärtlichen Händen.

»Wir müssen Herrn Bruck ins Krankenhaus bringen lassen«, erklang jetzt Denises Stimme. »Ich fürchte, du musst dich von Severin trennen, Andrea. Das Tier ist gefährlich.«

»Er tut sonst keiner Fliege etwas, Mutti. Ich telefoniere nach dem Krankenwagen. Nick, du kannst Herrn Koster helfen. Wir wollen Herrn Bruck zum Haus bringen.«

In dem allgemeinen Durcheinander fiel Hannas Anwesenheit zunächst kaum auf. Erst nachdem Helmut Koster und Nick den Verletzten, der stark blutete und nur halb bei Besinnung zu sein schien, zum Wohnhaus getragen und auf eine Bank gelegt hatten, machte Nick seine Mutter darauf aufmerksam, dass Antjes Mutter da war.

Da kam Andrea zurück. »Die Ambulanz ist schon unterwegs. Ich habe auch im Krankenhaus angerufen und Bescheid gesagt, dass es sich um Hundebisse handelt. Sicher ist sicher.«

Hanna hielt ihr Töchterchen im Arm und rührte sich nicht von der Stelle. Ob Georg Pflug sie bemerkt hatte oder nicht, war ihr gleichgültig. Ihr Entschluss, sich Denise von Schoen­ecker anzuvertrauen, stand fest.

Der Krankenwagen fuhr vor. Zwei Männer betteten den Verunglückten mit geübten Griffen. Betti hatte sein Waschzeug und etwas Wäsche für ihn zusammengepackt.

Als die Ambulanz verschwunden war, wandten sich die Blicke aller Antje, ihrer Mutter und Severin zu.

Andrea kam zögernd näher und legte die Hand auf den großen Kopf ihres Lieblingshundes. »Warum hast du das getan, Severin?«, fragte sie traurig.

Hanna raffte allen Mut zusammen. »Severin wollte Antje beschützen, Frau von Lehn. Er hatte recht. Sie dürfen nicht böse auf den Hund sein.«

»Das verstehe ich nicht«, erwiderte Andrea ratlos. »Kennen Sie denn Herrn Bruck?«

»Ja, ich kannte ihn. Ich würde gern mit Ihnen darüber sprechen, Frau von Schoenecker.«

Denise ergriff Hannas eiskalte Hand. »Gehen wir ein bisschen ins Haus, liebe Frau Martell. Bleibst du bei den Kindern, Andrea?«

Andrea legte die Hände auf Antjes Schultern. »Ich will mir Isabells Pfote ansehen. Willst du mir zeigen, wo unsere Bärenmama sich verwundet hat?«

Antje trennte sich nur zögernd von Hanna. »Bleibst du hier, Mutti?«, fragte sie scheu. »Bist du jetzt gesund?«

»Ich bleibe, Antje. Bis nachher.«

Severin trottete friedlich neben Antje und Andrea einher. Es war, als hätte es den aufregenden Zwischenfall nie gegeben.

Die Kinder drängten sich um Andrea. Sie stellten viele Fragen, um herauszubekommen, warum Severin den fremden Tierpfleger angefallen hatte. Aber Andrea wusste es nicht.

Im Lehnschen Wohnzimmer saß indessen Hanna bei Denise von Schoen­ecker und erzählte ihr die traurige Geschichte ihrer beiden Ehen. Denise unterbrach sie nicht und hörte aufmerksam zu, bis Hanna alles gesagt hatte.

»Der Hund muss gespürt haben, dass Antje von ihrem Vater umlauert wurde«, schloss sie erregt. »Georg wollte unbedingt Kapital daraus schlagen, dass er seine Tochter entdeckt hatte. Was er plante, weiß ich nicht. Aber die Dogge witterte den bösen Charakter dieses Mannes und wollte nicht dulden, dass er Antje anrührte. Mir ging es ja selbst mitten durchs Herz, als er sie bei der Hand fasste. Seltsam, wie sicher der Instinkt eines Tieres sein kann.«

»Sie hätten Ihrem Mann vom ersten Tage an alles anvertrauen sollen, Frau Martell«, erklärte Denise sanft und ohne Vorwurf. »Ich bin ganz sicher, dass er sich trotzdem zu Ihnen bekannt hätte.«

»Was soll ich nun tun?«, fragte Hanna mutlos. »Ich habe sein Verbot übertreten und Antje wiedergesehen.«

»Wer will Ihnen vorwerfen, dass Sie Ihr Kind lieben? Geschah nicht alles um des Kindes willen? Nur Antje zuliebe haben Sie die Vergangenheit zu verschweigen versucht. Auch Ihr Mann liebt das Kind. Ich hatte keine Ahnung, dass er Antje adoptiert hat. Aber ich habe gesehen, wie er sich mit ihr beschäftigte. Das Wohl des Kindes geht ihm über alles. Deshalb glaube ich, dass er Sie verstehen wird.«

»Ich kann nicht mit ihm sprechen«, schluchzte Hanna auf.

»Soll ich es an Ihrer Stelle tun?«, erbot sich Denise.

»Ist es nicht feige von mir, wenn ich das annehme?«

»Wer verlangt denn Mutproben von Ihnen? Manchmal ist es viel besser, wenn ein Unbeteiligter vorhanden ist, der die nötige Klarstellung herbeiführt. Kein Mensch ist sich selbst der beste Anwalt.«

»Ich fürchte mich vor dem, was kommt, Frau von Schoenecker. Es wird Gerichtsverhandlungen geben, bei denen ich Zeugnis ablegen muss. Meine Ehe mit Georg Pflug muss annuliert werden, und mein Mann wird sich dazu äußern müssen, ob er sich weiterhin zu dem Kind eines Betrügers, Einbrechers und Diebes bekennen will.«

Denise umschloss Hannas Hände mit festem Druck. »Nur die Wahrheit kann jetzt helfen, Frau Martell. Vertrauen Sie dem Schicksal und dem gütigen Herzen Ihres Mannes.«

»Ja«, meinte Hanna, »er ist gütig. Doch er hasst alles Böse und Ungesetzliche. Darin ist er unerbittlich.«

»Aber sicher nicht ungerecht, Frau Martell. Vor allem Antje und Ihnen gegenüber wird er das nicht sein.«

Hanna antwortete nicht. Denise konnte in ihren Augen lesen, dass sie wenig Hoffnung hatte.

Eben klopfte es schüchtern an der Tür. Antje schob sich herein und schmiegte sich an die Knie ihrer geliebten Mutti. Da konnte die arme Hanna unter Tränen schon wieder lächeln.

*

Hanna war von Hans-Joachim und Andrea nach Maibach zurückgebracht worden. Eine Nachfrage im Krankenhaus ergab, dass der verletzte Tierpfleger etwa eine Woche lang stationär behandelt werden müsse.

Da Hanna in der Abteilung für innere Krankheiten tätig war, brauchte sie eine Begegnung mit ihrem ersten Mann nicht zu fürchten. Deshalb erschien sie am Montag pünktlich zum Dienst, wie es ihre Pflicht war. Gewissenhaft erledigte sie die ihr übertragenen Aufgaben. In der abgelaufenen Woche hatte ihr der Chefarzt mitgeteilt, dass sie sich um eine feste Anstellung bewerben könne, falls ihr daran liege. Man sei mit ihr zufrieden und wolle sie gern behalten.

An diesem Tag musste sich nun entscheiden, ob Hanna ihre Bewerbung einreichte oder nicht. Denn an diesem Tag war Denise von Schoenecker zu ihrem Mann gefahren. Würde Klaus sie wenigstens anhören?

Niemand ahnte, was in der scheinbar völlig ruhigen Krankenschwester vor sich ging, während sie ihre verantwortungsvolle Arbeit tat.

In der Mittagspause rief Hanna in Sophienlust an und sprach mit Antje. Es tat gut, die lebhafte Kinderstimme zu hören. Antje wusste nichts von dem Zerwürfnis zwischen ihren Eltern. »Kommst du bald wieder, Mutti?«, fragte sie.

»Ja, Antje, sobald ich es einrichten kann.« Doch zugleich fragte sie sich, ob sie dieses Versprechen jemals würde einlösen können.

Ab vier Uhr begann wieder der gewohnte Dienst auf der Station. Betten machen, Abendessen austeilen, Medikamente verabreichen, Fiebertabellen nachtragen.

»Nun, haben Sie es sich überlegt? Wollen Sie bei uns bleiben, Schwester Hanna?«, fragte der Chefarzt, als er gegen sieben Uhr auf die Station kam.

»Ich …, ich bin noch nicht sicher, Herr Doktor«, antwortete sie leise. »Darf ich die Entscheidung bis morgen oder übermorgen aufschieben?«

»Natürlich. Sie haben offenbar ein anderes Angebot?«

»Nein, das nicht.«

Er fragte nicht weiter. Sie wollte nicht darüber sprechen. Das hatte sie ihm deutlich zu verstehen gegeben.

Es war fast neun Uhr geworden, als Hanna das Krankenhaus verließ. Das Auto, das an der Ecke wartete, bemerkte sie zunächst nicht.

»Hanna …«

Sie fuhr herum und stand wie angewurzelt. Klaus Martell kam langsam auf sie zu.

»Verzeih mir, Hanna. Frau von Schoenecker hat mir erzählt, was du mit dir herumgetragen hast. Es war meine Schuld, dass du dich scheutest, mir die Wahrheit zu sagen. Willst du zurückkommen zu mir? Das Haus ist schrecklich leer ohne dich. Ich habe mich nach dir gesehnt.«

»Ich hätte dir sagen müssen, wer Georg Pflug war«, gab sie stockend zurück. »Dann wäre ich auf dem Schiff nicht zum Schweigen verurteilt gewesen.«

Er streckte zögernd die Hände aus. »Wollen wir neu beginnen, Hanna? Du, Antje und ich?«

Da wusste Hanna, dass Denise von Schoenecker das Wunder der Liebe und des Glücks für sie zurückgeholt hatte. Sie ließ sich von Klaus zum Wagen führen und bettete den Kopf an seine Schulter.

»Ich liebe dich, Hanna. Erst jetzt ist mir bewusst geworden, wie sehr ich dich und dein Kind liebe. Nimmst du die beiden Schmuckstücke wieder an von mir?«

»Ja, Klaus. Ich war in all meinem Elend froh, dass ich sie nicht weggeben musste.«

»Dass ich dich allein ließ! Wie stark und tapfer bist du gewesen!«

»Ach, ich war schwach und hatte kaum Mut, Klaus.«

»Jetzt stehen wir es gemeinsam durch. Dieser Mann muss seiner Strafe zugeführt werden. Wir werden einen erstklassigen Anwalt nehmen, damit du so schnell wie möglich ganz von ihm loskommst. Antje darf niemals etwas davon erfahren.«

»Nein, Klaus. Denn für unsere Kinder leben wir.«

Seine Lippen verschlossen ihren Mund. Nichts trennte sie noch von ihm. Die Mauer des Schweigens war zusammengebrochen.

Antje trug den Korb mit der jungen Katze vorsichtig zum Auto.

»Viel Glück«, sagte Henrik. »Vergiss uns nicht, Antje.«

»Besuch uns mal in den Ferien«, fügte Nick hinzu. »Tut’s dir nicht leid, dass du abfahren musst?«

Antje holte tief Luft. »Schade ist es schon, Nick. Aber ich gehöre nun mal zu meinem Vati und zu meiner Mutti. Du würdest auch nicht weggehen von deinen Eltern.«

»Stimmt, Antje. Pass gut auf die Katze auf.«

»Weißt du, wie ich sie nenne?«

»Nein.«

»Vielleicht nimmst du’s übel.«

»Warum denn? Einen Namen muss die Katze doch haben.«

»Sie heißt Sophie, weil sie aus Sophienlust stammt.«

Nick lachte. »Mutti, hörst du es? Antje nennt die Katze Sophie! Zur Erinnerung an Sophienlust.«

Klaus Martell trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Es ist vielleicht nicht ganz passend, Frau von Schoenecker. Immerhin ist es der Name von Nicks Urgroßmutter.«

»Sie würde sich freuen. Ich finde Antjes Idee großartig. Leben Sie wohl, Prof. Martell. Alles Gute, Frau Martell.«

Die Abschiedsstunde hatte endgültig geschlagen. Denise stand zwischen den Sophienluster Kindern und winkte dem Wagen nach.

»Was war nun eigentlich mit Matthias Bruck los?«, fragte Nick und hängte sich bei seiner Mutter ein. »Das hast du mir noch immer nicht erklärt.«

»Nichts Besonderes, Nick. Er war kein zuverlässiger Mensch. Das hatte Severin wohl schneller herausgefühlt als wir. Ein Glück, dass Andrea jetzt den netten Studenten zur Aushilfe hat.«

Nick blieb nichts anderes übrig, als sich zufriedenzugeben. Zwar merkte er, dass seine Mutter ihm etwas verschwieg. Doch es schien keine Möglichkeit zu geben, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

»Waldi konnte Matthias Bruck auch nicht leiden«, sagte Nick herausfordernd.

»Na ja, unser Waldi war schon immer der Größte«, gab Denise heiter zurück.

Sophienlust Paket 3 – Familienroman

Подняться наверх