Читать книгу Sophienlust Paket 3 – Familienroman - Patricia Vandenberg - Страница 33

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Es war ein herrlicher Sommertag. Sanftblau wölbte sich der Himmel über dem saftig-grünen Land. Es war ein Tag, an dem Wünsche und Wachträume das Herz mit einer seltsamen Unruhe erfüllten.

Die schwermütigen Gedanken wichen von Dr. Clemens Wendt, als er die idyllische Landschaft vor sich erblickte. So romantisch hatte er sich die Umgebung des Kinderheims Sophienlust doch nicht vorgestellt. Nun war er ganz sicher, dass sein kleiner Oliver sich dort schnell einleben und auch wohlfühlen würde.

Erleichtert atmete der Fabrikant auf. Er blickte seinen neben ihm sitzenden dreijährigen Sohn an. Noch wusste dieser nicht, dass er ihn in ein Kinderheim brachte, in dem er für die nächsten Wochen bleiben sollte, so lange, bis er seine ehelichen Probleme bereinigt hatte. Erst dann wollte er das Kind wieder heimholen.

»Vati, was steht denn dort auf dem Schild?«, fragte der Dreijährige nun wissbegierig.

»›Wildmoos‹, Oliver. Das ist der Name dieses Dorfes.«

»Wohin fahren wir denn, Vati?« Die großen blauen Augen des Jungen richteten sich auf Clemens Wendt, der sichtlich mit der Antwort zögerte. Er schwieg auch noch, als sie bereits durch das Dorf fuhren. Doch dann ließ er den Wagen ausrollen.

Rein zufällig war der Wagen neben einem ähnlichen Wegweiser stehen geblieben, wie er bereits an der Autobahnausfahrt zu sehen gewesen war. Diesen zweiten holzgeschnitzten Wegweiser sah Clemens als einen Wink des Schicksals an. »Schau doch, Oliver, wie hübsch der Wegweiser ist«, meinte er.

»Ja, Vati! Was ist das für ein Vogel in dem Käfig?« Interessiert richtete sich das Kind auf seinem Sitz auf.

»In dem Vogelkäfig, vor dem der Junge steht, sitzt ein Papagei. Weißt du auch, was auf dem Wegweiser steht?«

»Nein, Vati. Aber es ist ein sehr langes Wort.«

»Es sind zwei Wörter. Kinderheim Sophienlust steht drauf.«

»Fahren wir zu dem Kinderheim, Vati?« Oliver sah seinen Vater unsicher an.

»Oliver, nun hör’ mir mal genau zu«, begann Clemens mit einem hilflosen Lächeln. Solange wie möglich hatte er diesen Augenblick hinausgezögert, um seinem Sohn das Herz nicht vorzeitig schwerzumachen.

»Ja, Vati.« Ernsthaft erwiderte der Kleine den Blick seines Vaters. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war auffallend.

Clemens dachte an die glückliche Zeit, als Gesa und er über das drollige Gehabe des Kindes oft herzlich gelacht hatten. Doch bei dem Gedanken an seine Frau spürte er wieder einen harten Druck in seiner Brust. Das Schlimme war, dass er sie trotz allem noch liebte und sich ein Leben ohne sie kaum vorstellen konnte. Ja, es schien ihm unvorstellbar, dass er Gesa nicht mehr täglich um sich haben sollte, dass ihr Lachen nicht mehr durch das Haus klingen und er sie auch nie mehr in den Armen halten würde. Aber er musste sich damit abfinden. Er musste es, nach allem, was er über ihre Vergangenheit erfahren hatte.

»Vati, warum sagst du denn nichts?«

»Ach ja, Oliver.« Clemens riss sich zusammen. »Also, hör’ mir zu. Ich bringe dich für einige Wochen in das Kinderheim. Dort bist du dann jeden Tag mit vielen Kindern beisammen. Das hast du dir doch immer gewünscht?«

Oliver nickte. »Ja, Vati, das wollte ich wirklich. Aber wäre es nicht viel schöner, ich bekäme noch ein Brüderchen oder auch noch ein Schwesterchen?« In den Kinderaugen glitzerte es verdächtig.

»Oliver, du bist doch schon ein großer und verständiger Junge?« Clemens strich seinem Sohn zärtlich über das kurz geschnittene weißblonde Haar.

Tapfer schluckte der Kleine die Tränen herunter. Wenn sein Vater zu ihm sagte, dass er schon ein großer Junge sei, musste er sich auch dementsprechend benehmen, überlegte er. Und ein großer Junge weinte nicht mehr. »Ich bin schon sehr groß«, erwiderte er und hielt seine rechte Hand über seinen Kopf, um damit seine körperliche Größe anzudeuten.

»Na, siehst du! Und ich muss für ein paar Tage verreisen.«

»Aber Mutti ist doch zu Hause, Vati.«

»Mutti ist …«

»… verreist. Das weiß ich doch. Sie ist zu einer Freundin gefahren, aber sie hat mir versprochen, dass sie bald wiederkommt, Vati«, entgegnete der Junge leise.

»Sie ist nach Hamburg gefahren. Das stimmt, Oliver. Aber dort ist sie krank geworden und musste in ein Krankenhaus eingeliefert werden.« Clemens zündete sich eine Zigarette an.

»Aber sie wird doch wieder gesund?« Entsetzen stand plötzlich in den großen blauen Augen des kleinen Jungen. »Die Mutti von Peter Braun ist auch krank geworden und dann gestorben. Nun ist sie bei dem lieben Gott im Himmel. Peter hat mir erzählt, sie sei jetzt ein wunderschöner Engel. Aber ich möchte Mutti lieber bei mir haben. Ich habe doch so große Sehnsucht nach ihr.« Wie dumm, dass ihm schon wieder Tränen in die Augen schossen.

Gott steh’ mir bei, wenn ich Oliver eines Tages die Wahrheit über seine Mutter erzählen und ihm sagen muss, dass sie nicht mehr nach Hause kommt, dachte Clemens. »Mutti wird nicht sterben, mein Junge«, entgegnete er. Dann wechselte er das gefährliche Thema. »Onkel Ernst hat mir Sophienlust empfohlen. Dort soll es wunderschön sein und viele Tiere geben. Ganz in der Nähe ist ein Tierheim, in dem es sogar Affen und Bären gibt. Auch Pferde und Ponys leben in Sophienlust. Alle großen und kleinen Kinder dürfen reiten. Die großen auf den Pferden, die kleinen auf den Ponys.«

Olivers Interesse an dem Kinderheim wuchs sichtlich. »Und du glaubst, dass auch ich auf einem Pony reiten darf, Vati?«, fragte er gespannt. Für Ponys hatte er seit langem geschwärmt und sich sehnlichst gewünscht, einmal auf einem solchen Pferdchen reiten zu dürfen.

»Natürlich darfst du das.« Clemens atmete erleichtert auf. Er hatte sich die Reaktion seines Sohnes auf die Eröffnung, in einem Kinderheim untergebracht zu werden, viel schlimmer vorgestellt, denn der Junge hing sehr an seiner Mutter.

»Aber wenn Mutti dann gesund ist, besucht sie mich doch auch im Kinderheim?«, fragte Oliver etwas später, als sie die Landstraße, die schnurstracks nach Sophienlust führte, entlangfuhren.

»Wenn sie gesund ist, wird sie kommen. Du musst dich jedoch in Geduld fassen. Sie wird nicht so bald gesund werden«, fügte Clemens bedrückt hinzu. »Aber ich werde dich schon am nächsten Wochenende besuchen. Das verspreche ich dir.«

Olivers Freude über dieses Versprechen war nur verhalten. Still und in sich gekehrt saß er neben seinem Vater. Erst als ein dritter Wegweiser mit Holzfigürchen, die diesmal zwei kleine Reiter, einen Buben und ein Mädchen auf Ponys darstellten, zu sehen war, wurde er wieder gesprächiger.

»Sieh doch nur, Vati! Die beiden Kinder sitzen auf Ponys. Ob ich nachher gleich die lebendigen Ponys anschauen darf?«

»Sicherlich wirst du das dürfen.« Clemens fuhr nun durch das weit offen stehende doppelflügelige Tor.

»Vati, ist das ein Schloss? Ob dort ein richtiger König wohnt?«

»Das glaube ich kaum, Oliver. Wenn mich nicht alles täuscht, ist das das Kinderheim Sophienlust.« Clemens zweifelte ein wenig daran. Denn dieses schlossähnliche Gebäude mit der weißen Fassade, den großen Fenstern mit den grünen Läden und dem grauen Schindeldach entsprach so gar nicht seinen Vorstellungen von einem Kinderheim. Allerdings hatte sein Freund Ernst Weber ihm das Heim in den leuchtendsten Farben geschildert. Dessen Kinder hatten die vergangenen großen Ferien hier verbracht und sprachen noch jetzt voll Begeisterung von ihrem Aufenthalt in Sophienlust.

Auch die Freitreppe war hochherrschaftlich. Eine ältere Dame mit weißen Haaren trat aus dem Haus. Sie trug ein schlichtes dunkelblaues Leinenkleid. Zwei große Hunde folgten ihr auf dem Fuße.

»Vati, sind das aber große Hunde«, flüsterte Oliver respektvoll. »Nicht wahr, sie beißen mich nicht?« Er wagte es nicht, auszusteigen.

»Gewiss beißen sie dich nicht. Wären sie böse, würde man sie bestimmt nicht frei herumlaufen lassen. Komm, sei kein Hasenfuß und steig’ schon aus«, bat Clemens.

Oliver seufzte hörbar auf und öffnete vorsichtig die Autotür. Bevor er die Füße auf den Boden setzte, erkundigte er sich noch: »Was sind denn das für Hunde?«

»Der weißbraune ist ein Bernhardiner, und der große schwarze Hund ist eine Dogge. Siehst du, sie beißen nicht«, stellte Clemens fest, als ein ungefähr vierjähriges Mädchen mit hellblonden Haaren aus dem Haus kam und den Bernhardiner umarmte. Dann streichelte es die Dogge.

Oliver hatte seine Furcht nun überwunden. Wenn ein so kleines Mädchen keine Angst vor den großen Hunden hatte, durfte er sich auch nicht fürchten, sagte er sich und stieg nun endgültig aus.

Clemens Wendt war schon ausgestiegen und kam nun um das Auto herum. Er ergriff die Hand seines Sohnes und stieg mit ihm die Freitreppe hinauf.

Die Heimleiterin, Frau Rennert, kam den beiden ein paar Schritte entgegen. Clemens stellte sich und seinen Jungen vor. »Ich habe bereits mit Ihnen telefoniert, Frau von Schoenecker«, fügte er hinzu, in der Meinung, der Besitzerin des Heimes gegenüberzustehen.

»Ich bin Frau Rennert, Herr Dr. Wendt. Ich bin die Heimleiterin. Aber Frau von Schoenecker erwartet Sie. Also, du bist der Oliver?«, wandte sie sich an den Jungen.

»Ich heiße Oliver Wendt und bin drei Jahre alt.« Der Knirps richtete sich ein wenig auf, um damit dem kleinen Mädchen zu imponieren, das ihm sehr gut gefiel.

»Also Oliver Wendt.« Frau Rennert verkniff sich ein Lächeln.

»Darf man die Hunde streicheln?«, fragte Oliver, seinen ganzen Mut zusammennehmend. Dass sein Herz zum Zerspringen klopfte, sah man ja glücklicherweise nicht.

»Das darfst du, Oliver. Der Bernhardiner heißt Barri und gehört allen Kindern. Die Dogge heißt Anglos. Sie gehört unserem Fabian.«

»Dann dürfen die Kinder hier eigene Hunde halten?«, fragte Clemens erstaunt.

»Wenn sich ein Kind von seinem Liebling nicht trennen will, darf es seinen Hund mitbringen. Manchmal bringen wir die Hunde auch im Tierheim unter. Aber kommen Sie doch weiter.« Frau Rennert lächelte Clemens liebenswürdig an.

»Und ich bin die Heidi«, machte sich das kleine Mädchen bemerkbar, weil es von niemandem beachtet worden war.

»Guten Tag, Heidi«, Clemens reichte dem kleinen Persönchen die Hand. »Ich freue mich, dich kennen zu lernen.«

»Ich auch, Heidi.« Oliver war momentan mit allem recht zufrieden. Den Gedanken, dass sein Vati ihn hier allein zurücklassen wollte, schob er weit von sich. »Darf ich die Ponys sehen?«, fragte er neugierig.

»Später darfst du sie dir ansehen, Oliver. Jetzt werden wir zunächst Tante Isi begrüßen. So nennen die Kinder Frau von Schoenecker, Herr Dr. Wendt«, erläuterte sie. »Sie verwaltet Sophienlust für ihren Sohn. Denn unser Nick ist erst fünfzehn Jahre alt. Ihm gehört Sophienlust eigentlich.«

»Ach, so ist das. Ich …« Clemens sprach nicht weiter, denn in der geräumigen Halle mit dem offenen Kamin, vor dem ein Bärenfell lag, kam ihnen eine aparte, sehr jugendlich aussehende Dame in einem leichten Sommerkleid aus einem buntbedruckten Stoff entgegen. Das schwarze Haar trug sie in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem leichten Knoten geschlungen. Die auffallend dunklen Augen in dem ovalen Gesicht mit den gleichmäßigen Zügen strahlten Ruhe und unendliche Güte aus. Ihre ebenmäßige schlanke Gestalt mit den graziösen Bewegungen ließ erkennen, dass sie einstmals eine gute Tänzerin gewesen war.

Clemens Wendt war überrascht, in Denise von Schoenecker eine so reizvolle Frau zu finden.

»Ich habe Sie kommen hören«, erklärte Denise nach der Begrüßung. »Ich habe Sie schon erwartet, Herr Dr. Wendt. Hatten Sie eine gute Fahrt?«

»Von München nach Frankfurt ist es ja nicht allzu weit. Die Autobahn war kaum befahren, so dass wir schnell vorwärts gekommen sind.«

Es fiel Clemens schwer, den Blick von Denise zu lösen. Aber auch Oliver sah sie unverwandt an. Dann sagte er: »Ich mag dich sehr. Wie heißt du denn?«

»Ich bin ab heute deine Tante Isi.«

»Mutti hat auch dunkles Haar, aber nicht ganz so dunkel. Und ihre Augen sind auch nicht so dunkel. Aber du bist so lieb wie sie. Meine Mutti ist krank. Deshalb komme ich ins Kinderheim.«

Oliver hatte schnell und leise gesprochen. Dass ihm die Tränen im Augenblick recht locker saßen, war unverkennbar. Deshalb fasste Denise nach seiner Hand und sagte geheimnisvoll: »Ich werde dir jetzt etwas sehr Schönes zeigen. Komm, Oliver.«

Oliver schluckte seine Tränen wieder hinunter und sah vertrauensselig zu seiner neuen Tante Isi auf, die ihn in den Wintergarten führte. Heidi folgte den beiden, ebenso Frau Rennert und Clemens.

»Kleiner neuer Junge, wer bist du?«, fragte plötzlich eine schnarrende Stimme.

Oliver blickte sich erschrocken nach allen Seiten um. »Wer hat denn da gesprochen?«, fragte er erregt. »Es ist doch kein Mensch hier außer uns.«

»Dummer Junge!« Die krächzende Stimme ertönte nun hinter seinem Rücken. Verdutzt drehte Oliver sich um.

»Das war Habakuk, unser Papagei!«, rief Heidi kichernd. Es machte ihr jedes Mal viel Spaß, wenn ein neues Kind den bunten Vogel kennen lernte.

»Das ist genauso ein Vogel wie der, der auf dem Wegweiser in dem Käfig sitzt«, staunte Oliver. »Kann er denn noch mehr sagen?«

»Ja, er kann vieles sagen.«

Clemens kam bei der Unterhaltung immer mehr zu der Überzeugung, dass Oliver in dem Kinderheim gut aufgehoben sein würde.

»Ich glaube, ich höre die Kinder!«, rief Frau Rennert nun. »Sie kommen von ihrem Ausflug zurück. Nun wirst du gleich alle Kinder kennen lernen, Oliver. Sie werden dich alle lieb haben«, versprach sie ihm.

Der Kleine blickte der Kinderschar, die ins Haus stürmte, scheu entgegen. Ein ungefähr fünfzehnjähriger Junge mit schwarzgelocktem Haar und ebenso dunklen Augen stellte sich als Erster vor. »Ich heiße Dominik von Wellentin-Schoenecker, aber Sie dürfen mich Nick nennen«, wandte er sich an Clemens. »Alle anderen nennen mich auch so. Natürlich dürfen Sie mich auch duzen. Denn die meisten glauben, ich sei schon erwachsen, weil ich so groß bin. Aber erwachsen ist man lange genug«, fügte er verschmitzt lächelnd hinzu. »Und du bist der Oliver?«

Oliver nickte. Schnell hatte er seine Schüchternheit überwunden. Besonders gut gefiel ihm ein sommersprossiges Mädchen mit goldblonden Haaren und blauen Augen. Es hieß Pünktchen. Das war eine Name, den Oliver sehr lustig fand.

Pünktchen fuhr dem Jungen übers Haar und sagte: »Du bist aber hübsch, Oliver. Wir freuen uns sehr, dass du bei uns bleibst. So, und nun stelle ich dir die anderen Kinder vor.«

Oliver hörte aufmerksam zu, als Pünktchen alle Namen aufzählte. Natürlich konnte er sie sich nicht so schnell merken, aber Nick tröstete ihn, indem er erklärte, dass noch kein Meister vom Himmel gefallen sei.

Auch Nick gefiel dem kleinen Jungen. »Darf ich jetzt die Ponys sehen?«, fragte er.

»Nick, ich habe mit Herrn Dr. Wendt noch einiges zu besprechen. Ich glaube, ihr Kinder solltet inzwischen zu den Koppeln laufen und Oliver die Pferde und Ponys zeigen«, schlug Denise vor.

Oliver war in seinen Gefühlen hin und her gerissen. Einerseits wäre er gern bei seinem Vater geblieben, andererseits konnte er es kaum erwarten, endlich die Ponys zu bewundern.

»Geh nur, Oliver«, half Clemens ihm bei der Entscheidung. »Ich muss noch mit Tante Isi sprechen.«

»Nicht wahr, du fährst aber nicht fort?« Bange sah Oliver seinen Vater an.

»Wie könnte ich!« Clemens wurde das Herz noch schwerer, als er in die treuherzigen Augen seines kleinen Sohnes schaute. Sicherlich würde der Abschied nicht ohne Tränen abgehen. Darauf musste er sich gefasst machen.

Oliver verließ zwischen Nick und Pünktchen die Halle, während Clemens Denise in das Biedermeierzimmer folgte. Die stilechten Möbel darin überraschten Clemens. Das sprach er auch aus.

»Ich habe das Zimmer so gelassen, wie es zu Lebzeiten von Nicks Urgroßmutter aussah. Nick ist ihr Erbe.«

»Frau Rennert sagte mir schon, dass Sie Sophienlust für Ihren Sohn verwalten.«

»Das tue ich.« Denise erzählte ihm nun einiges von ihrer Familie. So erfuhr Clemens, dass sie zum zweitenmal verheiratet war und aus der Ehe mit Alexander von Schoenecker auch einen Sohn hatte, den siebenjährigen Henrik. Außerdem berichtete Denise ihm von Andrea, ihrer Stieftochter, die mit dem Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn verheiratet war. Auch Sascha erwähnte sie, den ältesten Sohn ihres Mannes, der in Heidelberg studierte. »Bitte, bleiben Sie doch über Nacht hier«, lud sie Dr. Wendt danach ein. »Dann lernen Sie meine Familie vollzählig kennen. Sascha verbringt gerade seine Semesterferien bei uns in Schoeneich. Und meine Stieftochter und ihren Mann erwarte ich zum Abendessen. Ihren kleinen Sohn bringen die beiden natürlich nicht mit. Er ist noch ein Baby«, fügte sie hinzu.

Clemens nahm die Einladung ohne Zögern an. Nichts zog ihn in die Münchner Villa. Außer dem Hausmädchen erwartete ihn kein Mensch dort. Außerdem war der nächste Tag ein Sonntag, so dass er auch in beruflicher Hinsicht nichts versäumte.

»Sie erwähnten vorhin, dass Ihre Frau krank sei. Ich hoffe, dass es nichts Ernstes ist.« Mitfühlend sah Denise den Besucher an.

»Es ist nichts Ernstes«, entgegnete Clemens hastig. »Aber die Krankheit ist langwierig. Darum halte ich es für angebracht, unseren Sohn hier unterzubringen.«

Denise entging nicht seine Nervosität. Sie war fast sicher, dass es in der Ehe von Dr. Wendt irgendwelche Komplikationen gab, über die er nicht sprechen wollte. Sie stellte jedoch keine Fragen, und Clemens war ihr dankbar dafür. Es wäre ihm unmöglich gewesen, über Gesa zu sprechen.

Etwas später besichtigte Clemens mit Denise das Kinderheim. Die freundlichen Schlafzimmer der Kinder mit je zwei Betten gefielen ihm besonders gut. An den Fenstern hingen buntbedruckte Gardinen.

In einem dieser Zimmer sagte Denise lächelnd: »Hier haben wir Oliver untergebracht. Ich glaube, das Zimmer wird ihm gefallen. Sie müssen wissen, dass bei uns in den großen Ferien jedes Kinderbett besetzt ist. Oliver teilt dieses Zimmer mit einem vierjährigen Jungen. Er heißt Horst Bachler und kommt aus Nürnberg. Seine Eltern sind mit einem Luxusdampfer unterwegs, um richtige Ferien zu machen. Horst ist nun schon über vier Wochen bei uns. Sie haben den Jungen ja vorhin bereits kennen gelernt.«

Clemens erinnerte sich nur schwach an den kleinen Jungen mit den dunklen Haaren und den braunen Augen. »Es freut mich für Oliver, dass er mit einem ungefähr gleichaltrigen Jungen das Zimmer teilen wird. Oliver hängt sehr an seiner Mutter. Der Abschied von ihr wird …, war schwer für ihn«, verbesserte er sich.

Wieder fiel Denise seine versteckte Erregung auf. Nach wie vor war sie überzeugt, dass Frau Wendt entweder an einer tückischen Krankheit litt oder dass es unüberwindliche Schwierigkeiten zwischen den Ehepartnern gab.

*

Oliver war an diesem Tag von den vielen neuen Erlebnissen so in Anspruch genommen, dass ihm keine Zeit blieb, über den Abschied von seinem Vati nachzugrübeln. Kaum lag er im Bett, war er auch schon eingeschlafen. Sehr zur Enttäuschung von Horst, der sich zu gern noch ein Weilchen mit seinem neuen Zimmergenossen unterhalten hätte. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als den zotteligen Teddybär Stupsi in die Arme zu nehmen und ein ganz kleines bisschen nach seiner Mami und seinem Papi zu weinen.

Schwester Regine, die – wie jeden Abend – nach den Kindern sah, bevor sie schlafen ging, lächelte gerührt, als sie feststellte, dass die beiden kleinen Jungen schon fest schliefen. Sanft nahm sie Horst das Stofftier aus dem Arm und setzte es auf den Sessel, so dass Oliver den Teddy am Morgen sogleich sehen würde. Dann knipste sie das Licht aus und schloss lautlos die Tür hinter sich.

Clemens hatte den Abend auf Gut Schoeneich verbracht. Alexander von Schoenecker brachte ihn gegen Mitternacht mit seinem Wagen nach Sophienlust zurück, wo Clemens sich noch einmal herzlich für alles bedankte. Er wollte am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück heimfahren, um bei der Rückkehr seiner Frau zu Hause zu sein.

Dank des genossenen ausgezeichneten Weines schlief Clemens sofort ein. Lautes Geschrei riss ihn am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Er setzte sich auf, lauschte und erkannte die Stimme seines Sohnes. Sofort stand er auf, um nachzusehen, was los war. In Windeseile zog er sich an und eilte aus dem Zimmer.

Die Gästezimmer befanden sich genauso im ersten Stockwerk wie die Kinderzimmer. Auf dem Korridor begegnete Clemens das nette sommersprossige Mädchen. »Was ist los?«, fragte er kopfschüttelnd.

»Oliver schreit wie am Spieß. Er ruft immerzu nach Ihnen, Herr Dr. Wendt, und auch nach seiner Mutti. Nicht wahr, er ist zum ersten Mal von daheim fort?«, fragte Pünktchen.

»So ist es.« Clemens eilte neben Pünktchen zu dem Zimmer, in dem sein Sohn untergebracht war. Olivers lautes Weinen verstummte jedoch auch nicht, als er sanft auf ihn einredete.

»Oliver, was ist denn los?«, fragte Clemens ratlos und nahm seinen Sohn auf den Schoß.

»Ich habe geglaubt, du wärst ohne mich fortgefahren, Vati.« Allmählich ließ Olivers Schluchzen nach. »Ich habe solche Angst gehabt.«

»Ich bin ja da, mein Junge. Komm, sei ganz still.« Sanft wiegte Clemens das Kind in seinen Armen hin und her.

»Oliver, schau doch, was ich für dich habe«, sagte Heidi und gab ihm den Teddy Stupsi. »Tante Isi hat ihn uns allen geschenkt. Aber die nächsten Tage gehört er dir ganz allein.«

Oliver hörte zu weinen auf. »Ist der aber schön. Vati, nicht wahr, er ist schön?«, fragte er und lächelte Clemens unter Tränen an. »Ich habe so große Sehnsucht nach Mutti gehabt.«

Clemens unterdrückte einen Seufzer bei dem Gedanken an die Zukunft. Schwester Regine aber nickte ihm aufmunternd zu. »Oliver wird es schon bei uns gefallen«, meinte sie. »Ich nehme an, er ist erschrocken, als er in dem fremden Zimmer aufwachte. Oliver, gleich nach dem Frühstück kommen Nick und Henrik aus Schoeneich rüber. Dann darfst du auf einem Pony reiten. Ist das nicht fein?«

»Darf ich das auch wirklich?« Oliver atmete auf. Doch dann fragte er: »Aber du bleibst doch da, Vati?«

»Dein Vati bleibt noch da«, antwortete die Kinderschwester an Clemens’ Stelle.

Als Clemens mit Schwester Regine allein war, sagte er: »Ich glaube, ich sollte ohne Abschied losfahren.«

»Das müssen Sie entscheiden, Herr Dr. Wendt. Aber Frau von Schoenecker hat versprochen, sofort nach dem Frühstück zu kommen. Sie versteht es nach wie vor am besten, mit Kindern umzugehen und die richtigen Worte zu finden. So etwas ist eine Gabe, die einem Menschen angeboren ist.«

»Sie ist eine wundervolle Frau«, stellte Clemens fest. Die Aussicht, dass Frau von Schoenecker kommen würde, war für ihn eine große Erleichterung.

Denise tat alles, um zu verhindern, dass der Abschied von seinem Vater für Oliver allzu dramatisch verlief. Als das Auto losfuhr, nahm sie den Kleinen auf den Arm.

Aufgeregt winkte Oliver dem Wagen nach. Doch dann fing er an zu weinen. »Ich will zu meiner Mutti!«, schrie er und strampelte so heftig, dass Denise ihn auf den Boden stellte.

»Oliver, wir fahren jetzt zum Tierheim.« Nick bemühte sich, seiner Mutter zu helfen. »Nicht wahr, Mutti, du bringst uns mit deinem Auto hin?«

»Das mache ich, Nick. Pünktchen, Heidi, Horst, Henrik, du und Oliver dürfen heute mitfahren.«

»Wie schön!« Heidi klatschte erfreut in die Hände und machte dann einen Luftsprung. »Oliver, am lustigsten sind die Schimpansen Luja und Batu«, erzählte sie fröhlich.

Denise fasste Oliver, der zu weinen aufgehört hatte, bei der Hand. »Im Tierheim gibt es auch eine Braunbärin. Sie heißt Isabell und hat zwei Kinder. Taps und Tölpl sind sehr verspielt«, lenkte sie den Jungen weiterhin von seinem Abschiedsschmerz ab.

Oliver lächelte schon wieder. »Fahren wir gleich?«, fragte er aufgeregt.

»Sofort, Oliver.« Denise fiel ein Stein vom Herzen. Das Schlimmste schien überwunden zu sein.

»Die Bärenmutter erzieht ihre Kinder streng«, berichtete Pünktchen lebhaft. »Wenn sie nicht folgen, ohrfeigt sie ihre Kinder gehörig.«

Olivers Augen glänzten vor freudiger Erwartung.

»Und dann gibt es im Tierheim drei Füchse«, ergänzte Heidi.

»Und auch ein einziges Pferdchen, das nicht viel größer ist als ein ausgewachsener Pudel ist.« Auch Henrik gab sein Wissen zum Besten. »Es ist braunweiß und heißt Billy. Ja, und es kommt von ganz weit her. Es ist in Texas geboren. Dann gibt es im Tierheim auch noch zwei Esel. Der ältere Esel heißt Benjamin, der andere Fridolin. Fridolin kann einen Wagen ziehen. Nicht wahr, Mutti, wir dürfen nachher mit Oliver in dem Gig fahren?«

»Du musst Oliver noch erklären, was ein Gig ist, Henrik«, sagte Pünktchen. »Oder soll ich es tun?«

»Lass nur, ich erkläre es ihm schon.« Henriks graue Augen zeigten einen verschmitzten Ausdruck, als er hinzufügte: »Ein Gig ist ein zweirädriger leichter Wagen mit einer Gabeldeichsel.«

»Bravo, mein Kleiner«, lobte Nick seinen jüngeren Bruder.

»Sag’ nicht immer Kleiner zu mir. Das kann ich nicht leiden«, empörte sich der Siebenjährige und reckte sich, um größer zu erscheinen.

»Ist schon gut.« Nick schmunzelte. Es machte ihm nach wie vor einen Heidenspaß, Henrik ein wenig zu necken.

»Gebt Ruhe, und hört zu streiten auf«, bat Denise in bester Stimmung. »Kommt nun, damit wir endlich losfahren können.«

In den nächsten Stunden vergaß Oliver sein Heimweh. Das Tierheim Waldi & Co. faszinierte ihn. Sehr nachdenklich bewunderte er auch Peterle, das reizende Baby des Ehepaares von Lehn.

»Mutti hat mir versprochen, dass ich eines Tages auch ein Brüderchen oder Schwesterchen bekomme«, sagte er.

»Bestimmt bekommst du bald ein Brüderchen«, erwiderte Pünktchen, die sich besonders um den Kleinen kümmerte.

*

Erst gegen Abend erreicht Dr. Clemens Wendt seine Villa in München-Grünwald, die in einem sehr künstlerisch angelegten Garten mit seltenen exotischen Bäumen, Blumenrabatten und einem Springbrunnen stand.

Als Clemens ausstieg, um die beiden Flügeltüren des eisernen Tores zu öffnen, steigerte sich seine Nervosität noch. Ob Gesa inzwischen heimgekommen war, fragte er sich. Er hätte die unvermeidliche Auseinandersetzung mit ihr gern so schnell wie möglich hinter sich gebracht. Auf der Rückfahrt nach München hatte er hin und her überlegt, ob er Oliver die Trennung von seiner Mutter ersparen könne. Doch es erschien ihm unmöglich. Er konnte nicht über seinen eigenen Schatten springen und musste die Konsequenzen aus Gesas Verhalten ziehen.

Bisher hatte es in seinem Leben niemals halbseidene Sachen gegeben. So sollte es auch bleiben. Er würde sich selbst nicht untreu werden. Gesa hatte ihn auf die niederträchtigste Weise belogen und hintergangen. Mit einer unverzeihlichen Lüge war sie seine Frau geworden. Ihm blieb nun nichts anderes übrig, als einen dicken Schlussstrich unter seine Ehe zu setzen.

Langsam fuhr Clemens zu den Garagen. Gesas Wagen war noch nicht da. Also muss ich auf sie warten, dachte er bedrückt.

Clemens parkte den Wagen. Als er ausstieg, fiel sein Blick auf Olivers neuen Roller. Schmerzhaft zog sich sein Herz zusammen. Dann aber atmete er tief durch und presste die Lippen hart aufeinander. Jede falsche Sentimentalität wäre in diesem Fall fehl am Platze.

Das Hausmädchen Marianne erkundigte sich sogleich nach Oliver. Dass Clemens ihn in einem Kinderheim untergebracht hatte, schockierte sie.

»Das Kinderheim ist einmalig schön und ein echtes Kinderparadies«, erwiderte Clemens. »Oliver hat sich bereits eingelebt.«

Für Marianne stand fest, dass irgendetwas in der bisher so guten Ehe der Wendts vorgefallen war. Der kleine Junge tat ihr unendlich leid, weil er am meisten unter dem Zerwürfnis seiner Eltern leiden musste. »Ihre Frau hat heute Morgen angerufen. Sie wird am Abend hier sein«, richtete sie Clemens aus.

Clemens verschwand in seinem Arbeitszimmer, wo er die Tagespost durchblätterte. Aber dann schob er die Briefe und Prospekte nervös von sich und stand auf, um sich einen Whisky einzuschenken. Mit dem Glas in der einen Hand und der Zigarette in der anderen blickte er hinaus in die Abenddämmerung. Dass Gesa immer noch nicht da war, war ihm unverständlich.

Als er endlich ihr Auto kommen hörte, trat er rasch vom Fenster zurück und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Dort drückte er die Zigarette im Aschenbecher aus und beschäftigte sich wieder mit der Post. Dabei lauschte er angespannt nach draußen. Er hörte Gesa das Hausmädchen fragen: »Ist mein Mann da? Oliver ist gewiss schon im Bett. Es ist leider ziemlich spät geworden. Ich bin auf der Autobahn nur langsam vorwärtsgekommen. Ich lauf’ mal schnell hinauf, um Oliver noch einen Gutenachtkuss zu geben!«

Was Marianne antwortete, verstand Clemens nicht, weil sein Blut unerträglich laut in seinen Ohren rauschte.

Und dann betrat Gesa sein Zimmer. »Clemens, Marianne sagte mir soeben, dass du Oliver in ein Kinderheim gebracht hast«, rief sie außer sich. »Guten Abend«, sagte sie etwas leiser und wollte ihm einen Kuss geben.

Clemens stieß sie zurück.

Erschrocken richteten sich Gesas dunkle Augen auf ihn. »Was ist geschehen? Warum bist du so abweisend? Und warum hast du Oliver in ein Kinderheim gebracht? Weil ich für ein paar Tage bei Ulla Sander war? Wenn sie nicht so schwer krank gewesen wäre, hätte ich Oliver bestimmt mitgenommen.«

Clemens atmete schwer. Es quälte ihn, dass er Gesa nicht in die Arme nehmen und küssen durfte. Noch niemals war sie ihm so schön, so begehrenswert erschienen wie in diesem Augenblick. Ihr dunkles Haar war leicht zerzaust vom Wind, ihre Wangen zeigten einen rosigen Schimmer, ihre Augen wirkten wie dunkler Samt. Sie trug hellblaue Hosen, dazu einen dunkelblauen Pullunder über einer langärmeligen modischen Hemdbluse. Doch das, was Clemens vor einigen Tagen von einem seiner Laboranten in seinem chemischen Werk erfahren hatte, gab ihm die Kraft, hart zu bleiben.

»Clemens, ich flehe dich an, sprich endlich!«, rief Gesa erregt. »Ich sehe dir an der Nasenspitze an, dass irgendetwas Furchtbares passiert ist. Oliver? Ist der Junge verunglückt?«

»Oliver geht es gut. Ich habe ihn in ein Kinderheim gebracht.« Er wich ihrem Blick aus.

»Wie konntest du nur!« Erschüttert suchte sie nach einem Halt. »Noch heute hole ich ihn nach Hause. Gib mir die Adresse des Kinderheims.«

»Das Kinderheim ist viele hundert Kilometer von München entfernt, meine Liebe. Vorläufig wird Oliver auch dort bleiben.«

»Clemens, bist du verrückt geworden?« Gesa sank auf einen Stuhl.

»Verrückt? Nein, das bin ich gewiss nicht. Noch niemals war ich vernünftiger als in diesem Augenblick. Seit einem Monat habe ich einen neuen Laboranten. Er kommt aus Hamburg. Du müsstest ihn kennen. Er heißt Gerhard Winkler.«

»Gerhard Winkler? Ich kenne ihn nicht, Clemens. Was willst du damit sagen?«, fragte Gesa gequält.

»Ich bin hinter dein Geheimnis gekommen.« Kalt erwiderte er ihren ratlosen Blick. »Herr Winkler hat mir die Augen über dich geöffnet. Unabsichtlich natürlich.«

»Ein Geheimnis? Was für ein Geheimnis?« Der Boden schien unter ihr zu beben. Konnte denn das Schicksal so grausam sein? Gab es wirklich solche Zufälle? »Was für ein Geheimnis?«, wiederholte sie mit ersterbender Stimme.

»Tu doch nicht so, als ob du mich nicht verstehen würdest. Wir sind ungefähr fünf Jahre verheiratet, nicht wahr?«

»Etwas über vier, Clemens.«

»Gerhard Winkler war mit einem gewissen Mathias Rolland befreundet.«

Gesa nickte. »Dann weißt du es also?«

»Ja, ich weiß alles.« Seine Stimme überschlug sich vor Erregung. »Ich weiß, dass du mich in all den Jahren belogen hast. Dass du ein außereheliches Kind geboren hast, von dem du dich leichten Herzens getrennt hast!«

»Ich war verzweifelt, Clemens. Bitte, hör’ mich erst einmal an, bevor du mein Verhalten verurteilst.« Gesa umklammerte die Seitenlehnen des Sessels so fest, dass die Adern auf ihren Handrücken dick anschwollen.

»Sei nicht so grausam«, flehte sie.

»Ich höre.« Er zündete sich eine Zigarette an.

Gesa las in seinen Augen nur Verachtung. Es fiel ihr schwer, mit ihrer Beichte zu beginnen. Stockend erzählte sie: »Wie du weißt, habe ich meine Eltern mit vierzehn Jahren verloren. Ich lebte nach ihrem Tod bei einer Tante, die bald krank wurde und ganz auf meine Pflege angewiesen war. Jahrelang kam ich kaum aus dem Haus. Als meine Tante starb, hinterließ sie mir ihr kleines Haus und ein wenig Bargeld. Die schönsten Mädchenjahre lagen hinter mir. Ich war einundzwanzig und hatte keinerlei Ausbildung genossen. Ich verkaufte das Haus und entschied mich, Krankenschwester zu werden.

Und dann lernte ich Mathias Rolland kennen. Er faszinierte mich vom ersten Tag an. Wenige Tage später war ich seine Sklavin. Ich war unendlich glücklich, weil ich ihn mit der ganzen Kraft meines liebebedürftigen Herzens innig liebte. Ich hatte auch kein Interesse mehr für meinen Beruf. Ich lebte wie in einem Rausch.« Gesa presste ihre bebenden Hände erregt gegeneinander.

Clemens stand auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Deine rührselige Liebesgeschichte interessiert mich nicht«, erklärte er mit einem eisigen Blick. »Ich will sie nicht hören.«

»Aber sie gehört zu meiner Beichte, Clemens. Sie ist das A und O meiner Geschichte.« Gesa konnte nicht begreifen, dass das der gleiche Mann war, der sie in der Nacht vor ihrer Reise nach Hamburg zärtlich in den Armen gehalten hatte. Dieser Mann, der sie jetzt mit so feindseligen Augen ansah, war für sie ein Fremder. Eiseskälte kroch ihr durch die Glieder. »Clemens, bitte …«

Gesa ahnte nicht, dass jedes Wort ihrer Beichte für Clemens eine unerträgliche Pein war. Er war eifersüchtig auf diesen Mathias Rolland, liebte Gesa mehr denn je und sehnte sich danach, sie zu küssen.

»Komm zu Ende!«, rief er unbeherrscht und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch.

Krampfhaft schluckte Gesa die Tränen hinunter und fuhr in ihrem Bericht fort. »Das Erwachen aus meinem Liebesrausch war furchtbar. Als ich von einem Arzt, den ich wegen gewisser Unstimmigkeiten in meinem Körper aufgesucht hatte, erfuhr, dass ich ein Kind erwartete, war ich überglücklich. Mathias aber tobte. Er verlangte von mir, dass ich mir das Kind nehmen lassen solle. Aber ich weigerte mich, weil ich das Kind haben wollte.

Eine Woche später war Mathias fort. Nun erinnerte ich mich auch wieder an seinen Freund Gerhard Winkler. Er war einigemale mit Mathias und mir beisammen. Ich traf ihn später kurz vor meiner Entbindung. Als ich ihn nach Mathias fragte, erfuhr ich, dass der Vater meines Kindes nach Brasilien gegangen war und inzwischen geheiratet hatte.

Meine Ausbildung als Krankenschwester hatte ich wieder aufgenommen, nachdem Mathias mich verlassen hatte. Eine meiner Kolleginnen redete mir zu, das Kind sofort nach der Geburt zur Adoption freizugeben, um mein Leben nicht zu belasten. Ich war so verzweifelt, dass ich zu allem ja und amen sagte. Danach brauchte ich das Kind nur noch zur Welt zu bringen. Das Ehepaar, dem ich das Kind zur Adoption überlassen hatte, habe ich nur ein einziges Mal ganz kurz gesehen. Ich weiß auch nicht, wie mein Kind getauft worden ist. Ich …« Gesa brach in Tränen aus. Aufschluchzend warf sie die Hände vors Gesicht. »Clemens, versteh doch!«, rief sie. »Ich war jung und schrecklich allein. Als ich dich kennen lernte, fühlte ich mich unendlich geborgen in deiner Nähe. Glaub’ mir, ich wollte dir von dem Kind erzählen. Gott ist mein Zeuge, dass ich es wollte. Aber ich hatte Angst, dass du mich dann verlassen würdest. Und ich wollte dich nicht verlieren. Ich liebe dich so sehr, Clemens. Du und Oliver, ihr seid mein ganzes Leben. Ist es denn wirklich so unverzeihlich, dass ich dir dieses Kind verschwiegen habe? Ich habe mir vormachen wollen, dass es überhaupt nicht existiert. Und ich habe es auch vergessen«, fuhr sie unter Tränen in ihrer Beichte fort. »Clemens, bitte, sieh mich nicht so zornig an. Wir sind doch glücklich.«

»Wir waren glücklich.«

»Warum waren, Clemens? Hat sich denn etwas in unserer Ehe geändert? Wärst du diesem Laboranten in deinem Werk nicht begegnet, hättest du nichts erfahren. Wir …«

»Hör’ auf, Gesa. Es hat doch keinen Sinn mehr. Ich weiß es nun mal und ziehe die Konsequenzen daraus.«

»Was soll das heißen?«, fragte sie hilflos und sah ihn fassungslos an.

»Das soll heißen, dass wir nicht mehr beisammenbleiben können.«

»Clemens, das ist doch unsinnig. Ich liebe dich doch. Und du? Du liebst mich doch auch? Oder waren all deine Liebesschwüre eine einzige Lüge?«

»Ich habe dich geliebt.« Clemens blieb allen Argumenten gegenüber unzugänglich. »Ich habe kein Vertrauen mehr zu dir. Eine Ehe ohne Vertrauen ist wie ein steuerloses Schiff, das hilflos dem Sturm preisgegeben ist.«

»Denkst du denn nicht an Oliver? Soll er denn zu den Kindern gehören, deren Eltern getrennt leben? Du weißt doch genau, dass solche Kinder kein glückliches Los haben. Mein kleiner Oliver soll aber eine glückliche Kindheit haben.«

»Ich denke sogar in erster Linie an Oliver. Er ist noch klein und wird dich vergessen. Denn in meinen Augen bist du eine Rabenmutter, weil du dich leichtfertig von deinem ersten Kind getrennt hast. Nach allem muss ich befürchten, dass du auch Oliver nicht liebst und ihn genauso im Stich lassen würdest, wenn du dir damit ein leichteres Leben verschaffen könntest.«

»Clemens, wie kannst du so etwas sagen?« Gesa war dem Zusammenbruch nahe. Es war ihr unbegreiflich, dass der Mann, den sie liebte und dem sie vertraut hatte, mit dem sie bisher so glücklich gewesen war, so unnachgiebig sein sollte.

»Ich gebe Oliver nicht her«, sagte sie fest. »Oliver ist mein Sohn.«

»Oliver bleibt bei mir. Dafür werde ich sorgen, Gesa.«

»Das kannst du mir doch nicht antun, Clemens.« Flehend hob sie ihm die Hände entgegen. »Clemens, du brichst mir damit das Herz. Du nimmst mir mein Leben.«

»Sei nicht so theatralisch. Du siehst gut aus und wirst dich bald mit einem anderen Mann trösten.«

Gesa hörte zu weinen auf. »Dann sage mir wenigstens, wo Oliver ist«, bat sie. Dabei faltete sie bittend ihre Hände.

»Ich denke nicht daran. Ich reiche schon morgen die Scheidung ein. Und ich werde alles, aber auch alles unternehmen, um zu erwirken, dass du kein Anrecht auf den Jungen hast. Ich will nicht, dass er in seelische Zwiespälte gestürzt wird. Er wird dich bald vergessen, Gesa. Ich bitte dich, mein Haus so bald wie möglich zu verlassen. Mehr haben wir uns nicht mehr zu sagen.«

In Gesa wurde alles starr. »Ich verlasse noch heute das Haus«, erwiderte sie tonlos. Sie erhob sich und taumelte wie eine Betrunkene aus dem Zimmer.

Aufstöhnend barg Clemens sein Gesicht in den Händen. In diesem Augenblick hasste er sich selbst wegen seiner Unnachgiebigkeit. Aber er brachte es nicht über sich, Gesa nachzulaufen und sie zu bitten, alles zu vergessen und bei ihm zu bleiben.

Dann hörte er Gesas leichten Schritt über sich im Schlafzimmer. Danach vernahm er das leise Schließen einer Tür, Schritte auf der Treppe und dann das Zuschnappen der Haustür. In diesem Augenblick erwachte er aus seiner Starre und sprang auf. Vom Fenster aus erblickte er die zierliche Gestalt seiner Frau. Wenig später hörte er das Aufheulen eines Motors.

Vorbei, dachte er. Es ist vorbei und überstanden. Oliver wird seine Mutter schnell vergessen. Viel schneller als ich. Ich werde sie ein ganzes Leben lang lieben und mich vor Sehnsucht nach ihr verzehren.

Clemens hatte das Gefühl, um Jahre älter geworden zu sein. Die Zukunft lag grau in grau vor ihm.

*

Oliver wurde von allen Kindern in Sophienlust geliebt und verwöhnt. Auch die Erwachsenen bemühten sich, dem Kleinen den Aufenthalt im Kinderheim so schön wie möglich zu gestalten.

Deutlich zeigte das Kind, wie gut es ihm in Sophienlust gefiel, aber die Sehnsucht nach seiner Mutti trat ­immer wieder in den Vordergrund. Oliver weinte zwar nur selten, wenn er von seiner Mutter sprach, aber aus jedem seiner Worte war die große Hoffnung, dass sie schon bald kommen würde, um ihn heimzuholen, herauszuhören.

Andrea von Lehn, die reizende junge Frau des beliebten Tierarztes, hatte den Kleinen tief in ihr Herz geschlossen. Auch Oliver hing bald abgöttisch an seiner neuen Tante Andrea. Wenn er in dem Landhaus am Rande von Bachenau übernachten durfte, war er überglücklich. Vor dem Schlafengehen durfte er dann mit Tante Andrea noch einmal zum Tierheim gehen. Onkel Koster, wie Oliver den Tierpfleger nennen durfte, machte dann mit ihnen seine letzte Runde im Tierheim. Und am Morgen durfte Oliver ihm beim Füttern der Tiere helfen. Das Liliputpferdchen Billy lief ihm bald wie ein Hündchen nach.

Am glücklichsten aber war Oliver, wenn er neben Tante Andrea in dem zweirädrigen Wagen, vor den Fridolin gespannt war, sitzen und den weichen Waldweg entlangfahren konnte. Laut bellend liefen die Dackel dann hinter ihnen her. Manchmal setzte sich Fridolin auch starrköpfig auf seine vier Buchstaben und wollte durchaus nicht mehr weiterlaufen. Dann lachten Tante Andrea und Oliver laut, weil Fridolin sich so komisch benahm.

Am Sonnabend kam dann Olivers Vater zu Besuch.

»Vati, wo ist Mutti?«, war die erste Frage des Jungen. »Warum ist sie nicht mitgekommen?«

»Sie ist noch krank«, erwiderte Clemens abweisend.

»Aber warum darf ich sie nicht besuchen? Alle Kinder dürfen ihre Mutti besuchen, wenn sie krank ist. Nur ich nicht.«

»Freust du dich denn nicht über meinen Besuch?« Clemens wusste, dass seine Frage kindisch war, aber er hatte sie ganz einfach nicht unterdrücken können.

»Doch, ich freue mich, Vati. Aber ich habe große Sehnsucht nach Mutti.« Olivers Lippen zuckten von verhaltenem Weinen.

Clemens blieb über Nacht in Sophienlust, um mehr Kontakt zu seinem Sohn zu bekommen. Obwohl ihm klar war, dass Oliver seine Mutter nicht so bald vergessen würde, hoffte er doch von ganzem Herzen, dass der Junge ihm nun auch jene Liebe entgegenbringen würde, die bisher Gesa gehört hatte.

Nach dem sonntäglichen Mittagessen verabschiedete sich Clemens von Denise mit den Worten: »Ich glaube, es wäre besser, wenn ich nicht so bald wiederkäme.«

Denise fiel es schwer, die richtige Antwort zu finden. Auch ihr war nicht entgangen, dass Oliver durch den Besuch seines Vaters verändert war.

»Nicht wahr, ich habe recht?«, fragte Clemens mit einem gequälten Lächeln, als Denise noch immer nicht antwortete. »Dabei hatte ich geglaubt, dass ein dreijähriger Junge schnell vergessen würde. Wie ich nun sehe, verstehe ich kaum etwas von der Psyche eines Kindes. Ich mag wohl tüchtig in meinem Beruf sein, aber sonst scheine ich auf der ganzen Linie ein Versager zu sein«, fügte er leicht ironisch hinzu.

»Bitte, Herr Dr. Wendt, so etwas sollen Sie nicht sagen. Wenn Ihre Frau wieder gesund ist, werden sich diese Probleme von selbst lösen.«

»Ich glaube, es ist nun an der Zeit, Ihnen die Wahrheit zu gestehen. Ich werde Oliver viel länger hierlassen müssen, als ich dachte. Ich lasse mich scheiden. Oliver soll bei mir bleiben. Damit er meine Frau schneller vergisst, möchte ich, dass er seine Mutter vorläufig nicht wiedersieht.«

»Also das ist es«, entfuhr es Denise. An Clemens’ verschlossenem Gesicht erkannte sie, dass er keine Lust hatte, noch mehr über die Tragik seiner Ehe zu erzählen. Sie bedauerte Oliver, der nun das Los vieler Kinder teilen musste, deren Eltern sich hatten scheiden lassen. Armer kleiner Junge, dachte sie mitfühlend.

Oliver gab seinem Vater beim Abschied einen schnellen Kuss und lief dann, ohne sich noch einmal nach ihm umzusehen, zum Spielplatz zurück. Clemens fühlte sich verlassener denn je. Die Haltung des Kindes verbitterte ihn.

Ich bin ein krasser Egoist, sagte er sich später im Auto. Ich habe es doch nicht anders gewollt. Hätte ich Gesa verziehen, wären wir jetzt alle drei glücklich. Wie mag es ihr wohl jetzt ergehen?

Seit die beiden sich getrennt hatten, war jede Verbindung zwischen ihnen abgebrochen. Genau das hatte sich Clemens gewünscht. Trotzdem war er jetzt sehr unglücklich darüber. Dazu kam noch, dass Marianne vorhatte, ihn zu verlassen. Das leere Haus schien nicht nach ihrem Geschmack zu sein, was er ihr eigentlich nicht verdenken konnte. Ihm graute selbst vor der Stille in der Villa, die noch vor Kurzem vom Lachen seines Sohnes und der stets fröhlichen Stimme seiner Frau erfüllt gewesen war.

Wieder fragte sich Clemens, ob es nicht besser wäre, alles zu vergessen und Gesa heimzuholen. Und wieder war seine Antwort ein unerbittliches Nein.

*

Einige Tage später war Denise auf dem Weg von Bachenau nach Sophienlust. Sie hatte Oliver, Horst und Heidi zu ihrer Stieftochter gebracht. Die übrigen Kinder waren nach dem Frühstück zu einem Tagesausflug aufgebrochen, begleitet von dem Zeichen- und Musiklehrer Wolfgang Rennert und seiner jungen Frau Carola. Frau Rennert beaufsichtigte an diesem Tag ihre Enkelkinder, die Zwillinge Andreas und Alexandra. Die Hunde Barri und Anglos hatten sich den Ausflüglern ebenfalls angeschlossen.

Die Stille, die Denise in Sophienlust empfing, war so ungewohnt für sie, dass sie ein seltsames beklemmendes Gefühl hatte. Als sie die Freitreppe hinaufstieg, hörte sie ein Auto kommen und drehte sich um. Es war die Hausärztin von Sophienlust, Frau Dr. Anja Frey, die auch Patienten im Maibacher Krankenhaus betreute.

»Wie gut, dass ich Sie antreffe, Frau von Schoenecker!«, rief die Ärztin mit den mittelblonden Haaren und den dunkelbraunen Augen schon von Weitem. »Ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen. Erst einmal guten Tag«, holte sie dann etwas außer Atem die Begrüßung nach.

Denise reichte der schlanken, ungefähr achtundzwanzigjährigen Frau die Hand. »Wie geht es Ihrer Familie?«

»Ausgezeichnet. Mein Mann hat ebenso viel zu tun wie ich. Unsere Praxis ist meist überfüllt. Und Filzchen wächst und gedeiht.« Filzchen hieß in Wirklichkeit Felicitas und war das fünfjährige Töchterchen des glücklichen Arztehepaares. »Sie tollt den ganzen Tag draußen im Garten mit ihrem Spaniel Stoffel herum. Die gute Tante Elise ist oft verzweifelt, weil sie ununterbrochen Filzchens Sachen waschen und flicken muss«, ergänzte die Ärztin fröhlich. Dann aber zeigte sie wieder ein ernstes Gesicht. »Ich wollte Sie bitten, mich in das Maibacher Krankenhaus zu begleiten, Frau von Schoenecker. Es handelt sich um einen sechsjährigen Jungen, der seit einigen Tagen dort Patient ist.«

»Was fehlt dem Kind?«, fragte Denise. Sie war sogleich an dem Schicksal des Jungen interessiert.

»Vor ein paar Tagen ereignete sich in der Nähe von Maibach ein tragischer Autounfall. Ein Personenwagen wurde von einem entgegenkommenden Lastwagen gestreift und gegen einen dicken Baum geschleudert. Das Ehepaar war auf der Stelle tot. Das Kind kam jedoch mit leichten Verletzungen davon.«

»Wie schrecklich!« Denise war blass geworden. »Nun entsinne ich mich wieder, dass Justus uns von diesem Unfall erzählt hat. Aber ich habe mich kaum dafür interessiert, weil er nichts von den Insassen erwähnte. Ich glaubte, es sei nur Sachschaden entstanden. Hat der Junge denn keine Verwandten, die sich um ihn kümmern?«

»Bisher haben wir in dieser Beziehung nichts in Erfahrung bringen können. Das Kind heißt Andreas Hasler und hat einen schweren Schock erlitten, bei dem meine Kunst versagte. Deshalb wäre es gut, den Jungen in Sophienlust unterzubringen. Er ist noch ein Pflegefall. Ein Arm und ein Bein sind eingegipst. Aber Ihre Krankenschwester Regine versteht eine Menge von Krankenpflege und wird die Pflege des Kindes bestimmt gern übernehmen.«

»Bestimmt wird sie das tun. Gut, dann fahren wir gleich los. Doch vorher möchte ich noch schnell meinen Mann anrufen.«

Frau Dr. Frey brauchte nicht lange auf Denise zu warten. Wenige Minuten später war sie wieder zurück. Kurz drauf verließen die beiden Damen im Wagen der Ärztin Sophienlust.

*

Die Krankenschwester Eva stand ratlos vor dem Bett, in dem der kleine Andreas Hasler lag. Seine grauen Augen zeigten einen matten Ausdruck. Schweißfeucht klebte das aschblonde kurz geschnittene Haar an seinen Schläfen. Seit der Junge ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte er noch kein einziges Wort gesprochen und kaum etwas zu sich genommen.

»Andreas, trink’ wenigstens die Milch«, bat die junge Schwester gütig.

Andreas reagierte in keiner Weise. Zwar blickte er die Schwester an, aber er schien sie nicht zu sehen. Seine großen Augen waren völlig ausdruckslos.

Mit einem unterdrückten Seufzer stellte die Schwester den Milchbecher auf das Nachtkästchen und verließ das Krankenzimmer. Draußen auf dem Korridor begegnete sie Frau Dr. Frey und ihrer Begleiterin. Nachdem sie die beiden begrüßt hatte, berichtete sie, dass der Zustand ihres kleinen Patienten nach wie vor unverändert sei. »Er verweigert jede Nahrung. Selbst seine Milch hat er heute noch nicht getrunken«, fügte sie besorgt hinzu.

»Sie sehen, Frau von Schoenecker, dass uns jetzt nur noch Sophienlust helfen kann. Dort, im Kreis der Kinder und Tiere, wird Andreas seinen Schock sicherlich eher überwinden können. Bitte, liebe Schwester Eva, kümmern Sie sich um seine Sachen und sagen Sie auch in der Aufnahme Bescheid, dass der Junge das Krankenhaus sofort verlässt und mit Frau von Schoenecker nach Sophienlust fährt.«

»Sophienlust?«, fragte die Krankenschwester. »Das ist eine gute Idee. Man hört im weiten Umkreis nur Gutes über das Kinderheim. Und Sie nennt man die gute Kinderfee, Frau von Schoenecker.«

Denise und die Ärztin betraten das Krankenzimmer. Beide Fensterflügel waren weit geöffnet, so dass die warme Luft hereinströmen konnte. Zwei Spatzen saßen auf dem Sims und zankten sich um Brotkrumen. Andreas nahm jedoch nicht einmal das wahr. Er wendete auch nicht den Kopf, als die junge Ärztin an sein Bett trat und ihm liebevoll über das Haar strich.

»Guten Morgen, Andreas«, sagte Anja Frey freundlich. »Wie geht es dir heute?« Sie umfasste das Handgelenk seines gesunden Armes und zählte die Pulsschläge. »Dein Puls ist kräftig und ruhig. Das ist schon ein großer Fortschritt.«

Andreas erwiderte nichts darauf, sondern blickte Denise unverwandt an. Dann leuchtete es in seinen Augen auf. Plötzlich huschte ein kleines Lächeln über sein schmales Gesicht. Endlich war das Wunder geschehen, auf das alle seit Tagen gewartet hatten.

Denise erwiderte das Lächeln und fragte schließlich: »Nicht wahr, Andreas, du kommst gern mit mir nach Sophienlust?«

»Sophienlust? Wo liegt denn das?« Der Junge richtete sich etwas auf.

»Bei dem Dorf Wildmoos, das in einer herrlichen Landschaft mit Bergen, Hügeln und Tälern, viel Wald und auch Seen liegt. Sophienlust ist ein Kinderheim, in dem alle Kinder wieder glücklich geworden sind.«

Das Lächeln in dem Kindergesicht wich tiefer Traurigkeit. »Ich werde nie mehr glücklich werden«, erwiderte Andreas und presste dann die Lippen ganz fest aufeinander.

Schwester Eva erschien. »Soll ich auch die anderen Koffer zum Wagen bringen?«, fragte sie. Sie meinte damit die Sachen von Andreas’ verunglückten Eltern.

»Ich hole diese Sachen zu einem späteren Termin ab«, antwortete Frau Dr. Frey hastig nach einem schnellen warnenden Blick.

Die Krankenschwester hatte verstanden. Es sah aus, als habe Andreas nichts von dem leisen Wortwechsel gehört. Doch das war ein Irrtum. Er hatte jedes Wort verstanden. Obwohl er noch nicht einmal sieben Jahre alt war, begriff er bereits, dass alle Leute um ihn herum große Rücksicht auf ihn nahmen und ihn nicht an seine Mutti und an seinen Vati erinnern wollten. Aber er musste ununterbrochen an sie denken. Den entsetzlichen Schrei seiner Mutter, als sie direkt auf den Baum zugerast waren, würde er nie vergessen. Und dann die furchtbare Stille, die auf das Krachen und Splittern gefolgt war. Er selbst war aus dem Auto geschleudert worden und auf eine weiche Wiese gefallen. Als er hatte aufstehen wollen, um zu seinen Eltern zu laufen, hatte er sein linkes Bein nicht bewegen können.

Danach waren viele Menschen um ihn herumgestanden. Er hatte gehört, wie sie geflüstert hatten: »Armer Junge! Beide Eltern hat es erwischt. Sie waren auf der Stelle tot.« Dann war Frau Dr. Frey da gewesen. Sie hatte die Leute angefleht, keine Bemerkungen in dieser Beziehung zu machen. Und dann hatte sie ihm eine Injektion gegeben. Er war sofort eingeschlafen und in diesem Bett hier aufgewacht. Er hatte keine Fragen nach seinen Eltern gestellt, weil er noch immer gehofft hatte, dass er das alles nur geträumt habe. Aber die Tage waren vergangen. Und nun war seine Hoffnung erloschen. Mutti und Vati waren bei dem Autounfall umgekommen. Seine Omi war erst vor einem halben Jahr gestorben. Nur Frau Helbricht, die Zugehfrau, war noch daheim in ihrem Haus.

»Andreas, ich ziehe dich jetzt an«, erklärte Schwester Eva. »Gleich kommt Herr Kaspar, der Krankenpfleger. Er wird dich auf eine fahrbare Trage legen, mit der du dann zu einem Krankenwagen gebracht wirst.«

Andreas gab keine Antwort. Wieder ruhte sein Blick auf Denise. Seine Mutti hatte auch schwarze Haare gehabt und ganz dunkle Augen. Sie hatte auch immer so lieb gelächelt.

»Andreas, möchtest du mich Tante Isi nennen?«, fragte Denise. Ihr war das erregte Mienenspiel des Jungen nicht entgangen.

»Ja, Tante Isi. Und darf ich Sie auch duzen?«

»Das gehört doch dazu, mein Junge.«

»Fährst du mit im Krankenwagen?«

»Wenn du es dir wünschst?«

Andreas nickte. Willig ließ er dann alles mit sich geschehen. Als der Krankenpfleger Kaspar ihn auf die Trage hob, streckte er seinen gesunden Arm nach Denise aus.

»Ich glaube, wir könnten auf den Krankenwagen verzichten«, meinte Frau Dr. Frey. »Ich habe einen viertürigen Wagen, so dass Andreas es sich auf dem hinteren Sitz bequem machen kann.«

So geschah es auch. Andreas warf keinen Blick zurück zum Krankenhaus, als sie losfuhren. Starr blickte er vor sich hin. Auch sprach er kein Wort auf der Fahrt.

Denise hatte inzwischen mit Frau Rennert telefoniert und ihr die Ankunft des Kindes angekündigt. Andreas’ Blick wurde etwas lebhafter, als sie das schmiedeeiserne Tor von Sophienlust passierten und vor der Freitreppe hielten.

»Herzlich willkommen in Sophienlust, Andreas«, sagte Denise.

»Das Haus sieht wie ein Schloss aus.« Der Junge blickte das einstöckige Gebäude staunend an.

Denise bedauerte, dass die Kinder nicht da waren. Sie hätten sofort die richtigen Begrüßungsworte für Andreas gefunden und ihn mit seiner neuen Umgebung vertraut gemacht.

Frau Rennert, Schwester Regine und das junge Hausmädchen Ulla hatten alles für den Empfang des verletzten Jungen vorbereitet.

Andreas lächelte zum zweitenmal an diesem Tag, als man ihn in den chromblitzenden Rollstuhl setzte, der für solche Fälle angeschafft worden war. Denise schob den Rollstuhl in den Wintergarten und zeigte Andreas Habakuk, der sofort seinen Wortschatz vom Stapel ließ. Es war, als ahne der Papagei, dass der Junge aufgemuntert werden sollte.

Währenddessen informierte Frau Dr. Frey die Kinderschwester im Behandlungszimmer über Zustand und Pflege des kleinen Patienten.

»Bisher hat Andreas noch keine Frage nach seinen Eltern gestellt«, berichtete die Ärztin. »Wir haben ihm gesagt, dass sie auf dem Friedhof von Maibach beerdigt worden sind. Fast bereue ich, dass man sie nicht auf dem hübschen Wildmooser Friedhof beigesetzt hat.«

»Sollte Andreas den Wunsch äußern, die Gräber seiner Eltern zu besuchen, werde ich mit ihm hinfahren«, versprach Schwester Regine.

»Auch sonst hat Andreas für nichts Interesse gezeigt«, fuhr Frau Dr. Frey fort. »Ich bin sicher, dass der Junge ein Sorgenkind für Sophienlust werden wird. Ich werde Frau von Schoenecker und Frau Rennert bitten, den Kindern zu sagen, dass man Andreas nicht mit Fragen bedrängen darf. Man muss ihm Zeit lassen, seinen Schock zu überwinden.«

»Unsere Kinder werden sich an diese Bitte halten. Das kann ich Ihnen schon jetzt versprechen, Frau Dr. Frey. Auf Nick und auch auf Pünktchen ist unbedingter Verlass. Die beiden werden die anderen Kinder immer wieder daran erinnern. Steht Andreas denn ganz allein auf der Welt da?«

»Ich glaube, dass er niemanden mehr hat. Unsere Nachforschungen nach Verwandten blieben bisher ergebnislos. Es scheint ganz so, als ob er hier eine neue Heimat finden würde. Frau von Schoenecker hat sich bereit erklärt, ihren Familienanwalt damit zu beauftragen, sich um die Familienverhältnisse des Jungen zu kümmern. Wir wissen nur, dass Andreas mit seinen Eltern in Bad Kissingen gelebt hat. Sein Vater war Filialleiter in einem Kaufhaus. Aber Andreas spricht nicht von seinen Eltern. Ich bin mir noch nicht ganz im klaren, ob er durch den erlittenen Schock die Zeit vor dem Unfall vergessen hat. Es erscheint mir unnatürlich, dass er keine einzige Frage nach seinen Eltern stellt.« Die Ärztin erhob sich. »Ich muss fahren. Ich habe noch zwei Krankenbesuche zu machen. Ich will mich nur noch von Frau von Schoenecker verabschieden.«

Denise war noch immer mit Andreas im Wintergarten. Der Junge saß mit großen traurigen Augen im Rollstuhl vor dem Aquarium und beobachtete die schillernden Fischchen darin.

»Schwester Regine wird jetzt bei dir bleiben, Andreas«, sagte Denise liebevoll. Dabei nickte sie der Kinderschwester zu. Sie selbst folgte Frau Dr. Frey auf den Gang hinaus. »Es wird nicht einfach sein, das Kind aus seiner Lethargie zu lösen«, erklärte sie bedrückt. »Aber letzten Endes wird Andreas seinen Kummer überwinden. Ich fahre noch vor dem Mittagessen zu meiner Tochter, um die drei kleinen Kinder abzuholen. Sie können ein andermal den ganzen Tag bei ihr bleiben. Obwohl Oliver, Heidi und Horst noch klein sind, werden sie Andreas bis zur Rückkehr der großen Kinder gewiss ablenken. Wenn der Junge auch nicht nach den Kindern gefragt hat, so habe ich doch an seinem Gesicht abgelesen, dass er zu gern wissen möchte, wo die Kinder eigentlich sind.«

»Genauso war es im Krankenhaus. Jedes andere Kind hätte Fragen gestellt, um zu wissen, woran es ist. Nicht Andreas. Aber ich bin nun überzeugt, dass er seinen Schock bald überwinden wird. Leider muss ich mich jetzt verabschieden.« Die Ärztin reichte Denise die Hand. Dann ging sie noch schnell zu Andreas, um ihm zu sagen, dass sie am nächsten Tag wieder nach ihm sehen würde.

Kurz darauf fuhr Denise zu Andrea. Als sie vor dem hübschen Landhaus hielt, kamen Oliver, Horst und Heidi freudestrahlend angelaufen.

»Stell dir vor, Tante Isi, soeben ist ein Leopard ins Tierheim gebracht worden!«, rief Heidi aufgeregt. »Tante Andrea hat gesagt, er müsse an der rechten Vorderpfote operiert werden, weil er dort eine Entzündung hat. Der Leopard heißt Ali und ist ganz zahm. Sein Herr hat uns erzählt, er laufe wie ein Hund an der Leine.«

»Guten Tag, Mutti«, begrüßte Andrea Denise. »Ist etwas vorgefallen? Du wolltest doch erst am Nachmittag wiederkommen, um die drei Kleinen abzuholen.«

»Es ist etwas geschehen, was mich veranlasst, die drei Kinder noch vor dem Mittagessen nach Sophienlust zurückzubringen.«

Die Kinder spitzten die Ohren, und Heidi fragte: »Haben wir ein neues Kind bekommen, Tante Isi?«

»Du hast es erraten, mein kleines kluges Mädchen. Nicht wahr, ihr kommt gern mit?«

»Ja, Tante Isi!«, riefen die drei einstimmig. Und Heidi fügte altklug hinzu: »Damit das neue Kind nicht so allein ist, da die Großen doch fort sind.«

»Genau, Heidi. Aber zuvor möchte ich euch noch um etwas bitten. Ihr dürft Andreas, so heißt unser neuer Zuwachs, nicht mit Fragen quälen. Er hat seine Eltern vor ein paar Tagen bei einem schrecklichen Unfall verloren und steht nun vermutlich ganz allein auf der Welt da.«

»So wie ich!«, rief Heidi. »Dann wird er für immer bei uns bleiben, nicht wahr?«

»Ich glaube schon, Heidi. Andreas hat einen großen Schock erlitten und spricht kaum. Ihr dürft ihm alles Hübsche in Sophienlust zeigen, aber ihr dürft ihn nicht mit Fragen quälen.«

»Ich zeige ihm nachher gleich meine beiden Kaninchen Schneeweißchen und Rosenrot.«

»Tu das, mein Schatz.«

»Und ich zeige ihm die Ponys. Er wird staunen, dass ich schon ein bisschen reiten kann!«, rief Oliver stolz.

»Das wird leider nicht gehen, Oliver. Andreas hat einen Arm und ein Bein in Gips und kann nicht laufen. Er kann sich nur in unserem Rollstuhl fortbewegen. Erst wenn der Gips abgenommen worden ist, kannst du ihm deine Reitkünste vorführen.«

»Wie lange dauert es denn, bis der Arm und das Bein geheilt sind?«, fragte Heidi.

»Ich vermute, einige Wochen. So, nun kommt aber. Magda weiß schon Bescheid und hat inzwischen das Mittagessen für euch vier vorbereitet. Andrea, wir telefonieren nachher noch miteinander.«

»Fein, Mutti.« Andrea gab Denise einen Kuss. »Ich muss zu Hans-Joachim in die Praxis zurück. Wir haben im Augenblick einen Leoparden zu verarzten.«

»Das habe ich schon von den Kindern gehört. Also, bis dann.«

»Bis dann.« Andrea wartete noch, bis die Kinder und ihre Mutter abgefahren waren, dann kehrte sie ins Haus zurück. Zuerst ging sie noch einmal schnell ins Kinderzimmer. Ihr kleiner Sohn hatte schon seine Flasche bekommen. Betti legte ihn gerade trocken. Die schwarze Dogge Severin lag neben der Wickelkommode und beobachtete Betti und das Baby interessiert.

»Ich gehe jetzt in die Praxis«, sagte Andrea. »Betti, die Kinder sind schon fort.«

»Dann bleiben sie nicht zum Essen da? Dabei habe ich einen Kartoffelauflauf gemacht, den sie sich so sehr gewünscht hatten.«

»Uns wird nichts anderes übrig bleiben, als mehrere Tage Kartoffelauflauf zu essen«, scherzte Andrea. Dann gab sie ihrem Sohn einen Kuss. »Mami kommt bald wieder, mein Schatz. Sie muss jetzt Papi helfen. Aber das weißt du ja bereits, mein kluger kleiner Junge.«

Peterle strampelte vergnügt und lachte Andrea an. Dann griff er in ihr Haar und zog kräftig daran.

»Aua!«, rief Andrea gespielt empört. »Du entwickelst dich zu einem Grobian.«

Peterle krähte vor Begeisterung.

Lachend verließ Andrea das Kinderzimmer. Draußen wurde sie von ihren vier Dackeln laut bellend begrüßt. Die Hunde folgten ihr bis zu dem Behandlungszimmer und blieben dort mit gesträubten Rückenhaaren stehen.

»Ihr braucht euch nicht so aufzuregen«, sagte Andrea fröhlich. »Der Leopard Ali tut euch nichts. Sein Herr hat erzählt, dass er zusammen mit vielen Hunden aufgewachsen ist und sich als ihresgleichen fühlt.«

Die Dackel schienen diesen Worten jedoch nicht zu glauben. Als ihr Frauchen die Tür öffnete und der Geruch des Raubtieres empfindlich in ihre Nasen stieg, zogen sie die Schwänze ein und flitzten davon.

»Gut, dass du endlich wieder da bist, Andrea. Ich habe dem Leoparden schon eine Betäubungsspritze gegeben. Herr Koster wird mir auch helfen«, fügte Hans-Joachim nach einem Blick auf den Tierpfleger hinzu. »Warum ist Mutti noch einmal zurückgekommen?«

Andrea erzählte es ihm.

»Ich habe von dem Autounfall gehört, Andrea, und auch, dass es Tote gegeben haben soll. Wie traurig für den Jungen. Wie alt ist er?«

»Das weiß ich nicht, Mutti hat sich nicht über sein Alter geäußert. Wahrscheinlich ist er noch klein.« Andrea zog sich ihren weißen Kittel an, um dann ihrem Mann bei der kleinen Operation zu helfen.

Der Tierpfleger Helmut Koster war den beiden eine große Hilfe. Es war nicht zum ersten Mal, dass er bei einer Operation assistierte.

*

Obwohl Schwester Regine und die drei Kleinsten von Sophienlust sich bemühten, Andreas zum Essen zu bewegen, nahm er nur ein paar Bissen zu sich. Auch sprach er kaum ein Wort.

Oliver bewunderte im Stillen Andreas. Horst und Heidi hielten sich an Denises Bitte, keine Fragen zu stellen, nicht aber der kleine Junge. »Tut es sehr weh?«, fragte er und deutete auf den eingegipsten Arm und dann auf das eingegipste Bein.

Andreas sah ihn nur abweisend an. Aber Oliver ließ sich dadurch nicht einschüchtern. Die wuchtigen Gipsverbände hatten es ihm angetan. Beinahe beneidete er Andreas darum.

Am Spätnachmittag kehrten die übrigen Kinder mit den beiden großen Hunden von dem Tagesausflug zurück. Die Hündin Bella, die sich den ganzen Tag bei dem alten Justus in seiner Werkstätte aufgehalten hatte, kam ebenfalls angelaufen.

Heidi saß mit ihren Kaninchen auf der Wiese hinter dem Haus und zog einen Flunsch. Dass Andreas keinen einzigen Blick auf ihre Häschen geworfen hatte, war für sie eine große Beleidigung. Nun aber brachte sie ihre Lieblinge schnell in Justus’ Werkstätte zurück, um sie dort in ihren großen Hasenstall zu setzen.

»Pünktchen, wir haben einen neuen Jungen!«, rief Heidi ihrer älteren Freundin aufgeregt zu. »Er spricht kaum etwas und will auch nicht essen. Seine Eltern sind vor ein paar Tagen verunglückt. Er ist auch Waise, wie wir beide, wie Fabian, Angelika und Vicky. Tante Isi sagt, er wird für immer bei uns bleiben.«

»Wo ist er denn?«, fragte Pünktchen.

Heidi kam nicht mehr dazu, die Frage zu beantworten, weil Frau Rennert alle Kinder zu sich rief, um an sie die gleiche Bitte zu richten wie am Vormittag Denise an die Kleinen.

»Keine Sorge, Tante Ma, wir werden ihn nicht mit Fragen bedrängen«, erwiderte Nick. »Es wird sicher nicht lange dauern, bis Andreas wieder lacht. Erst einmal wollen wir ihn begrüßen.«

»Andreas wird von Schwester Regine durch den Park geschoben. Er kann ja nicht gehen. Also, dann kann ich mich auf euch verlassen.«

»Andreas hat zwei dicke Gipsverbände!«, rief Oliver.

»Aber er will nichts von meinen Kaninchen wissen. Er hat sie nicht einmal angesehen«, beklagte sich Heidi.

»Bald wird er für alles Interesse haben. Mit sechs Jahren weiß man schon viel. Vielleicht glaubt er auch, dass seine Eltern gar nicht tot sind«, meinte Nick und kam damit der Wahrheit sehr nahe.

Aber es sollte noch lange dauern, bis Andreas aus seiner Lethargie erwachte. Trotz aller Bemühungen der Kinder blieb er still und in sich gekehrt. Wenn Oliver ihn gar zu sehr mit Fragen bestürmte, fuhr er den Kleinen sogar grob an. Oliver nahm das jedoch nicht tragisch. Er hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, Andreas aus der Reserve zu locken.

*

Gesa wohnte in einer kleinen Pension. Seit Tagen aß sie kaum etwas und rauchte viel zu viel. Noch immer konnte sie nicht fassen, dass sich ihr Leben von einem Tag auf den anderen so verändert hatte. Unfassbar war für sie auch, dass Clemens tatsächlich unerbittlich zu bleiben schien. Am meisten aber litt sie darunter, dass sie nichts von ihrem kleinen Oliver hörte, dass sie nicht einmal seinen Aufenthaltsort kannte.

Einige Male rief sie in der Grünwalder Villa an. Sie bat Marianne händeringend, ihr doch die Adresse des Kinderheims zu sagen. Doch jedes Mal bekam sie die gleiche Antwort: »Ich habe wirklich keine Ahnung, wo Oliver ist, gnädige Frau. Wüsste ich die Adresse des Kinderheimes, würde ich sie Ihnen gewiss verraten.«

»Das glaube ich Ihnen sogar, Marianne, nicht wahr, Sie kündigen nicht?«, bat Gesa leise. »Bleiben Sie bei meinem Mann. Ich bin ganz sicher, dass sich das Missverständnis zwischen uns aufklären wird.«

»Nur Ihretwegen verspreche ich Ihnen das, gnädige Frau.«

»Marianne, vielleicht finden Sie die Adresse des Kinderheims irgendwann auf dem Schreibtisch meines Mannes. Oder es kommt ein Brief, auf dem der Absender steht. Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer.« Gesa nannte ihr die Pension und verabschiedete sich, nachdem Marianne ihr versprochen hatte, ihr zu helfen.

Gesa legte auf und blickte aus dem Fenster des unpersönlichen Zimmers der Fremdenpension. Sie hatte von dort einen Blick auf die Isaranlagen. Ihr Kummer wurde größer, als sie fröhliches Kinderlachen hörte. Hastig schloss sie die Fenster und zündete sich eine Zigarette an.

Schon sechs Tage hatte sie Oliver nicht mehr gesehen. Sechs lange Tage, die für sie eine Ewigkeit gewesen waren. Vielleicht hatte Clemens ihr nicht die Wahrheit gesagt, als er erklärt hatte, er habe Oliver in ein Kinderheim weit entfernt von München gebracht? Vielleicht war Oliver in einem Münchener Kinderheim?

Gesa lief von diesem Tag an von einem Kinderheim zum anderen. Aber überall sagte man ihr, dass Oliver nicht bei ihnen sei. Noch einmal las sie die Adressen im Telefonbuch durch, um sich zu überzeugen, dass sie kein Heim ausgelassen hatte. Dann klappte sie das dicke Buch zu und schlug die Hände vor das Gesicht.

Plötzlich hatte sie eine Halluzination. Deutlich sah sie sich im Kreißsaal liegen. Sie dachte so intensiv an den Augenblick, als man ihr ihren erstgeborenen Sohn fortgenommen und aus dem Kreißsaal getragen hatte, dass sie laut aufstöhnte. Leichtfertig hatte sie sich von diesem Kind getrennt, weil sie sich nicht damit hatte belasten wollen. Clemens hatte in gewisser Weise recht. Damals war sie eine Rabenmutter gewesen. Wie hatte sie sich nur dazu überreden lassen können, ihr Kind fortzugeben? Sie hatte es nicht einmal sehen wollen.

Nun hatte das Schicksal ihr die Rechnung quittiert. Es hatte ihr auch ihren zweiten Sohn genommen. Gesa schluchzte leise auf. Sie wählte dann wieder die Nummer der Grünwalder Villa. Denn sie wusste, dass Clemens um diese Zeit in seinem Werk war.

Aber wieder konnte Marianne ihr nicht die Adresse des Kinderheims nennen, in dem Clemens den Jungen untergebracht hatte.

An die schlaflosen Nächte hatte Gesa sich bereits gewöhnt. Aber sie wollte ein einziges Mal wieder durchschlafen. Darum nahm sie an diesem Abend zwei Schlaftabletten. Einen winzigen Augenblick war sie versucht, alle achtzehn Tabletten auf einmal einzunehmen, um …

»Nicht weiterdenken«, flüsterte sie. »Oliver braucht mich. Clemens wird mir eines Tages verzeihen. Er muss mir verzeihen, sonst werde ich noch wahnsinnig.«

*

Gesa schlief wirklich bis zum späten Vormittag durch. Obwohl sie beim Erwachen ein wenig benommen war, fühlte sie sich viel besser als in den vorangegangenen Tagen. Nach der lauwarmen Dusche war sie wieder ganz klar im Kopf. Sie zog sich sorgfältig an und verließ die Pension.

Es war ein warmer Sommertag. Föhnwölkchen flogen über den sanftblauen Himmel, als Gesa durch die Isaranlagen ging. Bei jedem kleinen Jungen, den sie unterwegs erblickte, zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen.

Mittags aß Gesa zum ersten Mal seit Tagen in einem Restaurant eine Kleinigkeit. Danach fuhr sie mit ihrem Auto nach Grünwald hinaus. In dem kleinen Café unweit der Villa wartete sie auf die Heimkehr ihres Mannes.

Gesa hatte Glück. Als sie gegen sechs Uhr das Café verließ und zu Fuß zu der Villa ging, sah sie schon von Weitem, dass die Parterrefenster alle erleuchtet waren. Das bedeutete, dass Clemens daheim war.

Mit ihrem Schlüssel schloss Gesa das Gartentor auf. Ganz seltsam wurde ihr zumute, als sie den Kiesweg zwischen den Blumenbeeten entlangging. Fast kam sie sich wie ein Eindringling vor.

Gesa ging um das Haus herum. Sie sah, dass die Terrasse ebenfalls erleuchtet war, dass die Terrassentür weit offen stand.

Gesas Herz klopfte zum Zerspringen, als sie sich wie eine Einbrecherin die wenigen Stufen zur Terrasse hinaufschlich. Als sie Stimmen im Haus hörte, hielt sie den Atem an. Die weibliche Stimme gehört aber nicht Marianne, sondern Clemens’ Sekretärin Renate Vogt.

Warum hat Clemens die Sekretärin mit nach Hause genommen?, überlegte Gesa. Um ihr Briefe zu diktieren? Früher hatte er das am Abend manchmal getan. Deshalb lag diese Möglichkeit nahe. Trotzdem spürte Gesa einen schmerzhaften Stich in ihrer Brust bei dem Gedanken, dass die aparte Chefsekretärin des Wendt-Werkes den Abend mit Clemens verbrachte.

Bis zu diesem Augenblick war Gesa noch nie auf die junge Frau eifersüchtig gewesen. Nun aber überlegte sie, ob Clemens nicht seit langem ein Verhältnis mit Renate Vogt habe. Die Sekretärin hatte ihn oft auf seinen Geschäftsreisen begleitet. Aber Gesa war seiner Liebe stets so sicher gewesen, dass sie niemals auf den Gedanken gekommen war, er könnte sie betrügen. Doch jetzt fragte sie sich, ob Clemens vielleicht nur eine Gelegenheit gesucht hatte, frei zu sein für Renate Vogt.

Gesa sank in einen der Korbsessel, der unter ihrem Gewicht leise knarrte. Aber das war ihr egal. Sollte Clemens doch auf sie aufmerksam werden. Sie wünschte sich das jetzt geradezu.

Ganz deutlich hörte sie wieder seine Stimme. Dann erschien er unter der Terrassentür. »Ist hier jemand?«, fragte er. Dann erblickte er sie.

»Du?«, fragte er fassungslos. »Wie kommst du hierher?«

»Mit dem Auto. Ich muss dich noch einmal sprechen. Oder störe ich dich?« Diese Frage konnte Gesa sich nicht verkneifen. »Nicht wahr, Fräulein Vogt ist bei dir?«

»Ich diktiere ihr einige Briefe. Also, was willst du noch von mir?« Clemens war froh, dass Gesa nicht seine Gedanken lesen konnte. Er liebte sie wider alle Vernunft noch immer mit verzehrender Leidenschaft, so dass er Mühe hatte, sie nicht einfach in die Arme zu nehmen und zu küssen. Nur um nicht allein zu sein, hatte er Fräulein Vogt zu sich eingeladen unter dem Vorwand, ihr einige wichtige Briefe diktieren zu müssen. Dass sie seine Einladung mit Freuden angenommen hatte, deutete darauf hin, dass sie sich bei ihm eine Chance ausrechnete. Fast war er auch dazu bereit gewesen, sie über Nacht bei sich zu behalten. Nun aber konnte er das nicht mehr. Gesas Nähe, ihr reizender Anblick machte es ihm unmöglich, auch nur einen Gedanken an eine andere Frau zu verschwenden, geschweige denn sie in die Arme zu nehmen.

Um nichts von seinen Gefühlen zu verraten, fragte er ungeduldig: »Was ist los? Ich habe dir doch deutlich erklärt, dass es zwischen uns nichts mehr zu besprechen gibt.«

Nervös suchte er in seinen Taschen nach Zigaretten. Als er die Schachtel fand, bot er auch ihr eine Zigarette an.

»Danke«, sagte Gesa leise. Als er ihr Feuer gab, bemerkte sie das kaum merkliche Zittern seiner Hand. »Clemens, bitte, verzeih mir«, bat sie tonlos.

»Niemals!« Er wich ihrem flehenden Blick aus. »Ich kann es nicht. Zwischen uns ist alles aus.«

»Wegen Renate Vogt?«, fragte sie schrill. »Nicht wahr, du hast mit ihr ein Verhältnis?« Resigniert ließ sie die Schultern sinken. Doch dann ging eine Wandlung mit ihr vor. Bisher hatte sie Clemens’ Angriff kampflos entgegengenommen, jetzt aber war sie entschlossen, um Oliver zu kämpfen und nicht in die Scheidung einzuwilligen.

»Bist du gekommen, um mir wegen Fräulein Vogt eine Szene zu machen?«, fragte er und erhob sich halb aus seinem Sessel.

»Das war nicht der Grund, Clemens.« Gesa nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette. »Ich wollte dich um Olivers Adresse bitten und dir gleichzeitig sagen, dass ich nicht gewillt bin, auf ihn zu verzichten.« Ihre braunen Augen richteten sich fast feindselig auf ihn. »Ich lasse mich auch nicht scheiden.«

»So, du lässt dich nicht scheiden.« Auch in seinen Augen blitzte es auf.

»Ich lasse mich nicht scheiden«, wiederholte sie fest. »Wegen Oliver. Verlass dich darauf, dass ich ihn finden werde. Und wenn ich eine Detektei in Anspruch nehmen muss.«

»Herr Doktor, ich …«, unterbrach Renate Vogt die Auseinandersetzung von der Terrassentür her.

»Fräulein Vogt, ich komme gleich wieder.« Clemens sah die Sekretärin entschuldigend an. »In wenigen Minuten diktiere ich Ihnen weiter.«

»Gut, Herr Doktor. Ach, guten Abend, Frau Wendt«, begrüßte die ungefähr sechsundzwanzigjährige Sekretärin Gesa. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie hier sind«, fügte sie spöttisch hinzu.

»Guten Abend.« Gesa erwiderte ihren Blick abweisend. Dabei registrierte sie bei sich, dass Renate Vogt wieder einmal besonders hübsch aussah. Das schwarze Haar war aus ihrer hohen Stirn gekämmt und fiel ihr bis auf die Schultern. Sie trug einen weißen Hosenanzug, der ihren dunklen Typ noch mehr hervorhob. Sicherlich war ihr längst bekannt, dass Clemens dunkelhaarige Frauen bevorzugte.

»Gesa, du hast gehört, dass ich noch zu arbeiten habe.« Clemens erhob sich nun endgültig. »Ich werde alles tun, um zu verhüten, dass du Oliver bekommst«, fügte er hart hinzu.

»Das werden wir erst einmal sehen.« Gesa stand ebenfalls auf. »Du hast doch nichts dagegen, dass ich mir noch einige Sachen hole? Als ich die Villa verließ, hatte ich kaum Zeit, richtig zu packen. Ist Marianne da?«

»Sie ist in der Küche.« Clemens ließ Gesa den Vortritt. Dann sagte er: »Mich entschuldigst du wohl?« Sein beißender Hohn brachte sie wieder den Tränen nahe, aber es gelang ihr, sie zurückzuhalten.

»Du brauchst auf mich keine Rücksicht zu nehmen, Clemens.« Gesa ging an ihm vorbei und betrat kurz darauf die Küche.

»Die gnädige Frau!«, rief Marianne. »Das ist aber eine Überraschung. Bleiben Sie wieder da?«

»Leider noch nicht, Marianne. Aber ich möchte Sie bitten, mir beim Packen zu helfen.«

»Natürlich, gnädige Frau.« Marianne sah sie ernst an. »Ich habe noch immer keine Ahnung, wo Oliver ist. Es ist auch kein Brief gekommen, der mir hätte Aufschluss geben können.«

»Ich nehme an, dass mein Mann sich solche Briefe ins Werk schicken lässt.«

Als sie die Treppe hinaufstiegen, liefen Gesa nun doch helle Tränen über die Wangen. Bevor sie das Schlafzimmer betrat, in dem sie so viele glückliche Stunden mit Clemens verlebt hatte, ging sie noch in Olivers Zimmer.

Aufschluchzend setzte sie sich auf den niedrigen Kinderhocker. Marianne stand still neben ihr und ließ sie weinen. Endlich versiegten Gesas Tränen. Sie erhob sich und nahm eins von Olivers Stofftieren vom Regal. Es war ein kleiner schwarzer Pudel. »Den nehme ich mit, Marianne. Ich werde Oliver schon finden«, fügte sie hinzu. »Aber jetzt werde ich meine Sachen einpacken.«

*

Renate Vogt entging nicht die Nervosität ihres Chefs. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Doch Geduld gehörte zu Renates stärksten Charaktereigenschaften. Still saß sie vor der elektrischen Schreibmaschine und betrachtete intensiv ihre langen rotlackierten Fingernägel.

Clemens lief wie ein gereizter Tiger umher. Zwischendurch verhielt er immer wieder seinen Schritt und lauschte nach oben. Er hörte deutlich die Schritte im Schlafzimmer.

Plötzlich hielt er es nicht mehr aus. »Fräulein Vogt, ich habe eine gute Idee. Fahren wir doch irgendwohin. In ein Gartenrestaurant.«

»Die Idee ist wirklich gut.« Sofort deckte sie die Schreibmaschine zu und folgte ihm dann.

*

Gesa fuhr zusammen, als sie ein Auto fortfahren hörte. Aber sie sagte kein Wort. Sie wusste nur, dass sie an diesem Abend wieder zwei Schlaftabletten nehmen würde, um nicht die halbe Nacht wach zu liegen und zu grübeln.

Marianne weinte ein bisschen, als Gesa sich von ihr verabschiedete. Dann fuhr Gesa los. Zuerst brachte sie die beiden Koffer in ihr Zimmer, danach ging sie zu der Inhaberin der Fremdenpension und sagte ihr, dass sie für ein paar Tage verreisen wolle. »Ich behalte das Zimmer hier aber auf alle Fälle«, fügte sie hinzu und bezahlte eine Woche im Voraus.

Dank der Schlaftabletten schlief Gesa wieder bis zum nächsten Morgen durch. Nach dem Frühstück packte sie ihren kleinen Koffer und verabschiedete sich von der Pensionsinhaberin. »Ich fahre zu meiner Freundin nach Hamburg«, erklärte sie. »In ungefähr einer Woche bin ich wieder da.«

»Gut, Frau Wendt.« Die ältere Dame sah ihr sinnend nach, als Gesa den Korridor entlangging und die Wohnung verließ.

*

Ulla Sanders besaß eine komfortable Eigentumswohnung in einem modernen Appartementhaus in Hamburg. Von fast allen Fenstern hatte man einen herrlichen Blick auf die Alster.

Ulla war seit einem Jahr geschieden. Als sie festgestellt hatte, dass ihr Mann sie betrog, hatte sie kurzen Prozess gemacht. Es kümmerte sie auch nicht, dass Klaus Sanders versuchte, sie wieder für sich zu gewinnen. Inzwischen hatte sie festgestellt, dass sie auf diese Weise sehr viel glücklicher lebte. Sie hatte einen fantastischen Job in einer Stofffirma als Dessinateurin. Ihre Musterentwürfe fanden reißenden Absatz, so dass sie sehr gut verdiente. Außerdem bekam sie jeden Monat einen Scheck von ihrem geschiedenen Mann, der als bekannter Innenarchitekt ebenfalls sehr gut verdiente.

Vor ein paar Tagen war Ulla aus dem Krankenhaus entlassen worden. Sie fühlte sich aber nach der Operation noch recht schlapp. Deshalb lag sie an diesem warmen Nachmittag auf der Terrasse und döste vor sich hin.

Am Vormittag war Klaus bei ihr gewesen. Wenn sie über ihn nachdachte, musste sie zugeben, dass er nach wie vor sehr fürsorglich war. Jeden Tag hatte er ihr Blumen ins Krankenhaus geschickt. Auch hatte er sie bei ihrer Entlassung abgeholt und nach Hause gefahren. Trotzdem würde sie ihn nicht noch einmal heiraten, überlegte sie.

Das Läuten an der Tür riss Ulla aus ihren Gedanken. Ob Klaus noch einmal kam? Oder ob Dr. Klinger sie vielleicht besuchte? Seit kurzem war er ihr neuer Chef. Dass sie ihm gefiel, zeigte er deutlich. Auch sie fand ihn nett – aber eben nur nett.

Ulla erhob sich und schlüpfte in ihren bodenlangen Hausmantel aus dunkelgrünem Kordsamt. Der breite Gürtel betonte noch ihre schmale Taille. Nach einem Blick in den Spiegel stellte sie fest, dass sie zwar noch recht blass, aber sehr hübsch aussah.

Dann öffnete sie die Tür. »Du bist es?«, fragte sie erstaunt. »Und was machst du für ein Gesicht? Krach gehabt? Mach’ dir nichts daraus. Das kommt in der besten Ehe vor.« Sie griff nach Gesas Hand und zog Gesa in die Diele. »So mach’ doch endlich den Mund auf«, bat sie fröhlich.

»Es ist alles aus.« Gesa fiel ihrer Freundin um den Hals. »Er weiß alles.«

»Du sprichst in Rätseln. Meinst du deinen Mann? Was weiß er? Doch nicht, dass du …« Sie sprach nicht weiter.

»Er weiß von dem Kind. Das Leben leistet sich oft grausame Zufälle, Ulla. Ausgerechnet Gerhard Winkler arbeitet seit kurzem in seinem Werk.«

»Der Gerhard Winkler, der mit Mathias befreundet war?« Ulla schüttelte den Kopf. »So etwas kann es doch nicht geben.«

»Doch, es ist so.« Gesa zog ihre Jacke aus. »Hast du einen Drink für mich?«

»Habe ich. Armes Kleines! Du siehst erbärmlich aus. Und dann weiß Clemens auch von dem Kind? Ich finde, es ist eine Gemeinheit von diesem Winkler, dass er das deinem Mann erzählt hat. Ich hätte ihm gehörig die Meinung gesagt.« Ulla füllte zwei Gläser mit Whisky. »Ich weiß, ich soll noch keinen so starken Alkohol trinken. Aber die Ärzte sagen viel.«

»Ach ja, wie geht es dir denn?«

»Prima. Wenn ich daran denke, dass ich heute schon im Grab hätte liegen können, muss ich für jede Stunde meines neugeschenkten Lebens dankbar sein.« Sie lachte leise. »Die Ärzte haben mir tüchtig die Leviten gelesen, weil ich mit der Operation so lange gewartet habe. Mit einem Blinddarmdurchbruch sei nicht zu scherzen, meinten sie. Aber nun wieder zu dir. Da sind Zigaretten. Bediene dich. Erzähl mir alles.«

Gesa schüttete ihrer besten Freundin das Herz aus. Still hörte Ulla ihr zu.

»Das sieht schlecht aus«, gab sie dann zu.

»Ich lasse mich nicht scheiden!«, rief Gesa leidenschaftlich. »Ich bin sicher, dass Clemens eines Tages einsieht, wie unrecht er mir getan hat. Gut, ich habe ihm das Kind verschwiegen. Aber ich tat es doch nur aus Angst, ihn zu verlieren. Allerdings ist Renate Vogt eine Gefahr. Ich glaube, sie möchte Clemens haben. Aber da wird sie lange warten müssen.« Gesa schluchzte auf. »Was soll ich nur machen, Ulla?«

»Erst einmal bleibst du für ein paar Tage bei mir. Ich wollte sowieso einige Tage ans Meer fahren. Ja, wir fahren nach Borkum. Der Wetterbericht ist gut. Wir werden uns zunächst einmal richtig erholen. Deine Nerven müssen zur Ruhe kommen. Dann erst sollst du eine endgültige Entscheidung treffen.«

»Was auch geschehen mag – auf Oliver werde ich niemals verzichten«, erwiderte Gesa leise.

»Das wird Clemens auch nicht verlangen. Ich kenne ihn nur als gütigen und verständnisvollen Menschen, der dich außerdem liebt.« Ihre graublauen Augen zeigten einen sehnsüchtigen Glanz. »Ich habe dich immer um ihn beneidet. Und ich bin auch heute noch der Meinung, dass er zu den wenigen Ehemännern gehört, die einer Frau treu bleiben können.«

»Das hatte ich bisher auch geglaubt.« Gesa trocknete ihre Tränen. »Aber nun bin ich dessen nicht mehr sicher. Seine Sekretärin, Fräulein Vogt, ist sehr hübsch und legt es offensichtlich darauf an, ihn für sich zu angeln.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich meine, dass Clemens Interesse für sie hat. Aber reden wir nicht mehr darüber. Selbst wenn er in seiner Enttäuschung ihren Reizen erliegen sollte, wäre das noch kein Beinbruch. Er liebt dich. Du bist ihm im Blut, wie man so schön sagt. Ihr gehört nun mal zusammen.«

»Ulla, ich danke dir für deine tröstenden Worte. Sie machen mir ein wenig Mut. Ich blicke nun nicht mehr ganz so schwarz in die Zukunft. Wenn ich doch nur wüsste, in welchem Kinderheim Oliver ist«, fügte sie hinzu.

»Clemens wird ihn bestimmt in einem komfortablen Heim untergebracht haben. So, und nun trink’ deinen Whisky. Dann packe ich meine Sachen, und wir fahren los. Vielleicht bekommen wir noch das letzte Boot nach Borkum. Wenn nicht, dann übernachten wir irgendwo an der Küste. Einverstanden?«

»Einverstanden.« Gesa atmete auf. Wie gut, dass sie zu Ulla gefahren war. Ihre Freundin war ein patenter Kerl. Sie fand sich in jeder Lebenslage zurecht und wusste immer Rat.

Als die beiden Freundinnen später in Gesas Wagen saßen und nach Wilhelmshaven fuhren, fragte Gesa: »Weißt du, was ich mir wünsche?«

»Wie sollte ich?« Ulla lehnte sich bequemer auf ihrem Sitz zurück.

»Ich möchte wissen, was aus meinem unehelichen Sohn geworden ist. Ich bin nahe daran, mein Versprechen zu brechen und mich nach ihm zu erkundigen. Damals, als ich den Jungen scheinbar leichten Herzens hergab, hätte ich nie geglaubt, dass ich eines Tages unter der Trennung des Kindes, dessen Namen ich nicht einmal weiß, leiden würde.«

»Es wird schon alles gut werden, Gesa.«

»Weißt du, ich könnte doch einmal nach Bad Kissingen fahren, um …«

»Ich glaube, das ist kein guter Einfall, Gesa. Damit würdest du dir das Herz noch schwerer machen. Du würdest vielleicht deinen Sohn von Weitem sehen, aber mit dem Bewusstsein, dass du ihn nicht ein einziges Mal in deine Arme nehmen darfst. An deiner Stelle würde ich mir diesen Gedanken aus dem Kopf schlagen.«

Doch diesmal zeigte Gesa keine Bereitschaft, den Rat ihrer Freundin zu befolgen. In den nächsten Tagen nistete sich der Gedanke, nach Bad Kissingen zu fahren, bei ihr ein. Der Wunsch, ihren erstgeborenen Sohn wenigstens ein einziges Mal zu sehen, wurde immer stärker in ihr.

*

Trotz aller Bemühungen blieb Andreas’ Zustand unverändert. Alle Kinder nahmen große Rücksicht auf ihn. Nur Oliver hörte nicht auf, um seine Freundschaft zu werben. Auf jede nur mögliche Weise versuchte der Dreijährige, den Sechsjährigen für sich zu gewinnen.

Andreas reagierte unterschiedlich auf Olivers Anbiederungsversuche. Wenn er den Kleinen ungeduldig anfuhr, tat es ihm hinterher sogleich wieder leid.

Andrea von Lehn kaufte einen Rollstuhl, als sie bemerkte, wie sehr sich Andreas für die Tiere im Tierheim begeisterte. Tagtäglich brachte jemand den Jungen zum Tierheim. Meist kam auch Oliver mit, dem es einen Riesenspaß zu machen schien, seinen älteren Freund im Rollstuhl zu schieben.

Helmut Koster verstand es ausgezeichnet, Andreas’ Interesse für die Tiere wachzuhalten. Und Andreas hing bald mit kindlicher Zuneigung an dem Tierpfleger. Wenn dieser ihm von den Schicksalen der einzelnen Tiere erzählte, lauschte er mit glücklichen Augen.

Endlich wurden dem Jungen die Gipsverbände abgenommen. Schwester Regine massierte ihn jeden Tag, so dass er bald wiederhergestellt war und sich frei bewegen konnte.

Oliver freute sich sehr darüber. Begeistert zeigte er Andreas seine Reitkünste. »Bald wirst du auch reiten können«, erklärte er stolz. Um ihm noch mehr zu imponieren, bat er Helmut Koster, ihn auf den Rücken des Esels Fridolin zu setzen.

Der Tierpfleger erfüllte ihm diesen Wunsch gern. Als er den Jungen auf den Esel setzte, meinte er nur: »Ich hoffe, dass Fridolin heute seinen guten Tag hat. Fridolin, sei schön brav.«

Ein wenig verwundert wendete Fridolin seinen Kopf nach hinten. Doch dann trottete er gehorsam los. Helmut Kostner führte ihn vorsichtshalber am Halfter, um ein Unglück zu verhindern.

Andreas blickte den dreien nach. Ein sehnsüchtiger Glanz stand plötzlich in seinen Augen. Impulsiv lief er den anderen nach und fragte schüchtern: »Darf ich dann auch mal auf dem Esel Fridolin reiten, Herr Koster?«

»Aber ja, mein Junge. Oliver, nicht wahr, du lässt jetzt Andreas reiten?«

»Natürlich, Onkel Koster.«

Oliver ließ sich vom Esel herunterheben, und Andreas kletterte mit heftig klopfendem Herzen auf den Eselsrücken. Er strahlte über das ganze Gesicht, als Fridolin sich in Bewegung setzte.

Helmut Koster erzählte später Andrea, dass Andreas zum ersten Mal richtig gelacht habe. Daraufhin entschloss sich die junge Frau, Andreas und Oliver für ein paar Tage ganz zu sich einzuladen.

Denise hatte nichts dagegen einzuwenden. Oliver aber war selig. »Nicht wahr, Andreas, es ist wunderschön, dass wir beide nun zusammen in einem Zimmer schlafen dürfen? Ich habe schon oft bei Tante Andrea und Onkel Hans-Joachim übernachtet. Die Dackelkinder Pucki und Purzel durften dann in meinem Zimmer schlafen. Und Tante Andrea hat auch ein zahmes Eichhörnchen, das jeden Morgen in die Zimmer hineinschaut. Sie hat mir erzählt, dass sie es halbtot gefunden hat. Aber Onkel Hans-Joachim hat es wieder ganz gesund gemacht.«

»Ich finde es auch nett, dass wir zusammen in einem Zimmer schlafen dürfen«, erwiderte Andreas.

Dieses erste Eingeständnis seiner Sympathie für Oliver versetzte den kleinen Jungen in eine so glückliche Stimmung, dass er einen Luftsprung machte. »Es wäre schön, wenn wir Brüder wären«, erklärte Oliver. »Aber ich …« Er sprach nicht weiter, sondern wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.

»Ist deine Mutti denn auch tot?«, fragte Andreas leise.

»Sie ist krank. Und sie besucht mich überhaupt nicht. Darüber bin ich schrecklich traurig. Wenn ich meinen Vati nach meiner Mutti frage, sieht er immer so komisch aus. Vielleicht muss meine liebe Mutti auch sterben?« Oliver konnte nun seine Tränen nicht mehr zurückhalten.

Andreas strich ihm ungeschickt über das weißblonde Haar. Es tat ihm gut, dass auch der kleine Oliver Sorgen hatte. Das lenkte ihn von seinem eigenen Leid ab. Zugleich erwachte in ihm der Wunsch, Oliver zu bewachen und zu beschützen.

»Du, ich habe einen Einfall«, sagte er. »Wir fragen Onkel Koster, ob wir beide auf Fridolin reiten dürfen. Der Esel ist stark genug, um uns beide zu tragen.«

Helmut Koster hatte nichts dagegen einzuwenden. Diesmal ließ er die beiden Jungen mit Fridolin allein. Der Esel schien eine Vorliebe für sie zu haben, denn er zeigte sich an diesem Tag von seiner nachgiebigsten Seite.

*

Von diesem Tag an lebte Andreas sichtlich auf. Und eines Tages erschien er bei Denise, die sich in Sophienlust für ein Weilchen in ihr Zimmer im ersten Stock zurückgezogen hatte, um ein wenig auszuspannen. Als Andreas schüchtern anklopfte, fuhr sie aus ihrem Dämmerschlaf hoch. »Herein!«, rief sie und erhob sich von der Schlafcouch.

»Tante Isi, ich möchte dich etwas fragen.« Andreas sah sie scheu an.

»Dann los, mein Junge.« Denise war schon wieder hellwach. Sie setzte sich auf einen der buntbezogenen Sessel.

»Tante Isi, ich möchte einmal zum Friedhof gehen.«

»Wenn du willst, fahren wir gleich hin«, erwiderte Denise ernst. »Und vorher plündern wir unsere Blumenbeete, um einen schönen Strauß für deine Eltern mitzunehmen.«

»Ja, Tante Isi.« Andreas sah sie dankbar an. »Nicht wahr, Oliver darf auch mitkommen?«

»Wenn er dazu Lust hat, darf er gern mitkommen.«

Oliver war sogleich einverstanden. Kurz darauf saßen die beiden Jungen nebeneinander auf dem hinteren Sitz in Denises Wagen und hielten sich bei den Händen.

Im Rückspiegel erblickte Denise die verklärten Kindergesichter. Wieder einmal schien die gute Fee von Sophienlust, an die Nick noch immer glaubte, einem unglücklichen Kind den Weg in eine glücklichere Zukunft geebnet zu haben. Unvermittelt dachte Denise auch an Sophie von Wellentin, die den Grundstein zu diesem Kinderglück gelegt hatte. Ihr Wunsch war es gewesen, das Herrenhaus von Sophienlust in ein Kinderheim für hilfsbedürftige Kinder umzugestalten. Inzwischen waren sie auf dem Friedhof angekommen. Lange stand Andreas mit gefalteten Händen vor dem Doppelgrab seiner Eltern. Und plötzlich fing er laut zu schluchzen an.

Denise ließ ihn weinen. Sie war sicher, dass jede Träne sein Herz erleichterte.

Auch Oliver weinte. Scheu fasste er nach Andreas’ Hand. »Du, Heidi hat mir eine schöne Geschichte vom lieben Gott im Himmel erzählt. Sie behauptet, dass ihre Eltern jetzt Engel sind und es sehr gut im Himmel haben«, berichtete er seinem Freund. »Sie fliegen jeden Abend zur Erde herunter und halten an Heidis Bett Wache. Sie wissen auch ganz genau, was Heidi jeden Tag von morgens bis abends tut. Deine Eltern tun das bestimmt auch«, erklärte er und wischte sich die Tränen fort. »Nur sehen können wir die Engel nicht. Aber die Engel können alle Menschen sehen.

Auch der liebe Gott kann uns sehen. Weißt du, was Heidi mir noch erzählt hat? Dass ihre Eltern und auch viele andere Eltern, die ihre Kinder auf der Erde zurücklassen müssen, weil sie gestorben sind, jedes Mal weinen, wenn ihre Kinder weinen. Darum regnet es so oft auf der Welt.« Er streckte seinen rechten Arm aus. »Siehst du, Andreas, deine Eltern weinen jetzt auch, denn es regnet wirklich.«

Womit er recht hatte. In erstaunlicher Schnelle hatte sich der Himmel mit grauen Wolken überzogen, aus denen bereits die ersten Regentropfen fielen.

Andreas nickte und fragte dann: »Stimmt das auch, Tante Isi?«

»Die Menschen glauben das, Andreas«, antwortete sie vage. »Wir Menschen sind nicht allwissend, aber ich glaube auch, dass es so ist. Jedes Mal, wenn ich weine, regnet es auch.«

»Dann sind deine Eltern auch Engel, nicht wahr, Tante Isi?« Oliver fasste nach ihrer Hand.

»Das sind sie gewiss, Oliver. So, jetzt kommt aber, sonst werden wir ganz nass.«

»Bestimmt weinen jetzt viele Eltern«, meinte Oliver.

»So wird es sein.«

Als die drei in Sophienlust eintrafen, stand Henrik im strömenden Regen auf der Terrasse.

»Henrik, bist du denn von allen guten Geistern verlassen?«, rief Denise schon von Weitem. »Du bist ja schon bis auf die Haut durchnässt. Du wirst dir einen Schnupfen holen.«

»Das will ich ja auch, Mutti«, erklärte der Siebenjährige trotzig und warf den Kopf in den Nacken. »Ich will so krank werden, dass ich sterbe.«

»Henrik, was ist denn in dich gefahren?« Denise sah ihren Jüngsten ratlos an. Andreas und Oliver waren schon vorausgelaufen.

»Ich bin so unglücklich, Mutti«, gestand der Junge weinerlich.

»Unglücklich? Aber warum nur?« Denise nahm ihn bei der Hand. »Zuerst musst du aus den nassen Sachen heraus.«

»Aber ich will doch krank werden«, schluchzte er auf.

Denise ging mit Henrik in ihr Zimmer und zog ihn um. Sie hatte für solche Fälle immer trockene Sachen für ihren Jüngsten in Sophienlust bereitliegen. »So, und nun schütte mir dein Herz aus, mein Junge«, bat sie zärtlich.

»Weil du mich doch nicht mehr liebhast, Mutti.«

»Was sagst du da? Aber, Henrik, das ist doch Unsinn.«

»Seit Andreas da ist, kümmerst du dich nur noch um ihn und um Oliver.«

»Du brauchst nicht eifersüchtig auf Andreas und Oliver zu sein. Henrik, ich habe den beiden doch nur helfen wollen. Das musst du doch einsehen. Stell’ dir mal vor, wie schlimm es für dich wäre, wenn du auf einmal keine Mutti und keinen Vati mehr hättest. Dann wärst du froh, wenn jemand lieb zu dir wäre.«

»Aber ich habe doch euch. Du und Vati, ihr bleibst doch immer bei mir. Ihr könnt doch nicht sterben.«

»Wir alle sind sterblich, mein Junge. Selbst kleine Kinder können schon sterben. Aber wir wollen nicht mehr darüber reden, denn wir sind alle gesund und haben einander lieb.« Sie zog Henrik an sich und küsste ihn. »Und du bist unser Nesthäkchen, unser Kleinster.«

Henrik lächelte glücklich. Mutti durfte das zu ihm sagen. Er war gern ihr Nesthäkchen, ihr Kleinster. Nur Nick durfte ihn nicht Kleiner nennen. Das ärgerte ihn ganz schrecklich.

»Mutti, ich bin schon nicht mehr eifersüchtig auf Andreas und Oliver. Ich war nur traurig, weil sie auch kleine Jungen sind. Wenn du ein kleines Mädchen liebhast, bin ich gar nicht traurig.«

Denise verkniff sich ein heimliches Lächeln über die eigenartige Logik des Kleinen. »So, und nun fahren wir schleunigst nach Schoeneich. Vati wird schon von Frankfurt zurück sein. Ich werde nur noch Nick fragen, ob er heute Nacht hierbleiben oder mitfahren will.«

Nick entschloss sich, sie zu begleiten. »Ich muss mal wieder in meinen Büchern schmökern. Und dann möchte ich morgen früh wieder einmal mit Vati über die Felder reiten. Man kann schließlich nicht immer nur mit Kindern beisammen sein in meinem Alter.«

Wieder schmunzelte Denise verstohlen, diesmal über ihren älteren Sohn. »Dann kommt!«, rief sie munter. Sie winkte noch Frau Rennert zu, die auf der Freitreppe erschien, und rief: »Herzliche Grüße an alle. Morgen bin ich gegen Mittag wieder da.« Dann stieg sie in ihr Auto ein, in dem ihre Söhne schon Platz genommen hatten.

Alexander von Schoenecker war tatsächlich schon nach Hause zurückgekehrt. Freudig begrüßte er seine Familie.

Als Denise mit ihrem Mann allein war, erzählte sie ihm von Henriks Eifersuchtsanfall.

»Ich verstehe den Jungen, Denise.« Alexander umfasste ihre Hände und zog sie abwechselnd an die Lippen. »Auch ich bin oft eifersüchtig.«

»Du? Auf wen denn?« Verwundert erwiderte sie seinen Blick.

»Auf Sophienlust, Denise. Sophienlust nimmt dich voll und ganz in Anspruch. Die vielen Schicksale, mit denen du immer wieder konfrontiert wirst, lassen dich oft vergessen, dass du einen Ehemann hast.«

»Niemals vergesse ich dich!«, empörte sie sich. »Du und unsere Kinder, ihr steht in meinem Herzen an erster Stelle.«

»Das glaubst du, Denise. Aber wir hier in Schoeneich wissen es besser.« Plötzlich lachte Alexander und zog sie an sich. »Denise, Liebes, mach’ kein so entsetztes Gesicht. Ich bin ein geduldiger Ehemann und …«

»Hör’ bitte mit diesem Unsinn auf.« Denise lachte nun auch herzlich. »Ihr scheint euch alle gegen mich verschworen zu haben. Aber ich werde mich bemühen, etwas liebevoller zu euch zu sein«, fügte sie humorvoll hinzu.

»Das will ich mir auch ausgebeten haben, du Rabenmutter und treulose Ehefrau.« Alexander küsste sie zärtlich.

Nick, der seine Eltern noch etwas hatte fragen wollen, zog sich still zurück, als er die beiden in inniger Umarmung erblickte. Glücklich atmete er auf. Ich kann schon mit meinem Los zufrieden sein, dachte er und ging wieder in sein Zimmer.

*

Clemens hatte versucht, bei Renate Vogt Trost zu finden. Aber als er am nächsten Morgen mit einem schalen Geschmack auf der Zunge aufwachte, wurde ihm klar, dass er bei keiner Frau über die Enttäuschung, die Gesa ihm bereitet hatte, hinwegkommen würde.

Renate war dagegen überzeugt, dass sie eines Tages in die Villa in Grünwald einziehen würde, obwohl Clemens sehr abweisend zu ihr war.

Er bat sie auch nicht mehr um ein Rendezvous. Aber sie konnte warten. Die Zeit würde auf ihrer Seite sein, dachte sie und benahm sich im Werk ganz so, als habe es nie eine intime Beziehung zwischen ihr und ihrem Chef gegeben.

Clemens war Renate dafür unendlich dankbar. Trotzdem spielte er mit dem Gedanken, ihr eine phantastische Stellung in Südamerika zu vermitteln. Sie sprach fließend Spanisch und Englisch und würde dort das Doppelte wie bei ihm verdienen. Sehr vorsichtig ging er dabei vor, so dass Renate lange brauchte, um zu begreifen, was er im Sinn hatte.

Renate war kein Kind von Traurigkeit. Als sie erkannte, dass Clemens nicht die Absicht hatte, sie zu heiraten, weil er seine Frau noch immer liebte, griff sie mit beiden Händen nach der angebotenen Stelle.

Clemens atmete innerlich auf, als feststand, dass Renate schon in Kürze nach Südamerika abfliegen würde. Nachdem diese Angelegenheit geregelt war, fuhr er für einige Tage nach Sophienlust.

Einerseits freute es ihn, dass Oliver sich so gut eingelebt hatte und mit Andreas Hasler so dick befreundet war, andererseits kam er sich ein wenig überflüssig und noch einsamer vor. Und nicht zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass er völlig falsch gehandelt und mit seinem Starrsinn eine glückliche kleine Familie zerstört hatte. Das Schlimme war, dass er es nicht über sich bringen konnte, einen Versuch zu machen, Gesa zurückzuholen.

Schlimm war auch, dass Oliver ihn immer wieder nach seiner Mutti fragte und er ihm ausweichende Antworten geben musste. Am Abend vor seiner Abreise sagte er schließlich zu ihm: »Hör’ mir mal gut zu, mein Junge. Du musst dich damit abfinden, dass deine Mutti noch sehr lange nicht nach Hause kommt. Aber wenn du willst, nehme ich dich mit nach Hause. Marianne sehnt sich nach dir.«

»Ich will hierbleiben, Vati. Andreas braucht mich nämlich«, entgegnete Oliver zu Clemens’ Enttäuschung. »Er hat doch keine Eltern mehr. Und er bleibt für immer in Sophienlust.«

»Willst du denn auch für immer hierbleiben, Oliver?«

»Wenn Mutti nicht daheim ist, will ich hierbleiben. Hier ist es viel lustiger. Ich bin hier auch nicht allein, Vati. Das siehst du doch ein.« Die Kinderaugen richteten sich fragend auf ihn.

»Das sehe ich ein.« Clemens unterdrückte einen Seufzer. Sehr rosig sah seine Zukunft nicht aus, fand er.

»Vati, ich möchte so gern Mutti im Krankenhaus besuchen.« Oliver schluckte krampfhaft seine Tränen hinunter. »Ich weiß doch, dass man einen Kranken im Krankenhaus besuchen darf.«

»Es geht wirklich nicht, mein Junge. So, und nun ist es Zeit für dich, zu Bett zu gehen. Ich verlasse morgen sehr früh Sophienlust, weil ich gegen Mittag in München sein muss.«

Oliver nickte. Dabei zog er die Nase hoch. »Kommst du bald wieder?«, fragte er leise.

»Ja, Oliver.« Doch trotz dieser Zusage war Clemens entschlossen, nicht so bald wiederzukommen. Seine Besuche in Sophienlust brachten den Jungen nur in seelische Konflikte.

In diesem Sinne äußerte er sich auch Denise gegenüber.

»Vielleicht ist es wirklich besser, wenn das Kind ein wenig Abstand bekommt. Dass Oliver sich so sehr mit Andreas Hasler angefreundet hat, ist für beide Jungen ein Segen.«

»Ich rufe Sie nächste Woche an, gnädige Frau«, versprach Clemens, als er sich von Denise verabschiedete.

Oliver überwand seinen Abschiedskummer schnell. Seit einigen Tagen teilte er mit Andreas das Zimmer, denn Horst war bereits von seinen Eltern abgeholt worden.

»Ich wünschte, wir wären Brüder«, sagte er kurz vor dem Einschlafen zu Andreas. »Und wenn du für immer in Sophienlust bleibst, möchte ich auch für immer hierbleiben, Andreas. Jedenfalls so lange, bis Mutti aus dem Krankenhaus kommt«, schränkte er ein und nahm Stupsi, den Teddy, ganz fest in den Arm. Tante Isi hatte ihm erlaubt, das Stofftier so lange zu behalten, wie er wollte. Wenn Mutti zu ihm kommen würde, wollte er sie bitten, ihm auch einen Stupsi zu kaufen, dachte er noch, bevor er einschlief.

*

Die Ferientage mit Ulla auf der Nordseeinsel Borkum waren für Gesas Nerven wohltuend gewesen. Gesa wäre gern noch einige Tage geblieben, aber Ulla musste aus beruflichen Gründen nach Hamburg zurückkehren, und Gesa hatte keine Lust, allein zu bleiben. So schloss sie sich ihrer Freundin an und übernachtete noch einmal bei ihr in der Wohnung. Doch dann hielt sie es keine Stunde mehr in Hamburg aus.

»Ich fahre noch heute nach München«, erklärte sie beim Frühstück.

»Das tut mir leid. Es wäre besser für dich, wenn du noch einige Tage bei mir bliebest, Gesa.« Ulla sah sie besorgt an. »Gesa, nicht wahr, du machst keine Dummheiten? Versprichst du mir das?«

»Das kann ich dir versprechen, Ulla. Ich gebe mich nicht so leicht geschlagen. Die Zeit mit dir hat mir neue Kraft gegeben.«

»Darüber bin ich ehrlich froh. Und vergiss nicht, dass ich immer für dich da bin, wenn du mich brauchst.« Ulla blickte auf ihre Armbanduhr. »Ich muss fahren. Sonst glaubt Dr. Klinger noch, ich sei verlorengegangen.« Sie erhob sich. »Sperr’ bitte die Wohnung ab und wirf den Schlüssel in den Briefkasten. Ich habe noch einen zweiten Schlüssel.«

Die Freundinnen umarmten sich. Dann war Gesa sich selbst überlassen. Sie trat auf die Terrasse hinaus, um auf die Straße hinunterzublicken. Sie sah Ulla in ihren Porsche einsteigen und losfahren. Als sie das Auto nicht mehr sehen konnte, fühlte sie sich plötzlich sehr allein. Ruhelos lief sie durch die kleine Wohnung. Dabei betrachtete sie die Bilder an den Wänden. Besonders ein alter Stich weckte ihr Interesse. »Bad Kissingen um 1825« las sie laut. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie daran dachte, dass dort ihr unehelicher Sohn mit seinen Adoptiveltern wohnte. Sie atmete schwer. Heiße und kalte Schauer liefen ihr über den Rücken. Auf einmal hatte sie das heftige Verlangen, nach Bad Kissingen zu fahren, um mehr über ihr Kind zu erfahren. Sie wusste genau, dass sie damit ihr einst gegebenes Versprechen brechen würde, aber die Sehnsucht nach ihrem unbekannten Sohn bestimmte ihr weiteres Tun. Sie wollte wenigstens seinen Namen wissen und ihn ein einziges Mal sehen.

In Windeseile packte Gesa ihre Sachen. Dann verließ sie die Wohnung. Sie schloss die Tür ab, warf den Schlüssel in den Briefkasten und stieg in den Lift.

Das Wetter hatte über Nacht umgeschlagen. Der Himmel zeigte ein eintöniges schmutziges Grau. Es fing zu nieseln an, und sturmartige Böen fegten durch die Straßen. Fröstelnd zog Gesa die Schultern hoch, als sie die Autotür aufschloss. Dabei fiel ihr Blick auf den kleinen Stoffpudel aus Olivers Zimmer in der Grünwalder Villa, der auf dem hinteren Sitz saß.

»Oliver, mein kleiner geliebter Oliver, wo bist du?«, flüsterte Gesa und stieg ein. Sie musste ein Weilchen warten, bis der Tränenschleier vor ihren Augen verschwand. Dann fuhr sie los.

Der Regen wurde heftiger. Als Gesa die Autobahn erreichte, goss es in Strömen. Sie musste sich so stark auf das Fahren konzentrieren, dass sie nicht mehr ihren traurigen Gedanken nachhängen konnte. Darüber war sie sehr froh. Doch als sie die Autobahn wieder verlassen hatte und die Straße nach Würzburg einschlug, überlegte sie, dass es besser wäre, umzukehren und die Richtung nach München einzuschlagen. Aber eine unsichtbare Macht trieb sie vorwärts. »Ich kann nicht mehr zurück«, flüsterte sie und fuhr noch schneller.

Gesas Erregung legte sich bald wieder. Sie fuhr nun langsamer. Der Regen hatte inzwischen aufgehört, die Sonne zeigte sich zwischen den Wolken.

Gesa war nicht zum ersten Mal in dieser Gegend, aber so schön hatte sie das Stückchen Land nicht in Erinnerung gehabt. Wenn das Ehepaar, das ihren Sohn adoptiert hatte, nicht von hier fortgezogen war, wuchs der Junge in einer herrlichen Umgebung auf, dachte sie erleichtert.

In Bad Kissingen ging Gesa sofort zum Einwohnermeldeamt. Aber die Schalter waren schon geschlossen, so dass sie das Gebäude unverrichteter Dinge wieder verlassen musste.

Gesa nahm sich ein Hotelzimmer und bat den Portier um das Adressbuch. Nun fiel ihr auch wieder ein, dass Herr Hasler mit Vornamen Alfred hieß. Sie schlug das dicke Buch auf. Es gab darin nur einen einzigen Alfred Hasler. Er war Filialleiter.

Gesa erfrischte sich ein wenig und verließ das Hotel wieder, um zu der Wohnung Alfred Haslers zu fahren. Das Haus befand sich in einer stillen Straße etwas außerhalb des Ortes.

Langsam fuhr Gesa an dem Grundstück vorbei und kehrte dann um. Einige Meter hinter dem Gartentor blieb sie mit ihrem Auto stehen. Noch war sie viel zu erregt, um aussteigen zu können. Still blieb sie am Volant sitzen und blickte auf das Haus zwischen den hohen Bäumen.

Endlich ließ ihr heftiges Herzklopfen nach. Sie stieg aus und ging langsam bis zum Gartentor. Auf dem Messingschild las sie den Namen Hasler. Sollte sie auf den Klingelknopf drücken? Nein, das war unmöglich. Vorsichtig drehte sie den Messingknauf am Tor. Aber das Gartentor war abgeschlossen.

Ratlos blickte Gesa wieder in den Garten. Sie wünschte sich von ganzem Herzen, dass der Junge plötzlich darin auftauchte.

Doch nun fiel ihr auf, wie unbewohnt das Haus wirkte. Ob die Haslers verreist waren? Möglich wäre es. Vor den Fenster im Parterre waren Gitter angebracht. Im oberen Stockwerk waren einige Läden geschlossen.

Gesa ging ein Stück an der Mauer entlang und lugte immer wieder in den Garten hinein. Und dann kam ihr ein entsetzlicher Gedanke. Vielleicht lebte ihr Junge nicht mehr? Vielleicht war er gestorben?

Ich mache mich noch selbst verrückt, dachte Gesa. Morgen werde ich wieder herfahren. Die Haslers sind vermutlich nur für ein paar Tage verreist! Wenn ich nur wüsste, in welchem Kaufhaus Alfred Hasler als Filialleiter arbeitet.

Gesa ging zu ihrem Auto zurück und betrat etwas später ihr Hotel. In ihrem Zimmer überlegte sie wieder, ob es nicht besser sei, Bad Kissingen auf der Stelle zu verlassen und sich die Gedanken an ihr Kind, von dem sie sich eigentlich für alle Zeiten getrennt hatte, aus dem Kopf zu schlagen.

Doch wieder folgte sie nicht der Stimme der Vernunft. Sie nahm ein Bad und zog sich sorgfältig an. Um nicht den ganzen Abend allein zu sein, suchte sie nach einem hübschen Restaurant, um dort zu Abend zu essen.

An diesem Abend lernte Gesa einen jungen Arzt kennen. Er hieß Martin Hoffmann und war gebürtiger Münchner. Seit zwei Jahren war er Kurarzt in Bad Kissingen.

Vom ersten Augenblick an verstand sich Gesa mit ihm ausgezeichnet. Dass sie ihm ebenfalls gefiel, erkannte sie an seinem bewundernden Blick.

Sein aufgeschlossenes Wesen und sein fröhliches Naturell lenkte Gesa von ihrem Kummer ab.

»Bleiben Sie länger bei uns?«, fragte er, als sie zusammen bei einer Flasche Wein saßen.

»Das kommt darauf an.« Gesa schenkte ihm ein reizendes Lächeln, denn sie hatte das Gefühl, ihn schon seit langem zu kennen. So vertraut war er ihr bereits.

Er umschloss ihre Rechte und berührte dabei den breiten Ehering. »Es wäre ein Wunder gewesen, wenn eine so hübsche Frau wie Sie nicht verheiratet wäre«, stellte er bedauernd fest. »Aber es ist immer dasselbe. Begegne ich mal einer Frau, die ich vom Fleck weg heiraten würde, ist sie vergeben. Schicksal.« Er lachte. »Wäre es unverschämt von mir, wenn ich Sie um ein Wiedersehen bitten würde?«

Es war Gesa klar, dass alles, was sie seit ihrer Abreise von Hamburg unternommen hatte, nichts mit Vernunft zu tun hatte. Warum sollte sie ausgerechnet jetzt vernünftig sein und ihm ein Wiedersehen verweigern, fragte sie sich.

Plötzlich musste sie an Clemens und seine Sekretärin denken. Ein Schatten fiel über ihre Züge. Clemens würde keine Skrupel haben, mit Renate Vogt beisammen zu sein. Außerdem – war sie nicht in gewisser Weise frei, dachte sie.

»Habe ich etwas gesagt, was Sie verletzt?«, fragte Dr. Martin Hoffmann, dem ihr lebhaftes Mienenspiel nicht entging.

»Bestimmt nicht.« Sie fuhr sich über die Stirn. »Ich war nur für einen Augenblick woanders mit meinen Gedanken.«

Dr. Martin Hoffmann war nicht nur ein guter Arzt, sondern auch ein ausgezeichneter Psychologe. Längst hatte er begriffen, dass Gesa Kummer hatte. Er nahm an, dass es Schwierigkeiten in ihrer Ehe gab, aber er fühlte sich nicht berechtigt, indiskrete Fragen zu stellen.

»Wie heißen Sie mit Vornamen?«, fragte er statt dessen.

»Gesa.«

»Gesa? Nur Gesa?«

»Nur Gesa«, bestätigte sie lächelnd.

»Ein seltener Name.«

»Das stimmt. Meine Mutter hatte eine liebe Freundin, die früh starb. Sie hieß Gesa. Eigentlich hätte sie meine Patentante werden sollen, aber sie starb noch vor meiner Geburt.«

»Gesa? Darf ich Sie so nennen?«

»Gern, Martin.« Ihr Lächeln vertiefte sich. Sie fühlte sich in seiner Nähe unendlich geborgen.

Wieder umfasste er ihre Hand und zog sie an die Lippen. Tief sah er ihr in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick und hatte das Gefühl, nicht mehr sie selbst zu sein.

Die Luft zwischen ihnen schien elektrisch geladen zu sein, als sie später durch den Kurpark gingen. Als er sie dann in die Arme nahm und an sich zog, ließ sie sich willenlos von ihm küssen.

»Gesa, ich weiß, dass ich verrückt bin, weil ich mich in dich verliebt habe«, sagte er verwirrt. Nur widerwillig löste er sich von ihr.

Seine Worte rissen sie in die Wirklichkeit zurück. »Ich glaube, der Wein ist schuld. Bitte, verzeihen Sie mir …« Ein Tränenstrom erstickte ihre Worte.

Wieder zog er sie an sich und hauchte ihr einen freundschaftlichen Kuss auf die Stirn. »Gesa, vergessen wir am besten alles«, kam er ihren Wünschen entgegen. Dann hakte er sich bei ihr unter und führte sie zur nächsten Bank. »Wollen wir uns ein wenig setzen?«, fragte er bittend. »Nicht wahr, Sie sind sehr unglücklich?«

»Unglücklich ist gar kein Ausdruck dafür, Martin.«

»Bestimmt würde Ihnen leichter ums Herz werden, wenn Sie sich aussprechen würden. Ich habe großes Verständnis für das Leid anderer«, fügte er scherzend hinzu. »Soll ich Fragen stellen, um Ihnen Ihre Beichte zu erleichtern?« Er legte den Arm um sie.

Für einen Moment lehnte sie ihren Kopf schutzsuchend an seine Schulter. Dann erzählte sie ihm, was sie quälte. »Und weil ich mich so verlassen fühlte, bin ich hierhergefahren, um meinen unehelichen Sohn wenigstens ein einziges Mal zu sehen«, fügte sie erregt hinzu.

»Ihr Mann muss ein Barbar sein«, entfuhr es ihm impulsiv.

»Würden Sie Ihrer Frau eine solche Lüge verzeihen?«

»Ich würde es ohne Zögern tun, Gesa, wenn ich sie liebte. Und Ihr Mann liebt Sie doch, nicht wahr?«

»Das hatte ich auch bisher geglaubt. Aber nun bin ich mir seiner Liebe nicht mehr so sicher.«

»Wie heißt die Familie, die Ihren Sohn adoptiert hat?«

»Hasler. Er ist Filialleiter in einem Kaufhaus. Das habe ich dem Adressbuch entnommen.«

In diesem Augenblick verschwand der Mond hinter einer Wolke. So konnte Gesa das Erschrecken des Arztes nicht bemerken, worüber er froh war. Er wusste, in ihrer augenblicklichen Verfassung wäre es eine Katastrophe gewesen, wenn sie die Wahrheit erfahren hätte. Sie hätte gewiss einen Nervenzusammenbruch bekommen.

»Ist Ihnen die Familie Hasler bekannt?«, fragte Gesa gespannt. »Es könnte doch sein«, mutmaßte sie, als er sichtlich mit der Antwort zögerte.

»Ich glaube nicht«, erwiderte er hastig. »Kissingen hat zirka dreizehntausend Einwohner, und dann kommen noch die unzähligen Kurgäste dazu.« Er lachte. »Da wäre es wirklich ein Wunder, wenn ich die Haslers zufällig kennen würde.«

Gesa hatte das Gefühl, einen wirklichen Freund gewonnen zu haben, als sie sich von ihm vor ihrem Hotel verabschiedete.

»Bis morgen«, sagte er. »Ich würde gern mit Ihnen zusammen zu Mittag essen. Ich habe ungefähr zwei Stunden Zeit. Soll ich Sie abholen?«

»Das wäre nett.« Sie erwiderte seinen Händedruck mit einem erleichterten Lächeln.

»Gesa, ich rate Ihnen, morgen recht lange zu schlafen. Unternehmen Sie nichts in der Sache. Ich werde Erkundigungen nach der Familie einholen. Es wird schon so sein, wie Sie vermuten. Die Familie wird verreist sein. Wie Sie mir sagten, ist der Junge bereits über sechs. Vermutlich geht er schon in die Schule.«

»Das glaube ich weniger. Er wurde im April geboren. Also ist er in diesem Jahr erst sechs geworden.«

»Manchmal schickt man die Kinder auch früher in die Schule. Aber das werden wir ja sehen.« Er drückte noch einmal ihre Hand und wartete dann noch einen Moment, bis Gesa im Hotel verschwunden war.

Arme Gesa, dachte er. Die Tragödie wird ein furchtbarer Schock für sie sein, wird sie der Verzweiflung nahebringen.

Gesa schlief sofort ein, während Martin Hoffmann noch lange wachlag und grübelte. Ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als ihr schon morgen die Wahrheit über ihren Sohn zu sagen. Sonst würde sie sie von fremden Leuten erfahren.

Genaugenommen bin ich für sie auch ein Fremder, überlegte er. Aber sie ist für mich keine Fremde mehr. Ich habe mich doch tatsächlich Hals über Kopf in sie verliebt.

*

Gesa fühlte sich wie neugeboren, als sie am nächsten Morgen die Augen aufschlug. Durch den Spalt der Vorhänge fiel ein Sonnenstrahl und zeichnete Muster auf den grünen Teppich.

Sofort erinnerte sie sich an den gestrigen Abend. Ein wenig schämte sie sich, dass sie Martin Hoffman so schnell entgegengekommen war. Doch dann fand sie diesen Gedanken lächerlich. Alles in allem war Dr. Martin Hoffman ein guter Mensch mit viel Verständnis für das Leid anderer. Sicherlich war er ein ausgezeichneter Arzt.

Dann aber kehrten Gesas Gedanken wieder zu den Haslers zurück. Es war erst neun. Warum sollte sie nicht noch einmal zu der Villa fahren? Vielleicht waren die Haslers inzwischen zurückgekommen.

Gesa zog sich an und frühstückte. Fast wunderte sie sich ein wenig, dass sie so guten Appetit hatte. Danach fuhr sie los.

Aber auch an diesem Tag lag das Haus der Haslers wie ausgestorben da. Wieder überfiel Gesa eine quälende Unruhe. Zögernd blieb sie vor dem Gartentor stehen. Als sie sich umwandte, erblickte sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine ältere Frau vor einem Gartentor. Sollte sie in dem gegenüberliegenden Haus wohnen, würde sie bestimmt etwas über die Haslers wissen.

Mit schnellen Schritten überquerte Gesa die Straße. »Ich wollte Frau Hasler besuchen«, sagte sie. »Aber die Familie scheint verreist zu sein.«

Gesa entging nicht, dass sich das Gesicht der Frau plötzlich verschloss. »Sind Sie eine sehr gute Bekannte von Frau Hasler?«

»Eigentlich nicht. Aber ich …«

»Na ja, dann …«

»Großmama, wo bist du denn?«, rief eine helle Kinderstimme aus dem Garten. »So komm doch!«

»Entschuldigen Sie mich bitte«, murmelte die Frau. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie über die Unterbrechung mehr als erleichtert war.

Gesa war wieder allein. Wie merkwürdig sich die Frau benommen hatte …

Auf einmal war Gesa wie besessen von dem Wunsch, zu erfahren, was mit der Familie Hasler passiert war. Dass etwas geschehen war, stand für sie nun fest.

Kurz entschlossen läutete Gesa an der Tür des Nachbarhauses. Lautes Hundegebell war zu hören, doch sonst rührte sich nichts.

Gesa versuchte es an dem nächsten Haus. Auch diesmal schien niemand da zu sein.

Gesa gab es auf. Sie setzte sich in ihr Auto und fuhr zum Hotel zurück. Dort wartete sie ungeduldig auf Dr. Martin Hoffmann, der pünktlich erschien. Ihr fiel sofort auf, dass er recht angegriffen aussah.

Doch auch Martin entging ihr verstörtes Wesen nicht. »Was ist geschehen, Gesa?«, fragte er mit angehaltenem Atem.

»Ich war heute Vormittag noch einmal bei dem Haus der Haslers. Sie scheinen noch nicht zurückgekommen zu sein. Und die Frau in dem gegenüberliegenden Haus hat sich sehr seltsam benommen. So seltsam, dass ich anfange, mir ernstliche Sorgen zu machen. Natürlich ist das alles lächerlich. Denn im Grunde genommen geht mich mein Kind nichts mehr an«, fügte sie hinzu.

»Gesa, ich habe Sie gestern Abend angeschwindelt. Ich kenne die Haslers. Ich bin ihr behandelnder Arzt gewesen«, fügte er bedrückt hinzu.

»Gewesen? Dann haben sie den Arzt gewechselt?«

Als Martin in ihre weit aufgerissenen Augen blickte, hatte er nicht mehr die Kraft, ihr die Wahrheit zu sagen. »Ja, so ist es, Gesa.«

»Und wie heißt der Junge?«

»Andreas Hasler. Es ist ein hübsches Kind mit großen grauen Augen und aschblonden Haaren.«

Der seltsame Ton in seiner Stimme ließ Gesa stutzig werden. »Nicht wahr, Sie verschweigen mir etwas?«

»Aber nein, Gesa.« Dabei schalt er sich, ich bin wirklich ein Feigling. Rasch sagte er: »Ich habe einen Mordshunger.«

Gesa war jedoch völlig appetitlos. Fast körperlich spürte sie, dass irgendetwas Furchtbares geschehen war, dass Martin ihr aus Mitleid etwas verschwieg.

Lustlos stocherte sie später in ihrem Essen herum. Schließlich legte sie die Gabel und das Messer auf den Teller und erklärte: »Es ist mir einfach unmöglich, noch einen Bissen zu mir zu nehmen. Ich fühle, dass Sie mir etwas verschweigen, Martin. Dabei dachte ich, Sie seien mein Freund.«

Martin sah ein, dass er kein Recht hatte, noch länger zu schweigen »Ich werde zahlen. Danach setzen wir uns wieder auf eine Bank im Kurpark. Einverstanden?«

»Einverstanden.«

Gesa nahm kaum etwas von dem lebhaften Treiben um sich herum wahr, als sie einen gepflegten Weg zwischen noch gepflegteren Rasen entlanggingen. Sie fanden eine Bank etwas abseits vom Trubel.

Martin umschloss ihre beiden Hände. »Gesa, was ich Ihnen jetzt sagen muss, fällt mir sehr schwer. Trotzdem bin ich dem Schicksal dankbar, dass ich Ihnen hier begegnet bin. Ich hoffe sehr, dass es mir gelingen wird, Ihnen zu helfen, zumindest beizustehen.«

»Nicht wahr, mein Kind ist tot?«, fragte sie wie in Trance.

»Ja, es ist tot, Gesa.« Ganz fest umfasste er ihre zuckenden Hände.

»Wann ist es gestorben?« Wie ein waidwundes Tier, das auf den Gnadenstoß wartet, sah sie ihn an.

»Vor einigen Wochen ist es geschehen. Die Haslers sind mit dem Auto verunglückt.«

»Und keiner hat das Unglück überlebt?«

»Keiner, Gesa.« Martin zog sie an sich. »Weinen Sie nur, Gesa. Das wird Sie erleichtern.«

»Ich kann nicht weinen, Martin. Können Sie das verstehen?« Sie lehnte sich an ihn. Dabei dachte sie an Clemens. Er hätte jetzt bei ihr sein sollen, aber er war weit fort von ihr und wollte nichts mehr von ihr wissen. Er hatte ihr auch Oliver genommen, obwohl er wusste, wie sehr sie das Kind liebte. Andreas hatte ihr erster Sohn also geheißen. Kleiner Andreas, ich bin schuld an deinem frühen Tod, dachte sie. Hätte ich dich bei mir behalten, würdest du noch leben.

»Gesa, weinen Sie«, flehte Martin. Der starre Ausdruck in ihren Augen machte ihm Sorgen.

»Ich kann nicht, Martin. Bitte, bringen Sie mich ins Hotel zurück«, bat sie. »Ich möchte für ein Weilchen allein sein.«

»Gern lasse ich Sie aber nicht allein. Nicht wahr, Sie werden vernünftig sein?«

»Sie meinen damit, ob ich mir etwas antue? Das werde ich bestimmt nicht tun, Martin. Ich habe noch Oliver. Er braucht doch seine Mutter. Mehr denn je werde ich um mein Kind kämpfen. Mehr denn je«, wiederholte sie. »Wo ist das Unglück geschehen?«

»Das weiß ich nicht. Es ist auch nicht so wichtig für Sie, Gesa. Sie müssen sich einreden, dass Ihr Kind Ihnen niemals gehört hat.«

»Das ist wahr. Es ist wirklich nicht wichtig«, entgegnete sie monoton. Doch zugleich dachte sie, als sie wie eine Schlafwandlerin neben Martin zum Hotel zurückging, es ist wichtig. Ich möchte wenigstens wissen, wo mein Junge begraben ist. Niemand kann mir verwehren, Blumen auf sein Grab zu legen. Niemand.

»Wir sind da, Gesa. Nach meiner Sprechstunde komme ich zu Ihnen.«

»Das ist nett. Ich werde auf Sie warten.« Sie reichte ihm die Hand und sah ihn an. Aber ihr leerer Blick zeigte ihm, dass sie weit fort war mit ihren Gedanken. Schweren Herzens ließ er sie allein. Gesa hatte sich jedoch in den Kopf gesetzt, zu erfahren, wo ihr Kind gestorben war. Wie in Trance verließ sie das Hotel wieder und fuhr noch einmal in die Straße, in der das Haus der Familie Hasler stand. Sie läutete an der gegenüberliegenden Gartentür. Als sie die alte Frau erblickte, die sie schon am Vormittag gesehen hatte, atmete sie auf. Sie nannten ihren Namen und sagte: »Inzwischen habe ich erfahren, was geschehen ist. Aber man konnte mir nicht sagen, wo das Unglück geschehen ist.«

»Zufällig kenne ich den Ort. Frau Helbricht, die Haushälterin der Haslers, hat es mir verraten. Der Ort heißt Maibach und liegt südlich von Frankfurt.«

»Maibach. Vielen Dank.« Gesa reichte der alten Frau impulsiv die Hand. Dann eilte sie zu ihrem Wagen. Dort notierte sie sich den Namen des Ortes und fuhr zum Hotel zurück. Sie bat den Portier, ihre Rechnung fertig zu machen. Dann rief sie Martin in seiner Praxis an. »Ich fahre noch heute nach Maibach«, sagte sie. »Dort ist der Unfall passiert.«

»Gesa, seien Sie vernünftig. Warten Sie bis Samstag. Dann kann ich Sie begleiten.«

»Sie sind sehr nett, Martin, aber ich kann nicht warten. Ich werde sonst verrückt. Seien Sie mir nicht böse. Vielleicht komme ich wieder. Ich mag Sie sehr. Und vielen Dank für alles.«

»Gesa, bitte …«

Aber sie legte auf. Sie hielt es einfach nicht mehr in Bad Kissingen aus. Sie hatte das Gefühl, dass sie erst dann wieder ruhiger werden würde, wenn sie vor dem Grab ihres Sohnes stehen würde. Aber war er nicht schon kurz nach seiner Geburt für sie gestorben? Damals hatte sie sich eingeredet, dass es so gewesen sei. Und wäre Clemens Gerhard Winkler nicht begegnet, hätte sie sich das auch weiterhin eingeredet.

Wäre …, hätte …, dachte Gesa verzweifelt. Sie musste sich mit den Tatsachen abfinden und durfte sich nichts mehr vormachen.

Vom Portier ließ sie sich noch die genaue Lage des Ortes Maibach heraussuchen. Dann fuhr sie los.

*

Gegen Abend war Gesa an ihrem Ziel. Trotz ihrer großen Erregung stellte sie fest, dass die Kreisstadt bemerkenswert war. Der Ort zeigte mittelalterlichen Charakter. Die alten schönen Giebelhäuser auf dem Marktplatz waren renoviert und leuchteten in allen Farben.

Gesa stieg im Gasthof »Zum Bären« ab. Nachdem sie sich gewaschen und umgekleidet hatte, verließ sie das Hotel wieder, um zum Maibacher Krankenhaus zu gehen. Sie hoffte, dass man ihr dort etwas über die Familie Hasler würde sagen können.

Als Gesa das Krankenhaus betrat, bekamen die Patienten gerade das Abendessen. Zögernd trat sie auf eine der älteren Schwestern zu. »Mein Name ist Wendt«, stellte sie sich mit belegter Stimme vor.

»Guten Abend.« Die Augen der Schwester richteten sich fragend auf sie. »Was kann ich für Sie tun?«

»Es handelt sich um den Unfall vor einigen Wochen hier in der Nähe von Maibach. Man sagte mir, dass die ganze Familie ums Leben gekommen sei.«

»Wie hieß sie denn?«

»Hasler. Alfred Hasler mit Frau und Kind.« Das Herz schien Gesa aus dem Hals zu springen, so heftig schlug es vor Erregung.

»Hasler? Sind Sie eine Verwandte der Familie?«, fragte Oberschwester Cecilie.

»Ich bin … Das heißt, ich war mit der Familie befreundet.« Gott verzeih mir diese Lüge, flehte sie innerlich.

»Es sind nicht alle drei bei dem Unfall ums Leben gekommen, Fräulein Wendt.«

»Frau Wendt«, verbesserte Gesa automatisch. Dabei konnte sie aber nur denken, es sind nicht alle umgekommen. Vielleicht hat Andreas das Unglück überlebt? Vielleicht liegt er hier im Krankenhaus? Vielleicht konnte sie …

»Wer hat es überlebt?« Wie ein Hauch kam diese Frage über ihre Lippen.

»Das Kind.«

»Das Kind?«, wiederholte Gesa. Die Wände schienen auf sie zuzukommen. Sie schwankte leicht.

»Ist Ihnen nicht gut?«

Die Stimme der Schwester kam wie aus unendlicher Ferne zu ihr.

»Es ist nichts. Wirklich nichts.« Gesa atmete einmal tief durch. »Ich bin vielleicht ein wenig überanstrengt. Wie geht es Andreas?«

»Er hatte einen Armbruch und einen Beinbruch. Soviel ich weiß, geht es ihm blendend.«

»Dann ist er nicht mehr hier?«

»Nein, er ist seit einigen Wochen im Kinderheim Sophienlust. Nicht wahr, er hat keine Verwandten mehr?«

»Ich weiß das nicht genau. Wo ist denn das Kinderheim?«

Die Oberschwester erklärte ihr die Lage von Sophienlust.

»Vielen Dank, liebe Schwester. Vielen Dank.« Gesa reichte ihr die Hand. »Ich möchte Sie nun nicht weiter aufhalten. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, Frau Wendt. Und alles Gute.« Kopfschüttelnd blickte die Oberschwester der jungen Frau nach. Etwas später sagte sie zu Schwester Eva: »Soeben war eine gewisse Frau Wendt bei mir, die sich nach Andreas erkundigt hat. Als ich ihr sagte, dass er am Leben sei, wurde sie zuerst fast ohnmächtig. Dann haben ihre Augen so gestrahlt, als habe man ihr die schönste Nachricht in ihrem ganzen Leben übermittelt. Sie hat sich ganz so benommen, als wäre sie Andreas’ Mutter.

*

Gesa hätte am liebsten die ganze Welt umarmt, als sie durch die Straßen von Maibach ging. Aber sie hatte keinen Menschen, dem sie diese unfassbare Botschaft anvertrauen konnte. Plötzlich aber erinnerte sie sich an Martin. Ja, sie wollte ihn gleich anrufen und ihm erzählen, dass Andreas lebte.

Im Gasthof »Zum Bären« wählte sie die Telefonnummer seiner Wohnung. Martin war daheim.

»Nett, dass Sie anrufen«, erwiderte er, als sie ihren Namen genannt hatte. »Wie geht es Ihnen?«

»Martin, ich wünschte mir so sehr, dass Sie jetzt bei mir wären!«, rief sie impulsiv. »Ich bin so glücklich. Stellen Sie sich vor, Andreas hat das Unglück überlebt. Er befindet sich zurzeit in einem Kinderheim. Und morgen fahre ich hin.«

»Der kleine Andreas lebt? Wie schön.« Martin atmete hörbar auf. »Ich habe ihn doch von klein auf betreut. Richtiger gesagt, seit zwei Jahren. Die Familie Hasler gehörte zu meinen ersten Patienten in Kissingen. Andreas ist ein reizendes Kind. Sehr sensibel.«

»Hat er sehr an seinen Eltern gehangen?«

»Er hat seine Mutter angebetet und seinen Vater vergöttert. Die Haslers haben das Kind sehr geliebt. Niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass Andreas ihr Adoptivsohn ist.«

»Armer kleiner Junge.«

»Was werden Sie tun, Gesa?«

»Ich weiß es noch nicht. Ich bin so durcheinander, dass ich noch immer keinen klaren Gedanken fassen kann. Erst einmal möchte ich den Jungen sehen.«

»Rufen Sie mich morgen wieder an, Gesa?«

»Das verspreche ich Ihnen, Martin. Nun, da ich mit Ihnen gesprochen habe, ist mir schon leichter. Bis morgen, Martin.«

»Bis morgen, Gesa. Schlafen Sie gut.«

»Sie auch.« Gesa legte auf. Dann verließ sie die Telefonzelle. Auf einmal stellte sie fest, dass sie Hunger hatte. Sie ging in die Gaststube und bestellte sich ein komplettes Essen. Dazu trank sie Bier, weil sie hoffte, dass es beruhigend auf ihre aufgepeitschten Nerven wirken werde.

Erst als Gesa im Bett lag, dachte sie wieder an Clemens. Sollte sie ihn morgen anrufen und ihm von Andreas erzählen? Vielleicht bereute er schon längst, dass er so hässlich zu ihr gewesen war. Vielleicht …

Gesa zwang sich, vernünftig zu bleiben. Wieder nahm sie eine Schlaftablette, deren Wirkung nicht lange auf sich warten ließ.

*

Das laute Krähen eines Hahnes weckte Gesa am nächsten Morgen. Noch halb benommen von der Tablette stieg sie aus dem Bett und zog die buntbedruckten Vorhänge zurück. Unter dem Fenster pickten Hühner eifrig Körner auf. Ihr Herr und Gebieter, ein prachtvoller Hahn mit schillerndem Gefieder, stand hoch oben auf dem Misthaufen und krähte seine Lebensfreude hinaus.

Gesa blickte auf ihre Armbanduhr. Es war noch nicht einmal sechs. An Schlaf war bei ihr natürlich jetzt nicht mehr zu denken. Darum kleidete sie sich an und verließ kurz darauf das Zimmer.

Eine ältere Frau wusch den Boden der Gaststube. Bei Gesas Anblick hielt sie in ihrer Arbeit inne. »Guten Morgen«, sagte sie freundlich. »Um diese Zeit gibt es noch kein Frühstück.«

»Das macht nichts. Ich wollte Sie nur fragen, wie ich nach Sophienlust komme.«

»Sophienlust …, es ist ein sehr schönes Kinderheim. Die Leute nennen es auch das Kinderparadies.«

»Dann geht es den Kindern dort gut?«

»Gut ist gar kein Ausdruck dafür. Sie leben dort wie in einer großen Familie, und jedes Kind bleibt in der großen Gemeinschaft eine kleine Persönlichkeit. Wollen Sie Ihr Kind dort unterbringen?«

»Vielleicht. Ich fahre erst mal hin und spreche mit der Heimleiterin.«

»Das ist Frau Rennert.« Die Aufwartefrau erzählte Gesa nun ausführlich von Sophienlust. Dann erklärte sie ihr den Weg dorthin.

Vom Kirchturm ertönten sieben Schläge, als Gesa Maibach mit ihrem Auto verließ und die Richtung nach Bachenau einschlug. Noch lag der Tau auf den Wiesen, und zwischen den Laubbäumen hingen Nebelschwaden. Sommerwölkchen flogen über den Himmel, der mit den sanften Hügeln zu verschmelzen schien.

Gesa fuhr sehr langsam. Dabei malte sie sich das erste Zusammentreffen mit ihrem unbekannten Sohn aus. In ihrer freudigen Erregung vergaß sie ganz, dass Andreas keine Ahnung hatte, wer sie war. In ihr lebte nur die Hoffnung, ihr Kind an ihr Herz drücken zu können. Da Andreas jedoch nun keine Adoptiveltern mehr hatte, bedeutete das, dass sie ihn zurückbekommen konnte.

*

In den Ferien wurde meist erst gegen acht Uhr in Sophienlust gefrühstückt. Das hieß aber nicht, dass die Kinder deshalb später aufstanden. Sie trödelten nur mehr als während der Schulzeit.

Um diese frühe Morgenstunde herrschte in dem großen Haus bereits lebhaftes Treiben. Frau Rennert und Schwester Regine hatten alle Hände voll zu tun.

»Wisst ihr was?«, rief Pünktchen fröhlich. »Wenn das Wetter so schön bleibt, gehen wir am besten zum Waldsee schwimmen. Wir können dort auch die Schwäne und Enten füttern.«

»Ja, fein.« Vicky klatschte in die Hände. »Die Schwäne haben sechs Kinder.«

»Aber sie sind böse«, stellte Fabian fest. »Wenn man nur in die Nähe der kleinen Schwäne kommt, fauchen sie wie Wildkatzen.«

»Ich möchte aber lieber zum Tierheim fahren«, sagte Oliver.

»Ich auch!«, rief Heidi. »Onkel Hans-Joachim hat doch gestern gesagt, dass er einen Gepard erwartet, der einen bösen Zahn hat.«

»Das stimmt.« Irmela Groote, das älteste Mädchen in der Kinderschar, kam aus ihrem Zimmer. Sie trug genauso wie die kleineren Kinder Jeans und einen ärmellosen Pulli. »Der Gepard gehört einer Schauspielerin, die ganz in der Nähe von Bachenau eine Traumvilla besitzt. Nick hat es gestern erzählt.«

»Hoffentlich kommt Nick gleich nach dem Frühstück nach Sophienlust.« Das war wieder Pünktchen.

»Er und Henrik kommen ganz bestimmt«, beruhigte Schwester Regine die Zwölfjährige, die mit kindlicher Liebe an ihrem großen Freund hing.

»Ein Auto kommt!«, rief nun der elfjährige Christof Arndt.

»So früh?« Pünktchen lehnte sich aus dem Gangfenster. »Es fährt vorbei. Nein, es hält und wendet. Ich glaube, da hat sich jemand verfahren.«

Oliver blickte ebenfalls aus dem Fenster. »Meine Mutti hat auch so einen gelben Wagen«, stellte er fest. »Vielleicht ist es meine Mutti.« Ein Hoffnungsschimmer leuchtete in seinen Augen auf.

»Es gibt viele solche Autos«, meinte Andreas. »Und es fährt ja auch wieder fort.«

»Habt ihr die Autonummer lesen können?«

»Nein, das war unmöglich.« Christof schüttelte den Kopf. »Wann gibt es denn endlich Frühstück? Ich habe schon großen Hunger.«

»Vielleicht macht Magda das Frühstück heute etwas früher. Ich werde sie mal fragen«, erklärte Heidi und lief schon die Treppe hinunter.

*

Der Wagen, den Christof Arndt gesehen hatte, gehörte tatsächlich Gesa. Sie hatte nach einem Blick auf die Uhr auf dem Armaturenbrett festgestellt, dass es für einen Besuch in dem Kinderheim noch zu früh war, und war wieder weggefahren. Sie wollte noch eine Stunde warten. Und da sie sich nach einer guten Tasse Kaffee sehnte, fuhr sie zuerst nach Wildmoos. Dort fand sie aber kein offenes Lokal. Deshalb schlug sie den Weg nach Bachenau ein.

Kurz vor dem Ort bremste Gesa ihren Wagen ab und hielt an, um ein kleines Eselsgespann zu bewundern. In dem zweirädrigen Wagen saß ein junger Mann. Neben dem auffallenden Gefährt lief ein so winziges Pferdchen, dass Gesa einen Moment glaubte, eine Halluzination zu haben. Dann kam sie zu dem Schluss, dass hier ganz in der Nähe ein Wanderzirkus sein müsse.

In Bachenau fand Gesa ein kleines Café, das schon geöffnet hatte. Dort bekam sie einen erstaunlich guten Kaffee.

Während sie so langsam wie möglich frühstückte, blickte sie immer wieder auf ihre Armbanduhr. Die Zeit schien im Schneckentempo dahinzukriechen. Endlich entschloss sie sich, wieder nach Sophienlust zurückzufahren. Diesmal fuhr sie durch das offen stehende hohe Tor und parkte hinter einem anderen Wagen vor der Freitreppe.

Als Gesa ausstieg, erblickte sie gerade noch den Rücken einer schlanken schwarzhaarigen Dame, die eben das Haus betrat. Sehr langsam stieg Gesa die Stufen der Freitreppe hinauf und läutete nach einem tiefen Atemzug am Portal.

Ein Hausmädchen in einem kornblumenblauen Leinenkleid und einer weißen Schürze öffnete ihr.

»Ich möchte bitte die Heimleiterin sprechen«, bat Gesa erregt. Dabei fuhr sie sich über die trockenen Lippen.

»Möchten Sie zu Frau Rennert oder zu Frau von Schoenecker?« Ulla sah sie neugierig an.

»Zu Frau von Schoenecker.«

»Sie haben Glück. Sie ist soeben mit ihren beiden Söhnen aus Schoeneich eingetroffen. Bitte, kommen Sie doch weiter«, forderte Ulla die hübsche dunkelhaarige Frau freundlich auf. »Ich melde Sie sofort an. Wie war Ihr Name doch gleich? Ich habe ihn nicht verstanden.«

»Wendt. Frau Wendt.«

Ulla zuckte zusammen. Ob sie Olivers Mutter war, fragte sie sich. Doch das hielt sie für ausgeschlossen. Sonst hätte sie gewiss zuerst nach Oliver gefragt.

»Bitte, nehmen Sie doch Platz«, bat Ulla in der Halle. »Die Kinder haben vor ein paar Minuten das Haus verlassen und sind in den Park gelaufen«, erläuterte sie noch, um Gesa aus der Reserve zu locken. Sie war inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei ihr doch nur um Olivers Mutter handeln könne. Aber die Besucherin stellte keine Fragen nach dem Jungen.

Gesa war allein. Sie war viel zu aufgeregt, um sich für ihre Umgebung zu interessieren. Gespannt wartete sie.

Gesa brauchte nicht lange zu warten. Denise kam bald mit Ulla zurück. Während das Mädchen die Treppe hinauflief, wandte sich Denise mit einem freundlichen Lächeln an die frühe Besucherin. Sie nannte ihren Namen und musterte Gesa gespannt.

»Ich bin Frau Wendt. Gesa Wendt. Ich …«

»Also, dann sind Sie doch Olivers Mutter. Gesa ist ein seltener Vorname. Er …«

»Oliver?«, unterbrach Gesa sie erregt. »Sie wollen doch nicht sagen, dass Oliver hier ist?«

»Natürlich ist er hier. Ich dachte, Sie wüssten das, weil Sie doch hergekommen sind.« Denise erwiderte den Blick der jungen Frau erstaunt.

»Ich wusste es nicht, aber ich hoffte es.« Gesa war froh, dass ihr diese Ausrede so schnell eingefallen war. »Ich habe Oliver gesucht, weil mein Mann mir nicht die Adresse sagen wollte. Ich …«

Gesa war nun völlig durcheinander. Was hatte das Schicksal nur mit ihr vor, fragte sie sich. Dass ihre Kinder im gleichen Kinderheim waren, hatte etwas so Phantastisches an sich, dass sie kaum noch an einen Zufall glauben konnte. Aber durfte sie jetzt noch sagen, dass ihr eigentlicher Besuch Andreas Hasler gegolten hatte, dass dieser ihr unehelicher Sohn war?

Denise entging nicht die Verwirrung ihrer Besucherin. Ob sie Oliver hinter dem Rücken ihres Mannes besuchte?, überlegte sie.

»Oliver hat große Sehnsucht nach Ihnen gehabt, Frau Wendt«, berichtete Denise. »Täglich spricht er von Ihnen. Ich werde ihn rufen lassen.«

Gesa konnte nur nicken. Die Erschütterung war zu groß für sie. Sie sank wieder auf einen der Sessel, als Denise sie für einige Minuten allein ließ.

Als sie schnelle Schritte auf der Treppe hörte, drehte sie sich um und erblickte ihren kleinen Oliver. Er blieb auf halber Treppe stehen und sah sie fassungslos an. Doch dann kam Leben in ihn. Jubelnd sprang er die letzten Stufen hinunter. »Mutti! Liebe, liebe Mutti!«, rief er. »Ich habe solche Sehnsucht nach dir gehabt. Bist du wieder gesund?«

Gesa vergaß alles um sich herum. Sie herzte und küsste ihren Sohn. Endlich beruhigte sie sich und stellte ihn auf seine Beine. »Du bist gewachsen, Oliver«, stellte sie mit strahlenden Augen fest.

»Nicht wahr, Mutti?« Er reckte seine Gestalt. »Ich bin bald so groß wie Andreas. Ist Vati auch mitgekommen?«, fragte er und blickte sich suchend um.

»Nein, Oliver.« Gesa dachte nun erst an Clemens, der gewiss nicht mit ihrem Besuch einverstanden sein würde.

»Mutti, ich hole Andreas!«, rief Oliver selig. »Er soll dich kennen lernen. Er ist mein allerbester Freund. Er hat keine Eltern mehr. Sie sind mit dem Auto verunglückt. Nicht wahr, du bist lieb zu ihm? Er wird dann bestimmt nicht mehr traurig sein. Ich bin nun auch nicht mehr traurig, weil du wieder bei mir bist. Ich suche jetzt Andreas.«

»Oliver, so warte doch …«

Aber dieser hörte sie schon nicht mehr. Er sauste davon.

Gesas erster Impuls war, davonzulaufen und sich für ein Weilchen zurückzuziehen, um sich innerlich für das erste Zusammentreffen mit Andreas zu sammeln. Aber sie war viel zu verwirrt, um irgendetwas tun zu können. Sie setzte sich wieder und faltete die Hände. Die Stille, die sie plötzlich umgab, gab ihr das Gefühl, alles nur zu träumen.

Denise kehrte zurück und erklärte: »Ich kann Oliver nirgends finden.«

»Ich habe ihn schon gesehen. Er sucht jetzt nach seinem Freund Andreas.«

»Andreas Hasler hat seine Eltern verloren. Oliver und er sind Freunde geworden. Ihr Sohn hat viel dazu beigetragen, dass Andreas seinen Schock überwunden hat.«

»Mein kleiner Oliver«, flüsterte Gesa. Sollte sie sich Frau von Schoenecker anvertrauen und ihr den wahren Grund ihres Besuches hier erzählen, fragte sie sich.

»Mutti, das ist Andreas!«, rief Oliver in diesem Augenblick selig. »Schau, Andreas, und das ist meine liebe Mutti. Mutti, ich habe jeden Abend zum lieben Gott gebetet und mir gewünscht, dass du bald zu mir kommst.«

Gesa achtete nicht auf Olivers Worte. Sie konnte nur Andreas ansehen. Alles in ihr verlangte danach, ihn in die Arme zu nehmen und zu küssen. Aber sie wagte es nicht. »Also, du bist Olivers bester Freund«, stellte sie mit belegter Stimme fest.

»Ja, der bin ich.« Andreas hatte auf einmal einen ganz dicken Kloß im Hals stecken. Warum war seine Mutter gestorben, fragte er sich verzweifelt. Auch sein Vati kam nie mehr zu ihm. Und nun war Olivers Mutti gekommen, um ihn aus Sophienlust abzuholen.

»Mutti, wir können doch Andreas mit zu uns nach Hause nehmen«, schlug Oliver mit einem flehenden Blick auf seine Mutter vor. »Dann brauchen wir uns nicht zu trennen.«

Clemens hat Oliver also noch nichts von der bevorstehenden Scheidung erzählt, dachte sie erleichtert. Mehr denn ja war sie nun entschlossen, sich nicht scheiden zu lassen.

»Das muss Vati entscheiden«, erwiderte sie ernst und richtete ihre Augen auf Andreas. Dabei stellte sie fest, dass er Oliver glich. Ja, zwischen den beiden Jungen bestand eine gewisse Ähnlichkeit.

»Mutti, wir können Vati doch anrufen«, meinte Oliver, denn auch er wollte sich nicht von seinem Freund trennen.

»Lass nur, Oliver«, sagte Andreas leise. »Ich komme gleich wieder!«, rief er und lief davon.

Gesa wollte ihm nachlaufen, aber Denise hielt sie davon ab. »Lassen Sie nur, Frau Wendt. Andreas ist natürlich traurig, dass Oliver nun bald das Kinderheim verlassen wird.«

Gesa blieb ihr darauf die Antwort schuldig, weil sie selbst keine Ahnung hatte, was nun geschehen würde. Durfte sie Oliver einfach mitnehmen? Sie hatte nicht einmal eine Wohnung. Vernünftiger war es wohl, dass der Junge vorläufig noch im Kinderheim blieb.

Und Andreas? Was sollte mit ihm geschehen? Eines stand jedoch für Gesa bereits fest. Sie würde alles daransetzen, Andreas zu bekommen. Eigentlich dürfte es in dieser Beziehung keine Schwierigkeiten mehr geben. Nun, da seine Adoptiveltern tot waren, war der Weg zu ihm für sie frei.

Denise lud Gesa ein, doch für ein paar Tage in Sophienlust zu bleiben.

Oliver klatschte vor Freude in die Hände. »Fein, Tante Isi. Dann kann ich wieder jeden Morgen zu Mutti ins Bett kriechen. Du, Mutti, schenkst du mir auch einen Stupsi?«

»Einen Stupsi?«

»Ja, Mutti, das ist ein wunderschöner Teddybär. Aber er gehört Tante Isi und muss im Kinderheim bleiben, weil sie ihn für alle traurigen Kinder gekauft hat. Sie werden durch ihn fröhlich. Soll ich Stupsi mal holen?«

»Ja, Oliver. Ich mache mir um Andreas Sorgen«, wandte sie sich an Denise. »Er sah so merkwürdig aus.«

»Er ist gewiss zu den Kindern gelaufen. Zuerst wollten sie zum See gehen, dann haben sie sich entschlossen, zu den Pferden und Ponys zu laufen.«

»Du, Mutti, komm doch mit zu den Ponys«, bat Oliver sofort. »Ich kann schon reiten. Ich …«

Gesa sah Denise entsetzt an. »Ist Oliver denn nicht zu klein zum Reiten?«

»Aber nein. Unter unseren Ponys gibt es sehr sanfte betagte Pferdchen. Sie sind Kinder von klein auf gewöhnt. Oliver, ich glaube, wir zeigen deiner Mutti zuerst ihr Zimmer, damit sie sich ein wenig einrichten kann.«

»Aber ich bleibe bei meiner Mutti«, bestimmte der Kleine energisch und griff nach Gesas Hand.

Gesa sagte zu allem ja und amen. Sie befand sich in einem unbeschreiblichen Zustand. Die Ereignisse hatten sie ganz einfach überrollt. Sie brauchte ein wenig Zeit, um wieder einigermaßen klare Gedanken fassen zu können.

*

Andreas war nicht zu den anderen Kindern gelaufen. Er hatte sich ein Kinderrad aus dem Schuppen geholt und radelte nun nach Bachenau zum Tierheim. Er kannte den Weg schon genau. Außerdem führte die Straße direkt zum Tierheim hin.

Während der Junge fest in die Pedale trat, kullerten ihm helle Tränen über die Wangen. Immer wieder fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen und zog die Nase hoch.

Nun würde er wieder allein sein. Oliver würde mit seiner Mutti nach Hause fahren. Er aber hatte niemanden mehr, der ihn abholen würde. Es war ja ganz schön in Sophienlust, aber ohne Oliver würde er sich hier sehr einsam fühlen.

Wieder zog Andreas die Nase hoch. Da vorn waren schon die ersten Häuser von Bachenau. Kurz darauf bog er in die Seitenstraße ein, in der Andrea und Hans-Joachim von Lehn wohnten. Andreas wollte zur Tante Andrea. Sie war immer so lieb zu ihm. Plötzlich wünschte er sich, für immer bei ihr bleiben zu dürfen. Ja, er wollte sie darum bitten, nahm er sich vor.

Andreas lehnte sein Fahrrad an die Hauswand und läutete dann. Betti öffnete ihm und fragte erstaunt: »Wo kommt du denn her? Du siehst ja ganz verstört aus. Bist du allein?«

»Ja, Betti. Ich möchte zu Tante Andrea«, bat Andreas leise.

»Sie ist leider nicht da, mein Junge. Sie hat den Herrn Doktor nach Frankfurt begleitet. Möchtest du nicht trotzdem hereinkommen und Peterle besuchen?«

»Später, Betti. Ich lauf’ mal schnell zu Herrn Koster hinüber. Ist der Gepard schon da?«

»Noch nicht. Er wird erst morgen erwartet. Dadurch konnte der Herr Doktor auch heute fortfahren. Sollte es etwas Dringendes in der Praxis geben, kann das auch Herr Koster erledigen. Er ist ja bereits ein halber Doktor geworden.«

Andreas hörte ihre letzten Worte nicht mehr. Er schien es sehr eilig zu haben, zum Tierheim zu kommen. Die vier Dackel liefen fröhlich bellend hinter ihm her, als er den Vorplatz überquerte.

Betti schloss die Haustür wieder, um zu Peterle zurückzukehren, der ungeduldig auf seine Flasche wartete.

*

Andreas öffnete die Tür des Tierheims und steckte seinen Kopf hinein. »Herr Koster!«, rief er. »Ich bin da! Der Andreas!«

Als die Schimpansen zu quieken anfingen, liefen die Dackel zum Haus zurück. Die Braunbärin Isabell richtete sich zu ihrer ganzen Größe auf und blickte Andreas freundlich aus ihren kleinen Augen an. Ihre Kinder Taps und Tölpl kullerten vor Begeisterung über den Boden der Box, dann stießen sie die Klapptür auf und liefen hinaus ins Freigehege. Ihre Mutter folgte ihnen besorgt.

Andreas gab die Suche nach dem Tierpfleger auf und besuchte die Esel Benjamin und Fridolin im Freigehege.

Fridolin lachte fröhlich und stupste ihn an, als ob er ihn zu einem Ritt auffordern wolle. Andreas überlegte nicht lange. »Komm, Fridolin«, sagte er und fasste den Esel beim Halfter. Das Verlangen, irgendwohin zu reiten, wo ihn niemand finden würde, wurde so groß in ihm, dass er nun wie unter einem Zwang handelte. Er stieg auf Fridolins Rücken und ritt mit ihm zum Tor hinaus.

Andreas ritt zu dem großen Wald und dann den schmalen Pfad entlang, der irgendwo weit hinten endete. Seit langem schon hatte er wissen wollen, was sich am Ende des Waldes befand.

Fridolin trabte fröhlich weiter. Er fand sichtlich Gefallen an dem Ritt in der herrlichen Luft.

*

Helmut Koster bemerkte das Fehlen des Esels erst sehr viel später. Er hatte einige Besorgungen im Ort machen müssen und war nach seiner Rückkehr in seine kleine Wohnung gegangen, um die Rechnungen einzuordnen. Als es dann Zeit für die Fütterung der Tiere war, versorgte er zuerst diejenigen im Gebäude. Erst danach kümmerte er sich um die Rehe, Füchse, Hasen, Esel und das Liliputpferdchen Billy.

»Nanu«, rief er kopfschüttelnd, »wo steckt denn nur Fridolin? Weißt du es?«, wandte er sich an den alten halbblinden Esel Benjamin. Dieser zeigte jedoch nur Interesse für das Heu, das er mit Genuss zwischen seinen gelben Zähnen zermahlte.

Helmut Koster fing an, sich ernstlich Sorgen um den verschwundenen Esel zu machen, nachdem er das ganze Grundstück vergeblich nach ihm abgesucht hatte. Schließlich ging er zu Betti ins Haus. »Es ist mir ein Rätsel, wie das passieren konnte«, erklärte er aufgebracht. »Dass Fridolin über das Gatter gesprungen sein sollte, erscheint mir unmöglich. Jemand muss ihn aus dem Gehege herausgelassen haben.«

»Das wird Andreas gewesen sein. Er und Fridolin sind doch unzertrennlich.«

»Andreas? War er denn hier? Ich habe ihn nirgends gesehen. Weder im Tierheim noch sonst wo.«

»Andreas war schrecklich aufgeregt. Ob er mit Fridolin nach Sophienlust geritten ist?«, überlegte Betti. »Es wäre nicht auszuschließen. Ich rufe sofort in Sophienlust an. An Wochentagen ist die Straße nach Wildmoos ja sehr ruhig, aber du solltest sie auf alle Fälle mit dem Wagen einmal abfahren«, schlug sie noch vor, bevor sie die Telefonnummer von Sophienlust wählte.

Helmut Koster befolgte Bettis Rat und fuhr los. Aber schon bald war er zurück. »Von Andreas und Fridolin ist weit und breit nichts zu sehen. Vielleicht ist er inzwischen schon in Sophienlust eingetroffen?«

»Frau Rennert hat mir versprochen, sofort zurückzurufen, sollte er dort eintreffen. Sie will auch die Umgebung von Sophienlust absuchen lassen.«

*

Andreas ritt weiter auf Fridolins Rücken. Als plötzlich eine große blumenübersäte Wiese vor ihm lag, stieg er ab und sagte: »Sicherlich hast du Hunger, Fridolin. Mir knurrt auch der Magen. Aber ich kann kein Gras essen.« Er suchte in seiner Hosentasche nach einem letzten Stückchen Schokolade, das durch seine Körperwärme ganz weich geworden war. Er steckte es in den Mund und leckte sich dann die schokoladenbeschmierten Finger ab.

Fridolin graste friedlich. Andreas setzte sich ins Gras und zog die Knie an. Er blickte zum Himmel empor. »Fridolin, glaubst du, dass man einfach in den Himmel laufen kann? Vielleicht gibt es irgendwo eine Himmelsleiter. Mutti und Vati würden ganz große Augen machen, wenn ich plötzlich vor ihnen stehen würde.«

Vielleicht würde er tatsächlich eine Himmelsleiter finden, überlegte Andreas. Er musste nur immer weitergehen, aber alle Straßen umgehen, damit ihn niemand fand.

Das Stückchen Schokolade hatte Andreas’ Hunger verständlicherweise nicht gestillt. Darum entschloss sich der Junge, als er zu einem einsam gelegenen Bauerngehöft kam, dort ein Stückchen Brot zu erbitten. Als er jedoch einige grüne Äpfel und Birnen fand, gab er diese Absicht wieder auf. Er stopfte sich die Taschen mit dem Fallobst voll und ritt wieder zum Wald zurück.

Tief in Gedanken versunken spornte Andreas das Grautier an. Fridolin schien dieser ungewohnte Tagesausflug gut zu gefallen. Folgsam trottete er den Waldweg entlang.

»Bestimmt hast du Durst.« Andreas glitt vom Rücken des Esels und führte ihn am Halfter zu einem Bach, dessen Plätschern er gehört hatte. Aber nicht nur der Esel labte sich an dem Wasser, sondern auch Andreas selbst. Er dachte nicht mehr an die Ermahnungen von Schwester Regine und Tante Ma, niemals unreifes Obst zu essen und auf keinen Fall Wasser darauf zu trinken.

Schon gut eine Stunde später bekam Andreas heftige Leibschmerzen. Weinend krümmte er sich und presste beide Hände auf seinen Bauch. Auf einmal hatte er genug von seinem Ausflug. Er wollte nach Sophienlust zurück. »Komm, Fridolin«, schluchzte er.

Viel zu schnell wurde es dunkel. Noch immer irrte Andreas im Wald umher. Schließlich sank er erschöpft auf den weichen Boden.

Mit hängendem Kopf betrachtete der Esel seinen kleinen Freund. Er stupste ihn an, um ihn aufzufordern, weiterzugehen. Aber Andreas stöhnte vor Schmerzen. Schließlich schlief er vor Erschöpfung ein.

Lautes Hundegebell und Stimmen rissen den Jungen aus seinem Schlaf. »Da sind ja die beiden Ausreißer!«, rief Polizeimeister Kirsch erleichtert. »Der Junge scheint krank zu sein.« Er hob Andreas auf seine kräftigen Arme. »Hast du Schmerzen, Andreas?«

»Mir tut der Bauch so weh. Ich will zu meiner Mutti!«, schrie er. »Mutti! Mutti!«

Denise und Alexander saßen in ihrem Wagen, als sie das laute Schreien des Kindes hörten. »Ich glaube, sie haben ihn gefunden.« Denise konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. »Alexander, ich bin fertig mit meinen Nerven. Ich …«

»Das ist verständlich.« Er blickte auf die Uhr am Armaturenbrett. »Es ist gleich zehn.«

»Es ist schon vorbei.« Denise hatte ihren Schwächeanfall bereits wieder überwunden. Sie dachte nur noch daran, dass ein unglückliches Kind ihre Hilfe brauchte.

»Tante Isi, liebe Tante Isi.« Andreas streckte ihr die Arme entgegen. »Ich habe solches Bauchweh«, klagte er.

Inzwischen bemühten sich die Polizeileute um den Esel Fridolin, der sich hartnäckig weigerte, über die kleine Rampe in den für diesen Fall mitgenommenen Kastenwagen zu gehen. Schließlich gelang es ihnen mit vereinten Kräften, das störrische Grautier hineinzubugsieren.

Alexander fuhr so schnell wie möglich nach Sophienlust. Schwester Regine untersuchte den Jungen gründlich und stellte dann fest, dass er nur einen verdorbenen Magen hatte.

»Bitte, nicht böse sein«, flehte Andreas, als er im Krankenzimmer lag. »Ich war doch so unglücklich. Und weil Oliver nun fortfährt, wollte ich auch fort. Ich habe nach der Himmelsleiter gesucht, um zu Mutti und Vati zu gehen. Ich …« Er schluchzte laut auf.

Denise wiegte Andreas zärtlich wie ein Baby in ihren Armen. »Vorläufig bleibt Oliver noch hier, mein Junge. Und dann, wenn er nicht mehr bei uns sein wird, hast du doch noch uns alle. Wir haben dich alle lieb.«

»Tante Isi, wenn ich sterbe, komme ich doch bestimmt in den Himmel, nicht wahr?«, fragte Andreas leise.

Ein Schauer lief Denise über den Rücken. »Andreas, an so etwas darfst du nicht denken. Versprich mir, dass du dir solche Gedanken aus dem Kopf schlägst.«

Andreas nickte unter Tränen.

Ein seltsamer Laut erklang in diesem Augenblick hinter Denise. Sie drehte sich um und erblickte Gesa Wendt unter der Tür, die sichtlich mit den Tränen kämpfte.

Andreas fielen die Augen zu. Kurz darauf verrieten seine ruhigen Atemzüge, dass er schlief. Erleichtert erhob sich Denise vom Bettrand. Sie bat noch Schwester Regine, die Nacht bei Andreas zu bleiben.

»Selbstverständlich tue ich das, Frau von Schoenecker. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, liebe Schwester Regine.«

Denise nickte ihr zu und folgte dann Gesa, um deren Beherrschung es nun endgültig geschehen war. Aufschluchzend schlug sie die Hände vors Gesicht und lehnte sich haltsuchend an die Wand.

Denises Müdigkeit verflog. Behutsam führte sie die junge Frau ins Biedermeierzimmer, wo Alexander auf sie wartete. Nach einem Wink von ihr zog er sich taktvoll zurück.

Denise war nun mit der verzweifelten Gesa allein. »Frau Wendt, wollen Sie mir nicht sagen, was Sie bedrückt?«, bat sie gütig. »Manchmal ist es eine große Hilfe, wenn man einem Menschen das Herz ausschütten kann. In diesem Zimmer habe ich schon viel Leid gehört.«

Gesa erwiderte ihren Blick und vertraute sich ihr dann an.

Erschüttert hörte Denise ihr zu. Welch’ merkwürdige Wege das Schicksal doch manchmal ging.

»Was soll ich nur tun?«, fragte Gesa, schon etwas ruhiger geworden. »Clemens will sich von mir scheiden lassen. Ich nehme das als Strafe dafür hin, dass ich Andreas einst in fremde Hände gegeben habe.«

»Seine Adoptiveltern müssen sehr lieb zu ihm gewesen sein, Frau Wendt. Sonst würde er nicht so sehr um sie trauern. Sie waren damals sehr jung und allein.«

»Sie haben Verständnis für mich. Auch Dr. Martin Hoffmann hatte das. Nur Clemens …« Wieder schossen Gesa die Tränen in die Augen.

»Frau Wendt, Sie müssen jetzt schlafen gehen«, erklärte Denise. »Sonst brechen Sie noch zusammen. Sie müssen daran denken, dass Sie nun zwei Kinder haben, die Sie brauchen. Trotzdem würde ich Andreas noch nicht die Wahrheit sagen.«

»Sie meinen, ich soll ihm nicht sagen, dass ich seine Mutter bin?«

»Ich halte es für besser, wenn Sie es nicht täten, Frau Wendt. Andreas muss innerlich erst ruhiger werden. Es würde ihn noch mehr durcheinander bringen, wenn er schon jetzt erfahren würde, dass seine Eltern gar nicht seine wirklichen Eltern waren.«

»Das sehe ich ein. Bitte, verzeihen Sie mir, dass ich Ihre Güte so lange in Anspruch genommen habe«, entschuldigte sich Gesa nach einem erschrockenen Blick auf die Uhr. »Es ist gleich Mitternacht.«

»Ich gebe zu, dass ich plötzlich sehr müde bin.« Denise erhob sich. »Morgen früh bin ich wieder in Sophienlust. Versuchen Sie zu schlafen.«

»Ich nehme eine Schlaftablette. Ich weiß, dass es schädlich ist, tagtäglich Tabletten zu nehmen. Aber ich könnte sonst keine Stunde schlafen. Und nochmals vielen Dank.«

Gesa sagte noch gute Nacht und verließ das Biedermeierzimmer. Kurz darauf ging Denise in die Halle. Dort wartete Alexander auf sie.

»Endlich!«, rief er. »Du siehst erbärmlich aus, Denise.«

»Ich kann es auch kaum erwarten, ins Bett zu kommen. Du tust mir leid, Alexander. Meinetwegen findest du niemals wirkliche Ruhe.«

»Wie du siehst, bin ich ein armer, gequälter Ehemann«, erwiderte er scherzend. Er hakte sich bei ihr unter und verließ mit ihr das Haus.

Im Auto erzählte Denise ihm mit wenigen Worten von Gesas Tragödie. »Ich möchte ihr helfen und deshalb nach München fahren, Alexander«, fügte sie hinzu.

»Ich komme natürlich mit«, erklärte Alexander mit einem tiefen Seufzer. »Sascha ist ja da. Er wird mich auf dem Gut für ein paar Tage vertreten können.«

»Ich bin über deine Begleitung froh, Alexander. Du bist der gütigste Ehemann auf Erden.« Zärtlich strich Denise ihm über die Hand.

Alexander grinste verlegen. »Na ja, das ist halb so schlimm. Ich finde eher, dass ich ein krasser Egoist bin, weil ich dich Tag und Nacht um mich haben möchte.«

»Das war eine schöne Liebeserklärung, Alexander.« Verstohlen wischte Denise sich die Tränen aus den Augenwinkeln fort. Als das Auto vor dem Portal des Herrenhauses von Schoeneich hielt, schmiegte sie sich für einen Augenblick an ihren Mann.

*

Schon am nächsten Vormittag stellte sich heraus, dass die Reise nach München nicht nötig war. Dr. Clemens Wendt rief, wie so häufig, in Sophienlust an, um sich nach Oliver zu erkundigen. Er bat auch, seinen Sohn sprechen zu dürfen.

Das Kind, das keine Ahnung von dem Zerwürfnis seiner Eltern hatte, jubelte sogleich: »Vati, lieber Vati, Mutti ist da! Sie ist schon wieder ganz gesund. Ich bin so glücklich. Andreas war fortgelaufen. Die Polizei hat ihn gesucht und im Wald gefunden. Er hat schrecklich viel grünes Obst gegessen und dann Wasser getrunken. Aber das dürfen wir doch nicht, weil wir sonst krank werden. Andreas war so traurig, weil ich jetzt wieder eine Mutti habe und seine Mutti tot ist. Vati, vielleicht können wir Andreas zu uns nehmen? Dann habe ich einen Bruder.«

In seiner Freude bemerkte der Kleine nicht, dass sein Vater gar nicht antwortete. Erst als er fragte: »Vati, bist du noch da?«, erwiderte Clemens: »Ja, Oliver. Ich werde versuchen, dich bald wieder zu besuchen. Auf Wiedersehen, mein Junge.«

»Auf Wiedersehen, Vati.«

Oliver suchte nach seiner Mutter, die er bei Andreas fand. »Mutti, Vati hat angerufen!«, rief er glücklich.

»Vati? Und?« Gesa presste beide Hände auf ihr wie verrückt hämmerndes Herz.

»Ich habe ihm gesagt, dass du bei mir bist, dass du wieder gesund bist.« Oliver sah seine Mutter glücklich an und setzte sich dann auf Andreas’ Bett.

Gesa konnte nur schwer ihre Erregung verbergen. Was würde Clemens nun unternehmen? Würde er nach Sophienlust kommen und sie zur Rede stellen?

Gesa sprach mit Denise über ihre geheimen Ängste. Diese beruhigte sie und meinte dann: »Sollte Ihr Mann tatsächlich herkommen, was ich fast glaube, hätten Sie eine Gelegenheit, sich mit ihm auszusprechen. An Ihrer Stelle würde ich ihm reinen Wein einschenken und ihm sagen, dass Sie Andreas hier gefunden haben und dass seine Adoptiveltern tödlich verunglückt sind. Es wäre gut, wenn Sie Andreas zu sich nehmen würden. Das wäre die beste Lösung für den Jungen.«

Gesa nickte beklommen. Es erschien ihr unvorstellbar, dass Clemens seine Meinung so schnell geändert haben sollte, dass er sich mit ihr aussöhnen würde. Aber vielleicht wartete er sogar auf eine solche Gelegenheit? Vielleicht bereute er bereits, dass er eine so harte Entscheidung getroffen hatte?

An diese Hoffnung klammerte sich Gesa verzweifelt. Den ganzen Tag war sie mit ihren beiden Jungen beisammen. Andreas blühte zusehends auf und aß brav seinen Haferschleim. Oliver aber ging zu Magda und bat sie, einen Brei zuzubereiten. »Damit es Andreas besser schmeckt«, erklärte er der gutmütigen Sophienluster Köchin.

»Dabei magst du doch überhaupt keinen Haferschleim. Du musst Andreas sehr lieb haben, Oliver.«

»Das habe ich auch, Magda. Und bald fahren wir heim. Vielleicht darf Andreas mit zu uns nach München kommen. Wir haben doch ein großes Haus und einen schönen Garten.«

»Das wäre fein. Dann würde Andreas wieder glücklich werden.« Magda lächelte den Knirps an. »So, dein Haferschleim ist gleich fertig. Lauf’ nur schon hinauf. Ulla wird den Brei in Andreas’ Zimmer bringen.«

Als Gesa an diesem Abend ihren beiden Jungen einen Gutenachtkuss gab, betete sie im Stillen, dass sich alles zum Guten wenden möge.

*

Clemens war völlig durcheinander. Dass Gesa Olivers Aufenthaltsort herausgefunden hatte, warf seine Pläne völlig über den Haufen. Er hatte vorgehabt, mit Gesa nur noch bei Gericht zusammenzukommen. Die Scheidung hatte er schon eingereicht. Jetzt aber war er gezwungen, Gesa schon früher gegenüberzutreten.

Am meisten machte er sich aber um Oliver Sorgen. Nun würde es noch viel schwerer sein, dem Jungen plausibel zu machen, dass seine Mutter nie mehr zu ihnen zurückkommen würde, dass sich seine Eltern scheiden lassen wollten.

Am nächsten Vormittag telefonierte Clemens mit seinem Werk, um seiner neuen Sekretärin einige Direktiven zu geben. Dann sagte er Marianne, dass er zu Oliver fahren wolle. »Ich bringe den Jungen vermutlich mit. Nicht wahr, Sie haben es sich wieder anders überlegt und bleiben hier? Oliver wird Sie sehr brauchen, Marianne.«

»Wenn Oliver nach Hause kommt, bleibe ich natürlich hier. Herr Doktor, ich weiß, dass es mir nicht zusteht, Fragen nach Ihrer Frau zu stellen, aber ich würde so gern wissen, ob die gnädige Frau wiederkommt.«

»Wir lassen uns scheiden«, entgegnete Clemens mit finsterem Gesicht.

»Sie lassen sich scheiden?«, wiederholte Marianne erschüttert. »Das ist sehr traurig für das Kind.«

Clemens erwiderte nichts darauf, sondern sagte nur: »Ich fahre jetzt los. Besorgen Sie auf alle Fälle alles, was Oliver benötigt. Kaufen Sie auch Süßigkeiten und ein hübsches Stofftier.« Er drückte ihr einen größeren Geldschein in die Hand.

Traurig blickte Marianne ihm nach. Es ist schon manchmal ein Kreuz auf der Welt, dachte sie aufseufzend und ging dann in Olivers Zimmer, um alles für die Ankunft des Jungen vorzubereiten.

Clemens fiel es schwer, sich auf das Fahren zu konzentrieren. Er fuhr auch viel zu schnell. Aber er wollte die ganze unleidliche Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Als er von der Autobahn abbog, bewegten ihn die zwiespältigsten Gefühle. Er würde nun, nach so vielen einsamen Wochen, Gesa wiedersehen. Würde er auch die Kraft aufbringen, in seinen Entschlüssen hart zu bleiben? Er durfte nicht nachgeben.

*

Gesa spielte mit Oliver auf dem Kinderspielplatz. Heidi und Vicky waren ebenfalls anwesend. Andreas war mit den anderen Kindern zu den Koppeln gelaufen. Er hatte alle Aufregungen und auch die Magenverstimmung inzwischen gut überstanden.

Oliver hatte plötzlich keine Lust mehr, Sandkuchen zu backen. »Mutti, ich möchte auch zu den Pferden«, erklärte er.

»Ich auch«, schloss sich Heidi seiner Bitte an.

»Dann kommt.« Gesa wischte den Sand von den Kinderhänden und führte die Kinder an der Hand. Seit dem frühen Morgen war sie von einer quälenden Unruhe befallen. Sie wusste, dass Clemens ein Mann von schnellen Entschlüssen war. Vermutlich würde er noch an diesem Tag nach Sophienlust kommen.

Deshalb war Gesa auch nicht einmal überrascht, als Oliver sich plötzlich von ihrer Hand losriss und rief: »Mutti, Mutti, sieh doch! Das ist Vatis Auto!« Ehe sie ihn zurückhalten konnte, lief der Junge davon.

Gesa blieb wie angewurzelt stehen. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Am liebsten hätte sie die Flucht ergriffen. Aber sie wusste, dass sie ihrem Schicksal nicht entrinnen konnte.

Gesa stand noch immer an derselben Stelle, als Clemens mit Oliver an der Hand aus dem Haus kam.

»Mutti, da ist Vati.«

Olivers Augen leuchteten so glücklich, dass Clemens sich grausam vorkam, weil er die Absicht hatte, das Kind von seiner Mutter zu trennen.

»Oliver, ich muss mit Mutti allein sprechen«, erklärte er.

»Komm, Oliver, wir suchen nach den anderen«, forderte Heidi den Jungen auf.

Nur widerstrebend folgte Oliver seiner kleinen Freundin. Dann aber dachte er an Andreas. Ihm wollte er sofort von seinem großen Glück erzählen. Nun war er ganz sicher, dass Andreas für immer mit ihm beisammenbleiben würde.

*

Gesa und Clemens standen einander gegenüber. Beide waren noch zu erregt, um etwas sagen zu können. Fast war Gesa sicher, dass Clemens sich anders besonnen und ihr verziehen hatte. Aber schon wurde sie eines Besseren belehrt.

Kalt sagte Clemens: »Guten Tag, Gesa. Es ist für mich keine angenehme Überraschung, dich hier zu sehen.«

»Guten Tag, Clemens.« Gesas Lippen bebten, als sie hinzufügte: »Warum quälst du mich so?«

»Weil es unverantwortlich ist, dass du nach Oliver gesucht hast.« Während er sie anklagte, konnte er aber nur denken: Wie schön sie ist. Ich liebe sie mehr denn je.

Schwester Regine erschien oben auf der Freitreppe. »Frau Wendt, Sie werden am Telefon verlangt!«, rief sie. »Dr. Hoffmann möchte Sie sprechen.«

Gesa zuckte wie unter einem Schlag zusammen. Dann rief sie zurück: »Bitte, bestellen Sie ihm Grüße und richten Sie ihm aus, dass ich später zurückrufen werde.«

»Gut, Frau Wendt.« Die Kinderschwester verschwand wieder im Haus, und Gesa und Clemens waren von neuem allein.

»Wohl ein neuer Verehrer von dir?«, höhnte Clemens. Seine sentimentale Regung war vorbei. »Wie gesagt, ist es brutal von dir, Oliver in neue seelische Konflikte zu stürzen.«

Gesa riss sich zusammen. Dass Martin ausgerechnet jetzt hatte anrufen müssen, war Pech, dachte sie. Doch zugleich fühlte sie sich bedeutend sicherer in dem Bewusstsein, in dem Arzt einen wirklichen Freund gefunden zu haben.

»Es war Zufall, dass ich hierhergekommen bin. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, als ich Oliver hier fand, aber ich war auch sehr glücklich, ihn endlich wiederzusehen.«

»Zufall? Das nehme ich dir nicht ab.«

»Es war wirklich Zufall, Clemens. Warum bist du nur so hässlich zu mir?« Ihre schönen Augen schwammen in Tränen. »Ich habe erfahren, dass Andreas hier ist.«

»Andreas?«

»Andreas Hasler ist mein Sohn.«

»Andreas ist dein Sohn?« Clemens glaubte, einen wüsten Traum zu haben. »Aber so etwas gibt es doch gar nicht. Die beiden Kindern hängen wie Kletten aneinander und …«

»Ich habe zuerst auch geglaubt, dass es einen solchen Zufall nicht geben kann. Aber es ist wirklich so.« Mit leiser Stimme erzählte sie ihm, wie sie nach Sophienlust gekommen war.

Clemens brauchte lange, um sich zu fassen. Während des Gesprächs waren sie tiefer in den Park hineingegangen und standen nun vor dem Springbrunnen. Die sprudelnde Fontäne schillerte in allen Regenbogenfarben. Aber Gesa hatte keinen Blick dafür. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Füße sie keinen Schritt mehr tragen könnten. Erschöpft sank sie auf die Steinbank.

Clemens blieb stehen. Er blickte auf Gesa herab. »Dann hast du ja Andreas. Oliver aber gehört mir.«

»Clemens, bitte, verzeih mir«, bat sie wieder und blickte zu ihm empor. Tränen lösten sich von ihren Wimpern.

Abrupt drehte er sich um und trat an das Becken des Springbrunnens.

Gesa presste ihre Handflächen erregt gegeneinander, als sie ihn beobachtete. Er stand nun mit dem Rücken zu ihr. In seinem blonden Haar spielte das Sonnenlicht und ließ es rötlich schimmern. Ihr Herz krampfte sich vor Liebe zusammen. Mit jeder Faser ihres Körpers sehnte sie sich nach ihm, wünschte sich, für immer bei ihm bleiben zu können. »Clemens …«

»Ich kann dir nicht verzeihen.« Er wandte sich ihr wieder zu. »Ich lasse mich scheiden. Und ich werde Oliver behalten.«

»Du bist grausam, Clemens. Denk’ doch an das Kind. Wie schön könnte die Zukunft für uns sein. Für uns vier. Oliver hätte einen Bruder.«

»Nein. Oliver ist noch sehr klein. Er wird dich bald vergessen haben. Wärst du nicht hierhergekommen, wäre das schon früher geschehen. Um weitere solche Zufälle zu verhindern, nehme ich Oliver heute mit nach Hause.«

»Clemens, das kannst du ihm nicht antun«, flehte Gesa verzweifelt. »Was du vorhast, ist reiner Egoismus. Das ist keine Liebe«, warf sie ihm vor. »Oliver liebt mich. Ich bin seine Mutter. Er ist noch in dem zarten Alter, in dem er eine Mutter braucht.«

»Das alles ist nur Gerede.« Clemens bohrte seine Hände in die Hosentaschen und ballte sie dort zu Fäusten. Er verstand sich selbst nicht mehr. Gesa hatte ja recht, aber wenn er jetzt nachgab, würde er auch Oliver verlieren.

»Clemens, dann lass mir den Jungen wenigstens so lange, bis er dem Kleinkindalter entwachsen ist.«

»Nein. Ich nehme ihn mit nach München. Ich werde dafür sorgen, dass du ihn vorläufig nicht wiedersiehst. Das ist mein letztes Wort.« Er wandte sich um und ließ sie allein.

Gesa war wie betäubt. Bewegungslos blieb sie sitzen. So bemerkte sie auch Oliver nicht, der plötzlich davonrannte.

Der Kleine hatte es nicht mehr ausgehalten und war zurück zum Herrenhaus gelaufen. Als Schwester Regine ihm gesagt hatte, seine Eltern seien in den Park gegangen, hatte er nach ihnen gesucht. Beim Springbrunnen hatte er sie entdeckt. Er hatte sich wie ein Indianer von hinten an die Bank herangeschlichen und sich zwischen dem Gebüsch versteckt. Mit immer größer werdenden Augen hatte er gelauscht. Er hatte zwar nur einen Teil des Gesprächs verstanden, aber doch so viel, dass er begriffen hatte, dass Mutti und Vati sich trennen wollten, dass er mit seinem Vati ohne Mutti und Andreas nach München fahren sollte.

Aber Oliver wollte hierbleiben. Er wollte sich nicht von Mutti und Andreas trennen. Deshalb wollte er sich verstecken. Würde man ihn nicht finden, würde Vati bestimmt ohne ihn nach München zurückfahren, weil man ihn doch in seinem Werk brauchte, folgerte der Junge und rannte noch schneller.

Clemens sah Olivers weißblonden Haarschopf gerade noch, bevor er zwischen den Bäumen verschwand. Er folgte seinem Sohn und rief: »Oliver! Komm zurück!« Es war für ihn nicht schwer, die Zusammenhänge zu erfassen. Oliver musste einen Teil seines Gesprächs mit Gesa belauscht haben und war nun tiefunglücklich.

Clemens suchte nach Oliver, aber er fand ihn nicht. Dafür lief ihm Andreas in die Arme. »Wo ist Oliver?«, fragte er nach der Begrüßung.

»Ich weiß es nicht. Er scheint fortgelaufen zu sein.«

Es fiel Clemens schwer, seinen Blick von dem Jungen abzuwenden. Nun sah er ihn mit ganz anderen Augen. Er stellte sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Gesa fest, die ihm bisher noch nicht aufgefallen war. Doch dann dachte er wieder an Oliver.

»Bestimmt hat er den Park durch die Hinterpforte verlassen«, mutmaßte Andreas und stob schon wie ein Wirbelwind davon.

Clemens wollte in Sophienlust keinen Staub aufwirbeln. Er war überzeugt, dass er Oliver ohne Hilfe finden würde. Er stieg in sein Auto, um um den Park herumzufahren.

Andreas hatte inzwischen den Park durch die Hinterpforte verlassen. Er lief aufs Geratewohl in den an den Park anschließenden Wald hinein. »Oliver!«, rief er. »Oliver! Ich bin es! Andreas!«

Oliver hörte zwar die Stimme seines Freundes, aber er blieb nicht stehen. In panischer Angst rannte er weiter und weiter. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht. Andreas würde ihn bestimmt verraten, dachte er.

»Oliver! Oliver!« Andreas blieb außer Atem stehen, als er sich der fast unheimlichen Stille ringsum bewusst wurde.

Clemens fuhr währenddessen langsam den Waldweg entlang. Als er Andreas’ Stimme hörte, blieb er stehen und stieg aus. Er eilte in die Richtung, aus der er Andreas’ Ruf gehört hatte.

Andreas war um fast drei Jahre älter als Oliver und konnte demnach auch schneller laufen. Kurz vor dem Waldsee erblickte er den Freund. »Oliver, bleib’ stehen!«, schrie er. »Bitte, bleib’ stehen!«

Andreas wusste, dass an dieser Stelle die Böschung zum See steil abfiel und der See hier sehr tief war. »Oliver! Oliver!«, schrie er wieder, als der Junge plötzlich seinen Blicken entschwunden war. Entsetzt sah er dann, dass Oliver ins Wasser gestürzt war und verzweifelt um sich schlug.

Ohne zu überlegen, sprang Andreas seinem Freund nach. Zwar konnte er schon schwimmen, aber er hatte keine Ahnung, wie er sich in einem solchen Fall benehmen musste. Als er Oliver im letzten Augenblick beim Haarschopf erwischte, klammerte sich der Kleine in seiner Todesangst so fest an ihn, dass er keine Luft mehr bekam. »Oliver, nicht!«, schrie Andreas. Dabei schluckte er Wasser. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen.

Clemens hatte die Rufe gehört. Er kam in letzter Sekunde. Er riss sich das Jackett und die Schuhe vom Leib und sprang ins Wasser.

Andreas kam schnell wieder zu Kräften, als Oliver ihm abgenommen wurde. »Kannst du noch schwimmen?«, fragte Clemens.

»Aber ja. Nicht wahr, Oliver, ist nicht tot?«

»Nein, Andreas. Aber du hast ihm das Leben gerettet.« Clemens stieg mit Oliver auf dem Arm die Böschung hinauf.

Der Kleine erholte sich schnell von seinem Schock. Nachdem er sich übergeben hatte, begann er zu weinen. »Ich will bei meiner Mutti bleiben«, schluchzte er. »Du sollst auch bei uns bleiben. Und Andreas auch.«

Andreas zitterte vor Aufregung.

»Zieh die Sachen aus«, bat Clemens ihn und entkleidete zugleich Oliver. »Die Sonne scheint schön warm. Die Unterhöschen werden bald trocken sein.«

Andreas nickte. Oliver klagte und weinte noch immer. Clemens beruhigte ihn, so gut er konnte, und versicherte dann: »Du sollst bei deiner Mutti bleiben.«

Oliver hörte zu weinen auf. »Darf Andreas auch bei uns bleiben?«, fragte er. Die Nachgiebigkeit seines Vaters wollte er sofort ausnutzen.

Clemens nickte nur. »Kommt«, sagte er dann heiser. »Wir müssen auf dem schnellsten Weg zurück nach Sophienlust.«

Im Dauerlauf liefen sie durch den Wald. Im Wagen lag eine Decke. Clemens wickelte die beiden Jungen darin ein. Auch seine Sachen waren tropfnass. Im Kofferraum fand er eine Badehose, alte Jeans und einen Pulli. Er zog sich rasch um.

Olivers kleine Welt war wieder heil. Er kicherte und sagte: »Du siehst aber lustig aus, Vati.«

Andreas jedoch erklärte: »Mein Vati hat oft solche Sachen getragen, wenn wir einen Ausflug gemacht haben. Wir sind oft zusammen durch den Wald geradelt. Ich …«

Clemens fuhr dem Kind fast burschikos durchs Haar. »Andreas, eines Tages wirst du auch wieder glücklich sein. Ist es nicht schön, dass du nun für immer mit Oliver beisammenbleiben darfst?«

Andreas lächelte ihn unter Tränen an. »Ja, ich bin sehr glücklich, Herr Wendt.«

»Nenn’ mich ruhig Onkel Clemens«, schlug Clemens vor.

Dankbar leuchtete es in den Kinderaugen auf.

Oliver aber war so glücklich, dass er keinen Augenblick stillsitzen konnte. »Nun wirst du endlich mein Bruder«, stellte er fest. »Nicht wahr, Vati, wir dürfen ein zweites Bett in mein Zimmer daheim stellen?«

»Das könnt ihr alles mit Mutti besprechen.« Clemens hörte nur mit halbem Ohr zu. Er war nicht mehr so sicher, dass Gesa ihm jetzt noch verzeihen würde. Er rief sich jedes seiner unbeherrschten harten Worte, die er eben zu ihr gesagt hatte, ins Gedächtnis zurück. Dabei wurde ihm immer unbehaglicher zumute.

*

In Sophienlust hatte niemand etwas von Olivers Flucht bemerkt. Nachträglich erschraken jedoch alle, als Oliver und Andreas davon erzählten. Clemens fügte noch hinzu, dass Andreas Oliver durch sein tapferes Eingreifen gerettet habe.

Trotzdem wusste Gesa, dass sie es nur Clemens zu verdanken hatte, dass ihre beiden Söhne ihr erhalten geblieben waren. Ohne seine Hilfe wären beide sicherlich ertrunken.

»Mutti, stell’ dir vor, Vati hat erlaubt, dass Andreas zu uns nach München kommt. Er darf ihn auch Onkel Clemens nennen. Nicht wahr, du bist dann für ihn Tante Gesa? Vielleicht könnte er aber auch zu dir Mutti sagen«, meinte Oliver nachdenklich.

»Später vielleicht, mein Junge«, erwiderte sie ausweichend.

Schwester Regine kam und nahm sich der beiden Jungen an, die umgekleidet werden mussten. Das Hausmädchen Ulla versprach Clemens, dass er seine Hose und sein Hemd in ungefähr zwei Stunden gewaschen und gebügelt zurückbekommen würde.

Während Oliver und Andreas von den anderen Kindern umringt und mit Fragen über ihr Erlebnis am Waldsee bestürmt wurden, hielt es Gesa nicht mehr im Haus aus. Sie musste für ein Weilchen allein sein, um mit dem Chaos ihrer Gefühle fertig zu werden. Als sie die Laube erblickte, trat sie ein, setzte sich auf die Holzbank und lehnte den Kopf an die Wand. Das Jubilieren der Vögel erreichte kaum ihr Bewusstsein. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie tupfte sie immer wieder mit dem Taschentuch ab. Als sie Schritte hörte, hob sie lauschend den Kopf. Und dann sah sie Clemens. Zögernd näherte er sich der Laube. Dabei sah er sich suchend um. Dann ging es wie ein Aufatmen durch seinen Körper.

»Ich habe dich überall gesucht«, sagte er und betrat die Laube.

»Du … hast mich gesucht?« Gesa fuhr noch einmal mit dem Taschentuch über ihre Augen und sah ihn dann an. »Clemens, ohne dich wären beide Kinder ertrunken. Wenn ich daran denke, wird mir heiß und kalt. Ich glaube, ich wäre wahnsinnig geworden, wenn …«

»Bitte, Gesa, quäle dich nicht mit solchen Gedanken. Die beiden sind mit dem Schrecken davongekommen. Sie haben ihren Schock längst überwunden und fühlen sich als Helden des Tages. Ich …«

»Warum hast du Oliver ein solches Versprechen gegeben?«, fiel sie ihm heftig ins Wort. »Du kannst es doch nicht halten.«

»Warum kann ich es nicht halten?« Er setzte sich neben sie auf die Bank und legte seinen Arm um ihre Schultern.

Diese so lang entbehrte und doch so vertraute Geste ließ ihr Blut schneller fließen. »Clemens, warum tust du das?«, fragte sie kaum verständlich. Dabei wünschte sie, dass die Zeit stillstehen möge.

»Weil ich dich liebe, Gesa. Weil ich keine Minute aufgehört habe, dich zu lieben. Bitte, verzeih mir«, bat er erregt. »Ich habe mich wie ein Narr benommen. Nie wieder hätte ich froh werden können, wenn Oliver etwas zugestoßen wäre, weil es meine Schuld gewesen wäre. Oliver hat einen Teil unseres Gesprächs belauscht und ist deshalb fortgelaufen. Er wollte sich verstecken. In diesen entsetzlichen Minuten, als ich ihn verzweifelt suchte, ist mir klar geworden, dass kein Mensch das Recht hat, einen anderen zu verurteilen. Wenn ich jetzt über meine Reaktion nachdenke, weiß ich, dass nur meine maßlose Eifersucht mich zu allem getrieben hat. Verzeih mir, Gesa!« Er zog sie an sich.

Gesa war mit ihren Nerven am Ende und unfähig, Clemens eine Antwort zu geben. Ihre Zunge schien plötzlich gelähmt zu sein.

Clemens zog seinen Arm zurück und erhob sich, als Gesa schwieg. »Ich kann sogar verstehen, dass du jetzt nichts mehr von mir wissen willst«, meinte er tonlos. »Ich gehe stillschweigend aus deinem Leben, Gesa. Oliver soll bei dir bleiben. Leb’ wohl.« Er wandte sich zum Gehen.

Endlich erwachte Gesa aus ihrer Erstarrung. »Clemens!«, rief sie. »Clemens, komm doch zurück! Du hast mich falsch verstanden. Ich habe nur vor Glück kein Wort über die Lippen gebracht.« Sie stand auf und streckte ihm flehend die Hände entgegen.

»Gesa!«, rief er und hielt sie dann in den Armen. Er küsste sie mit innigem Verlangen. »Gesa«, stöhnte er. »Geliebte kleine Gesa.«

Gesa erwiderte seine Küsse. Das Glück trieb ihr die Tränen in die Augen. »Clemens, ich liebe dich. Ich war so unglücklich ohne dich«, gestand sie leise schluchzend.

»Darum musst du doch nicht weinen.« Er sah ihr tief in die Augen. Dann fuhr er ihr zärtlich mit dem Zeigefinger über die Lider. »Das muss aufhören«, sagte er fröhlich.

»Was?«

»Dass deine Lider immerzu gerötet sind. Du weißt doch, dass deine Augen beim Weinen immer rot werden und anschwellen.«

»Clemens, du bist mir einer.« Zum ersten Mal seit Wochen konnte Gesa wieder richtig lachen. »Deinetwegen habe ich so viel weinen müssen, und nun beklagst du dich über meine geröteten Augen.«

»Ich werde dafür sorgen, dass dir das Weinen vergeht.« Er setzte sich wieder auf die Bank und zog sie auf seinen Schoß.

Gesa legte ihre Arme um seinen Nacken und schmiegte ihr Gesicht an seine Wange. »Ist es wahr, dass Andreas bei uns bleiben darf? Für immer?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Ich habe es doch den beiden Jungen versprochen. Andreas ist dein Sohn und jetzt auch mein Sohn, Gesa.«

»Clemens, ich danke dir!«

»Da gibt es noch etwas zwischen uns zu regeln.«

»Was?« Erstaunt sah sie ihn an.

»Wer ist dieser Dr. Hoffmann?«

»Martin Hoffmann? Er ist Kurarzt in Bad Kissingen. Als ich so verzweifelt war, hat er mich getröstet.«

»Getröstet? Wie getröstet?« Er drückte sie so fest an sich, dass sie kaum Luft bekam.

»Ach, Clemens, bisher hatte ich keine Ahnung, dass du die Allüren eines Othellos hast. Er ist ein sehr gütiger Mensch und hat mir sehr geholfen, als ich so allein war.«

»Du warst allein, weil ich dich allein gelassen hatte. Wie sieht er aus?«

»Wer? Dr. Martin Hoffmann? Ich glaube, er ist ein gut aussehender Mann.« Dass Clemens so eifersüchtig war, war etwas ganz Neues für sie. Plötzlich dachte sie an seine Sekretärin Renate Vogt. Aber sie unterdrückte eine Frage nach ihr. Später, wenn sie wieder daheim sein würden, würde sie vorsichtige Fragen stellen.

Es war, als erriete Clemens ihre Gedanken. »Ich habe eine neue Sekretärin«, berichtete er. »Fräulein Vogt arbeitet jetzt in einer deutschen Firma in Südamerika.«

Gesa erwiderte nichts darauf. Sie sah Clemens nur an. Eine Ahnung stieg in ihr hoch, dass die Beziehungen zwischen ihm und Fräulein Vogt nicht ganz harmlos gewesen waren, aber sie hielt es für klüger, keine Fragen zu stellen. An seinem kaum merklichen Aufatmen erkannte sie, dass sie richtig handelte.

»Clemens, ich möchte Andreas aber noch nicht sagen, dass ich seine Mutter bin. Ich möchte ihm Zeit lassen, sich an uns zu gewöhnen. Nicht wahr, das ist besser so?«, wechselte sie den Gesprächsstoff.

»Ja, Gesa, das halte ich auch für richtig.« Wieder küsste er sie.

*

Oliver und Andreas waren mit den übrigen Kindern in den Park gelaufen. Plötzlich legte Nick den Zeigefinger an die Lippen und gebot allen, leise umzukehren. »Die Laube ist besetzt«, flüsterte er Pünktchen zu. »Die Wendts haben sich wieder ausgesöhnt.«

Oliver war neugierig weitergelaufen. Mit großen glücklichen Augen beobachtete er seine Eltern, die sich noch immer selbstvergessen küssten.

Gesa erblickte ihn zuerst. Sie löste sich aus Clemens’ Armen und streckte ihrem Sohn die Hand entgegen. »Komm her, mein Junge«, bat sie. »Du darfst dir heute etwas Besonderes wünschen.«

»Wirklich? Nicht wahr, ihr habt euch jetzt wieder ganz lieb?`«

»Das haben wir, mein Sohn.« Clemens lachte ihn an. »Hol’ auch Andreas her. Er gehört doch ab heute zu uns. Auch er darf sich etwas wünschen.«

»Andreas! Andreas, wo bist du?«, rief Oliver selig.

Andreas kam sofort angelaufen. »Was ist los, Oliver?«

»Vati und Mutti haben gesagt, wir beide dürfen uns etwas ganz Schönes wünschen.«

»Was wünschen?« Andreas’ runde Stirn legte sich in nachdenkliche Falten. »Ich möchte einmal so viel Eis essen dürfen, wie ich will«, sagte er dann.

»Das sollst du.« Clemens fuhr ihm über das aschblonde Haar.

»Ich möchte das auch, Vati. Ja, und dann möchte ich genauso angezogen sein wie Andreas, damit alle glauben, wir seien Brüder.«

»Das möchte ich auch«, erklärte Andreas.

»Dann wird uns nichts weiter übrig bleiben, als in die nächste große Stadt zu fahren, um Kleider für euch zu kaufen und anschließend in eine Eisdiele zu gehen.« Clemens blickte auf seine Armbanduhr. »Heute ist es aber dazu schon zu spät. Wir fahren gleich morgen Vormittag nach …«

»… Maibach!«, rief Oliver. »Da gibt es eine ganz große Eisdiele.«

»Kannst du denn so lange von deinem Werk fortbleiben, Clemens?«

»Ich mache ganz einfach einige Tage Urlaub. Wir werden in ein hübsches Hotel ziehen und …«

»Vati, warum denn? Ihr könnt doch hier schlafen. Sophienlust ist so groß, dass wir alle Platz haben«, konstatierte Oliver.

»Frau Rennert wird sich schön bedanken über die Mehrarbeit«, bedachte Clemens.

»Tante Ma ist sehr lieb. Außerdem braucht sie ja nicht selbst zu arbeiten. Dafür gibt es hier doch die Ulla, die Lena und die Schwester Regine. Magda kocht ja nur«, erzählte Andreas.

Frau Rennert und Denise luden Clemens sofort ein, über Nacht in Sophienlust zu bleiben. Er wurde kurzerhand zu seiner Frau ins Fremdenzimmer einquartiert.

Als Clemens mit Gesa allein war, meinte er, dass er erst einmal seinen Anwalt anrufen müsse, um ihn zu bitten, die Scheidung rückgängig zu machen. »Damit wir nicht in ein falsches Licht kommen und als unmoralisch gelten«, erklärte er lachend. »Unsere beiden Söhne sollen ihr ganzes Leben lang stolz auf uns sein.«

»Unsere beiden Söhne«, wiederholte Gesa glücklich. »Wie schön das klingt.«

»Ja, unsere beiden Söhne. Wir sollten eigentlich dafür sorgen, dass sie ein Schwesterchen bekommen. Bist du damit einverstanden?«

»Und ob.«

»Gesa, ich liebe dich.« Er riss sie leidenschaftlich an sich.

Mit einem lieben Lächeln befreite sie sich aus seiner stürmischen Umarmung und sagte: »Ein bisschen möchte ich aber damit noch warten. Zumindest bis heute Abend.«

Er ließ sie los und lachte herzlich auf. »Du hast dich um keinen Deut geändert, Gesa.«

»Du auch nicht, Clemens«, konterte sie.

Etwas später telefonierte Clemens zuerst mit seinem Anwalt, dann mit seinem Werk.

Gesa rief Marianne an, um ihr mitzuteilen, dass sie Anfang nächster Woche heimkommen würden. Als das treue Mädchen erfuhr, dass die Wendts noch einen Jungen mitbringen würden, erwiderte sie fröhlich: »Wie schön, gnädige Frau. Endlich kommt wieder Leben ins Haus. Ich stelle ein zweites Bett in Olivers Zimmer.«

»Nicht wahr, du hast nichts dagegen, dass ich noch Martin anrufe?«, fragte Gesa danach ihren Mann mit einem verschmitzten Lächeln.

»Ausnahmsweise gestatte ich das«, erwiderte er. »Aber lass das nur nicht zur Gewohnheit werden. Ich warne dich.« Er grinste übers ganze Gesicht. »Es könnte sonst passieren, dass der gute Doktor bald seinen letzten Atemzug tut.«

Als Clemens das Zimmer verlassen wollte, hielt Gesa ihn zurück. »Was ich Martin zu sagen habe, ist kein Geheimnis, Clemens. Du kannst jedes Wort hören.«

Sie wählte die Telefonnummer seiner Praxis, weil sie hoffte, ihn um diese Tageszeit dort zu erreichen.

Martin war sofort am Apparat. Gesa erzählte ihm, was vorgefallen war. »Und wenn mein Mann und ich mit den Kindern in die Nähe von Kissingen kommen, besuchen wir Sie, Martin«, fügte sie hinzu.

»Das würde mich sehr freuen, Gesa«, antwortete er.

Danach stellte Gesa noch eine Verbindung mit Ulla her. Ihre Freundin sagte nur: »Ich habe Clemens doch richtig eingeschätzt. In den nächsten Tagen muss ich nach München. Ich werde dich dann anrufen.«

»Fein, Ulla. Dann können wir über alles sprechen. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen.«

*

Am nächsten Vormittag fuhr das glückliche Paar mit den beiden Jungen nach Maibach. In einem Kindermodegeschäft kauften sie zwei hellblaue Hemdblusen und lange Trägerhosen aus einem schwarzweißen Pepitastoff. Da die Sachen ohne Änderung passten, behielten die Kinder sie sogleich an. Stolz verließen sie zwischen Gesa und Clemens das Geschäft.

Oliver sah sich nach allen Seiten um. Als er bemerkte, dass viele der vor­übergehenden Leute sie anblickten, strahlte er übers ganze Gesicht. »Siehst du, Mutti, alle glauben nun, dass wir wirklich Brüder sind. Ist das nicht schön, Andreas?«

»Ja, Oliver.« Auch Andreas lachte. »Nicht wahr, nun gehen wir in die Eisdiele?« Im Vorgeschmack des zu erwartetenden Genusses fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.

»Dann nichts wie los!«, rief Clemens. Er hakte sich bei seiner Frau unter. Lächelnd blickte er auf die beiden Kinder vor ihnen, die Hand in Hand nebeneinander hergingen. »Vielleicht bekommen die beiden in neun Monaten eine Schwester«, raunte er Gesa zu.

»Und wenn es ein Junge wird?« Verschmitzt blinzelte sie ihn an.

»Macht auch nichts. Aber ein Mädchen möchte ich unbedingt haben.« Er zog sie für einen Augenblick an sich.

»Oje, da kommt noch eine Menge auf mich zu.« Sie kniff ihn zärtlich ins Ohrläppchen.

»Au!«, schrie er lachend.

»Was ist los?«, fragte Oliver und drehte sich um.

»Nichts, mein Schatz.« Gesa zwinkerte Clemens zu.

»Da ist schon die Eisdiele!«, rief Andreas.

Etwas später saßen sie an einem der Tische. Eine freundliche Kellnerin brachte sehr schnell vier große Eisbecher.

Oliver und Andreas machten sich sogleich daran, die Becher zu leeren. Gesa und Clemens aber hielten sich verstohlen an den Händen und sahen zu, wie ihre beiden Söhne das Eis mit Genuss vertilgten.

»Mutti, ich möchte bald heimfahren«, erklärte Oliver zwischendurch. »Damit ich Andreas unser Haus zeigen kann.«

»Wir fahren am Sonntag los, mein Sohn.« Clemens ließ endlich Gesas Hand los und machte sich nun auch über sein Eis her.

Gesa aß dagegen kaum von ihrem Eis. Das Glück schnürte ihr den Magen zu. Auch sie wäre am liebsten sofort nach München zurückgefahren, aber sie sah ein, dass die Heimreise nicht überstürzt werden konnte. Die beiden Jungen mussten Zeit haben, sich von Sophienlust zu verabschieden. Und Clemens brauchte ein paar Tage Entspannung.

Gesa schob ihren Eisbecher ihren Söhnen zu. »Wie ich euch kenne, werdet ihr das Eis auch noch aufessen können.«

»O ja, Mutti, das können wir.« Oliver fühlte sich als Mittelpunkt des Tages. Schließlich kannte er München schon sehr viel länger als Andreas, der ihm erzählt hatte, dass er nur ein einziges Mal mit seinen Eltern dort gewesen war.

»Mutti, nicht wahr, wir gehen in München auch in den Zoologischen Garten?«

»Das tun wir, Oliver. Aber zuerst statten wir noch dem Tierheim Waldi & Co. einen Besuch ab. Das habt ihr euch doch gewünscht.«

»Fein. Andreas atmete glücklich auf.

Als sie die Eisdiele wieder verließen, schmiegte sich Gesa an ihren Mann und sagte leise: »Es ist alles wieder so wie früher, als wir so glücklich waren, und trotzdem ganz anders. Vielleicht deshalb, weil wir jetzt noch viel glücklicher sind.«

»Erst dann, wenn man glaubt, sein Glück verloren zu haben, weiß man es wirklich zu schätzen, Gesa.« Clemens zog Gesa kurz an sich. Dann folgten die beiden ihren Söhnen, die schon vorausgelaufen waren.

Sophienlust Paket 3 – Familienroman

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