Читать книгу Der mondhelle Pfad - Petra Wagner - Страница 13

Sein und Schein

Оглавление

Am nächsten Tag schlenderte Loranthus mit Silvanus und Ethmanja durch das Lager. Er war überwältigt, was er alle paar Schritte auch kund tat − besonders, wenn er einer Horde spielender Kinder aus dem Weg springen musste, um nicht umgerannt zu werden. Bei der ersten Begegnung hätte er dabei fast ein Zelt eingerissen und bekam doch tatsächlich sofort ein Honigbrot gereicht, weil er es nicht geschafft hatte. Strahlend nahm er seine Abfindung entgegen und machte sich mit vielen Dankesworten auf den Rückzug. Silvanus durfte auch einmal abbeißen, das meiste bekam allerdings Ethmanja. Loranthus konnte ihren bettelnden Hundeaugen einfach nicht widerstehen und außerdem war er noch vom gestrigen Rundgang voll bis Oberkante Unterlippe.

Es dauerte jedoch keine halbe Wegstunde, da war alles abgesackt und sein Magen knurrte laut und vernehmlich, er solle beim nächsten Schwung Kinder was zu Essen ergattern, sonst wäre es mit der Ruhe vorbei.

Die passende Gelegenheit bot sich recht schnell, leider ging er da gerade an einer Brombeerhecke vorbei.

Das hatte allerdings auch seine Vorteile, nun lernte er endlich den Dreiecksprung. Den kannte er bisher nur vom Hörensagen, im Gegensatz zu Honigbroten. Zu seiner eigenen Verwunderung kollidierte er weder mit Dornen, noch mit Kindern − er war eben ein Naturtalent.

Bei den Halbstarken funktionierten die Ausweichmanöver schon gesitteter und vor allem gefahrloser. Sie grüßten ordentlich und warfen ihnen interessierte Blicke zu, während die Maiden nebenbei kicherten und die jungen Männer abschätzend ihre Gestalten musterten.

Als Loranthus sich dessen bewusst wurde, drückte er die Brust raus, wobei sich sein Bauch automatisch straffte, und gaffte genauso zurück. Solche Begegnungen hatten allerdings auch ihre Tücken, denn er musste ja noch Luft holen und dann stimmten die Proportionen irgendwie nicht mehr.

Erwachsene Männer und Frauen bedachte er daher mit einem erwachsenen Kopfnicken ohne Extras, und wenn sie jemanden trafen, den sie kannten, brauchte er sich gar keine Mühe mehr geben, da lag nämlich der Wert auf einem kurzen Schwätzchen.

Sie kamen also in etwa so schnell voran wie eine Schnecke mit Atemnot, Ethmanja gähnte immerzu.

Etwa sechstausend Menschen waren zusammengekommen. Solche Massen brauchten natürlich auch massenhaft Platz, aber es herrschte trotzdem eine gewisse Ordnung.

Das Viehzeug weidete auf weiträumigen Wiesen, die von Beerensträuchern begrenzt wurden. Die Pferde hatten Weiden gleich beim Lager der Könige. Schlachtvieh und das Vieh zum Tausch wurde abseits gehalten, damit es keine Verwechselungen gab. Milchkühe standen auf den nächstgelegenen Weiden, genau wie die Gehege der Hühner. Das Federvieh wurde sogar durch ein dichtes Weidengeflecht abgeschirmt, als Schutz vor Raubvögeln. Für zusätzliches Futter türmten sich überall noch Heuhaufen, die auf der Festwiese und im Stadion abgemäht worden waren.

Aber nicht nur das Vieh, sondern auch die Menschen hatten für jedes ihrer Bedürfnisse gesonderte Plätze.

Wenn man zum Abort wollte, musste man ein Stück die Werra entlang laufen. Dort gab es für jeden Lagerabschnitt überdachte Senkgruben mit einem Holzgestell darüber, eine simple Konstruktion, aber es tat seinen Zweck. Ab und zu würde dort die Asche aus den Feuerstellen darüber gestreut werden. Das neutralisierte den Geruch.

Ins Zelt ging man eigentlich nur, wenn man sich hinlegen wollte. Das gesellige Beisammensein spielte sich draußen ab, anfallende Arbeiten wurden gemeinsam erledigt.

Gegessen wurde auf dem riesigen Festplatz zwischen See und Stadion. Dort reihten sich auch die Backöfen, Feuerstellen mit Dreifüßen und Kupferkesseln darüber und allem anderen, was man für die Verpflegung brauchte, sogar eine Schmiede mit richtigem Blasebalg, falls mal jemandem sein Essmesser abbrach. Jeder Bereich wurde durch Sträucher voneinander abgegrenzt, die voller Johannisbeeren, Stachelbeeren und Brombeeren hingen.

Aus jedem Königreich waren ein Dutzend junge Leute ausgelost worden, die hier tagelang Gras gemäht, Holz gemacht, Senkgruben für den Abort ausgehoben, Backöfen neu gebaut oder repariert und Gatter in Stand gesetzt hatten. Natürlich hatten sie auch die Wettkampfstätte hergerichtet und auf der Rennbahn Unmengen an Erde glattgezogen, um Stolperstellen einzuebnen.

Loranthus war etwas neidisch gewesen, dass er nicht als Helfer ausgewählt worden war, tröstete sich jedoch damit, dass keiner aus seiner Gastfamilie früher hier war als er.

Dafür begutachtete er nun wie ein Oberaufseher höchst akribisch das Resultat anderer Leute Arbeit, doch wo er auch hinsah, machte alles einen ordentlichen und gepflegten Eindruck.

Sogar die Zelte waren hinter den Apfelbäumen in einer Linie zur Handelsstraße ausgerichtet, als wären sie zur Parade angetreten. Dieser Vergleich drängte sich ihm förmlich auf.

Es gab kleine Zelte, große Zelte, breite Zelte, lange Zelte, meist mit zwei Spitzen, manchmal auch mit einer im Zentrum und vier, fünf, sechs, sieben oder vielleicht auch acht niederen Spitzen − da konnte man sich schon mal verzählen − und natürlich gab es auch welche in einfacher Kegelform. Aber wie sie auch gestaltet waren, immer war der Zelteingang zurückgeschlagen. Als Einladung einzutreten?

Da er nicht zu neugierig erscheinen wollte, entschied er sich für einen langen Hals.

Mit Kennerblick stellte er fest, dass bei vielen die Zeltstützen Schnitzereien aufwiesen und die Leinwände sogar mit Ornamenten oder Bildern bemalt waren, eines schöner und auffälliger als das andere. Schmucklose Holzstützen und einfarbige Leinwände gab es natürlich auch. Diese erstrahlten allerdings auf Hochglanz poliert, beziehungsweise in allen möglichen Farbgebungen.

Der Hirschclan konnte, zum Beispiel, mit so einem herrlich satten Grün aufwarten, welches jeden Vorbeieilenden automatisch in seinen Bann zog. In diesem grünen Bereich gab es noch eine Besonderheit, sie hatten nämlich ein Arzt-Zelt, selbstverständlich auch in Grün. König Gort hatte es Viviane geschenkt und höchst persönlich mit aufgestellt. Es war das größte Zelt im gesamten Lagerabschnitt und hatte exakt zwei Dutzend Stützstreben, Loranthus hatte nachgezählt. König Gort hatte ein größeres, aber nur unwesentlich viel.

Im Lagerabschnitt der Könige hätte jeder Juwelenhändler seine wahre Freude gehabt. Hier prunkten die Zelte ganz und gar noch mit eingelassenen Edelsteinen im Schnitzwerk der Stützstreben und wehenden Standarten in Gold und Silber am Eingang.

Der gesamte Bereich schillerte schon von Weitem in der Sonne und Loranthus brummte zufrieden, als er das grüne Zelt von König Gort und den Hirsch auf der Standarte silbern schimmern sah. Gegen die anderen wirkte es eher schlicht, doch für das Auge war es eine Wohltat. Und so blieben auch hier viele Leute stehen und hefteten ihre Blicke darauf. Je länger man hinsah, desto besser erkannte man ein filigranes Muster aus Silberfäden in der Zeltleinwand, die ein Rudel Hirsche und Jagdszenen darstellten. Wer im Hirschclan konnte so kunstvoll weben? Loranthus seufzte tief, drehte sich hierhin und dorthin und überlegte.

Es war eine Frage des Prestige, eindeutig. Alle Königreiche kamen zu Lugnasad zusammen und zeigten sich von ihrer besten Seite. Wenn sie vor jedem Clan ein Schild aufgestellt hätten ‚Wir sind wohlhabend, einflussreich und imponierend‘, hätte es nie im Leben denselben Effekt gehabt. Die wehenden Standarten vor den Zelten vermittelten auch noch den Eindruck eines skurrilen Tierasyls. Die normalen Bilder von Löwe, Hirsch, Bär, Falke, Gans, Hase, Hahn, Huhn, Hund, Luchs, Pferd, Stier, Taube, Widder und Zaunkönig flatterten zusammen mit den abnormalen Varianten als wäre dies hier der Treffpunkt, um sich zu kreuzen und noch ein paar weitere fantastische Gattungen hervor zu bringen, Hauptsache alles strahlte und funkelte in den sattesten Farben; je glamouröser, desto besser.

Diese Hermunduren protzten doch wirklich mit allem, was sie hatten.

Natürlich hatte sich auch jeder mit Schmuck behängt.

Fibeln, Broschen, Ketten, Armreifen, Handreifen, Fußreifen, Fingerringe oder Ohrringe in Kupfer, Bronze, Messing, Silber, Gold, Holz, Horn oder Glas mit Perlmutt, Bernstein, Koralle, Emaille oder Edelsteinen im Farbspektrum von Kristall bis Onyx … Man musste richtig blinzeln, um überhaupt noch ihre verschiedenen Torques zu erkennen, so sehr gleißte es in der Sonne.

Eine Frau schleppte sogar einen kleinen Hund mit einem breiten Halsband aus aufwendig verflochtenen Kupfersträngen mit sich herum. Vor lauter Windungen, Schlingen und Knoten war der Hund kaum noch zu erkennen, da musste man schon genauer hinsehen, was Loranthus auch tat, weil sie genau auf ihn zukam.

Ihr Blick war der eines Milans, der einen frei laufenden Hahn gesichtet hatte. Loranthus konzentrierte sich auf ihren Hals, um die Gefahr besser einzuschätzen und gab seinem eingezogenen Kopf gleich Entwarnung.

Sie hatte einen besonders dicken Torques, aber nur aus drei gedrehten Kupfersträngen. Ihre Augen huschten mehrmals an ihm hoch und runter, bis sie sicher gehen konnte, dass er weder Schmuck noch Torques vorzuweisen hatte. Da stolzierte sie an ihm vorbei, als hätte sie einen Stock verschluckt und kraulte den Hund oder das Halsband, was ja dasselbe war.

Ethmanja gähnte ihr gelangweilt hinterher, doch Loranthus war über ihr Gehabe eher belustigt. Er nickte sogar anerkennend, schließlich war sie die erste, die einen Stelzgang perfekt imitieren konnte und das wohlgemerkt ganz ohne Hilfsmittel. Daher kam er lautstark zu der Erkenntnis, dass sie in einem früheren Leben ein Storch gewesen sein musste. In diesem Leben war sie jedenfalls das Weib eines Händlers, erfuhr er von Silvanus in der gleichen Lautstärke.

Prompt sah er ihr lange nach und rümpfte die Nase.

Ihre aufgetürmten roten Haare sollten wohl römisch oder griechisch wirken und waren garantiert gefärbt, wahrscheinlich mit derselben Farbe wie ihr Mund und ihre Wangen. Ihr dunkelrosa Kleid war auch nichts Besonderes. Da gab es viel schönere in leuchtenden Farben, mit komplizierten Brettchenwebkanten am Saum und mit Blumen bestickt … Sogar er trug ein kurzärmeliges Hemd, bestickt mit Misteln. Flora hatte es ihm genäht. Zum einen schmeichelte es seiner schlanken Figur, zum anderen passte es so schön zu seinem Namen. Der bedeutete ja schließlich auch Mistel.

Sichtlich mit sich selbst zufrieden, schlenderte Loranthus an den Backöfen vorbei, erschrak und duckte sich hinter Silvanus.

Da kam dieser furchteinflößende König Donar mit noch einem König, den er nicht kannte, genau auf sie zu.

König Donar war wieder an jeder freien Stelle mit Schmuck behängt, die goldenen Bartperlen schaukelten bei jedem Schritt und machten aus seinem Wuschelbart einen roten Sternenhimmel. Vielleicht bildete sich Loranthus das nur ein, aber eine der Bartperlen war gar nicht golden, sondern aus roter Koralle und die goldenen Perlen drum herum bildeten das Sternbild des Skorpion. Leider oder zum Glück tat ihm König Donar nicht den Gefallen und blieb stehen.

Der König, der ihn begleitete, trug seinen braunen Bart zu zwei langen Zöpfen geflochten, was keine Sterndeuterei zuließ, aber dafür hübsch ordentlich aussah. Am Ende eines jeden Zipfels hing eine lange Perle aus Horn mit eingelassenen Kristallen, wie Regentropfen, die an einem verharzten Baumstamm funkelten.

Als Loranthus seinen Blick davon losgerissen hatte, bemerkte er daneben noch einen jungen Mann mit welligen, rotbraunen Haaren bis hinab zu den Hüften. Diese Mähne, sein Gesicht und besonders die Augenpartie erinnerte ihn irgendwie an Viviane. Er hatte sogar die gleiche Gestalt und den gleichen geschmeidigen Gang wie sie.

Loranthus konnte sich nie so recht entscheiden, ob Viviane nun eher wie ein Reh oder wie eine Löwin ging, denn anmutig und effizient passte ja bei beiden, tödlich nur zu letzterem. Bei diesem jungen Mann war es ebenso, mit leichter Tendenz zum Löwen wegen des Bartwuchses.

Wie die Könige trug auch er einen goldenen Torques, aber ansonsten nur Schmuck aus Holz, der jedoch derart filigran gefertigt war, dass Loranthus fasziniert die Augen aufriss. Auf den breiten Armreifen konnte er Jagdszenen erkennen und seine einzige Bartperle hatte die Form eines Baumes, wobei winzige Smaragde die Blätter darstellten. Es war eindeutig eine Buche.

Plötzlich huschte Loranthus die Erkenntnis wie ein heller Blitz durch den Kopf: Der andere König war Eburix und der junge Mann musste sein Sohn sein.

Bei allen dreien blitzten die Schwertscheiden, als würden sie den ganzen Tag nichts anderes tun, als sie zu polieren. Jeder hatten je zwei Hörner in den Gürtelschlaufen stecken und Loranthus fragte sich gerade, warum nicht eines zum Trinken reichte, da sah er noch eine Doppelaxt bei jedem an der Seite.

Doppelt und dreifach, das war zu viel.

Im Affekt packte er Silvanus und wollte ihn weg zerren, doch der zog zurück, so dass er eine unfreiwillige Verbeugung machte. Auch Silvanus verneigte sich tief, aber gewollt, und schon waren die drei an ihnen vorbei. Sie riefen sogar ein dreistimmiges „Seid gegrüßt, Silvanus und Loranthus!“, womit Loranthus absolut nicht gerechnet hätte.

Er war darüber so verdutzt, dass Silvanus ihnen alleine hinterher rief: „Auch wir grüßen euch, Donarrix, Eburix und Hermann.“

Loranthus lugte ihnen hinterher und hätte schwören können, dass auf den Äxten die Todesgöttin in Dreiergestalt eingraviert war. Jede hatte einen Raben auf der Schulter sitzen und hob ein Signalhorn an den Mund.

„Nichts wie weg hier“, murmelte er, als die drei außer Hörweite waren und wollte sich über den Weg in Sicherheit bringen. Doch er musste warten und sich schon wieder verneigen, denn jetzt kreuzte Aodhrix seine Bahn.

Auch dieser König hatte seinen dunkelbraunen Bart zu zwei langen Zöpfen geflochten und die Zipfel mit zwei riesigen Diamanten verziert. Loranthus musste richtig die Augen zusammen kneifen, so sehr funkelten sie im Takt seiner schnellen Schritte. Dazu bildeten Bart und Perlen noch einen interessanten Kontrast zu den seltsamerweise kupferroten Haaren, die ihm offen vom Scheitel bis zu den Hüften reichten und beim Gehen anmutig nach hinten wehten.

‚Charismatisch‘ war das einzige Wort, das Loranthus zur Erscheinung von Aodhrix wirklich passend erschien, inklusive ‚intelligent‘ und ‚durchsetzungsstark‘, was seine Augenbrauen und die Augen verrieten, die genauso dunkel wie der Bart waren; auch seine Nase machte einen geradlinigen Eindruck.

Summa summarum hatte Aodhrix eine total autoritäre Ausstrahlung und als ob das nicht schon genug wäre, besaß er noch etwas ganz Außergewöhnliches: Er hatte einen besonders langen knorrigen Stab in der Hand, um den sich eine Schlange mit einer Zeichnung aus Runen wand.

Natürlich waren Stock und Schlange nur geschnitzt, die Runen ins Holz eingebrannt, doch Loranthus fragte sich, ob er ihn zum Laufen brauchte, zum Lesen oder ob er anderen Zwecken diente, denn hinter ihm ging eine ganze Reihe Kinder, der Größe nach geordnet, im Gänsemarsch. Sie sahen sich zwar aufmerksam nach allen Seiten um, aber keiner sagte ein Wort.

Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen.

Alle trugen einen geschlossenen goldenen Torques um den Hals. Nur beim letzten Kind war es anders, der Kleine hätte auch noch mit den Schultern durchgepasst.

Loranthus nickte der Gruppe hinterher.

„Ich wusste gar nicht, dass es auch ruhige Kinder gibt?“

„Keine Sorge! Nur, weil es Königskinder sind, können sie genauso toben und schreien wie die anderen.“

„Ist mir irgendwie entgangen“, konsternierte Loranthus und steckte sich den Finger prüfend ins Ohr.

Silvanus lachte.

„Sie wissen natürlich, wie sie sich zu benehmen haben, wenn sie mit dem ranghöchsten Druiden des gesamten Großkönigreiches unterwegs sind.“

„Aha! Ich verstehe. Und ich dachte schon, es liegt an dem großen Stock, den Aodhrix so kraftvoll bei jedem Schritt niedersausen lässt.“

Silvanus prustete los.

„Völlig verkehrt! Das ist das Statussymbol für den höchsten Druiden! Die Schlange, die sich schützend um den Baum des Lebens windet. Wenn du ihn mal richtig zu Gesicht bekommst, solltest du dir die Runen ansehen. Die Schlange ist über und über damit verziert und jede hat ihre eigene heilige Bedeutung, genau wie die Schlange und der Stock selbst. Aodhrix braucht keinen Knüppel zum Draufhauen. Es ist eine große Ehre, hinter dem obersten Druiden der Hermunduren zu gehen. Das weiß jedes Kind.“

„Lernen sie bei Aodhrix etwas über die Rechtsprechung?“

„Ganz recht. Sind alles seine Schüler. Seine kleinen wohlgemerkt.“

„Das ist mir aufgefallen! Dem kleinsten rutscht sogar noch der Torques über den Kopf, wenn er sich bückt!“

„Ha. Adalrich ist wirklich sehr zierlich, aber dafür ist er zäh und klug und freundlich, das genaue Gegenteil von seiner Schwester, Furia.“

Loranthus blieb abrupt stehen und stieß seinen ausgestreckten Zeigefinger in die Richtung, wo die Kinder gerade in der Menschenmenge verschwanden. Der letzte drehte sich nach ihnen um und winkte, als hätte er gewusst, dass sie ihm nachsahen. Selbst auf diese Entfernung leuchteten seine Augen wie zwei blaue Saphire.

„Der dort mit den hellbraunen Haaren und den azurblauen Augen?! Der letzte! Das ist der kleine Bruder von Furia?“

„Ja. Und da wir gerade bei der Verwandtschaft sind …“, begann Silvanus und deutete auf Adalrich, der in diesem Moment einen gellenden Pfiff ausstieß und sich suchend umschaute. „Dort kommt ein Sohn von Ethmanja!“

Loranthus und Ethmanja hoben beide gleichzeitig den Kopf, als ein junger Hirschhund an ihnen vorbei zischte und Richtung Adalrich stürmte. Mitten auf halber Strecke blieb er wie angewurzelt stehen, drehte sich um und rannte wieder zurück. Er hatte so viel Schwung, dass er in Ethmanja hinein krachte. Ethmanja riss das Maul auf und dann wirbelten die beiden Hunde so wild umeinander, dass nur noch zwei wedelnde Schwänze erkennbar waren.

Silvanus schüttelte schmunzelnd den Kopf.

„Ich wusste gleich, dass der Kleine nicht für die Jagd taugt. Aber für Adalrich ist er genau der richtige Gefährte. Liebevoll, verspielt, treuherzig … später schenke ich ihm einen Hirschhund, den er perfekt für die Jagd nehmen kann, jetzt ist er ohnehin noch zu klein für derart gefährliche Unternehmungen.“

Ein Pfiff gellte zu ihnen herüber. Sofort hörte das spielerische Gerangel auf und der junge Hirschhund hob den Kopf. Adalrich strahlte über’s ganze Gesicht, winkte ihnen zu und pfiff noch einmal. Sein Gefährte gab Ethmanja noch einen Nasenstüber, schon rannte er los.

„Vier Beine und alle in der Luft“, lachte Silvanus und tätschelte Ethmanja den Kopf.

„Bei Hera! Der hat enormes Temperament!“

„Wie gesagt: Er passt perfekt zu Adalrich. Man muss die beiden einfach gerne haben.“ Silvanus seufzte und schürzte nachdenklich die Lippen. Mit vorsichtigem Tonfall sagte er: „Apropos ‚gerne haben‘ … Wolltest du nicht gerade weg von hier, Loranthus?“

„Äh, ja! Wird besser sein!“, gluckste Loranthus und warf Silvanus einen feixenden Seitenblick zu. Wenn sie Adalrich begegnet waren, konnten sie auch jederzeit Furia über den Weg laufen. Darauf konnte er gut und gerne verzichten. Ihm war schon längst aufgefallen, dass Silvanus dieses Weib nicht leiden konnte. Warum wohl nicht. Schmunzelnd schob Loranthus seinen Freund zwischen riesigen Johannisbeersträuchern hindurch.

Exakt zwei Schritte weiter blieb er schon wieder wie angewurzelt stehen.

Irritiert starrte er auf eine ganze Kohorte in die Erde eingelassener Holzluken, erkannte aber recht schnell einen sicheren Weg durch ihre Anordnung und schritt zielstrebig voran, nur um wieder zu erstarren. Ethmanja dagegen wirkte höchst erfreut.

Viele Sklaven waren damit beschäftigt, Fleisch zu teilen, zu würzen oder Speck in Tiermägen zu füllen. Andere Sklaven saßen sich vor einem Holzbrett gegenüber, das so breit wie ein Zelt war. Jeder hielt einen Holzgriff in den Händen und zwischen ihnen sausten riesige, gebogene, blutbesudelte Messer auf und ab.

Sie sahen aus wie die Wiegemesser, mit denen er selbst schon Kräuter zerkleinert hatte. Doch diese hier waren nicht klein und handlich, sondern machten einen gefährlichen, wenn nicht sogar monströsen, Eindruck. Deshalb hätte Loranthus auch hier am liebsten die Flucht ergriffen, aber er wollte unbedingt sehen, was unter den Messern zerschnitten wurde.

Also trat er sachte näher heran und beugte sich über die Sklaven. Im selben Augenblick klatschte seine Hand von ganz alleine auf seinen Mund und er unterdrückte ein Würgen. Alles Mögliche an Schlachtresten wurde von den Messern in Stücke gehackt. Es sah widerlich aus. Die Sklaven schien das nicht zu stören. Sie riefen sich zu, hoben ihre Messer, schoben die Brocken damit zusammen und zerstückelten fröhlich weiter. Es war eine einzige, schmierige, blutrünstige Metzelei und sie sangen sogar dabei. Einer winkte mit blutiger Hand zu ihnen hinüber, krallte lachend seine Finger in die Brocken und warf einen Fleischfetzen mit Schwung durch die Luft.

Ethmanja sprang hoch und schmatzte.

Loranthus würgte und drehte sich um, doch das war keine gute Idee.

Andere Sklaven steckten bis zum Ellenbogen in Bottichen mit genau derselben Masse, bekamen Salz und andere Gewürze dazu geschüttet und wühlten weiter in der Pampe. Daneben stand ebenfalls ein Bottich. Hier hielten schon Sklaven Trichter bereit und quetschten die Masse in einen endlos langen Darm, bis er vollgestopft und ineinander gerollt da lag wie eine Schlange.

Wenigstens war es keine blutige Schlange, da sie alle paar Windungen mit Wasser gesäubert wurde. Loranthus trat dennoch einen Schritt zurück, was seinem Oberkörper leider immer noch nicht reichte. So stand er also ziemlich schräg nach hinten geneigt und beobachtete, wie die Sklaven das Darmende verknoteten und das lange Ding in einen riesigen Kupferkessel mit kochendem Wasser gleiten ließen. Darin schwammen schon die Tiermägen mit ihrem blutigen Inhalt und blubberten gemächlich vor sich hin. Ein alter Sklave rührte mit einem Holzstock in der Brühe, der so lang war wie er selbst und auch genauso dünn.

Ein paar Schritte weiter schürte ein anderer mit einem Handblasebalg ein Feuer unter einem wahren Berg aus Holzkohle. Das Eisengitter darüber hatte ein Gestell, das fast so groß war wie das Schneidebrett vorhin.

Loranthus rümpfte die Nase und zupfte Silvanus am Ärmel.

„Wenn ich nicht gleich etwas anderes zu sehen bekomme, würge ich dir meinen Gerstenbrei vor die Füße!“

„Bloß nicht! Die habe ich erst frisch gewaschen! Aber ich weiß einen Ort, wo es dir besser gefällt. Ist gleich um die Ecke, hinter den Johannisbeerhecken.“

„Ach ja? Und warum sollte es mir dort besser gefallen?“

Silvanus schüttelte den Kopf und grinste.

„Mal sehen, ob du es alleine herausfindest!“

Vor sich hin grummelnd, schlurfte Loranthus neben Silvanus her und stand gleich darauf unter mächtigen Apfelbäumen. Erleichtert atmete er tief ein und sah sich um.

Hier standen mannshohe Fässer, eine Armspanne breite Bottiche, riesige Kupferkessel mit langen dünnen Rohren, dahinter gab es noch lange Holzrinnen und andere seltsame Gerätschaften.

Zwei junge Männer betätigten sich gerade an einer dieser Konstruktionen, die aussah wie ein riesiger Holzeimer mit Ablaufrohr und Holzgestell darüber. Sie schütteten körbeweise Äpfel in den Eimer, bis er fast überquoll. Dann zückte der eine einen Holzgriff, an dem sich unten lange Klingen kreuzten. Dieses gefährliche Instrument setzte er lachend auf die Äpfel und drückte fest dagegen. Sofort gaben die Äpfel ein schmatzendes Geräusch von sich und sackten ein Stück zusammen.

Loranthus legte den Kopf schief, denn das kam ihm irgendwie bekannt vor, außer, dass hier kein Blut floss. Das Prinzip war jedoch das gleiche: Das Schneidewerkzeug wurde aus der Apfelmasse gezogen und wieder neu hinein gerammt. Nach mehrfachem Auf und Nieder ruhte sich der erste Mann aus, der zweite schüttete Äpfel nach und machte weiter. Dann besahen sich beide ihr Werk, nickten zufrieden und setzten einen Deckel auf.

Loranthus ging noch ein Stück näher, nun war die Gefahr gebannt, und außerdem schien es interessant zu werden. Der eine zückte nämlich ein gewundenes Ding, das so lang und so dick war wie sein Arm. Es war aus Holz und das verblüffte Loranthus so sehr, dass er unwillkürlich die Hand danach ausstreckte, um sicher zu gehen. Die beiden Männer verstanden sein Interesse etwas falsch, denn plötzlich lag die riesige Holzschraube in seinen Händen. Loranthus starrte die stabilen Windungen an und das Loch an einem Ende. Prüfend betrachtete er das Holzgestell und setzte die Schraube an ihren Platz, einem genau passenden Ring mit Innengewinde.

Die beiden Männer nickten anerkennend und schoben ein Querholz durch das Schraubenloch. Der erste fasste es an beiden Enden und begann zu drehen, der zweite löste ihn ab.

Loranthus stellte sich auf die Zehenspitzen und sah, wie sich der Deckel immer weiter in den Eimer schraubte, unten plötzlich Saft aus dem Rohr austrat und in den bereitgestellten Eimer lief.

„Das ist eine Saftpresse! Eine riesige Saftpresse!“, rief er begeistert und hockte sich vor das Austrittsrohr. „Und diese Konstruktion dort …“ Er zeigte auf den kupfernen Kessel mit Rohren. „ … ist zum Destillieren! Ihr macht hier Wein! Apfelwein!“

„Das hast du gut erkannt, Loranthus. Unsere Saftpresse im Dorf ist zwar kleiner, aber für unsere Zwecke reicht sie vollkommen. Und wie zu Hause machen wir auch hier nicht nur Apfelwein, Loranthus, sondern auch Apfelessig, Korma und natürlich … „Silvanus nickte zum Eimer, der sich rasch füllte. „Apfelsaft und Saft aus verschiedenen Beeren, Wein aus Beeren, Essig aus Beeren …“

Er nahm sein Horn, hielt es unter den austretenden Saftstrahl und winkte Loranthus, es ihm gleichzutun.

„Mmmh, ja! Euer Fruchtsaft ist wirklich genial und der hier schmeckt seeehr fruchtig“, befand Loranthus, schmatzte und nahm noch einen Schluck. „Und leicht säuerlich.“

„Also säuerlich würde ich nicht sagen …“ Silvanus leckte sich die Lippen. „ … eher aromatisch.“

„Aber auch ein bisschen säuerlich. Aromatisch-säuerlich!“

„Nein! Eindeutig aromatisch-fruchtig-würzig-süffig!“

So ging es eine Weile hin und her, bald gingen ihnen die Umschreibungen für ‚Apfel‘ genauso aus wie ihr Saft.

Loranthus wollte sich noch einmal nachholen, doch Silvanus meinte, er solle mit purem Saft vorsichtig sein, sonst könne er sich auf dem Abort häuslich niederlassen. Da sie aber beide jetzt noch mehr Durst hatten, schöpften sie nur einen kleinen Teil Saft und füllten den Rest mit Wasser auf. Wieder schmatzten sie und gaben ihre Kommentare ab. Dann wollten sie auch noch Apfelessig mit Wasser verdünnt probieren, aber leider war der noch nicht fertig. Also tranken sie das Wasser pur und selbst hierzu musste Loranthus nach jedem Schluck seinen Kommentar abgeben. Er war nämlich fest davon überzeugt, das Wasser aus der Sünna schmecke besser als das aus der Werra und hätte einen würzigen Beigeschmack nach Bergen, Eisen, Kiesel, Moos, Tannennadeln …

Silvanus beteiligte sich nicht mehr an der Lektion über Wasserqualität und wann immer Loranthus ihn nach seiner Meinung fragte, hatte er gerade den Mund voll Wasser. Doch bald kam seine Ablösung in Form eines Duftes. Loranthus schnupperte genüsslich und nach dem dritten Atemzug stand sein Mund ohne zu trinken unter Wasser, so dass er nur noch schlucken und nicht mehr sprechen konnte. Seine Beine setzten sich ganz von alleine in Bewegung.

Schnell gingen sie immer der Nase nach und standen plötzlich wieder da, wo Loranthus eigentlich nicht noch einmal hin wollte. Ihm lief jedoch derart das Wasser im Mund zusammen, dass er keine Skrupel mehr kannte.

Breitbeinig stellte er sich vor den Rost und machte niemandem Platz, bis er endlich ein Stück Wurst in einer Scheibe Brot gereicht bekam. Anerkennend lobte er die praktische Verwendung des Brotes als Topflappen und Silvanus hätte schwören können, das er beim Kauen das Lied summte, welches die Sklaven vorhin beim Fleischschneiden gesungen hatten.

Zum Essen machten sie es sich unter einem Apfelbaum bequem. Die standen überall am Weg, waren behangen mit grünen, gelben oder roten Früchten und spendeten angenehmen Schatten. Als sie ihre Würste vertilgt hatten, streckte sich Silvanus, holte von den kleinen, hellgrünen Äpfeln ein paar herunter und gab Loranthus welche ab.

„Die müssen zuerst weg, weil sie sich nicht lange halten.“

„Bloß keine Hektik! Ich bin gerade erst angekommen.“

Silvanus kicherte und rieb seinen Apfel am Hemd, bis er glänzte. Loranthus tat es ihm nach, betrachtete prüfend das Ergebnis im Schein der Mittagssonne und bemerkte noch mehr Leute, die Äpfel pflückten.

„Warum stehen hier so viele Apfelbäume, Silvanus? Die ganze Handelsstraße rechts und links entlang, dann noch über die Wiesen verteilt … Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!“

„Doch, doch! Du musst wissen, Loranthus, dieses Gebiet hier ist die Königsleite. Jeder König kommt hierher und pflanzt einen Apfelbaum, wenn er zum König erhoben worden ist. Über die vielen Generationen von Königen wurde die Königsleite immer größer und größer. Zu Lugnasad kommen unsere Clans hier zusammen, um den Frieden zu sichern.“

Loranthus war gerade dabei, genüsslich an seinem glänzenden Apfel zu schnuppern. Hinein beißen tat er jedoch nicht, im Gegenteil, er streckte ihn mit misstrauischen Blick von sich.

„Wie sichert ihr Hermunduren den Frieden? Schwören sich sämtliche Könige jedes Jahr aufs Neue gegenseitig ihre Loyalität unterm Apfelbaum?“

„Kann schon sein, aber am besten sichert man den Frieden, indem sich die Clans miteinander vermischen.“

„Sich vermischen“, echote Loranthus, polierte noch einmal über seinen Apfel und schnippte gleich darauf mit den Fingern. „Jetzt hab ich’s! Alle Clans kommen hierher, die Leute knüpfen Bekanntschaften, manche verlieben sich ineinander und heiraten. Die Familienbande werden erweitert und natürlich will niemand dem anderen Clan ein Leid antun, wenn er dort Blutsverwandte hat.“

„Du hast die Angelegenheit vollkommen erfasst. Aber wusstest du schon, dass es zu Lugnasad auch immer mal einen Toten gibt?“

Loranthus sog erschrocken die Luft ein und sah sich nach etwaigen Todeskandidaten um. Silvanus biss herzhaft in seinen Apfel und erklärte mit vollem Mund: „Hm, hm. Es so scho welle gegebn ham, de sn veunged.“

„Verhungert?“, fragte Loranthus nach, doch im gleichen Moment hatte er begriffen, schnell biss er in seinen Apfel. „Hmmm, sind die aromatisch! Davon könnte ich einen ganzen Eimer essen, um dem Hungertod zu entgehen.“

„Lieber nicht! Von zu vielen bekommst du Bauchschmerzen! Das ist wie mit purem Saft, denk dran.“

„Na gut. Dann eben nur noch einen“, johlte Loranthus, stopfte sich den halben Apfel in den Mund, nickte nach vorne und rief: „Gromudder Daha, woin do eilg?“

Großmutter Dana hielt in ihrem rasanten Schritt inne, sah sich um, schwenkte vom breiten Hauptweg ab und baute sich vor Loranthus auf.

„Na, ihr zwei? Was habt ihr ausgefressen!?“

Loranthus plusterte die Backen auf und nickte Silvanus zu, der konnte besser sprechen.

„Gar nichts, Großmutter Dana! Wir wollen zum See! Unsere Freunde, Bekannte und Verwandte treffen!“

„Na, dann habt ihr ja redlich zu tun.“

„Und wo willst du hin, Großmutter Dana?“

Ich? … bringe Viviane eine ganz besondere Medizin vorbei, damit euer Barde schnell wieder gesund wird und aus dem Quarantänezelt heraus darf. Der ärmste Lew hat sich eine derart seltene Krankheit zugezogen … Zum Glück hatte Viviane schon einen solchen Fall bei ihrem Studium in Britannien und kann ihm helfen.“

Sie schlug die Hände über den Kopf zusammen.

„Bei Artio, der großen Bärin! Man stelle sich nur vor, ein Quarantänezelt! Nein, so etwas hat es in all den Jahren noch nie gegeben! Aber was sein muss, muss sein!“

Silvanus nickte traurig, stand auf und streckte sich noch einmal nach den Äpfeln.

„Unser Lew kann einem wirklich leid tun. Nicht einmal zum großen Opfer darf er heraus und natürlich kann er sich auch die Wettspiele nicht ansehen, die Händler oder den großen Rat. Hier, Großmutter Dana! Nimm ein paar Äpfel mit und richte ihm unsere besten Wünsche zur Genesung aus.“

„Ja, Großmutter Dana!“, rief Loranthus und schluckte schnell runter. „Hier hast du noch zwei für Hanibu. Halt!“ Er zog die Äpfel wieder zurück. „Ich poliere sie noch etwas! Da glänzen sie so schön appetitlich. Ich bin wirklich sehr überrascht, dass Hanibu auch schon einmal diese seltene Krankheit von Lew hatte und dagegen gefeit ist. Sie ist Viviane wirklich eine große Hilfe bei seiner Pflege. Vielleicht geht es ihm bald wieder gut und er nimmt wenigstens am Bardenwettstreit teil.“

Großmutter Dana sah Loranthus nachdenklich an, der die Äpfel an seinem Hemd rubbelte, als übe er für den Wettstreit ‚meist strahlender Apfel‘. Er könnte glatt gewinnen. Ihre Augen wurden schmal.

„Wenn dir so daran gelegen ist, mein Guter, könntest du mir eigentlich helfen?!“

Wenn Loranthus nicht so sehr mit der Qualitätskontrolle der beiden Äpfel beschäftigt gewesen wäre, hätte er den Ausdruck auf ihrem Gesicht vielleicht bemerkt und wäre ins Grübeln gekommen. So aber strahlte er genau wie seine Äpfel.

„Natürlich! Gerne! Was soll ich denn machen?!“

„Ach!“ Großmutter Dana winkte ab. „Eine ganz simple Aufgabe. Ich will noch über die Wiesen, um die Kräuter für meine Räucherpfanne zu suchen. Ich brauche eine ganze Menge davon, vor allem Erdrauch. Ich muss mich ja vor der Krankheit schützen, wenn ich bei Lew bin. Besser wäre allerdings Weihrauch, aber den gibt es erst, wenn die Händler eintreffen. Bis dahin müssen wir unsere heimischen Kräuter mit einer Beschwörungsformel wirksamer machen. Und zwar genau in dem Augenblick, wenn man sie anzündet. Das ist sehr wichtig. Wenn du mir beim Kräutersammeln hilfst, darfst du mir beim Anzünden zusehen, Loranthus.“

„Oh! Das ist wirklich ein großzügiges Angebot, Großmutter Dana, aber …“ Loranthus drehte sich hilfesuchend zu Silvanus, der ihn unauffällig in den Rücken pikte. „ … aber ich habe Silvanus schon versprochen, mit ihm zum See zu gehen und …“

Großmutter Dana tätschelte ihm die Schulter.

„Natürlich, mein Guter, dafür habe ich doch vollstes Verständnis! Man muss seine Versprechen möglichst einhalten. Ich schaffe das bisschen Kräutersammeln auch ohne dich. Der Erdrauch wächst ja hier auf den Wiesen in rauen Mengen.“

„Phu, da bin ich aber beruhigt“, seufzte Loranthus, atmete tief ein, um seine Worte zu verdeutlichen und versicherte: „Aber wenn die Händler kommen, kaufe ich dir gerne einen ganzen Scheffel voll Weihrauchbrocken, wenn die so gut wirken.“

Großmutter Dana kniff beiden in die Wangen.

„Ihr seid zwei brave Hamster. Schwachsinn, wie komme ich den darauf!? Ich meinte natürlich Burschen. Seid ihr schon an den Bratwürsten vorbeigekommen? Es riecht, als wären sie gut!“

Loranthus rieb sich den Bauch und versicherte: „Wahrlich, das sind sie.“

„Dann will ich mich nicht länger mit Schwatzen aufhalten! Nicht, dass Lew, Viviane und Hanibu wegen mir noch hungern müssen. Macht’s gut ihr zwei und keinen Ärger!“

Loranthus und Silvanus winkten Großmutter Dana nach, die in ihrem rasanten Schritt davon rauschte.

„Was meint sie denn mit ‚keinen Ärger‘?“, fragte Loranthus und überlegte, ob Danas Geschwindigkeit etwas mit den Bratwürsten zu tun hatte.

Silvanus zuckte die Schultern.

„Vielleicht, weil es zu Lugnasad viel schwieriger ist, den Frieden zu halten. Wenn alle Königreiche zusammenkommen, gibt es immer mal Leute, die gerne Streit anfangen. Aber keine Bange! Da wird gleich kurzer Prozess gemacht.“

„Kurzer Prozess?“ Loranthus griff sich unwillkürlich an den Hals.

„Nein, nicht das!“, feixte Silvanus. „Kurzer Prozess ist einfach kurzer Prozess. Der Streitfall kommt sofort dran, weil ja Lugnasad ist. Wenn du dich danach mit jemanden zankst, musst du bis nächstes Lugnasad warten. Nächstes Jahr, verstehst du?“

„Ein ganzes Jahr? Nur um einen Streit zu schlichten?“

„Kommt drauf an, wann du dich zu streiten gedenkst. Die lange Wartezeit hat natürlich einen ganz praktischen Nutzen.“

„Nutzen.“

„Jawohl, Nutzen. Manche Streithähne haben sich bis dahin nämlich wieder vertragen und so muss der hohe Rat weniger Streit schlichten.“

„Aha! effizient, sparsam!“, lobte Loranthus und wollte gerade zu einem verschwenderischen Nicken ansetzten, da zog er schnell den Kopf ein. „Streithahn, sagtest du? Glaube mir, Silvanus, auch ich kann auf Streithähne verzichten, aber oh, bei Hera, da kommt schon der erste!“

„Welcher?“

„Der große, der mit dem dicken Knüppel als Stütze. Ach, der geht zum Rost.“

Aufatmend sah Loranthus dem Mann nach und Silvanus strich sich nachdenklich durch die Haare.

„Groß? Pfh! Wäre besser für ihn, wenn er größer wäre. Dann würde sich seine Körpermasse günstiger verteilen. Guck dir mal seine Visage an! Sieht aus, als wäre er derselben Meinung wie ich. Den hab ich gestern noch nicht gesehen, als wir angekommen sind, und ich weiß auch nicht, zu welchem Clan der gehört …“

„Das ist der Fährmann von Aodhrix.“

„Woher kennst du … Ach.“

„Oh, ja: Ach. Das ist der Fährmann, den Viviane zusammengeschlagen hat, kaum das wir uns begegnet sind.“

„Bullenscheiße und Ziegenpisse! Dem massigen Kerl hat sie Arm und Bein gebrochen?“

„Und noch den Finger!“

„Bei allen Göttern! Kein Wunder, dass der so grimmig guckt!“

„Oh, je! Hera zürnt mir! Er dreht um! Ich glaube, er hat mich wiedererkannt! Guck mal, wie der mich anglotzt! Schnell! Hinter dem Backofen durch und dann nichts wie weg!“

Loranthus sprang auf und schubste Silvanus zwischen zwei Tische mit Brotlaiben, um schneller zum Backofen zu kommen. Mit diesem Sichtschutz im Rücken, hasteten sie geduckt über die Straße, umkurvten zwei junge Maiden mit Bratwürsten, die ihnen irgendetwas hinterher riefen, und schlängelten sich zwischen zwei Zelten hindurch. Dort sahen sie sich nach dem günstigsten Fluchtweg um und sprangen von Zelt zu Zelt, bis sie die Gefahrenzone hinter sich hatten.

Getarnt als Apfelbaum und Brombeerstrauch prüften sie die Lage und schlenderten wieder auf den Hauptweg zurück. Um genau zu sein: Nur Silvanus schlenderte. Loranthus schnaufte und wischte sich den Schweiß von der Stirn, schließlich war er gerade im Hindernislauf durchs halbe Lager Zweiter geworden.

„Wir ha … haben ihn abgehä … hach … abgehängt, Silvanus.“

„Oh nein!“

„Doch.“ Loranthus tätschelte Silvanus beruhigend die Schulter und stützte sich bei der Gelegenheit gleich noch ein bisschen ab. „Ich seh ihn nirgendwo! Die Gefahr ist gebannt.“

„Da täuscht du dich, Loranthus. Sie ist zwar noch weit weg, aber sie hat mich gesehen. Bei allen borstigen Wildsäuen! Sie kommt direkt auf uns zu!“

Loranthus stutzte und hörte auf zu schnaufen, sowie die Gegend nach dem Fährmann abzusuchen. Neugierig schaute er in die gleiche Richtung wie Silvanus.

Die junge Frau, die da lächelnd auf sie zukam, hatte er irgendwo schon einmal gesehen. Sie war zwar wirklich noch weit weg, aber ganz eindeutig zu erkennen: Praller Busen, extrem gefärbte rote Haare, diesmal nicht auf einem Pferd, aber dafür unter einem zu klein geratenen weißen Zelt zum Mitnehmen …

Loranthus musste erst ein paarmal blinzeln, bevor er herausbrachte: „Oh, je, die Wildsau … äh ich meine, Furia! Was ist denn mit der passiert?“

„Sie trägt einen Sonnenschutz.“

„Dieses Gestell auf ihren Schultern mit dem weißen Leinstoff darüber? Das habe ich schon mehrfach an adeligen Weibern gesehen. Ich meinte eigentlich ihr Gesicht oder richtiger, was davon noch übrig ist.“

„Was ist mit ihrem Gesicht?“

„Na, siehst du das denn nicht?! Das Einzige, was nicht angemalt ist, sind ihren Augäpfel. Hatte wahrscheinlich die Augen zu, als sie in den Farbtopf gefallen ist und danach hat sie festgestellt, dass sie ihren Kupferspiegel zu Hause vergessen hat. Und jetzt sieht sie aus, als wolle sie in die Schlacht ziehen, nur nicht in Blau, sondern in Rot und Grün.“

„Ach, du meinst die Schminke auf ihren Lippen!“

„Lippen?!“ Loranthus kniff die Augen zusammen und schob abschätzend die Unterlippe vor. „Ja, ganz eindeutig. Nur dass ihre Lippen vom Kinn bis zum Scheitel gehen.“

Silvanus prustete los.

„Loranthus! Dein Augenmaß ist wirklich frappierend! Aber jetzt mal im Ernst: Daran musst du dich bei unseren Weibern gewöhnen, je größer die Feste, desto mehr Schminke.“

Loranthus legte seinen Kopf schief und knurrte: „Nur bei denen, die was zu verbergen haben.“

„Na, du tust ja gerade so, als hättest du Ahnung von derlei Weiberkram!“

Loranthus reckte herausfordernd das Kinn und brummte etwas Unverständliches, während seine Augen einer Horde junger Maiden hinterher schielten, die gerade kichernd an ihnen vorbei liefen. Zwei davon winkten ihnen und Silvanus winkte zurück. Daher konnte sich Loranthus in Ruhe auf die Zunge beißen, er hatte nämlich tatsächlich Ahnung von derlei Weiberkram. Vor nicht allzu langer Zeit war er höchstpersönlich selbst in einen Schminktopf gefallen und hatte beim Anblick von Loranthissima einen Schreck bekommen. Das durfte natürlich keiner wissen. Ablenkung war die Devise.

„Griechische Weiber schminken sich auch, musst du wissen, Silvanus. Am liebsten kalken sie sich die Haut heller. Je weißer, desto besser! Manche übertreiben es derart, dass sie Pusteln oder gar hässliche Ekzeme davon bekommen und dann brauchen sie noch mehr Kalkpuder, um alles zu überdecken. Was für ein Schwachsinn! Hier habe ich noch kein einziges Weib mit Unreinheiten gesehen.“

„Wir haben helle Haut, da brauchen wir kein Kalkpuder!“

„Da könntest du recht haben, Silvanus. Ihr werdet ja schließlich nicht umsonst ‚die Milchigen‘ genannt. Aber vielleicht habt ihr einfach bessere Schminke! Hm. Das wäre einen Handel wert! Sag mal, Silvanus, gibt es bei euch auch Weiber, die sich Extrakte der Tollkirsche in die Augen träufeln, um einen entrückten Blick zu bekommen?“

Entrückter Blick? Damit man neben der Spur läuft? Wofür soll das gut sein?!“

„Na, ich gucke mir diese Furia mal ganz genau an. Wenn die auch übergroße Pupillen hat, weiß ich, dass sie neben der Spur läuft.“

Silvanus zischte durch die Zähne: „Philosophier nicht solchen Schwachsinn zusammen! Beug lieber dein Haupt, rat ich dir!“

Loranthus musste zugeben, dass Silvanus sehr deutlich reden konnte, ohne die Lippen zu bewegen. Aber da der wandelnde Schminktiegel schon gefährlich nah war, tat er sofort, wie ihm geheißen und richtete seinen Blick nach unten.

Beim Zeus, kamen da ein paar rot lackierte Fußzehen auf ihn zu! Aber wenigstens die Sandalen waren so kunstvoll mit Edelsteinen besetzt, dass Loranthus seinen Kopf gerne noch etwas länger gebeugt hielt, es waren schließlich viele Edelsteine.

„Silvanus! Welch’ seltene Freude! Dein Schoßhündchen heute angebunden!? Wer ist denn dein Begleiter?“

Mit ‚Schoßhündchen‘ konnte sie nicht Ethmanja meinen, denn die brauchte er nicht anbinden, weil sie aufs Wort hörte. „Das ist Loranthus, unser Gast aus Kreta, edle Königstochter.“

„So, so. Der griechische Händlersohn. Ich habe von ihm gehört. Er soll bei der Schlacht gegen die Chatten dabei gewesen sein. Mir ist er jedoch nicht aufgefallen.“

„Er hat nur von Weitem zugesehen. Er war nicht direkt dabei, edle Königstochter.“

„So, so. Er bevorzugt die sichere Entfernung, der griechische Händlersohn.“ Ansatzlos ging sie ins Griechische über: „Ich bin Furia, Tochter des stattlichen Naharrix und oberster Befehlshaber seiner Krieger. Du kannst jetzt dein Haupt wieder heben, Loranthus. Ich bin noch nicht Königin, dass du mir derart Achtung zollen darfst. Wie gefällt es dir bei meinen Nachbarn, den Nachfahren des Cernunnos?“

Loranthus hob zwar seinen Kopf, hielt aber die Augen immer noch gesenkt, weil er plötzlich zwei Mal rot sah: rote Fingernägel, die in einem Topf mit roter, brodelnder Wut herum rührten. Letzteres wollte er nicht überschäumen lassen, darauf spekulierte sie ganz offensichtlich.

Deshalb holte er tief Luft und pustete gegen die roten Schöpfkellen. „Es gefällt mir sehr gut bei den Nachfahren des Gottes Cernunnos, edle Furia. Sie haben mich sehr freundlich aufgenommen. Besser hätte ich es gar nicht treffen können. Das ist mir jetzt absolut bewusst.“

Die rot lackierten Fingernägel winkten verächtlich ab und rasselten mit drei goldenen Armreifen an jedem Handgelenk, jeder so breit wie ihr goldener Torques.

Dass sie bei dem Gewicht die Arme überhaupt noch hoch bekam − beachtlich. Obwohl, ihr Hals bog sich irgendwie durch. Da hing nämlich nicht nur ihr Torques dran, sondern extra noch eine höchst kunstvolle Kette aus filigran verschlungenen Kettengliedern, in denen riesige Edelsteine prunkten. Sie passten farblich exakt zu Furias Gesamterscheinung, auch hier waren alle Farben vertreten. Nun, ja. Sollte diese Furie demnächst das Übergewicht bekommen, würde sie, wenn schon nicht weich, dann wenigsten reich, abknicken. So langsam dickte die brodelnde Wutsuppe zu einer sämigen Ironiesoße ein, besonders als er sich vorstellte, wie Furias extrem kunstvolle Hochsteckfrisur aussehen würde, wenn er sie da mit viel Elan kopfüber hinein schubsen würde.

„Das ist ja sehr interessant. Du hast sicher schwer bei ihnen arbeiten müssen, Händlersohn. Hast du schon einmal einen Backofen mit Lehm verstrichen? Nein? Da hinten ist gerade welcher abgebröckelt, als ein Mann seinen Knüppel daran … anlehnte. Dabei war er doch erst neu, der Backofen. Die Leute dort freuen sich bestimmt, wenn sie einen Helfer bekommen.“

Nun riss Loranthus aber doch seinen Kopf hoch und stellte verblüfft fest, dass dieses arrogante Weib unter der Schminke recht hübsch war. Sogar ihre Pupillen in den bernsteinfarbenen Augen waren normal groß. Instinktiv drehte er sich aber um und sah wirklich Leute aufgeregt mit den Händen fuchteln. Manche rannten mit Brotlaiben zu anderen Backöfen, andere sammelten Lehmbrocken auf.

Loranthus blickte Furia direkt in die Augen.

„Ich habe wahrlich noch nie gesehen, wie Weidengeflecht mit Lehm verstrichen wird und werde mein Wissen gerne bereichern. Doch bevor meine Augen von deinem Anblick nicht mehr vor Erstaunen erstarren, muss ich noch ein Letztes sagen: Ich kenne die Schriften vieler Reisender, auch derer, die in Ägypten das Leben studierten. Sie berichten von den göttlichen Pharaonen, die prächtigen Statuen gleichen. Auch ich bereiste dieses reiche Land und kann dir daher mit Gewissheit verkünden: Keine ihrer Königinnen wird je die üppige Farbenpracht erreichen, der ich in eben diesem Augenblick gewahr werde.“

Loranthus verbeugte sich sehr tief, drehte sich um und ging. Er sah ihr nicht noch einmal ins Gesicht. Egal, wie sie es verzogen hätte, er hätte sich das Lachen nicht verkneifen können. Höflich und mit besonders strahlendem Lächeln fragte er einen Mann am Ofen, ob er helfen könne. Der gab ihm genauso erfreut eine Schale und schickte ihn zum Lehm holen an die Werra. Nach einem kurzen Seitenblick aus günstiger Entfernung war er sicher, dass er es weitaus besser getroffen hatte als Silvanus.

„Hanibu! Lew! Kommt mal aus dem Zelt!“

Viviane winkte ungeduldig, reichte ihr Fernrohr an Hanibu weiter und zeigte die Richtung.

Lew sah durch sein eigenes.

„Ach, Furia legt schon wieder ihre Schlingen aus. Bei allen Göttern! Kein gut gebauter Mann ist vor ihr sicher. Das habe ich selbst gesehen, als ich bei ihrem Vater war. Zum Glück stehe ich über ihr. Aber nachts habe ich dennoch zur Sicherheit einen Keil unter meine Tür geschoben.“

„Und?“

„Ich praktiziere diese äußerst simple Methode zum Selbstschutz schon länger. Furia weiß das. Sie hat es nur einmal probiert, und das ist schon ein paar Jahre her.“

„Und?“

Lew verzog das Gesicht, als müsse er wirklich bittere Medizin schlucken.

„Du solltest gehen, Viviane. Ihr wolltet euch doch gleich am See treffen.“

Viviane machte keinerlei Anstalten, sich zu erheben, im Gegenteil. Sie lehnte sich zurück und betrachtete Lew mit einem abschätzenden, eindeutig lauernden, Blick. Lew tat wiederum so, als bemerke er es nicht und beobachtete weiter höchst konzentriert die Szene im Lager.

Viviane verzog das Gesicht zu einem süffisanten Lächeln.

„Der Genießer schweigt?“

„Pfh!“, machte Lew und setzte endlich das Fernrohr ab. Ganz langsam drehte er sich um und schnaubte: „Genießer? Ts! Das ist eindeutig das falsche Wort. Wer Furia in die Hände fällt, kommt sich vor wie ein Apfel in der Saftpresse. Und da habe ich noch Glück gehabt.“

„Wieso. War bei der Saftpresse die Schraube locker?“

„Nein, so kann man das nicht sagen. Ich war sozusagen der Probedurchgang.“

„Probe …? Ach! Du warst der Erste!“ Viviane kicherte und nickte anerkennend. „Wenn ich auch nichts an Furia schätze, aber was Männer angeht, hat sie einen guten Geschmack.“

Lew kniff die Augen zu und schüttelte den Kopf. Ihm blieb zum Glück jedes weitere Wort erspart, weil Hanibu den Hügel hinab deutete.

„Großmutter Dana kommt.“

„Gut“, nutze Lew den Themenwechsel. „Sie bringt uns was zu essen.“

„Morgen komme ich wieder vorbei und erzähle euch die neuesten Neuigkeiten.“

„Nur keine Eile, Viviane. Wir beobachten hier oben alles und jeden ganz genau.“

Großmutter Dana schnaufte die letzten Schritte herauf und ließ sich neben Viviane fallen.

„Bei Artio! Ausgerechnet hier oben musstest du das Zelt aufschlagen, Viviane. Weiter unten hätte auch gereicht.“

„Gewiss, Großmutter Dana, weiter unten müsste Hanibu das Wasser nicht so weit schleppen. Aber sie sind ja sparsam und baden im selben Wasser. Eigentlich ist es nur wegen der Sicht. Lew will den Clan von seinem Vater im Auge behalten. Wir wollen schließlich herausbekommen, wer ihn damals als Baby in ein Cerrag gelegt hat, denn es ist schon höchst seltsam, dass nie jemand nach ihm gesucht hat. Das müssen wir vorsichtig angehen und alle genau beobachten.“

„Vorsicht und Verschwiegenheit ist wichtig, das macht ihr ganz richtig. Aber es kann nur jemand gewesen sein, der nach deiner Geburt an dich herangekommen ist, Lew. Also behaltet die Zelte der Burgbewohner besonders im Auge. König Justinius und dein leiblicher Vater, Alban, halten dicht?“

Lew nickte stolz.

„Garantiert. Auf meinen Vater ist Verlass. Er will sich selbst unauffällig umhören. König Justinius hilft ihm natürlich und ist absolut verschwiegen. Er hat es nicht einmal seinem Weib erzählt. Viviane hat das überprüft.

„Wirklich? Wie hast du das denn angestellt, Viviane?!“

Viviane kramte ein winziges Fläschchen aus Tannenholz aus ihrer Gürteltasche.

Großmutter Dana roch daran.

„Kamille. Sehr wohlriechend. Eine Mischung?“

„Ganz recht. Selbst konzentriert und mit Honig versetzt. Fällt in Met gar nicht auf. Wenn die Gerste für das Korma geerntet ist, habe ich auch eine Mischung mit rauchigem Geschmack parat. Schon nach einem Dutzend Minuten …“

Großmutter Dana schnitt ihr mit einer herrischen Geste das Wort ab, schnupperte noch einmal intensiv an dem Fläschchen und gluckste verschlagen: „ … bekommt man Bauchkrämpfe. Ja, da ist es wirklich recht heilsam, wenn zufällig eine Ärztin mit einem Gegenmittel in der Nähe ist, weil sie sich zufällig und abseits mit König Justinius unterhält.“

Viviane winkte ab.

„Er hat nur versucht, mir Arion abzukaufen. Ich musste ja hinauszögern und wir haben gehandelt und gehandelt und …

„Gehandelt“, vervollständigte Dana gelangweilt und drehte den Zeigefinger, als wolle sie Vivianes Rede schneller ablaufen lassen. Viviane verstand den offensichtlichen Wink auch sogleich.

„Jedenfalls habe ich ihn so lange zappeln lassen, bis sein Weib zum Abort gerannt ist, und in dem Augenblick hat er mir ganz zufällig ein gutes Angebot gemacht.“

„Was?! Du hast deinen Arion verkauft?“

Nein, das darf ich doch gar nicht! Arion darf alle Stuten decken, die König Justinius aufbringen kann, und ich bekomme noch was dazu.“

Lew klopfte Viviane freundschaftlich auf die Schulter und feixte.

„Unsere Ärztin bekommt in letzter Zeit sehr viel extra. In ihrem Behandlungszelt geht es zu wie in einem Taubenschlag. Die Leute kommen mit vollen Händen und gehen leer wieder raus. Man könnte meinen, du würdest dich für deine Dienste entlohnen lassen!“

Viviane verdrehte die Augen.

„Nun übertreibe nicht, Lew! Das sind doch meistens nur arme Bauern, die sich bei mir bedanken wollen, weil ich ihnen das Leben gerettet habe, damals nach der Schlacht. Der eine bringt leuchtend grüne Wolle, der andere eine schön geschnitzte Schatulle, der dritte ein besonders weiches Schaffell …“

Lew tätschelte ihr aus prophylaktischen Gründen schon mal versöhnlich die Schulter und redete weiter: „ … der vierte einen Kamm aus Perlmutt, der fünfte eine Kette aus Bernstein, der sechste einen Armreifen mit eingefassten Korallen, der siebte einen Gürtel mit einer Schnalle aus purem Eisen, der achte eine Kütze, damit du alles reinlegen kannst …“

Viviane plusterte sich auf, doch Lew hob feixend den Zeigefinger.

„Hochkönig Eryrrix war auch schon da. Der hat dir sein Geschenk leider nicht vor dem Zelteingang gezeigt.“

Jetzt war es an Viviane, zu grinsen.

„Er hat dir noch gewunken, bevor er zu mir ins Zelt gekommen ist. Ein erfahrener Mann, unser Hochkönig Eryrrix.“

„Mach dich nur lustig, Viviane. Aber danke für die beiden Kätzchen. Eines schwarz, eines weiß, wenn das kein Omen ist! Von wem hast du sie bekommen?“

Viviane drehte sich zu dem kleinen Körbchen, in dem zwei flauschige Fellknäuel dicht aneinander geschmiegt schliefen. Ihre winzigen Barthaare vibrierten leicht, weil sie sich gegenseitig anpusteten. Sie hatten sogar die Pfötchen übereinander gelegt. Es war einfach zu niedlich.

„Von Taurus’ kleiner Tochter. Sie hat sich bei mir bedankt, weil ich ihrem Vater das Bein so schön geflickt habe. Wenn sie groß ist, will sie auch einmal Ärztin werden.“

„Ja, das ist eine höchst lohnende Kunst. Aber weiß du, was uns noch aufgefallen ist?“

Viviane zuckte die Schultern.

„Das ich die Geschenke nicht alle trage und dir die Kätzchen gegeben habe?“

„Denen geht es bei mir besser, als in dem Gedränge da unten. Nein, Hanibu hat mich darauf aufmerksam gemacht: Du bedankst dich bei jedem, als hätte er dir ein königliches Geschenk gemacht und wenn es nur ein Korb voll Eier ist.“

„Ein sehr kunstvoll geflochtener Weidenkorb, wie du bestimmt sehen konntest, Lew. Aber du hast Recht. Ein Geschenk, das von Herzen kommt, ist immer ein wertvolles Geschenk. Es verdient den gebührenden Dank, egal was es ist. Und jetzt bekommt Silvanus ein Geschenk von mir. Ich will ihn mal von Furia erlösen. Er lugt schon ganz verstohlen in unsere Richtung.“

Lew lachte übermütig.

„Walte deines Amtes, hohe Druidin, Viviane! Lass rangniedere Königstöchter ängstlich die Flucht ergreifen und machtlose Freunde erleichtert aufstöhnen!“

Viviane blieb stehen, drehte sich noch einmal um und wackelte schelmisch mit dem Finger.

„Apropos aufstöhnen: Die ganze Nacht hat ein Ochse gestöhnt und ein Käuzchen geschrien, als wäre es ihre letzte Nacht auf Erden. Habt ihr das hier oben auch gehört oder ging der Wind in die andere Richtung?“

Großmutter Dana klopfte sich auf die Schenkel und stand auf.

„Genau das hab ich auch gehört, obwohl unsere Zelte viel weiter die Werra runter stehen. Ich hab ja einen leichten Schlaf … bin gespannt, ob das Viehzeug heute Nacht wieder so einen Lärm macht oder ob es wartet, bis ich in Tiefschlaf gefallen bin. Und Hanibu …“

Großmutter Dana wandte sich an die grinsende Hanibu. „ … denk morgen früh an den Korb unten am Fuß des Hügels! Ich packe euch einen ordentlichen Vorrat ein. Milch, Eier und was man noch so alles gebrauchen kann. Nicht, dass ihr hier oben verhungert. Morgen kommen die Händler. Da haben wir erst abends Zeit. Händler! Ha! Das hätte ich doch beinahe vergessen!“

Dana sprang auf und griff nach ihrer Räucherpfanne.

„Ich muss euch ja noch ordentlich ausräuchern! Mich natürlich auch! Aber keine Sorge, ich habe lauter wohlriechende Kräuter dabei! Es muss ja nur ordentlich qualmen und nicht stinken. Kommt sowieso keiner in die Nähe, um nachzuprüfen.“

„Woher weißt du das so genau, Großmutter Dana?“, wollte Viviane wissen, bevor sie sich endgültig auf den Weg machte.

„Ach, ich habe natürlich auch die Probe aufs Exempel gemacht. Sogar ganz ohne Nebenwirkungen.“

„Sil-va-nus“, hauchte Furia mit schmachtendem Blick. „Jetzt habe ich dich aber lange genug aufgehalten. Das Fußvolk wartet sicher schon auf dich. Du solltest dich sputen! Auch ich habe leider keine Zeit mehr, mit dir zu plaudern … Du kannst gehen.“

„Es war mir eine Ehre“, rief Silvanus und wusste sofort, dass Viviane im Anmarsch war. Er verbeugte sich besonders tief und schwungvoll, sodass er einen kurzen Blick auf sie erhaschen konnte, wie sie den Hügel herunterkam. Endlich. Eilig trottete er davon und drehte sich nicht noch einmal um.

Schade. So verpasste er das Schauspiel, wie eine Schlange ein Wildschwein frisst.

Das Wildschwein durfte nicht flüchten, sondern hatte zu grüßen. Also neigte Furia ihren Kopf, natürlich nicht zu tief, schließlich waren viele Leute in der Nähe und reger Verkehr auf der Straße. Es schien sogar, als würde das Gedränge gerade jetzt noch viel dichter werden.

„Ich grüße dich, Druidin Viviane. Willst du auch zum See, wo sich das gemeine Volk trifft und sich mit nebensächlichem Geschwätz den Tag verschönert?“

„Ja, Furia, das hatte ich vor. Ich unterhalte mich gerne mit dem gemeinen Volk, aus dem ich stamme. Apropos verschönert: Du hast dich heute selbst übertroffen. So viele Farben auf so wenig Untergrund …“

Furia strich über die Silberfäden auf ihrem Leinkleid.

„Ja, da muss ich dir recht geben, allerliebste Freundin Viviane. Ist es nicht ein herrliches Gewebe?! So kräftige Farben in Rosa, Violett und Lindgrün. Und es betont meine … schlanke Figur derart vorteilhaft …“

Auffällig schielte sie zu Vivianes Körpermitte und presste sich selbst die Hände aufs Kleid, damit ihre eigene, recht üppige, Figur zum Vorschein kam. Viviane tat ihr den Gefallen und verdrehte die Augen. Furia tat ihr den Gefallen und verstand den Wink falsch.

Sie tätschelte ihren flachen Bauch, packte ihren prallen Busen, rüttelte daran und überprüfte mit einem äußerst kritischen Blick die Spannkraft ihrer Brüste. Höchst zufrieden drehte sie sich hin und her, ließ ihre Finger langsam an den Seiten herabgleiten …

Ein junger Mann, der gerade vorbei ging, verneigte sich artig und rannte gegen einen Apfelbaum.

Furia begutachtete seine groteske Umarmung mit dem Stamm, leckte sich die Lippen und überprüfte den Sitz ihres Torques. Schon wollte sie loslaufen, da viel ihr Viviane wieder ein und die Beute entwischte. Sofort zog sie einen Schmollmund.

„Viviane, du bist so unscheinbar gekleidet, beinahe hätte ich dich vergessen! Ich gebe dir den guten Rat: Richte dich mehr nach der Mode und lauf nicht herum wie eine arme Maid an einem warmen Sommertag.“

Mit gerümpfter Nase zeigte sie demonstrativ auf Vivianes hellgrünes Kleid und ihre bloßen Füße.

„Hast du das Kleid aus eurer Zeltleinwand geschnitten? Es ist natürlich schade, dass du deine … ach so wichtigen Dienste nicht gegen Lohn verrichten kannst. Wie willst du dir jemals ein hübsches Kleid leisten, das deinem Stand und deiner … Figur … Genüge tut.“

Voller Mitgefühl schaute sie auf Vivianes Körpermitte.

„Nun ja, die Übergröße ist recht praktisch, noch kann man nichts erkennen … aber vielleicht könntest du dir doch irgendwie hochwertiges Leingewebe zulegen. Bei deinem Stand müssen die Farben kräftig sein, damit dich jeder sieht und …“

„Schwester, liebste Schwester!“, rief eine piepsende Kinderstimme von Weitem und Furia drehte sich sofort um. Obwohl sie ihren weißen Sonnenschutz trug, beschirmte sie hastig die Augen und sprang auf die Zehenspitzen, auch wenn sie dadurch die vordersten Edelsteine ihrer Sandalen in den Dreck rammte. Das schien sogar von großem Vorteil, sie wackelte kein bisschen beim Balancieren und konnte den winzigen Rufer zwischen den vielen großen Leuten schnell finden.

Es war Adalrich. Er stand zwischen den Backöfen, hopste auf der Stelle und winkte mit beiden Armen, damit sie ihn besser sehen konnte. Seine blauen Augen strahlten wie der Himmel über ihm.

Und plötzlich sah Furia gar nicht mehr aus wie eine überhebliche Königstochter. Sie lachte ganz offen und winkte ihrem kleinen Bruder genauso ausholend zurück. Adalrich jauchzte, bedeutete ihr, dass er später vorbei kommen wolle und rannte schnell hinter seinen Mitschülern her, um nicht den Anschluss an Aodhrix zu verpassen.

Je weiter sich Adalrich entfernte, desto mehr kehrte Furias abweisende Miene zurück und versteinerte in dem Augenblick, als er außer Sicht war. Wie zum Stoß zuckte ihr Kinn gegen Viviane.

„Und wieso trägst du deine Waffen nicht!? Dein Stand gebietet dir, die Zugehörigkeit zur Bruderschaft des Drachenschwertes zu präsentieren. Schließlich gibt es von deinesgleichen so wenige. Ach!“ Furia winkte verächtlich ab. „Wenige ist wohl stark übertrieben. Elitekrieger. Ihr seid ja nur zu zweit und müsstet schon den ganzen Tag von früh bis spät durchs Lager laufen, damit man eurer überhaupt gewahr würde. Vielleicht bekomme ich dann die Gelegenheit, um endlich mal dein Schwert …“ Sie rümpfte wieder die Nase. „ … in Ruhe zu begutachten.“

Viviane lächelte.

„Deine Zunge ist so scharf wie mein Schwert im Urzustand. Sei daher unbesorgt, zum Opferfest werde ich dir deinen Wunsch erfüllen. Und … da fällt mir gerade ein … heute Morgen habe ich tatsächlich ein wirklich einzigartiges Gewand geschenkt bekommen. Wenn es nicht mehr so heiß ist, ziehe ich es bestimmt mal an. An so einem schwülen Tag bleibt einem jedoch nur das Wasser zur Abkühlung.“

„Apropos Abkühlung: Silvanus wollte auch gerade zum See. Der Ärmste hat eine Abkühlung wirklich nötig. Er verströmt eine Hitze wie Arcturus im Simiuisonna. Ich bin richtig ins Schwitzen gekommen.“

„Du solltest nicht zu nah ran gehen, Furia. Schweiß macht Schlieren auf deinem überaus weißen Teint.“

„Oh ja, wie recht du hast!“ Furia hielt ihren Arm gegen den von Viviane. „Man kann den Unterschied von einer Königstochter zu einem Bauernkind deutlich sehen. Aber keine Sorge, Viviane. Ich stand ja im Schatten. So konnte ich mich der Anziehungskraft restlos hingeben, die Silvanus umgibt. Hach, er ist ja sooo gefährlich maskulin! So animalisch! Seine Muskeln! Seine dunklen Locken und diese Augen! Er hat so eine düstere Aura, verlockend wie eine laue Sommernacht! Ich wäre die perfekte Mondgöttin für ihn.“

„Heute Nacht wird ein Gewitter toben, Furia. Doch danach wünsche dir wieder ruhige Sommernächte, bis zu dem Moment, wenn der große Wolf die Mondgöttin verschlingt.“ Viviane schürzte die Lippen und legte den Kopf schief. „Wusstest du eigentlich, dass mein Schutzgeist eine Wölfin ist? Nein? Macht nichts. Das ist im Moment auch nicht wichtig, ich muss ins Wasser! Hast du Lust mitzukommen? Nein? Ach, wie konnte ich das vergessen! Ein simpler See ist ja unter deinem Niveau! Du bevorzugst natürlich den Teich der Weisheit! Ist zwar ziemlich weit bis dorthin …“ Sie zeigte hinauf in den Himmel. „ … aber du, als angehende Mondgöttin, schaffst das schon! Bis zum nächsten Mal, Furia!“

Furia hob schlapp die Hand zum Gruß. Ihre Augen schauten traurig und sie flüsterte, mehr als dass sie rief: „Bis bald, Viviane!“ Da drehte sich Viviane noch einmal um, schon präsentierte sie wieder ihren überheblichen Blick. Viviane johlte aber nur: „Die Kette ist übrigens ein echter Hingucker! Passt gut zu dir!“, und schon ging sie weiter.

Verdutzt, ja sogar fast geschmeichelt, tastete Furia ihren Hals entlang und ließ ihre Finger auf den enormen Edelsteinen verweilen, streichelte sie gedankenverloren und flüsterte mehr zu sich selbst: „Ja, sie ist wirklich einzigartig, ein Geschenk meiner Mutter, kurz bev …“ Sie schluckte, ihr Blick verschwamm, mit schierer Willenskraft kämpfte sie die Tränen zurück. Plötzlich räusperte sich jemand hinter ihr. Erschrocken drehte sie sich um.

Da stand Hirlas, Naschus jüngster Bruder. Schon wieder einer aus dem Hirschclan. Sofort kam in ihre Augen der harte, undurchdringliche, leicht höhnische Ausdruck zurück. Nur noch ein geringer verräterischer Schimmer war von ihrer Trauer übrig, doch Hirlas hatte den Kopf schon unten.

„Was willst du.“

Hirlas räusperte sich wieder und neigte den Kopf noch tiefer, er hatte schließlich mächtig mit seinen Gesichtsmuskeln zu kämpfen.

„Hohe Herrin …“ Er räusperte sich noch einmal und kniff sich fest in den Arm. Jetzt passte die Mimik. „Furia, Tochter des stattlichen Naharrix, ich wollte mich bei dir nach Perdite erkundigen. Ich habe sie noch nicht gesehen und da sie doch …“

„Perdite ist tot,“ fiel Furia ihm ins Wort.

Hirlas konnte gerade noch einen Entsetzensschrei unterdrücken und tarnte sein Keuchen mit einem Husten. Mit dieser Wendung hätte er nie und nimmer gerechnet. Ihm war ganz schwindelig. Furia durfte nichts merken. Sicherheitshalber behielt er seinen Kopf unten.

„Was ist mit ihr geschehen? Ist sie im Kindbett gestorben?“

„Im Kindbett gestorben!? Was redest du da für Schwachsinn!?“

„Das ist kein Schwachsinn!“, fuhr Hirlas empört auf, besann sich aber sofort und senkte den Kopf noch tiefer.

Furia zog die Augenbrauen zusammen und schaute bedrohlich funkelnd auf ihn herab. Ihr fiel aber ein, dass Viviane noch nicht weit genug weg war und die war immerhin eine gute Freundin von Hirlas. Also senkte sie die Stimme zu einem, ihrer Meinung nach, angenehmen Tonfall.

„Rede und sage mir gefälligst, wie du auf derlei Gedanken kommst!“

Hirlas scharrte nervös mit den Zehen kleine Kieselsteine hin und her.

„Das ist so, hohe Herrin: Letztes Samhain war unser König Gort doch Gast bei deinem Vater, Naharrix, genau wie alle anderen Könige der Hermunduren. Und als er wieder zurückkam, hat er uns erzählt, Perdite hätte einen Krieger von Naharrix zum Mann erwählt.“

Furia schnaubte verächtlich.

„Wie kommt euer König darauf?“

„Nun, hohe Herrin, er hat sie gesehen … ich meine, König Gort hat Perdite und den Krieger gesehen, wie sie … äh … also … ich meine …“

Furia beendete das Gestammel mit einem herrischen Schlag durch die Luft.

„Ich weiß schon, was du damit sagen willst. Ja, Perdite hat sich mal wieder einen heißen Stein geholt, damit ihr Lager nicht abkühlt“, leierte Furia gelangweilt herunter. Verächtlich winkte sie ab, beugte sich ganz nah zu Hirlas und zischte: „Um es präzise zu sagen: Perdite dürfte jedes Lager eines Mannes, von den Thuringer Bergen bis Raino gewärmt haben. Dein älterer Bruder Naschu kann sicher ein Lied davon singen. Er würde in dem großen Chor gar nicht auffallen, denn mindestens …“ Furia schürzte die Lippen und sah sich in der Gegend um. „ … mindestens zehn Dutzend Männer müssten Klagelieder, vielleicht sogar Schmählieder auf Perdite singen, so ruchlos hat dieses Weibstück alle an der Nase herum geführt.“

Hirlas lief rot an vor Zorn, doch Furia seufzte übertrieben und beugte sich an sein Ohr, was ihm sofort das Blut zu den Füßen trieb.

„Und wenn mich nicht alles täuscht, hat sie auch genauso oft die Hilfe der Kräuterfrauen in Anspruch genommen, damit sie ohne Last von einen auf den anderen weiter hüpfen konnte, wie eine emsige Biene, die von Blume zu Blume schwirrt.“

Hirlas starrte sie ungläubig an, doch sie seufzte: „Armer Naschu! Ich hatte ihn vor ihr gewarnt, aber er wollte nicht auf mich hören! Tja, er war damals noch genauso grün hinter den Ohren wie du, Hirlas.“

Hirlas’ Fuß verharrte über einem Kiesel und kickte sein Blut wieder hochwärts. Sofort breitete sich eine sehr dunkle Zornesröte über sein Gesicht bis hin zu den Ohren. Fest ballte er seine Hände zu Fäusten und krampfte sie im schnellen Takt seines Herzens.

Furia betrachtete seine Reaktion auf ihre wohl überlegten Worte genau. Mit einem langen Stoßseufzer schob sie ihren Körper gegen seinen, wobei ihr Busen eingequetscht wurde, und legte ihm versöhnlich die Hand auf die Schulter.

„Zürne mir nicht, Hirlas“, schnurrte sie wie ein Kätzchen und krallte ihm ganz leicht ihre rot lackierten Fingernägel in die Oberarme. „Hmmm, deine Muskeln sind so fest, so männlich … Ich wollte dich mit meiner Rede garantiert nicht beleidigen, oh, nein! Ich meinte damit dein Alter, nicht deine stattliche Erscheinung, die dich schon mindestens zwei Jahre älter erscheinen lässt, vielleicht sogar drei. Sei also versichert, Hirlas …“ hauchte sie seinen Namen und ließ ihre Fingerspitzen seinen Hals empor gleiten. Ihr Mund wanderte hinterher. „Im Vergleich mit deinem Bruder, als er so alt war wie du … und sich mit Perdite einließ … bist du …“

Sie legte ihre Fingerspitzen unter sein Kinn, hob seinen Kopf an und ging im gleichen Augenblick etwas in die Knie. Ihre fest gewordenen Brustwarzen scheuerten bei dieser Bewegung über seinen Oberkörper. Hirlas fühlte es durch den Stoff ihres Kleides hindurch und er wusste, dass er sie in keinster Weise beleidigen durfte. Also lautete die Devise: Still halten und so tun, als merke er nichts. Leider war sein Penis in beiden Punkten anderer Meinung.

Furia lächelte wissend, rieb ihren Oberschenkel an der Wölbung seiner Hose und betrachtete diese nachdenklich mit halb gesenkten Lidern, während sie mit ihren roten Fingernägeln leicht über seinen Hals schabte.

„Nein, da ist keinen Vergleich möglich. Du bist viel reifer als Naschu damals war. Viel größer und viel … männlicher!“

Hirlas bekam ganz große Augen und starrte sie an. Furia leckte sich die Lippen und beobachtete seinen Brustkorb, der sich vorstreckte und seine Hände, die sie beinahe gepackt hätten. Er hatte sie zwar wieder zurückgezogen und versuchte, seine Atmung unter Kontrolle zu bringen, sein Mienenspiel verriet aber alles. Wie leicht es doch war, eine wütenden Mann zu besänftigen, zu schmeicheln, sich gefügig zu machen … Da hüstelte schon wieder jemand hinter ihr.

Diesmal selbst rot vor Zorn, drehte sie sich um und fauchte: Was willst du!“

Es war Susanne.

Schon wieder eine vom Hirschclan. Furia kniff die Augen zusammen und Susanne senkte schnell den Kopf. Hastig biss sie sich auf die Lippen, damit ihr kein unbedachtes Wort entschlüpfte.

„Hohe Herrin, ich suchte nach Hirlas. Wir waren am See verabredet. Und da ich gerade dorthin unterwegs war, dachte ich, wir könnten zusammen …“

„Ja, ja. Ich weiß. Die gemeine Jugend trifft sich am See.“

Furia legte Hirlas die Hand auf die Schulter und schubste ihn zu Susanne.

„Da! Nimm Hirlas ruhig mit. Wir haben lange genug geschwatzt. Ich hoffe …“ Damit wandte sie sich an Hirlas. „ … ich habe deine Frage hinreichend beantwortet, und ich hoffe für dich …“ Bei diesen Worten sah sie ihm bedeutsam in die Augen. „ … dass du in der Wahl deiner Gefährtin … wesentlich umsichtiger vorgehst.“

Hirlas sah Furia fest in die Augen und nickte.

„Das werde ich, hohe Herrin. Das werde ich.“

„Nun, dann ist ja alles gesagt. Ich wünsche euch gemeinen Leuten viel Vergnügen bei eurem … Gehabe.“

„Danke, hohe Herrin.“

Furia kniff ihre roten Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und knurrte Hirlas hinterher, der sich bei Susanne einhaken wollte. Diese warf ihm jedoch einen strafenden Blick zu und stampfte sogar mit dem Fuß auf, als ihr sein mittlerer Bereich ins Auge stach. Mit hängenden Kopf trottete Hirlas hinter ihr her und musste schließlich rennen, um mit ihr Schritt zu halten.

Furia leckte sich über die Lippen und ließ ihren Blick von Hirlas Rückenpartie bis zu seinen Unterschenkeln schweifen. Da spürte sie einen warmen Lufthauch an ihrem Ohr. Zwei Hände glitten über ihre Flanken bis zu den Oberschenkeln und etwas Hartes presste sich dagegen.

Furia zog scharf die Luft ein, fasste nach den Händen und führte sie zu ihren steifen Brustwarzen. Ein Biss in den Nacken und der feste Griff entlockten ihr ein wohliges Seufzen, denn nun wurde sie zu ihrem Vergnügen abgeholt. Oh, wie hatte sie es eilig.

Loranthus zog sich das Hemd über den Kopf. Viviane zerrte dagegen und rutschte es wieder zurecht.

„Du brauchst dich nicht ausziehen, Loranthus.“

„Aber wir wollen doch …“

„Das kannst du dir wirklich sparen. Kostet alles nur Zeit und ist vollkommen unnötig.“

„Ich will aber nackt!“

„Und ich will, dass du angezogen bleibst!“

Viviane schien die Diskussion eindeutig Spaß zu machen und je mehr sie schmunzelte, desto störrischer schüttelte Loranthus den Kopf.

„Aber du hast doch gesagt, wir wollen dort rüber auf die kleine Insel im See! Ich schwimm doch nicht mit Kleidern!“

„Wir müssen nicht schwimmen, Loranthus. Was meinst du, warum sich alle mit Bratwürsten eingedeckt haben. Siehst du jemanden essen?“

Loranthus sah sich um und starrte in mindestens fünf Dutzend Augenpaare, von deren Besitzern er etliche kannte und den Rest noch kennenlernen würde. Wie blamabel! Er hatte ganz vergessen, dass sie nicht alleine am Ufer des Sees standen, er mit heruntergelassenen Hosen, sie in sein Hemd verkrallt. Da bekamen die Hermunduren doch gleich den richtigen Eindruck von ihrem griechischen Gast. Und wie konnte es auch anders sein, alle jungen Leute schienen sich prächtig zu amüsieren, feixend schwenkten sie ihre Bratwürste. Als hätte er diese Gedankenstütze nötig.

„Nein.“

„Na also, keine Panik. Lauf uns einfach nach.“

Viviane stellte sich ans Wasser, alle reihten sich hinter ihr ein und Silvanus schob Loranthus kurzerhand zwischen Beth und Ria. Die beiden kicherten und kamen ihm gefährlich nahe.

„Was habt ihr denn vor? Ich geh da nicht so rein! Ich will mich ausziehen!“

Ria raffte von hinten sein Hemd zurecht und ruckelte am Gürtel, bis alle Falten da lagen, wo sie ihrer Meinung nach hingehörten.

„Hört, hört! Ausziehen will er sich! Früher warst du doch immer der Letzte, Loranthus?! Woher der Sinneswandel?“

Beth drehte sich um, grinste verschwörerisch und steckte ihm ein Stück Bratwurst in den offenen Mund.

„Wenn ich meine Wurst gegessen habe, helfe ich dir dabei, Loranthus. Aber jetzt hältst du dich besser an mir fest, damit du nicht daneben trittst. Der Weg hat einige Tücken, die kenne ich besser als du.“

Da Loranthus nicht reagierte, nahm sie seine Hände und zog sie um ihren Bauch.

„Noch fester!“, verlangte sie und zerrte weiter, bis seine Finger gegeneinander stießen. Da gurrte sie: „So ist es gut!“ und passte sich seufzend seinen Konturen an. „Wenn du willst, kannst du mir auch mein Kleid hochhalten. Bleibt es trocken, gebe ich dir noch was von meiner Wurst ab.“

Derart angespornt, raffte Loranthus so viel von ihrem Kleid, wie er in seinen Händen unterbringen konnte, doch Beth hatte sich mehr davon erhofft. Also drückte sie ordentlich Stoff zwischen seine wehrlosen Finger und noch ein Stück Bratwurst in seinen offenen Mund, der gerade protestieren wollte. Dann trällerte sie: „Es kann los gehen, Viviane!“ und schon ruckte der Tausendfüßler an.

Loranthus setzte einen Fuß vor den anderen und dachte an Kinderspiele zu Beltaine, nebenbei kaute er genüsslich. Bei jedem kleinsten Richtungswechsel lugte er nach unten und wunderte sich, dass er nicht einsank. Den ganzen Weg bis hinüber zur Insel wurden seine Füße nur bis zu den Knöcheln nass.

Am anderen Ufer angekommen, drehte sich Beth schelmisch grinsend zu ihm um und schnurrte: „Du kannst jetzt wieder loslassen, Loranthus. Und weil mein Kleid nicht nass geworden ist, bekommst du auch die versprochene Belohnung von mir. Hier deine Bratwurst. Jetzt habe ich noch eine übrig. Willst du die auch noch verdienen?“

Ria nahm Loranthus die Antwort ab.

„Nun lass ihn sich doch erst mal umsehen, Beth! So, wie er guckt, gibt es in seiner Heimat keine Inseln im Wasser.“

„Doch, die gibt es!“, beteuerte Loranthus mit dicken Hamsterbacken. „Aber keine kann man so betreten, wie ihr es hier macht! Das ist wirklich einzigartig!“

Viviane trat dazu.

„So einzigartig ist das gar nicht, Loranthus. Schon seit vielen Generationen kommen die jungen Leute zu Lugnasad hierher. Das hat Tradition. Mein Großvater Anu meinte, dass es früher vielleicht zwei Senken waren. Die große Flut aus der Zeit, als die Götter noch unter uns weilten, hat sie überschwemmt und miteinander verbunden. Der Weg ist ziemlich schmal und hat so seine Tücken, wie du vielleicht bemerkt hast. Großvater Anu hat ihn mir schon als Kind gezeigt, damit ich ihn mir einpräge. Wir sammeln immer weiße Kieselsteine, um ihn zu kennzeichnen. Sie leuchten sogar im Mondlicht.“

„Weißt du, Viviane, eure Götter haben hier ein Wunder vollbracht. Da habe ich gedacht, mich könne nichts mehr in diesem Land in Staunen versetzen, aber das hier glaubt mir zu Hause keiner.“

Viviane lachte und Beth zog Loranthus mit sich.

„Komm hinter die Hecke, Loranthus! Die anderen warten schon alle! Die glauben dir auch nicht, dass du so lange einer duftenden Bratwurst widerstehen kannst. Und wenn wir gegessen haben, wird getanzt!“

Der mondhelle Pfad

Подняться наверх