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Die Hüter des weißen Goldes

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Eine sanfte Brise strich durch die Schatten der Wälder, erklomm die sonnigen Bergkuppen, senkte sich hernieder in die kühlen Auen. Jedem Kiesel in den gewundenen Bächen, jedem Grashalm auf den saftigen Wiesen, jedem Blatt in den hohen Wipfeln raunte sie zu:

„Dreht euch, wiegt euch und tanzt beschwingt, denn seht:

Dieser Tag der Eiche ist einmalig.

Selbst der Strahlende strebt heute seinem Zenit besonders gleißend entgegen.“

Und so wurde es heiß, sehr heiß. Über der Antsanvia begann die Luft zu flimmern. Verlassen lag die breite Straße, wartete.

Die Alten und Mütter des Hirschclans hatten sich längst vom Wegesrand ins schattige Unterholz zurückgezogen. Auch sie warteten.

Sie warteten auf diejenigen, wegen deren Mut sie überhaupt noch warten konnten, wegen deren Tapferkeit sie noch ein Leben hatten, eine Heimat, Freiheit.

Doch vorerst war es noch nicht soweit, die siegreich Heimkehrenden in die Arme zu schließen. Noch wurden gemurmelte Worte ausgetauscht, manchmal erklang auch helles Lachen, ansonsten döste jeder vor sich hin. Nur die Kinder tobten lärmend um die Bäume herum.

Auch sie warteten – auf ihre Art.

Drei mal schon hatten sie mitten im Lauf inne gehalten und dem Erschallen der Hörner gelauscht. Jedes mal hatte ihnen eine sanfte Brise den mahnenden Ruf zugetragen – der erste nur eine Ahnung, der zweite bereits laut und vernehmlich, der dritte war das gewohnte Dröhnen.

Die Berge ringsum hatten den Schall bis tief hinein ins schattige Unterholz geworfen und der dumpfe Klang die Kinder in helle Aufruhr versetzt; ihr Spiel noch ausgelassener gemacht. Ihre Mütter und Großeltern jedoch waren träge liegen geblieben.

Nun endlich erschallten die Hörner das vierte Mal und bewirkten ein allgemeines Aufsetzen und Glieder strecken, nur die Hunde gähnten gelangweilt.

Es war immer noch Zeit.

„Beim Geweih Cernunnos! Halt endlich still, Robin!“

Im Takt ihrer Worte klatschte Lavinia ihre Hand auf Robins Rücken und schleuderte mit einem „Ich brauch Platz!“ seinen langen roten Zopf über die Schulter nach vorne. „So, freie Bahn und jetzt Ruhe! Wie soll ich denn einen ordentlichen Buchstaben auf deinen Rücken bekommen, wenn du so zappelst!“ Rabiat packte sie seine Schultern und zerrte ihn in eine gerade Sitzposition.

„He! Lass das Schütteln sein! Ich bin doch kein Apfelbaum!“

„Mit welchem Buchstaben fängt Apfelbaum an?!“, rief Lavinia sofort und schüttelte noch mehr, so dass jetzt auch ihre eigenen nussbraunen Locken ordentlich mitwippten.

„Mir ist so heiß!“

„Von dem Buchstaben hab ich noch nie was gehört und mir reißt jetzt gleich der Geduldsfaden! Also! Konzentriere dich endlich, Robin! Ich habe dich ge …“

„Ich will jetzt endlich spielen!“

„Dummes Zeug!“, schnarrte Lavinia und gab ihm einen derben Klaps auf den Rücken.

Den Schwung nutzte sie schnell noch aus, um sich ein paar hängengebliebene Ringellocken aus dem Mund zu zerren, schon hatte sie ihn wieder gepackt. Robin war allerdings auch nicht untätig geblieben und hatte es geschafft, seinen Zopf zurückzuwerfen, doch der klatschte ihm so schnell gegen die Stirn retour, dass er nicht einmal bis eins zählen brauchte. Lavinia grummelte wesentlich länger und schüttelte noch wilder, da sie eine Abneigung gegen widerspenstige Sprösslinge jedweder Art hatte, die nur mit Gewalt in die richtige Richtung gezogen werden konnten. Bloß gut, dass gerade Sommer war. Bis da die Sonne unterging …

„Ich will spielen! Ich will sp …“

„Ruhe! Der Tag ist bereits zur Hälfte um! Die Hörner sind schon ganz laut! Jetzt ist keine Zeit mehr für …“

„Dafür reicht die Zeit allemal noch! Und seit wann ist Verstecken spielen dummes Zeug?! Du redest Schwachsinn, Lavinia! Ich bin nämlich ein Kind! Genau wie du übrigens! Mit fünf Jahren dürfen wir dummes Zeug machen, soviel wir wollen! Immerzu!“

„Wer sagt das?!“

„Medan.“

„Me-dan!?“, knurrte Lavinia und zog entrüstet die Augenbrauen hoch. Doch dann entschied sie sich für ein herablassendes Schulterzucken und verzog das Gesicht zu einem verheißungsvollen Lächeln.

„Nun, ja. Medan, als mein jüngster großer Bruder, muss es wohl wissen! Wenn der erst seine Weihe hat, ist die Zeit der Dummheiten vorbei! Einen Mond später, höchstens zwei, und er will wieder ein Kind sein! Garantiert!“

„Wer sagt das!?“

„Schwatz nicht so altklug daher!“

„Nun, ja. Du musst’s ja wissen, Tantchen!“, plusterte sich Robin auf und zupfte einen langen, imaginären Bart an seinem Kinn zurecht. „Das Studium der Altklugheit hast du bekanntlich schon vor drei Jahren mit Bravour gemeistert! Vielleicht wirst du später mal … Druidin der Altklugheit!“

Lavinia klappte die Kinnlade herunter. Ihre Hand zuckte verdächtig in die Höhe und strich betont würdevoll eine äußerst widerspenstige, nussbraune Locke aus der leicht geröteten Stirn.

„Wie recht du doch hast, liebster und – bis jetzt – einziger Neffe, Robin!“, säuselte sie honigsüß und leckte sich die Lippen. „Auch du kannst klug werden im Alter. Es ist nicht schwerer, als ein Feld mit einem Holzlöffel zu beackern.“

Robin brauchte einen Augenblick, um die versteckte Botschaft zu entschlüsseln, doch da hatte sie seinen Gedankengang schon ausgenutzt und versuchte, ihn in die Spur zu lenken. Eigentlich tat sie das immer; im konkreten Fall drückte sie allerdings dermaßen derb in Richtung Gras – je schneller er von ihr wegkam desto besser. Die einzig mögliche Option war Kapitulation – wie jedes Mal – und es war ja nicht so, dass er sich geschlagen gab … oh, nein.

Höchst betrübt drehte Robin seinen Kopf nach hinten, hielt sich an seinem Zopf fest und konterte Lavinias ironisches Grinsen mit einem bockig-verzweifelten Blick.

Tief seufzend maulte er: „Ich lerne dieses schwierige Geschreibsel sowieso nie! Da kann ich es auch gleich sein lassen!“ Und damit hatte er ihre Schwachstelle getroffen.

Wie erwartet tätschelte Lavinia sofort seine leidende Miene, nahm ihn unter ihre Lockenpracht und gurrte beschwichtigend: „Wir schaffen das gemeinsam, Robin! So wahr ich hier sitze, du lernst schreiben! Da gebe ich dir Brief und Siegel drauf.“

Robins Augen leuchteten ehrlich begeistert auf und er wurde so rot wie seine Haare.

„So einen Brief wie Afal in der Hand hatte, als er mit Königin Elsbeth bei uns war? Der mit dem Hirsch auf dem Siegel?“

„Genau so einen meine ich.“ Alles an Lavinia wippte.

„Aber der war doch in Geheimschrift, Lavinia! Da müsstest du schon eine echte Druidin werden, um den zu lesen! So eine, wie deine Schwester, Viviane!“

Lavinia ruckte kerzengerade und löste tatsächlich ihre Armklammer, um sich nachdenklich gegen die Wange tippen zu können. Mit der anderen Hand drehte sie sich noch mehr Locken.

„Jaaa, das wäre eine Überlegung wert, mein schlauer und, wie schon erwähnt, einziger Neffe … Nora sagt, ich hätte das Zeug dazu.“

Diese Reaktion hatte er zwar nicht einkalkuliert, doch Robin nutzte die Gelegenheit und rutschte ein Stück weg. Belustigt zog er die Augenbrauen hoch und kiekste: „Nora ist unsere Schafhirtin.“

„Na, und!?“

Lavinia reckte das Kinn in Angriffsposition und kniff ihre Augen bedrohlich zusammen; Robin schaute so unschuldig drein wie das frommste aller Lämmchen … ein besonders niedliches, liebes Lämmchen mit flauschiger roter Wolle … so rot wie die Rübe, die das wehrlose Lämmchen scheinbar gerade kaute, weil es nichts Besseres zu essen hatte … und so konnte sie nur nachsichtig lächeln. Natürlich nicht, ohne Achtung heischend den Zeigefinger zu heben – den, mit den aufgewickelten Haaren.

„Nora ist die beste Freundin meiner lieben Schwester Viviane, also muss sie es auch am besten wissen. Die beiden haben schließlich gemeinsam die Schafe gehütet, als sie so alt waren wie wir.“ Und bestimmt hatten auch sie ein kleines, knuddeliges und ach so treuherzig drein blickendes Lämmchen dabei gehabt, einfach zum …

„Was meinst du, Lavinia!?“, raunte Robin und beugte sich gewagt in ihre Reichweite. „Haben die Kinder früher auch Buchstaben und Zahlen gelernt, als sie auf den Weiden waren?“

„Natürlich!“, rief Lavinia und wickelte schnell ihre Haare ab, um den Finger besser schwenken zu können. „Das ist doch wohl klar wie ein Gebirgsbach! Was sollte der Hirte denn sonst den Kindern beibringen!? Ist doch viel zu langweilig, den ganzen Tag nur den Hunden Befehle geben und in aufgeblähte Bäuche stechen, damit den vollgefressenen Schafen die Luft ausgeht!“

„Oooch, Steine schleudern macht auch Spaß! Und Hirtenflö …“

„Lenke nicht vom Thema ab, Robin! Wir wollen schließlich gut dastehen, wenn unsere Leute heimkommen! Was meinst du wohl, wie dein Vater guckt, wenn wir schon Conall schreiben können! Also, mit Schwung! Wir probieren es mal im Liegen. Das Hemd kommt weg!“

Ehe Robin begriff, sprang Lavinia auf, versetzte ihm einen kräftigen Stoß in den Rücken und kletterte auf sein Hinterteil.

Dieser neuartigen Lernmethode zu entkommen, war jetzt schlichtweg unmöglich und so blieb ihm nur noch ein sehnsüchtiger Seitenblick auf die anderen Kinder, die keine angehende Druidin als Spielgefährtin hatten. Daher durften sie johlend über die Wiese tollen und Hermunduren gegen Chatten spielen, während er sich seinem Schicksal ergeben musste. Er hätte einen perfekten Chatten abgegeben, sogar freiwillig.

Seufzend legte Robin den Kopf ins Gras und überlegte, wann er das letzte Mal im Ringkampf gewonnen hatte. Wie schon erwähnt: Er war immer der Chatte.

Lavinia gab sich diesmal aber nicht mit einem klassischen Sieg zufrieden, sondern raffte energisch sein Hemd unter dem Gürtel heraus, zerrte es ihm über die Schultern, stopfte seinen Zopf umsichtig hinein und setzte mit konzentrierter Miene ihren Zeigefinger auf seinen entblößten Rücken.

Sie hatte ihren Buchstaben noch nicht ganz fertig aufgemalt, da waren Robins Augen schon geschlossen und ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen. So machte verlieren …

„Also, Robin! Was habe ich geschrieben?“

„He? Ein A“, nuschelte er.

„Und? Ausführlich!“

„In Griechisch Alpha und Apfel fängt damit an. Womit wir wieder beim Apfelbaum wären!“

„Höchstens Sprössling, du Klugscheißer! Was noch? Ein Name, zum Beispiel!“

„Ein Name … ein Name … Ah, ich weiß! Mein Großvater! Sein Name! Arminius!“

„Sehr gut, Robin. Arminius ist absolut richtig. Aber für mich ist Arminius mein Vater.“

Ermutigt von dem Lob drehte Robin seinen Kopf bis zum Anschlag und grinste breit.

„Weiß ich doch, du kleines Nesthäkchen.“

Kaum hatte er das letzte Wort gesagt, hob Lavinia ihr Hinterteil und ließ es mit Schwung auf seinen Po sausen. Sein Gefasel über tieffliegende Hausdrachen überhörte sie galant und malte konzentriert weiter.

„Ich erwarte Respekt“, säuselte sie nebenbei. „Ich bin schließlich deine Tante, kleiner Neffe Robin! Und bald bin ich eine große Schwester. Den laschen Spruch kannst du dir also schon mal abgewöhnen. Ansonsten …“ Sie stemmte sich wieder ein Stück in die Höhe, setzte sich diesmal jedoch sachte. „Was jetzt?“

„Ein S. Griechisch Sigma und Salz fängt damit an und … Silvanus“, leierte Robin so schnell wie möglich herunter.

Lavinia inspirierte die deutliche Antwort auch prompt zu einem Lob. Sie tätschelte ihm die Flanke wie einem Pferd.

„Perfekt! Prima, Robin! Jetzt bin ich dran.“

„Oooch! Jetzt schon?“

Widerwillig erhob sich Robin, um den Platz mit ihr zu tauschen. Dabei fiel sein Blick auf die Wegbiegung am Ende der Straße.

„Was meinst du, Lavinia, wann sind sie endlich da?“

„Hm. Mal überlegen …“, murmelte Lavinia und ließ ihren Blick die Antsanvia hoch und runter schweifen.

Die Straße selbst war leer. Die Kinder ihres Clans hatten sich überall am Wegesrand zwischen den Büschen verteilt und spielten, je nach Alter – doch immer ziemlich laut – Verstecken, Fangen, Zielwerfen oder Schwertkampf. Letzteren hatte ihr Bruder Medan gerade gewonnen und stolzierte mit hochgerecktem Schwert umher wie der Gockel auf dem Mist. Seine langen kupferroten Haare gaben einen prima Hahnenkamm ab, er krähte sogar recht authentisch. Alle fast-erwachsenen Mitstreiter hielten sich die Ohren zu, bis auf einen. Der hielt sich die Hand mit dem abgebrochenen Holzschwert.

Etwas weiter die Straße hinauf hatte es sich Großmutter Mara mit den anderen alten Leuten unter mächtigen Eichen bequem gemacht. Hanibu saß mitten unter ihnen wie ein junges, schwarzes Schaf zwischen alten, weißen und redete – wie so oft – mit Händen und Füßen. Ab und zu schallte Gelächter herüber, denn Hanibu artikulierte manchmal die Mundart der Hermunduren so verquer, dass am Ende nur unsinniges Zeug heraus kam. Lavinia kannte sich damit aus, weil sie umgekehrt die Sprache der Äthiopier fleißig lernte und daher auf die gleiche Weise ihre dunkelhäutige Freundin zum Lachen brachte.

Die einzigen, bei denen es sehr ruhig zuging, waren die Frauen mit kleinen Kindern, die noch nicht schnell genug weg krabbeln konnten. Dort saß ihre Mutter, Flora, und tat so, als würde sie sehr aufmerksam ihre Schwiegertöchter, Noeira und Taberia, sowie Enkeltöchter, Belisama und Armanu, betrachten. Ihre wahren Absichten verbarg sie hinter üppig herabwallendem Kupferhaar. Lavinia hatte schon fünf Jahre geübt, diesem getarnten Kontrollblick zu entkommen und tat so, als würde sie die Mittagssonne blenden.

Mit der Hand über den Augen drehte sie sich wieder zu Robin um.

„Nun, ja … Wann werden unsere Leute endlich da sein. Gute Frage. Also: Der letzte Hörnerklang kam vom Schleidsberg und sie sind ja nicht so schnell, weil sie im Tross ziehen. Also Geduld, Robin, Geduld. Es dauert nicht mehr lange. Mama hat gesagt, die Zeit des Hoffen und Bangen ist vorbei!“

„Den Göttern sei Dank! Meine Mama heult nachts lauter als meine kleine Schwester!“

„Wem erzählst du das?!“, seufzte Lavinia und setzte sich ins Gras. „Immerhin habe ich die ganze Zeit neben Noeira gelegen! Du schläfst ja bei Medan! Ich bin froh, wenn ihr endlich wieder in euer eigenes Haus zieht.“

„Nichts lieber als das, Medan zieht mir immer die Decke weg! Was meinst du, Lavinia? Wird mein Papa seinen Arm je wieder gebrauchen können? Königin Elsbeth hat gesagt, er hätte einen schlimmen Schwerthieb abbekommen und Onkel Tarian hat es extrem am Bein erwischt.“

„Nur keine Sorge, Robin. Meinen großen Brüdern geht es bestimmt gut! Schließlich haben sie die beste Ärztin dabei, die es hierzulande gibt. Viviane flickt alles wieder zusammen, es sei denn, der Kopf ist ab.“

Robin verzog das Gesicht und fasste sich an den Hals.

„Königin Elsbeth hat gesagt, unser Clan hätte nur vier Krieger verloren, aber es gab viele Verwundete. Im Allgemeinen hätten sämtliche Hermunduren-Clans jedoch großes Glück gehabt.“

„Dieses Glück heißt Viviane. Sie hat schließlich alles zum Guten gewendet. Sie hat die Späher der Chatten in eine Falle gelockt und sie hat unserem Amaturix geholfen, als er gegen die Könige der Chatten gezogen ist. Die Beiden haben heroisch gekämpft und unserem Hirschclan enorm viel Ehre gebracht. Sie sind unsere Helden, die Helden des geeinten Großkönigreiches der Hermunduren.“

„Genau. Wir Hermunduren haben die große Salzschlacht im hercynischen Wald gewonnen. Wir Hermunduren haben von den Göttern das Salz geschenkt bekommen. Wir Hermunduren sind die Hüter ihres weißen Goldes. So war es, so ist es, so wird es auch bleiben. Unser Land steht den Göttern am nächsten und deshalb haben die berühmt-berüchtigten Chatten jetzt Respekt vor uns ehrbaren Hermunduren.“

„Garantiert. Aber nur vor denen, die ordentlich schreiben können, besonders, wenn sie aus dem ehrenhaften Hirschclan kommen.“

Demonstrativ verdrehte Lavinia ihren Arm und tippte sich auf den Rücken, den sie schön krumm zum Buckel formte. Hinlegen tat sie sich nicht, verschränkte aber wenigstens die Hände vor den Knien und stützte ihr Kinn darauf ab.

Robin seufzte ergeben, klemmte sich die Zungenspitze zwischen die Zähne und malte auf ihren gesamten Rücken ein …

„T, griechisch Tau wie Teller, Tasse oder Tarian. Jetzt haben wir alle durch, die von unserer Familie in die Schlacht ziehen mussten. C wie Conall und V wie Viviane haben wir ja schon vorhin mit Steinchen gelegt.“

„Einen hast du noch vergessen!“

Robin malte wieder hochkonzentriert.

„Ach ja! Da hast du natürlich recht, Robin! L, griechisch Lambda wie Lamm, lesen oder Loranthus. Aber eigentlich war unser Loranthus ja nicht richtig in der Schlacht dabei, weil er ein Grieche ist und kein Hermundure. Er ist unser Gast, und Gäste dürfen nur von Weitem zusehen.“

„Aber er könnte einer von uns werden, Lavinia! Immerhin hat er sich in Elektra verliebt und Elektra sich auch in ihn!“

„Richtig. Wenn Loranthus eine Königstochter ausschlägt, und auch noch eine solche Schönheit wie Elektra, wäre er wirklich ein Dussel. Dümmer geht’s schon gar nicht mehr.“

In Anbetracht dieser potentiellen Fehlentscheidung verzog Lavinia schon einmal geringschätzig das Gesicht. Robin hingegen wiegte den Kopf, als pendele er selbst zwischen dem Leben eines Königs und dem eines Seefahrers hin und her.

„Ich weiß nicht, Lavinia … Großmutter Flora sagt, er könnte dann kein Händler mehr werden wie sein Vater! Er käme nie mehr in seine Heimat, diese herrliche griechische Insel, Kreta!“

„Da hat meine Mutter vollkommen recht, Robin. Großmutter Mara sieht das als seine schwerste Entscheidung an, immerhin ist Loranthus der Spross einer uralten und enorm reichen Händlerdynastie.“

„Da hat meine Urgroßmutter Mara vollkommen recht, Lavinia. Medan hat sie übrigens belauscht, als sie gerade über seine Sklavin Hanibu geredet haben. Er hat sich doch tatsächlich auf eine Wette mit mir eingelassen.“

Lavinias Kopf ruckte hoch und bis zum Anschlag herum.

„Hanibu mag die Sklavin von Loranthus sein, aber sie ist auch unsere Freundin, Robin!“, schnaubte sie tadelnd, um ihre wahre Absicht zu kaschieren, doch der lauernde Ausdruck in ihren Augen sagte alles. „Um was hat mein jüngster Bruder mit dir gewettet?“

„Kannst du schweigen?“

„Selbstverständlich!“

„Siehst du, ich auch!“

„Ts, dann eben nicht“, winkte Lavinia verächtlich ab und säuselte einen Wimpernschlag später: „Aber wir zwei könnten ja auch eine Wette abschließen, Robin!“

„Gut. Warum nicht.“

Ihr Blick bekam sofort einen geschäftsmäßigen Ausdruck.

„Also. Ich wette mit dir um einen Kieselstein meiner Wahl, dass Loranthus und Hanibu hier bei uns Hermunduren bleiben.“

„Dann halte ich dagegen und wette mit dir um einen ausgetrockneten Frosch meiner Wahl, dass Loranthus mit Hanibu zurück nach Kreta reist.“

„Wette angenommen!“, sagte Lavinia und verrenkte sich, um Robin mit feierlicher Miene die Hand zu schütteln.

Robin drückte fest zu und schob sie sorgsam in Richtung ihrer Füße zurück; ein bisschen schräger drücken, noch schräger nach unten, Übergewicht ausnutzen, Achtung! Drache fällt! Füße hinten … festhalten! Und mit Schwung auf das Hinterteil! Drache fixiert!

Triumphierend reckte Robin die Finger in die Luft und … fing wieder an zu malen. „Mama …“, rief Lavinia sofort und schmiegte sich ins Gras, als hätte sie sowieso dorthin gewollt.

„Nein, Lavinia! Doch nicht M wie Mama! Es ist doch ein N wie Noeira! Wie meine Mama!“

Lavinia presste ihr Ohr ins Gras und zischte: „Lass mich doch ausreden! Ich wollte sagen: Mama hat recht gehabt. Sie kommen.“

Sofort reckte Robin den Kopf, wohlgemerkt nur den, und seine Augen visierten die ferne Wegbiegung an. Feixend drehte er sich wieder zu Lavinia um.

„Da musst du dich getäuscht haben, Tantchen! Nichts zu sehen, aber guter Versu …“

Lavinia zerrte so abrupt an seinem Arm, dass er einfach zur Seite kippte und sie ihm eine Hand auf die Wange klatschen konnte. Zornig wollte er aufbegehren, doch sie hatte seinen Kopf bereits seitwärts ins Gras gedrückt, der Rest war auch schon da.

„Zu sehen vielleicht noch nicht, aber horch mal, Robin! Das hat uns doch Oen am letzten Tag auf den Weiden beigebracht, bevor er in die Schlacht ziehen musste. Deshalb ist doch seine Schwester, Nora, jetzt unsere Schafhirtin.“

Robins verdrießliche Miene hellte sich sofort auf, denn nun konnte er es auch hören: Das Trampeln der Pferde und Ochsen, das Rumpeln der Wagenräder … Er bildete sich sogar ein, die Schritte der Leute auszumachen, als er sein Ohr ganz fest ins Gras presste. Jauchzend sprang er hoch. Wo war sein Hausdrache? Ah, genau vor seiner Nase.

Wild packte er Lavinia und zerrte sie hinter sich her zu den Erwachsenen.

„Sie kommen!“, jubelte er. „Jaaa! Sie kommen endlich heim!“ Lavinia johlte mit und flatterte mit ihrem frisch gewaschenem grünen Leinkleid neben ihm her.

Auch auf der anderen Straßenseite riefen die Kinder durcheinander. Medan rannte quer durch die Büsche, stob über die Antsanvia, riss die Arme hoch und Lavinia sprang jauchzend in diese hinein. Er drückte sie an sich, schob Robin an seine Seite und sie legten das letzte Stück gemeinsam zurück, wobei Robin den beiden neidische Blicke zuwarf oder vielleicht eher skeptische.

Er selbst hatte leider nur eine kleine Schwester, Belisama, und musste daher selbst laufen. Dafür konnte er von einem winzigen, haarlosen Baby aber auch nicht herumkommandiert werden, so wie es Medan mit ihnen versucht hatte – wohlgemerkt nur ‚versucht‘. Schließlich hatte dieser Halbstarke noch nicht mal seine Weihe, auf die er sehr sehnsüchtig wartete und die Robin ihm auch gönnte. Dann hätte Medan nämlich mit in die Schlacht ziehen dürfen und er wäre der einzige Mann im Dorf gewesen. Erste Betonung auf ‚Mann‘, zweite auf ‚einzig‘.

Robin war so mit diesem verlockenden Szenario beschäftigt, dass er gar nicht merkte, wie sich die Leute erhoben und nach Familien ordneten. Erst als Hanibu in ihre dunkelbraunen Hände klatschte, erkannte er seine Chance und hüpfte in ihre ausgebreiteten Arme. Er widerstand allerdings der Versuchung, auf ihre Schultern zu klettern, so wie es Lavinia gerade bei Medan tat, und begann schon ein wenig zu schmollen, da fühlte er plötzlich, wie ihm jemand zärtlich von hinten den Zopf aufmachte und noch einmal neu flocht.

Es war Flora. Sie gab ihm noch einen großmütterlichen Kuss auf die Wange, bevor sie sich mit jugendlichem Schwung über die Lockenpracht ihrer Tochter, Lavinia, hermachte. Nach erfolgreicher Entfernung jeglicher Grasrückstände legte sie ihre Hände irgendwie feierlich bei Medan und Hanibu auf die Schultern, um ihre Ruhe auf die Gruppe zu übertragen.

Gleich daneben kämmte sich Noeira ebenfalls ihre rotblonde Mähne durch. Kaum war sie damit fertig, hatte Belisama auch schon ein paar Strähnen in der Zerre und riss ihr kleines Mündchen auf. Ungeduldig brummelte Noeira vor sich hin und rutschte Belisama im Tragetuch zurecht, denn ganz offensichtlich hatte die Kleine Hunger, ausgerechnet jetzt. Taberia brachte schnell ihren langen blonden Zopf in Sicherheit und lugte zu ihrer Armanu hinunter, die gerade mit der gleichen Absicht und ziemlich gierig an ihrem Kleid zerrte. Seufzend öffnete sie gleichfalls die Fibel auf der rechten Schulter und zog das Gewand ein Stück herab, während kleine Füße gegen ihren Bauch rempelten und grapschende Finger sich ihre Brustwarze einverleibten.

Großmutter Mara schnalzte belustigt mit der Zunge, als die Babys zu schmatzen begannen und legte den beiden jüngeren Generationen feierlich die Hand auf. Es war wirklich schön, Mutter, Großmutter und Urgroßmutter zu sein. So war es, so ist es, so würde es auch bleiben, dank derer, die da siegreich heimkehrten.

Aufrecht und voller Freude standen alle Leute da wie angewurzelt und schauten gespannt in die gleiche Richtung, weit die Straße hinunter zur Biegung, wo endlich König Gort erschien. Hoch zu Ross, Langschwert und Kurzschwert im Gürtel, den runden Schild leger daneben gehängt, den Speer triumphierend in der Hand und das Haupt hoch erhoben wie der stolze Hirsch, trabte er majestätisch um die Biegung der Antsanvia. Seine langen braunen Haare wehten weit über sein grau glänzendes Kettenhemd, als wollten sie nach hinten deuten. Da setzten sich ihre Füße von ganz alleine in Bewegung – zögerlich; sie brauchten noch mehr Gewissheit.

Und wirklich: Die ersten Krieger kamen hinter König Gort in Sicht, während er sein Signalhorn an den Mund hob und ein herrlicher, tiefer, dumpfer Klang die Luft zum Vibrieren brachte.

Plötzlich ertönte auch bei ihnen das Dröhnen und Afal, in seinem reinweißen Druidengewand, das Horn an den Lippen, hob die Hand und schwenkte sie weit ausholend zum Gruß. Sämtliche Kinder, Mütter und alte Leute jauchzten auf und rannten los, rannten, sprangen, hüpften, schritten dem Tross entgegen, der sich schwerfällig um die Biegung wand.

Beim Anblick der heranpreschenden Meute aus stampfenden Füßen, aufgerissenen Mündern und fuchtelnden Armen kam der Wagenzug ins Stocken.

Nun brachen auch die Heimkehrenden in Jubelgeschrei aus, sprangen von den Ochsenkarren und stürmten den langen Tross entlang, eilten den Daheimgebliebenen entgegen. Manch einer entwickelte auch ohne Pferd eine so extrem schnelle Gangart, dass die Krieger ihre tänzelnden Pferde zügeln mussten, damit niemand zu Schaden kam. Umsichtig warteten sie daher auf ihre Kameraden in den Streitwagen, die nur langsam über den bebenden Boden rumpelten, weil sie nicht an ein paar humpelnden Männern vorbei kamen, die wuchtig ihre Gehstöcke schwangen. Die Insassen der Streitwagen stiegen jedoch einfach heraus und huschten wie der Wind an den Hindernissen vorbei. Johlend sprangen auch die anderen Krieger von ihren Pferden und mischten sich ins Gedränge.

König Gort blieb auf seinem Hengst sitzen und stieß die ganze Zeit ins Horn; am anderen Ende der Straße tat es Afal, sein oberster Druide, ihm gleich.

Der mächtige Hörnerklang und Jubel von zwei Seiten schwoll zu einem einzigen, vielstimmigen Triumphgetöse, auf dessen Höhepunkt sich die Menschen beider Seiten mit Wucht vermischten wie zwei Flüsse, die ineinander brausten.

Sofort ebbte der Strom ab und jeder versuchte, so schnell wie möglich seine Lieben in die Arme zu schließen. Namen wurden gerufen, Leiber schoben sich gegeneinander vorbei, prallten zusammen, pressten sich aneinander, umarmten sich … Kleine Kinder wurden hochgehoben, jauchzten gemeinsam mit ihren Eltern, Brüdern, Schwestern, Großeltern. Die Freudenschreie triumphierten über die besorgten Rufe wegen der Verletzungen. Tränen tropften aus glücklichen Augen.

Aber es gab auch einige in dieser mächtig wogenden Menschenmenge, die still dastanden und unförmige Lederbeutel an ihr Herz pressten. Auch sie wurden umarmt, gedrückt, gestreichelt, geküsst und getröstet, doch bedächtig traten sie aus dem Freudentaumel heraus, stellten sich abseits unter die Bäume.

Voll Wehmut schauten sie auf die kläglichen Reste ihrer Angehörigen herab und betrachteten die, die lebend heimgekommen waren, mit einem suchenden Blick, als müssten ihre Leute doch unter ihnen sein – irgendwo, sie sahen sie in dem Gewühl nur nicht.

Erst als ihr oberster Druide, Afal, erneut in sein Horn blies, wurde ihnen endgültig bewusst, dass niemand mehr kommen würde, den sie vielleicht doch noch in die Arme schließen könnten.

Genau wie alle anderen fielen auch sie auf die Knie und pressten ihre Stirn gegen die Erde, während König Gort sein Trinkhorn hob und Mutter Erde in allen vier Himmelsrichtungen ein Trankopfer darbrachte. Und genau wie alle anderen dankten sie den Göttern für die Heimkehr ihrer Lieben. Denn heimgekehrt waren auch die Toten. Das war das Wichtigste.

Nachdem sich der gesamte Hirschclan wieder erhoben hatte, reichte Königin Elsbeth König Gort einen kleinen Laib frisches Brot und er brach ihn bedächtig entzwei. Sorgfältig streute sie Salz darüber und er reichte ihr eine Hälfte.

Während der ganzen Zeremonie hatten sie sich angesehen und auch jetzt, als sie gemeinsam aßen, schauten sie sich tief in die Augen.

Nun war es an den anderen, Brot und Salz miteinander zu teilen.

Natürlich hatten die Leute aus den Dörfern gleich mehrere kleine Brote dabei, denn alle: Kinder, Mütter, Großmütter, Großväter, Urgroßmütter und Urgroßväter brachen mit ihren heimgekehrten Familienmitgliedern das Brot. Danach standen sie zusammen und erzählten. Schlacht, Gefahren, Strategien, Verletzungen, Heimweg, Getreidefelder, Gemüsefelder, Viehzeug, Gesundheit, Wetter, Neuigkeiten …

Erwachsenengespräche. Da konnte Robin endlich zum Spielen gehen und sogar Lavinia mühelos mit sich ziehen.

Lavinia sah beim Versteck spielen immer mal zu ihren Leuten hinüber, dort war ihr nämlich etwas aufgefallen, sie kam nur nicht drauf …

Ihre ganze Familie war endlich wieder vereint: Mutter und Vater, Schwester und Brüder, Schwägerinnen, Neffe und Nichten, Gast aus Griechenland und Gast aus Äthiopien.

Gäste, ah, ja. Hatte Loranthus früher schon so alt ausgesehen? Selbst seine Sklavin, Hanibu, die sonst so gerne lachte, runzelte heute sorgenvoll die Stirn beim Anblick seiner bekümmerten Miene und den hängenden Schultern. Dabei war es nicht mal einen Mond her, als er mit ihren Leuten losgezogen war, nur um eine keltische Schlacht aus der Ferne sehen zu können.

Keltoi, so sagten die Griechen zu ihnen, was wohl so viel wie ‚die Hohen‘ bedeutete, und weil sie ihren griechischen Gast sehr gerne hatte, tat sie ihm den Gefallen und ließ ihn reden. Schließlich hatte sie dafür Verständnis, dass sich ein Auswärtiger nicht alle zweitausend oder sonst wie viele Clans sämtlicher Stämme mit Namen merken konnte, das schaffte sie ja selbst nicht. Außerdem war ‚die Hohen‘ eine sehr schöne und irgendwie treffende Beschreibung für ihre Leute, aber Keltoi hin und keltisch her – in einem Mond konnte doch kein Grieche so schnell altern!

Obwohl … Ihr Vater sah auch ganz anders aus, als sie ihn in Erinnerung hatte, genau wie ihre Brüder und ihre Schwester. Irgendwie sahen alle Heimgekehrten seltsam aus. Und die Daheimgebliebenen?

Arminius und Flora, der Schmied und die Kräuterfrau: Wann hatten ihre Eltern jemals geweint? Wann hatten sich ihre Eltern jemals so fest aneinander geklammert oder gar der Vater einen Kniefall vor der Mutter gemacht und ihren Bauch geküsst?

Conall und Noeira, der Sattler und die Holzschnitzerin: Wann hatte ihr ältester Bruder jemals vor Schmerz geschrien, als seine winzige Belisama ihm die noch winzigere Hand auf den Arm geklatscht hat?

Tarian und Taberia, der Tischler und die Töpferin: Wann hatte ihr zweitältester Bruder jemals seiner heißgeliebten Frau die kleine Armanu aus den Händen gerissen und zitternd an sich gedrückt? Wann hatte ihn die zierliche Taberia je dabei stützen müssen?

Viviane und Silvanus. Sie, die Ärztin und Elitekriegerin im Bund des Drachenschwertes, er, der Schuster, Wagenbauer und Glasmacher: Wann hatten ihre Schwester und ihr Gefährte jemals beide gleichzeitig die Arme um Großmutter Mara gelegt und sich unter ihren grauen Haaren versteckt?

Nun, Großmutter Mara hatte massenweise davon, da passte noch viel mehr drunter, und dennoch heulte sie so laut, als würden sie ihr jedes Haar einzeln ausreißen. Manchmal, nachts im Traum, hatte sie auch so geschluchzt, weil sie wegen der großen Schlacht in Sorge war. Das hatte sie Lavinia ganz genau erklärt, weil sie es einfach nicht begreifen wollte.

Eigentlich verstand sie es immer noch nicht, warum jemand so friedliche Menschen wie ihre Familie bedrohte und sie zwang, in einer Schlacht zu kämpfen nur wegen Salz, das hier überall aus der Erde sprudelte. Was wäre passiert, wenn sie verloren hätten?

Lavinias Betrachtungen waren in dem Augenblick zu Ende, als sie abgeschlagen wurde und nun mit Suchen dran war. Als sie das nächste Mal ihre Familie beobachten konnte, hatte sich die Situation so vollkommen verändert, dass sie heftig zwinkern musste, weil sie ihren Augen nicht traute.

Alle standen im Kreis, knabberten an ihren Broten, nippten an ihren Hörnern und lachten. Sie lachten sogar lauthals.

Viviane bildete den Mittelpunkt und drehte sich langsam um sich selbst.

Sie erzählte sehr lebhaft, fuchtelte immerzu vor ihrem Bauch herum und zuckte mit den Schultern. Loranthus grinste über beide Ohren und Hanibu schaute so schnell von einem zum anderen, dass es ihr bestimmt bald schwindelig werden würde.

Flora rutschte das Brot aus der Hand und sie konnte es gerade noch erwischen, ohne Viviane dabei aus den Augen zu lassen. Erstaunt über ihre eigenen Fangkünste, stand ihr Mund ganz weit offen und sie starrte Arminius an, der feixend seine großen Hände auf ihren Schultern ablegte.

Noeira beugte sich so weit zu Viviane hin, dass sie eigentlich vornüber kippen müsste, zumal Belisama schon mit den Füßen in der Luft zappelte und der Rest von ihr bedrohlich im Tragetuch baumelte. Conall schüttelte grinsend den Kopf und hielt irgendwie beides fest, Noeira mit den Beinen und sein Töchterchen mit einer Hand.

Großmutter Mara hatte sich mit beiden Händen in den langen dunkelbraunen Haaren von Silvanus verkrallt und wollte sich daran hängen. Ach, nein. Sie zerrte ihn zu sich herunter. Silvanus – zuvorkommend wie immer – beugte sich grinsend zu ihrer faltigen Wange herab und gab ihr einen Kuss. Plötzlich packte er sie und warf sie so weit hoch in die Luft, dass Großmutter Mara jauchzte wie eine junge Maid beim Tanz.

Lavinia gab ihr perfektes Versteck auf und rannte dorthin, wo die Musik spielte.

Flora fing sie ab, hockte sich zu ihr runter und strahlte.

„Lavinia, wir bekommen ein Baby!“

„Aber Mama!“, schnaubte Lavinia und winkte ab. „Das ist doch nichts Neues! Wir wissen schließlich alle, dass du zur Zeit der Ulme ein Baby bekommst.“ Sie stellte sich auf die Zehen. „Und dann werde ich endlich große Schwester sein.“

Flora lächelte ihre Jüngste an und deutete auf ihre große Tochter, die sofort den Kopf schräg legte.

„Viviane bekommt auch ein Baby, etwa zur Zeit des Apfelbaumes. Du wirst also wieder Tante genau wie bei Robin, Belisama und Armanu.“

Lavinia hörte sofort mit ihrem Spitzentanz auf und kippte den Kopf zur Seite. Sie war, bis auf die Haarfarbe, die Miniatur ihrer großen Schwester. Wie zwei ungleiche Ebenbilder betrachteten sie sich nun beide höchst nachdenklich, Viviane kniff nur die Augen nicht so zusammen. Im Gegenteil, ihre wirkten recht groß, wegen der hochgezogenen Augenbrauen.

Moment mal! Da stimmt doch was nicht!“, stellte Lavinia auch sogleich fest und sah ihrer großen Schwester prüfend in die Augen. „Der Apfel ist vor der Ulme dran! Da müsstest du ja schon etwa einen Mond vor Mama ein Kind empfangen haben.“

Viviane schmunzelte.

Lavinia kniff die Augen noch mehr zusammen, legte den Kopf noch schiefer und drehte sich ziemlich langsam zu Silvanus um. Auch ihn bedachte sie mit diesem taxierenden Blick und bekam prompt ein freches Grinsen zurück. Jetzt sah sie fast gar nichts mehr. Nachdenklich tippte sie sich an die Wange und widmete sich wieder Viviane, die irgendwie verlegen oder verärgert wirkte. Je nachdem, wie schnell sie ihr langes Mahagonihaar um den Finger wickelte, war das immer ganz offensichtlich. Diesmal war sie gerade dabei, sich den Finger abzuschnüren.

„Dann ist das Kind gar nicht von Silvanus,“ sagte Lavinia gut verständlich und machte die Augen weit auf. „Du hast es aus Britannien mitgebracht, bestimmt von diesem Merdin, von dem du uns erzählt hast.“

Vivianes Miene hatte sich bei jedem Wort mehr verfinstert, während sie nebenbei ihren Finger langsam ausgewickelt hatte, aber ihre Stimme klang bewundernd, als sie sich hin hockte und die Hände ihrer kleinen Schwester nahm.

„Lavinia. Du bist schneller von Begriff, als ich für möglich gehalten hätte. Ich habe für diese Erkenntnis ganze drei Monde gebraucht. Und wenn ich nicht zufällig Großmutter Dana verdächtig vorgekommen wäre …“ Viviane hob in einer hoffnungslosen Geste die Hände. „Ich glaube, ich würde noch ein paar Monde weiter denken, ich hätte ein wachsendes Geschwür im Bauch.“ Sie klatschte sich die Hand gegen die Stirn. „Geschwür! Beim Geweih von Cernunnos! Ich will eine Ärztin sein und erkenne meine eigenen Symptome nicht!“

Lavinia kicherte und drückte sich in die Arme ihrer großen Schwester.

„Viviane. Spätestens beim ersten ordentlichen Tritt gegen deinen Bauch wäre dir was verdächtig vorgekommen und wenn nicht, dann spätestens im Winter, wenn es raus kommt und ‚Überraschung!‘ ruft. Da fällt mir gerade ein: Weißt du, wer außer mir noch so schnell von Begriff ist, große Schwester?“

„Sag es, kleine Schwester!“

„Madite, natürlich! Sie hat es schon vorausgesehen, damals zum Beltaine-Fest, weißt du noch? Sie hat gesagt, dass dem stolzen Hirsch ein Sohn geboren wird, wenn es zum dritten Mal schneit. Na, und dieser Merdin aus Britannien ist ja auch ein Nachfahre des Cernunnos, genau wie wir. Und weil er der Sohn des obersten Druiden dort ist, hat er auch einen hohen Status, also ist er dieser stolze Hirsch.“

Viviane klappte den Mund auf und wieder zu. Lavinia spürte eine Hand auf ihrer Schulter. „Wenn du später mal Druidin werden willst, Schwesterchen, wäre es mir und Viv eine Ehre, wenn wir dich unterstützen dürften“, erklang eine leicht belustigte Stimme in ihrem Rücken.

Lavinia drehte sich strahlend zu Silvanus um, der feixend zu ihr herab sah.

„Danke, Silvanus. Ich werde dich daran erinnern. Schließlich kann ich jede Hilfe gebrauchen, wenn ich die Rechtsprechung studieren will. Das soll ja so unheimlich lange dauern, bis man endlich in diesen hohen Rat aufgenommen wird.“

Silvanus schaute zu Viviane. Die beiden grinsten sich an und meinten einstimmig: „Du brauchst höchstens die Hälfte der Zeit!“

Robin zupfte Silvanus am Hemd.

„Silvanus? Wenn du Viviane zu Lugnasad heiratest, baust du dir doch auch ein Haus. Kann ich dann bei euch schlafen, bis euer Baby da ist? Belisama schreit nämlich immer so laut, wenn ich schlafen will. Ein paar Monde Ruhe täten mir gut.“

Robin blickte hoffnungsvoll in die Augen von Silvanus, doch der sah verlegen zu ihm herab.

„Also, Robin. Wir wollen schon zu Lugnasad heiraten, aber … wie soll ich dir das jetzt erklären …“

„Vielleicht kann ich dir dabei helfen, Silvanus“, sagte Arminius, stellte sich zwischen Viviane und Silvanus und legte ihnen die Hände auf die Schultern. Alle drei hatten den gleichen stolzen Gesichtsausdruck.

„Unsere Kinder bekommen ein Stück Land geschenkt, weil sie so tatkräftig an unserem Sieg beteiligt waren als Späher, im Vorkampf und als Wagenkämpfer. Das ist übrigens das Beste für uns und alle Hermunduren, außerdem hätten die ganzen Pferde auf unserem Land sowieso nicht genug Futter.“

Flora sah ihren Mann fragend an, aber Noeira war schneller.

„Pferde? Was denn für Pferde!? Erbeutete?! Doch nicht etwa alle, die da hinten stehen?!“ Silvanus kickte Conall seinen Ellenbogen in die Seite. Conall rempelte zurück und legte seiner Frau beruhigend den Arm um die Schultern.

„Nein, natürlich nicht alle, Noeira. Viviane und Silvanus haben den anderen Kämpfern auch noch einen kleinen Rest übrig gelassen. Aber wenn du schon so fragst, hat es noch einen weiteren Vorteil, wenn die beiden ein Haus und einen Schuppen auf eigenem Land bauen können … Und damit meine ich nicht, dass Robin auf die Entfernung nichts mehr hört von dem Geschrei unserer kleinen Belisama.“

Conall streichelte seinem Töchterchen die rosigen Wangen und bekam ein zahnloses Lächeln mit viel Spucke dafür. Er räusperte sich und deutete die Antsanvia hinunter.

„Komm mal mit zu unserem Ochsenkarren, Noeira! Dann zeig ich dir die Köpfe, die Viviane und Silvanus erbeutet haben. Die passen keinesfalls alle zusammen an ein Haus. Wenn man die ganzen Schädel so dicht aneinander nageln täte, würde das viel zu protzig aussehen.“

Viviane protestierte sofort, sie habe nicht die Absicht, irgendwelche Schädel an irgendwelche Hauswände zu nageln, doch Noeira hörte ihr gar nicht zu. Argwöhnisch kniff sie die Augen zusammen, beugte sich um Conall herum und betrachtete seine Rückansicht. Erschrocken weiteten sich ihre Augen.

„Wo ist dein Zopf, Conall?!“

Conall fasste sich ins Genick und zog verlegen den kläglichen Stummel seines Zopfes aus dem Hemd heraus.

„Ach, Noeira! Der ist auch hinten im Wagen. Ich hatte wirklich gehofft …“

Noeira presste ihre Lippen auf seinen Mund und klammerte ihre Arme fest um seinen breiten Rücken.

„Viel wichtiger ist doch, dass dein Kopf nicht mit dran war, als das Schwert von dem Chatten ihn abgeschlagen hat!“ Abrupt drückte sie sich weg, schlug ihre Faust in die andere Hand und knurrte: „Den Kopf von diesem mordgierigen Übeltäter will ich als erstes sehen, damit ich ordentlich drauf spucken kann!“

Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte sie die Antsanvia hinunter und Belisama gluckste vergnügt, weil sie es liebte, schwungvoll geschaukelt zu werden. Conall rannte hinterher und hatte sie bald eingeholt.

Tarian und Taberia schauten ihnen nach, wie sie jetzt langsam und eng umschlungen die breite Straße hinuntergingen. An der Biegung sahen sie plötzlich Conalls fliegende Beine und grienten sich an.

„Vater, ich zeige Taberia auch mal unsere Kriegsbeute. Sie ist bestimmt auch … äh … neugierig.“

„Tu das, mein Sohn. Taberia wird staunen. Unser Karren ist allein damit schon voller, als mit dem Proviant für den Hinweg. Aber pass auf dein verwundetes Bein auf! Bleib nicht in den Büschen hängen, die stehen ja ziemlich nah am Wegrand. Da werden wir im Winter wohl mal ordentlich auslichten müssen, sonst wird unsere Antsanvia noch … unübersichtlich.“

König Gort ließ sich Zeit, bis er das Signal zum Aufbruch gab, doch irgendwann blies er in sein Horn und alle liefen zu den Karren und Pferden. Gemächlich setzte sich der Tross wieder in Bewegung, diesmal mit allen Leuten des Hirschclans. An der Kreuzung verließen sie die breite Straße und schlugen den Fuhrweg zur Burg ein.

Loranthus sah noch einmal zurück auf die Antsanvia, auf der er mittlerweile schon mehr Schritte getan hatte als in seinem gesamten alten, griechischen Leben, wie er es neuerdings nannte. Vor ihm rumpelte der Ochsenkarren seiner Gastfamilie mitsamt den Frauen den Uhsineberga hinauf, Tarian, ziemlich eingequetscht, mittendrin. Arminius und Conall trabten neben her, weil sie keine Beinverletzungen hatten, aber schon genug Schürfstellen.

Loranthus, seine Sklavin Hanibu, Silvanus und Medan liefen leichtfüßig neben dem Streitwagen. Lavinia und Robin hielten jeder einen Zügel in den Händen und Viviane lenkte umsichtig ihren Tatendrang.

„Hast du eigentlich von deiner Warte aus gut sehen können, Loranthus?“, fragte Robin und beugte sich neugierig aus dem Wagen heraus, behielt seinen Zügel jedoch wachsam im Auge.

„Oh ja, Robin! Der Aussichtsplatz war sehr hoch und mit diesen Fernrohren, die eure Wachtposten haben, kann man wirklich wunderbar weit sehen. Ich wusste gar nicht, dass ihr derartige Gerätschaften euer eigen nennt!“

Silvanus sah zu Viviane und machte Grimassen. Viviane ließ sich davon aber nicht abschrecken.

„Silvanus hat sie gebaut, zusammen mit Großvater Anu und Afal.“

„Oh!“

Loranthus betrachtete Silvanus von oben bis unten und wieder zurück, als würde er alles glauben, nur das nicht. Silvanus winkte auch sogleich ab und verzog wieder das Gesicht.

„Viv übertreibt. ‚Gebaut‘ kann man dazu nämlich nicht sagen, und außerdem war Afal der wirkliche Schöpfer.“

„Afal?“ Loranthus schwenkte seinen Kopf zur Spitze vom Tross und wieder zurück, diesmal aber nicht ungläubig sondern neugierig. „Ich dachte, euer oberster Druide sei Astronom?“

Silvanus nickte eifrig.

„Afal ist ein großer Denker, ein Genie. Er ist für alles zu haben, was es noch nicht gibt.“

„Was es noch nicht gibt?“, echote Loranthus und sah dabei aus, als zähle er in Gedanken durch.

„Darf ich erzählen?“, fragte Medan hoffnungsvoll und quetschte sich zwischen Loranthus und Silvanus. Letzterer verdrehte die Augen, doch Viviane nickte feixend und sogleich warf sich Medan in die Brust. Lavinia kicherte, weil ihr Bruder nun so steif bergan lief, dass er eigentlich rückwärts umkippen müsste.

„Also, das war so, Loranthus“, begann Medan und passte seine Stimme seinem Gang an. „Zu Lugnasad kommen doch immer die Händler aus den fernen Ländern. Ein Händler hatte Glasbarren aus Ägypten dabei und schrie über den ganzen Markt, er hätte die Augen des Sonnengottes mitgebracht. Natürlich wollten alle dieses Wunder sehen und rannten zu ihm hin. Silvanus quetschte sich erfolgreich durch den Massenauflauf, denn er war damals noch ein dürres, kleines Ästchen. Er …“

„Du kriegst gleich einen Hieb von dem dürren Ästchen!“, warf Silvanus grinsend ein und wollte Medan im Genick packen. Doch der tauchte unter seiner Hand weg und sprang um Loranthus herum in Deckung. „Mittlerweile taugt er natürlich schon als Bohnenstange“, säuselte er aus sicherer Entfernung und wankte hin und her, als sei er die dazugehörende Bohnenranke.

„Ich fühle mich geehrt, Medan“, meinte Silvanus galant und reckte seine frei gebliebene Hand nach oben. „Bohnenstange wollte ich schon immer werden. Da hat man eine tragende Aufgabe im Leben. Erzähl ruhig weiter, Brüderchen! Bohnenstangen schlagen nicht aus, meistens.“ Und dabei streckte er seine Arme dermaßen weit nach hinten, als wolle er beweisen, wie gut er sich auch als Langbogen eignen würde.

Medan verzog das Gesicht, da ihm bei derartigen Verrenkungen nur vom Zusehen alles weh tat. Erst als Silvanus wieder wie ein normaler Mensch lief, kam er vorsichtig aus seiner Deckung, räusperte sich und sah Loranthus vielsagend an.

„Also. Silvanus schacherte so lange mit dem Händler, bis der ihm einen Glasbarren gegen einen Hirschhundwelpen tauschte. Um genau zu sein: Der Händler jauchzte ganz begeistert, weil ihn der kleine gleich abschleckte. Silvanus war natürlich sehr stolz auf seine Errungenschaft und hat jedem den Glasbarren gezeigt. Ich war damals noch sehr klein …“

„Ein Bohnensprössling, um genau zu sein!“, präzisierte Silvanus und schlug Medan die Hand so derb auf die Schulter, dass er nach vorne kippte wie ein zartes Pflänzchen im Wind.

Medan brachte das aus dem Rhythmus; er bekam seinen steifen Schritt nicht mehr zustande und lief wieder normal.

„Äh, ja, Silvanus. Das hätte ich mir denken können. Jedenfalls wollte ich dieses Glas auch sehen, wie Kinder eben so sind. Ich konnte den Barren kaum hochheben, so schwer war er. Silvanus hat ihn mir vor die Augen gehalten, damit ich hindurchsehen konnte. Er rief: ‚Du hast gaaanz große Augen, Medan!‘ Dann hat er sich den Glasbarren vors Gesicht gehalten und ich habe gerufen: ‚Du hast auch gaaanz große Augen, Silvanus!‘ Belustigt hat Silvanus den Glasbarren gegen die Sonne gehalten und wir haben zusammen gerufen: ‚Du hast auch gaaanz große Augen, Sonnenkönig!‘

Das war ein schönes Spiel und jeder, der vorbeikam, wollte mitspielen. Plötzlich stand Afal bei uns und sagte, er wolle auch gerne einmal hindurchsehen. Kaum hatte er durchgeguckt, bat er Silvanus, ihm den Glasbarren zu leihen und winkte Großvater Anu heran. Tuschelnd gingen sie im Eilschritt zum Lagerabschnitt der Händler und bald darauf war auch Afal der stolze Besitzer eines Glasbarren.

Den folgenden Winter über haben Afal und Großvater mit diesem Glasbarren experimentiert. Silvanus hat den ganzen Winter über aus seinem Perlen geformt. Es waren wunderschöne Perlen in leuchtenden Farben. Mutter war anfangs skeptisch, weil er sich bei ihr Farben erbettelt hatte, doch dann war sie ganz begeistert und hat ihm sogar mehr Farben versprochen, wenn er einen neuen Glasbarren hätte.

Als es wieder wärmer wurde und wir die Felder bestellten, hat Mutter ganz oft vor sich hin gesungen, weil sie so stolz auf ihre Glasperlenkette war. Zum Beltaine-Fest hat sie jeder angestarrt, als wäre sie eine Fee, die gekommen sei, um mit uns die gelungene Aussaat zu feiern. Afal musste sich sogar hinsetzen. Er sagte, dass die Kunst der Glasmacher schon lange verschwunden wäre. Keiner wüsste heute mehr davon. Er betrachtete die Kette ganz genau und ein paar Tage später kam er zu uns ins Dorf. Silvanus sollte ihm zeigen, wie die Perlen geformt werden. Er verfolgte die Prozedur höchst interessiert und als Silvanus die fertige Perle in seine Schiene zum Abkühlen legte … Da ist etwas passiert.“

Medan machte eine Pause, hob den Zeigefinger und sah Loranthus Achtung heischend an.

„Silvanus hatte für seine Perlen Schilfrohre gespalten, damit sie nicht weg rollen konnten. Und als er eine neue Perle in diese Rille legte … und sie rollte auf die vorherige Perle zu … da hat sich Afal vor den Kopf geschlagen, dass es richtig laut klatschte. Überaus hastig hat er sich für die Vorführung bedankt und ist mit Großvater Anu wieder auf die Burg. Großvater hat sich einen ganzen Mond nicht mehr bei uns im Dorf blicken lassen, aber als er wiederkam, brachte er Afal mit und die beiden haben uns etwas vorgeführt.“

Medan machte eine Handbewegung, als hielte er sich ein Fernrohr vor die Augen und sah Loranthus abwartend an. Irgendwie schien seine Geschichte nicht den gewünschten Erfolg zu haben, sein erwartungsvolles Grinsen ging in ein verhaltenes Lächeln über.

Jetzt erkannte Loranthus, dass er anders reagiert hatte, als von Medan erhofft und beeilte sich, den Jungen zu tätscheln. Dabei setzte er ein erfreutes Strahlen auf.

„Ich kenne dieses Glas aus Ägypten, Medan. Du weißt doch: Mein Vater ist ein Händler, meine Familie treibt schon seit Generationen Handel mit vielen Ländern!“

„Ach, so“, sagte Medan schlapp, als hätte er sich völlig umsonst so viel Mühe gegeben. Da huschte ein neugieriges Funkeln in seine Augen.

„Du hast doch deinen Vater auf seinen Handelsreisen begleitet, Loranthus! Hast du dieses Glas etwa selbst gesehen?! Ich meine, wie es gemacht wird.“

Loranthus tätschelte Medan wieder die Schulter.

„Ganz recht, Medan! Das habe ich wirklich! Und ich habe auch gesehen, was sie dort alles aus diesem Glas herstellen. Du musst bedenken: Schon seit der Hochepoche der Ägypter werden die Stoffe für Glas in riesigen Wannen zusammengemischt. Die sind übrigens so lang wie du, aber wesentlich breiter! Ein weiser Herrscher hat die Rezeptur sogar in Stein meißeln lassen, damit jeder weiß, wie man die Bestandteile zusammen bringen muss.“

Robin reckte den Hals über die Wand des Streitwagens.

„Wenn ich groß bin, dann laufe ich durch alle Länder und sehe mir an, was es überall für wundersame Dinge gibt. Nach Ägypten gehe ich natürlich auch!“

„Nimm lieber ein Schiff wie mein Vater. Das geht viel schneller und du siehst viel mehr von der Welt, als wenn du zu Fuß unterwegs bist.“

„Von mir bekommst du ein Pferd, Robin!“, warf Viviane lachend ein. „Bis zum nächsten Hafen ist es ziemlich weit!“

Bei Robin klappte die Kinnlade herunter und bei Silvanus ruckten die Augenbrauen hoch.

Viviane zuckte nur mit den Schultern.

„Ich meine das vollkommen ernst. Wenn Robin gerne in die Welt ziehen will, werde ich ihm helfen. Reich genug sind wir ja jetzt. Da kommt es auf ein Pferd mehr oder weniger nicht an. Am besten noch ein Ersatzpferd dazu – für’s Gepäck.“

Robin japste nach Luft, doch Viviane hob mahnend den Finger.

„Natürlich erst, wenn du deine Ausbildung beendet hast. Vorzugsweise solltest du etwas lernen, was man allerorts gut gebrauchen kann. Dann kannst du dir überall deinen Lebensunterhalt verdienen und bist so unabhängig, wie ein Weltreisender sein sollte. Denk mal darüber nach, Robin.“

Robin nickte derart stürmisch, dass sein Kopf gefährlich wackelte, genauso wie der Zügel, den er fest umklammert hielt. Viviane legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.

„Nun ist es aber genug geschwatzt und du, Loranthus, solltest dein Wissen um unsere Fernrohre für dich behalten. Es hat nämlich seine Vorteile, wenn andere Völker nicht alles von einem wissen.“

„Keine Sorge! Ich musste schon Königin Birgie schwören, dass ich nichts davon erzähle!“

Viviane legte sofort den Kopf schräg und sah ihn von der Seite her scharf an. Loranthus presste die Lippen zusammen, war ihm doch plötzlich bewusst geworden, dass er sich verplappert hatte. Offiziell war er ja gar nicht bei Königin Birgie auf der Burg gewesen, sondern hatte nur mit Großmutter Dana auf einem einzelnen Wachturm gestanden. Also hätte ihn Großmutter Dana über sein Stillschweigen verpflichten müssen und nicht Königin Birgie.

Schnell dachte er nach, wie er seine vorlaute Rede berichtigen könnte und beeilte sich zu sagen: „Großmutter Dana hat mir natürlich auch schon erklärt, dass ich niemandem etwas über eure Fernrohre erzählen darf, es sei denn, es ist ein Hermundure. Aber als wir schließlich mit Königin Birgie zu eurem Kriegslager unterwegs waren, habe ich mich verplappert und da hat sie mich schwören lassen. Und damit ich meinen Schwur auch nicht vergesse, hat sie mir noch einen Fluch auf den Hals gehetzt.“

Alle rissen Augen und Münder auf, nur Viviane schmunzelte.

„So, so! Einen Fluch! Das sieht meiner Tante Birgie ähnlich.“

Loranthus sah Viviane verdutzt an und tastete seinen Hals ab.

„Hetzt Königin Birgie öfters Leuten einen Fluch auf den Hals?“

„Ständig. Die Königin der Bären ist berühmt-berüchtigt dafür. Jeden Tag muss mindestens einer dran glauben und wenn sie schlechte Laune hat auch mal zwei … oder drei“ Loranthus schnaubte.

Viviane feixte: „Mit welchem Fluch hat sie dich denn belegt?“

„Das darf ich auch nicht sagen!“, wimmelte er alle ab, die sich schon erwartungsvoll zu ihm hingebeugt hatten. „Der Wortlaut ist im Fluch mit inbegriffen!“

Alle Oberkörper kippten enttäuscht in die Ausgangsposition zurück, bis auf den von Viviane. Sie hatte ihre gerade Haltung mit dem schräg gelegten Kopf gar nicht geändert gehabt. Loranthus wollte ihrem forschenden Blick möglichst unauffällig ausweichen.

Daher schwenkte er seine Augen zum Waldrand und murrte: „Aber ohne diese Fernrohre hätte ich die Schlacht doch niemals so genau beobachten können! Ich darf also niemandem berichten, wie ihr gesiegt habt!?“ Er zog noch einen Schmollmund, einen möglichst traurigen.

Mit diesem Ablenkungsmanöver war er wohl übers Ziel hinausgeschossen, Viviane beugte sich weit aus dem Streitwagen und tätschelte ihm mitleidig die Schulter.

„Doch, doch Loranthus! Das kannst du ruhig jedem erzählen, der dir über den Weg läuft! Lass einfach die Fernrohre weg! Das merkt sowieso niemand, wenn du nicht sagst, wie weit du entfernt warst. Lenke die Aufmerksamkeit deiner Zuhörer auf die Geschehnisse der Schlacht. Je mehr du dabei übertreibst und je schrecklicher du alles darstellst, umso besser.“

Loranthus fuhr sich mit der Hand durch seine schwarzen Locken und der Staub der langen Reise tanzte in den Sonnenstrahlen, als er sich am Hinterkopf kratzte.

„Das verstehe ich nicht.“

Viviane kicherte.

„Das liegt am Blickwinkel, Loranthus. Beleuchte es von allen Seiten.“

„Blickwinkel?“

Loranthus sah nach vorne auf den Wagentross, der sich rumpelnd und stampfend gemächlich den staubtrockenen Weg bergan schob. Er lugte durch die Baumwipfel hoch zur Sonne, zwischen die Sträucher hindurch ins Dickicht und erspähte sogar ein paar leuchtend gelbe Schmetterlinge, die mitten im dichtesten Wald anmutig dahin schwebten. Schließlich ließ er seine Augen bei den Blumen am Wegrand zur Ruhe kommen.

„Also“, seufzte er tief. „Selbst wenn ich es nicht noch gruseliger mache, als es ohnehin schon für mich war … Ja …“ Er nickte überzeugt. „Meinen Zuhörern würden die Haare zu Berge stehen.“

„Und?“

„Es würde ihnen kalt den Rücken runter laufen, inklusive Gänsehaut. Eventuell sogar Ohnmachtsanfälle.“

Viviane sah ihn tadelnd an.

„Ach so! Jetzt weiß ich, was du meinst, Viviane! Keiner würde noch mal einen Krieg gegen euch führen wollen, und ihr könntet wieder das friedliche Leben führen, dass ihr immer schon geführt habt.“

Nun schien Viviane mit der Antwort zufrieden.

Robin genügte solch allgemeines Geschwätz jedoch nicht.

„Uns kannst du es auch erzählen, Loranthus! Wir halten unsere Haare fest und frieren tut heute eh keiner bei der Hitze. Wir haben nämlich Nora schon ausgefragt, als wir auf den Weiden bei den Schafen waren. Aber die hat doch noch nie eine Schlacht gesehen. Kämpfen da alle mit Schwertern, Speeren und Streitwagen?“

Loranthus zog scharf die Luft ein.

„Streitwagen gab es zum Glück nicht so viele, Schwerter und Speere dagegen um so mehr, Robin. Es kamen aber auch Äxte, Lanzen, Schleudern und Pfeile zum Einsatz.“

„Pfeile!?“ Robin rümpfte die Nase. „Ich würde zuerst Steine schleudern. Die fliegen noch weiter! Aber wenn die Chatten auch …“

„Unsere Schleuderer waren besser. Oen und Harthu waren mit dabei und Tarian gehörte zu den Bogenschützen.“

Robin riss die Augen auf und streckte seinen Kopf weit über den Wagenrand. Lavinia lugte mit einem ziemlich langen Hals hinter Viviane vorbei. „Erzähl!“, riefen sie im Chor und grinsten synchron.

Loranthus seufzte und ergab sich strahlend seinem Schicksal.

„Stellt euch eine riesige Wiese vor, so breit, dass man einen Speer mindestens ein Dutzend Mal werfen muss, bis man zur anderen Seite kommt.“

„So weit auseinander standen die Heere?!“, rief Robin ungläubig, schlug sich aber schnell die Hand auf den Mund. „Erzähl weiter, Loranthus!“

Loranthus tat so, als würde er in weite Ferne sehen und sprach mit geheimnisvollen Unterton: „Die Schlacht begann, als der Hochkönig der Chatten in seine Carnyx blies. Oooh, das hörte sich schauerlich an, kann ich euch sagen! Aber ich höre mir lieber den ganzen Tag zwei Dutzend Carnyx auf einmal an, als noch einmal so eine Schlacht sehen zu müssen und hören noch dazu.“

„So schrecklich war das alles?“, fragte Robin ungläubig, schlug sich wieder die Hand vor den Mund und nuschelte zwischen den Fingern hervor: „Ich will alles ganz genau wissen!“

Loranthus holte tief Luft und tat so, als würde er in enorm langes, aufrecht stehendes Horn blasen. Er brauchte beide Hände, um es fest zu halten, die eine am Mund, die andere weit ausgestreckt über seinem Kopf.

„Die Chatten blasen ihre Carnyx, grölen Schmährufe und schlagen wie die Irren gegen ihre Schilde. Der Lärm ist entsetzlich, absolut grauenvoll. Plötzlich herrscht mit einem Schlag Ruhe. Warum? Nicht, weil ihnen die Luft ausgegangen wäre, oh, nein! Weil die Erde bebt.

Alle Chatten glotzen wie blöde auf ihre Füße. Und ihre Füße, ha, ha! Es war genial! Ihre Füße, die zittern. Ihre Füße vibrieren so stark, dass ihre Knie aneinander scheppern. Das Rütteln und Schütteln zieht ihre Knochen bis hoch und sie fangen an, mit den Zähnen zu klappern. Sie klappern so laut, man kann es noch bis zu uns Hermunduren rüber hören! Auf die Entfernung, das müsst ihr euch mal vorstellen! Wie die Chatten dastehen, mit wackelnden Knien und aufgerissenen Mäulern und sich total entsetzt anstarren! Alle rufen durcheinander: ‚Die Götter der Unterwelt kommen! Hall kommt uns alle holen! Bei allen Göttern, wie kann das sein! Wir haben doch geopfert und die Götter haben uns den Sieg versprochen!‘ Oh! Sie haben geheult wie getretene Hunde, das kann ich euch versichern! Bis sie auf die Idee gekommen sind, nicht mehr auf ihre Füße zu schauen, sondern wieder nach vorne, auf die Hermunduren. Vielleicht haben sie gehofft, sämtliche Götter der Unterwelt hätten die Hermunduren verschlungen! Das wäre ja praktisch gewesen! Aber nein, oh nein! Beim Anblick der Hermunduren sind ihnen die Kinnladen runter geklappt!

Dort hat sich nämlich ein noch viel größeres Heer aus dem Boden gestampft! Stellt euch vor! Wie aus dem Nichts stehen da plötzlich an den Flanken der Hermunduren neue Krieger mit neuen Pferden, neuen Kettenhemden, neuen Schilden, neuen Speeren, neuen Äxten, neuen Schwertern und die anderen Hermunduren jubeln ihnen zu, es wird sich begrüßt und auf die Schultern geklopft … ihr wisst ja selbst, wie es zugeht. Und als sich dann alle Hermunduren fertig in Schlachtlinie aufgestellt haben, grinsen sie rüber zu den Chatten.

Ha, ha! Da reißen die Chatten wieder die Mäuler auf, aber diesmal bringen sie keinen Ton heraus. Sie können nur wie schwachsinnig da stehen und der Sabber tropft ihnen aus den offenen Mündern.

Der Hochkönig der Chatten glotzt am dämlichsten, da tobt er plötzlich wie ein wütender Stier und kreischt, dass man ihn noch auf unserer Seite hört. Wie ein Irrer reißt er mit einem Ruck seine Carnyx hoch, bläst hinein und sofort stürmen seine Bauern los. Oh, ja! Sie stürmen los!

Was bleibt ihnen auch anderes übrig, wenn ihr Hochkönig befielt. Vielleicht hat er sie mit irgendwas besoffen gemacht, dass sie so wild auf’s Kämpfen waren! Die waren ja alle wie im Rausch!

Stellt sie euch vor! Wie sie angestürmt kommen! Nicht wie unzählig viele Bauern, oh, nein! Dicht an dicht wie eine einzige, feste Wand schieben sie sich über das Schlachtfeld. Eine Masse aus rasenden, brüllenden, wahnsinnigen, besoffenen Irren mit wilden Mähnen! Ihre Augen glühen, der Speichel spritzt auf ihre Bärte … Ich sage euch, so sehen Dämonen aus der Anderswelt aus!

Hinter ihnen schlagen die restlichen Chatten wieder dröhnend gegen ihre Schilde und johlen Schlachtgesänge, damit die Bauern auch wirklich wissen, dass sie sich nicht blamieren dürfen! Nicht, dass einer umkehrt oder vor Angst in die Hosen seicht oder gar scheißt! Muss ja schließlich irgendeinen Zweck haben, das ganze Geschrei! Also grölen die anrückenden Bauern auch wie irre und schwingen dabei derart rasant die Beine, das Gras wird hochgewirbelt, die Fetzen fliegen … Es ist der reinste Wahnsinn! Ihre Arme rudern wie verrückt durch die Luft und ihre Waffen … so viele tödliche Waffen! Scharfe Äxte, Speere, riesige Messer und weiß der Geier noch was!

Auf unserer Seite bläst Hochkönig Eryrrix ebenfalls in seine Carnyx, sofort preschen die Streitwagen im wilden Galopp los und teilen sich auf. Es sieht richtig anmutig aus, wie die Kolonne erst zusammen ausrückt und sich dann mit einem spektakulären Wendemanöver in drei Gruppen aufteilt. Ein Teil fährt gerade aus weiter, die anderen Teile schwenken nach rechts und links ab.

Viviane rast mit ihrem Streitwagen zur rechten Flanke, unser Amaturix reitet auf seinem Hengst mit. Gemeinsam jagen sie am Rande des Schlachtfeldes entlang. Die Streitwagen der Chatten kommen ihnen so schnell entgegen, dass man nur noch fliegende Hufe und hoch stiebendes Gras sieht. Wie Donnergrollen hört es sich an. Tiefes, bedrohliches Donnergrollen.

Auch im Mittelfeld preschen die Streitwagen vorwärts. Oen und Harthu und andere Schleuderer jagen damit über das Schlachtfeld und steigen dann auf halber Höhe aus. Die haben die Ruhe weg, sag ich euch, denn sie sind natürlich viel schneller, als die Chatten-Bauern zu Fuß, auch wenn die noch so schnell rennen. Bis die ihnen gefährlich werden, haben unserer Schleuderer schon Unmengen an Wurfgeschossen abgeschleudert.

Diese Wurfgeschosse sind aber keine glatten Steine oder die praktischen Tonkugeln, wie ihr sie macht, oh, nein! Es sind Kugeln aus Metall! Unser Amaturix hat sie gegossen. Diese Kugeln fliegen viel, viel weiter als normale Schleudersteine und schlagen dermaßen durch, selbst durch Schilde! Bei Zeus und Pallas Athene! Blut spritzt, Knochen splittern, Augen bersten, Nasen … ja, ganze Gesichter!“

Loranthus presste sich die Hand gegen seine Stirn und erschauerte.

„Die Bauern sind noch nicht mal zu einem Viertel über das Schlachtfeld, da stehen schon Streitwagen mit Bogenschützen parat. Tarian ist mit dabei. Er spannt seinen Langbogen und einen Wimpernschlag später rammt sich sein Pfeil in die Stirn eines Chatten. Durch den Schild!“

Loranthus wischte sich geistesabwesend über seine eigene Stirn.

„Massenweise schlagen Pfeile in die Chatten. Manche haben aber Glück und rennen weiter, kreischen noch wahnsinniger und fordern Vergeltung. Die sollen sie bekommen! Unsere Streitwagen mit den regulären Speerwerfern erwarten sie schon, unsere Krieger zu Pferde mit dazu. Wer es von den Chatten-Bauern dennoch schafft und irgendwie durchkommt, der rennt gegen Lanzen und Schwerter und Streitäxte und … beim Haupte der Medusa! … Die Waffen krachen aufeinander und klirren und alle brüllen und kreischen und die Pferde stampfen und wiehern und die Streitwagen metzeln mit ihren Klingen an den Radnaben alles nieder … Fleisch und Knochen … und das Gras auf dem Schlachtfeld, alles färbt sich rot … so entsetzlich rot … und überall liegt …“

Robin stöhnte auf und verzog das Gesicht, als hätte er große Schmerzen. Loranthus nickte und zeigte auf Arion und Dina, die unbeeindruckt den Streitwagen zogen.

„An den Flanken kämpfen derweil die restlichen Streitwagen gegeneinander. Viviane und Silvanus ducken sich unter ihre Schilde gegen die anfliegenden Speere. Silvanus nutzt eine Lücke, trifft einen feindlichen Lenker und brüllt zu Viviane, wer als nächster an der Reihe ist. Viviane lenkt, weicht aus und reißt ihren Schild hoch. Wie Athene persönlich lehnt sie sich aus dem Wagen und schwingt ihr Drachenschwert … der näher kommende Lenker hebt seinen Schild, der splittert und er starrt auf seinen Armstumpf. Da trifft ihn Silvanus’ Speer im Rücken und er kippt aus dem Wagen. Der Werfer kippt hinterher, Silvanus dreht sich verdutzt um und sieht Amaturix entschuldigend die Hände heben. Viviane schüttelt strafend den Kopf, dann wendet sie den Wagen.

Im Mittelfeld stehen plötzlich die Krieger der Chatten und schlagen um sich, während sich die restlichen Chatten-Bauern zusammen rotten, unsere Krieger von ihren Pferden zerren und mit Äxten und Speeren auf sie eindreschen. Da kommen ein paar Amazonen; die Kriegerinnen vom Dolmar, eine Kriegerkönigin führt sie an! Mit wildem Geheul preschen sie durch das Getümmel, um unsere Krieger zu retten, doch sie können nicht überall sein! Alle anderen Kämpfer sind in Zweikämpfe verwickelt … da bildet sich eine große, wilde Meute und attackiert unseren Wahedon … sie werfen einen Speer auf ihn … daneben … sie schleudern Äxte auf die Pferde rechts und links … die armen Tiere brechen zusammen, begraben ihre Reiter unter sich … ein paar aus der Chatten-Meute machen sich mit wahnsinnigem Siegesgeheul über unsere wehrlosen Reiter her … nun hat Wahedon keine Flankendeckung mehr … sieben Chatten umzingeln ihn … sieben! Und Wahedon hat nur noch sein Schwert! Er haut um sich, als wolle er Bäume fällen, doch die Chatten haben gute Schilde und springen in Deckung … Wahedon schaut sich um … alle Hermunduren sind in Kämpfe verwickelt … die Meute greift wieder an … da kommt unser Lanzenkämpfer, dieser German, angerannt und spießt einen Chatten auf, so schnell und kraftvoll wie Zeus mit seinem Blitz. Und wie ein Kriegsgott in Person reißt German die Lanze zurück, dreht gekonnt die andere Spitze vor und trifft den nächsten Chatten … zack! Und noch ein Blitz und noch ein Blitz! Diesmal daneben! Wahedon schlägt sich mit zwei Chatten gleichzeitig, die letzten beiden halten sich zurück und warten auf eine günstige Gelegenheit … Da täuscht der eine an, reißt seine Axt hoch, schwingt sich herum und hechtet über einen der Toten am Boden drüber … genau in den Rücken von German. Die Axt schlägt mit einem brutalen Knirschen in Germans Kettenhemd ein … er spuckt Blut … im gleichen Augenblick rammt Wahedon dem Chatten sein Schwert ins Genick …“

Loranthus hebt ebenfalls seinen Arm, lässt ihn hernieder sausen, schüttelt traurig den Kopf.

„Während Wahedon sich vom letzten Chatten freikämpft und sich endlich um German kümmern kann, fällt Hirlas mit einer Axt im Beinschutz. Arminius steht gegen einen Bär von Chatten im Schwertkampf, von hinten nähert sich ein anderer Chatte, doch Tarian besiegt seinen eigenen Gegner und wirft sein Messer, um Arminius zu helfen. Conall trifft ein Schwert im Rücken, er dreht sich um, winkt seinen Gegner näher heran und grinst blutüberströmt …

Auch Viviane fletscht die Zähne und nimmt den nächsten Wagen ins Visier. Ihre Speerspitzen durchdringen Kettenhemde und Schilde besser, die Klingen ihrer Räder zerschmettern die Räder der Chatten besser, bald jagen sie im Rudel. Amaturix steigt im Schlachtgetümmel auf den erstbesten freien Streitwagen, wirft alle Speere weg und prescht zur gegnerischen Seite.

Die Nachhut der Chatten macht einen Satz Speere und einen neuen Werfer bereit, weil ihnen in ihrer Siegesgewissheit gar nicht einfällt, dass ihnen da ein Hermundure entgegengeprescht kommen könnte! Bis sie ihren Irrtum bemerken, ist Amaturix schon genau vor ihnen und alle sprengen auseinander, wegen der Klingen an seinen Rädern. Feixend fährt er einfach vorbei und winkt ihnen sogar zum Dank. Wie blöde glotzen sie ihm hinterher. Amaturix erreicht ohne Probleme die Anhöhe.

Als die Chatten-Könige dort oben die blitzenden Klingen an seinen Radnaben sehen … oh, ich sage euch! Da strecken sie ihre Schwerter vor und scharren sich wie aufgescheuchte Hühner um ihren Hochkönig, als könnte der noch was tun! Doch Amaturix umkreist sie nur, das lässt sie aufatmen. Abwartend senken sie ihre Schwerter … ja, sie triumphieren sogar … bis ein zweiter Streitwagen auftaucht und sie unter dem Blut und Dreck Viviane und Silvanus erkennen. Da vergeht ihnen das Lachen. Aber trotzdem! Auch Viviane greift nicht mit dem Streitwagen an! Oh, nein! Sie steigt sogar aus und bedeutet Silvanus, er solle es sich gemütlich machen!

Da wird den Chattenkönigen alles klar und sie besprechen sich kurz. Ein König tritt aus dem Pulk und zeigt, hochmütig lächelnd, auf Viviane. Viviane deutet eine Verbeugung an und zieht ihr Langschwert. Silvanus winkt ihr salopp zu und trommelt mit den Fingern auf dem Streitwagen herum, so als solle sie sich mal beeilen, er hätte nicht den ganzen Tag Zeit.

Auch Amaturix lehnt so lax an seinem Streitwagen, als habe er gerade nichts Besseres zu tun. Aber er beobachtet den Kampf ganz genau und sieht die überraschten Gesten der Könige, als sie Vivianes Schwert mit den eingravierten Drachen erblicken. Da fällt ihnen auch schon ein grinsender Kopf vor die Füße, sofort treten zwei Könige gleichzeitig aus ihrem Pulk vor und brüllen wie irre. Viviane lässt ihren Schild fallen und zieht noch das Kurzschwert. Sie tötet den ersten mit einem Stoß rückwärts und schlägt dem anderen gleichzeitig das Schwert entzwei. Seine Verwirrung wird ihm zum Verhängnis.

Amaturix ahnt, was jetzt kommt und stellt sich schnell Rücken an Rücken mit Viviane, da greifen auch schon alle Könige gemeinsam an. Wie die Wahnsinnigen hauen sie mit ihren Schwertern um sich, bis sie merken, dass sie sich gegenseitig behindern. Da gehen sie alle zusammen rückwärts. Viviane, überströmt von Schweiß und Blut und Dreck wie die Rachegöttin in Person, winkt zwei Könige heran und lacht sie aus, weil sie laut schlucken. Auch Amaturix wählt zwei Gegner und der Kampf beginnt aufs Neue. Viviane tanzt um ihre Gegner, taucht weg und überspringt sogar den kleineren. Amaturix verwundet mit jedem Schlag. Als die Könige fallen, sinken die Restlichen auf die Knie und beugen das Haupt.

Hinter ihnen steht nur noch der Hochkönig, aufrecht und erhaben, das Haupt stolz empor gereckt. Wie ein tollwütiger Hund fletscht er die Zähne, stößt einen bestialischen Schrei aus und stürzt sich auf Amaturix. Viviane tritt zurück, beobachtet den Kampf und die immer noch knienden Könige. Sie sind dem Schlachtfeld zugewandt und machen keine Anstalten, ihrem Hochkönig zu helfen. Da hebt plötzlich einer den Kopf. Viviane und die anderen Könige sehen in dieselbe Richtung …“

Loranthus redete nicht weiter.

Robin und Lavinia sahen schon lange nicht mehr dahin, wo sie fuhren, sodass Viviane die Zügel übernommen hatte. Doch auch sie musterte Loranthus neugierig, genau wie alle anderen.

Silvanus klatschte Loranthus die Hand auf den Rücken.

„Spuck’s endlich aus, Loranthus! Robin wird schon ganz blau vom Luft anhalten!“

Loranthus sah ihn an, als wüsste er gar nicht, was er meinte.

Silvanus verdrehte die Augen.

„Dann sag ich es eben, wenn du vergessen hat, wie die Schlacht ausging.“

Silvanus drehte sich von einem zum anderen und machte eine Bewegung, als wolle er in ein riesiges Horn blasen. Geheimnisvoll senkte er seine Stimme und raunte: „Es war total seltsam, kann ich euch versichern, aber … mitten im größten Schlachtgetümmel … da kommt tatsächlich die Todesgöttin, genau wie es Madite vorausgesehen hatte. Sie bläst einmal in ihr Horn und ein dumpfer, nie gehörter Ton schallt über das Schlachtfeld. Alle Kämpfer heben die Köpfe und versuchen auszumachen, woher dieser seltsame Hörnerklang kommt … doch nur wer in ihrer Nähe steht, erkennt die Todesgöttin in Dreiergestalt. Oh, ja, Hall! Die oberste Todesgöttin höchst persönlich! Wer sie erblickt, hört sofort auf zu kämpfen und wirft sich hastig nieder … Hall beachtet sie gar nicht, sondern lässt ihr Horn zum zweiten Mal erschallen und jetzt, wo rund herum alle danieder liegen, können viele Kämpfer sie erkennen. Hermunduren und Chatten, wie sie da stehen und auf sich eindreschen … sie alle werfen sich nieder ins rote Gras und wimmern vor Angst. Es gibt aber auch noch ein paar unter ihnen, die sind so in Brass, dass sie erst noch ihren Gegner mit in die Anderswelt nehmen wollen, bevor sie der Blick von Hall trifft. Doch so oder so: Als Hall das dritte Mal in ihr Horn bläst, da liegt jeder auf dem Boden, egal ob Chatte oder Hermundure, und die Schlacht ist aus.“

Lavinia machte große Augen.

„Hall war wirklich gekommen? In echt? Das ist … also das ist … Mir fehlen die Worte!“

„Das ich das mal erleben darf!“, seufzte Robin und streckte dankend seine Hände gen Himmel.

Lavinia wollte sich gerade auf ihn stürzen, da drückte ihr Viviane wieder die Zügel in die Hände.

„Lass gut sein, Lavinia!“, sagte sie langsam und betrachtete Loranthus von der Seite. „Auch mir haben die Worte gefehlt. Ich konnte nur dastehen und hinüberstarren zu der alten Eiche, wo die rote Göttin in Dreiergestalt erschienen ist. Doch bevor sie zu mir sehen konnte, habe auch ich mich nieder geworfen, denn wer könnte schon von sich behaupten, jemals Hall in die Augen gesehen zu haben.“

Loranthus schielte zu Viviane und ein Zittern erfasste seinen ganzen Körper.

Er sah plötzlich die verzerrten Gesichter der Toten vor sich. Jede Nacht träumte er nun schon von ihren Wunden, fühlte ihre Schmerzen, und es wären noch viele viele mehr gewesen, wenn Hall nicht gekommen wäre. Sollte er irgendwann einmal jemandem erzählen, was er alles gesehen hatte … wirklich alles … Er wischte sich unauffällig über die Augen.

„Was meinst du wohl, Loranthus?“, fragte Medan und tastete die Windungen seines langen kupferroten Zopfes ab. „Wie lange hat die Schlacht gedauert?“

„Wie lange?“, krächzte Loranthus und zog verdutzt die Augenbrauen hoch. „Soll ich den Tag davor, den mit den Schaukämpfen, mitrechnen?“

Medan wiegte den Kopf.

„Nein, die Schaukämpfe kannst du weg lassen. Die sind doch nur dazu da, um allen zu beweisen, wie gut man kämpfen kann. In der echten Schlacht hat nämlich keiner mehr die Zeit, vor sämtlichen Augen von Freund und Feind mit seinem Mut zu protzen.“

„Äh … ja, … beweisen … protzen … nun, da magst du recht haben“, bestätigte Loranthus und ergänzte: „Solche Schaukämpfe sollen wohl auch dazu dienen, dem Gegner zu zeigen, wer der Stärkere ist. Es soll ja schon vorgekommen sein, dass eine Partei lieber das Weite gesucht hat, weil sie sämtliche Schaukämpfe verloren hat. Es soll sogar schon mal eine Schlacht gegeben haben, da dauerten die Schaukämpfe mehrere Tage, bis sich die Gegner doch noch zu einer Schlacht aufgerafft haben …“

„Red nicht um den heißen Brei herum!“, forderte Medan und drehte den Finger durch die Luft. „Wie lange?!“

„He? Ach ja, die Schlacht!“

Loranthus schielte zu Viviane hinüber.

Sie betrachtete eine hübsche gelbe Blume am Wegesrand und tat so fasziniert, als wäre diese ein seltenes Heilmittel gegen Gedächtnisschwund. Wahrscheinlich überlegte sie wirklich, ob sie das Pflänzchen gebrauchen konnte. Er persönlich hätte nichts gegen einen schmackhaften Kräutersud gegen Schlafstörungen einzuwenden …

„Also was nun, Loranthus“, drängelte Medan. „Sag schon! Du, als Außenstehender, hast ja wohl die Schlacht am objektivsten betrachtet!“

Loranthus verzog das Gesicht.

„Was, objektiv? Du denkst, ich sein unvoreingenommen? Nun, ja … natürlich, das bin ich … also ich würde mal sagen … die reine Schlacht … vom Aufstellen bis zur Todesgöttin … etwa eine Stunde.“

„Was!“, brüllte Medan und starrte Loranthus so entrüstet an, als hätte der ihn schwer beleidigt. „Ei-ne Stun-de?! Mehr nicht?! Das kann doch nicht wa … chhhhh … lass … chhoo!?“

Zu mehr war Medan nicht mehr fähig, denn Conall stand plötzlich da und hatte ihn mit einer Hand im Genick gepackt. Mit gefletschten Zähnen rüttelte er ihn kräftig durch, während die Leute rundum ihre Hälse reckten, weil sie nur Medans letzte Worte verstanden hatten. Sofort entstand ein Wettstreit, wer seinen Wagen am schnellsten zum Stehen brachte; Fußgänger schlugen natürlich auf der Stelle Wurzeln, wobei manch verkorkste Gestalten entstanden. Einer vergaß sogar seinen Fuß in der Luft, weil er sich so auf Conall konzentrierte, der seinen Mund weit aufriss, um Medan zu verschlingen.

„Du kleiner Wicht! Du wagst es!“, grollte er so laut, dass es jeder im Umkreis von dreißig Schritt verstand. Wer weiter weg war, sorgte schleunigst für einen kürzeren Abstand, um deutlich zu hören: „Eine Stunde Schlachtgetümmel ist dir nicht genug?! Eine Stunde gegenseitiges Abschlachten von Menschen reicht – dir – nicht!?“

„Conall, hör auf!“, bettelte Medan, der wieder ein bisschen Luft zu bekommen schien.

Conall änderte das sogleich und nahm ihn in den Schwitzkasten.

„Was meinst du wohl, du dürres Rippchen …“, knurrte er mit einem diabolischen Grinsen und spannte seinen unversehrten Arm zu einem mächtigen Muskelpaket an. „Wie lange würde es dauern, bis du einen Hieb abbekommst? Egal was für einen! Einen Speerstoß, einen Schwertstreich, einen Axthieb oder von allem etwas?“

Er kickte Medan den freien Ellenbogen in die Rippen, krachte ihm den Schädel gegen seinen und rammte ihm ein Knie gegen die Beine. Medan röchelte nach Luft, zappelte und wand sich, Conall johlte dazu: „Was meinst du wohl, wie die Chancen stehen, bis du an einen Gegner gerätst, der besser ist als du gackerndes Hähnchen? Ein Chatte? Oder zwei? Oder gar drei?! Los! Sag was, du bartloser Ziegenbock!“

„Ichgannnich … mee …“, wimmerte Medan und sein Gesicht war schon ganz rot.

„Aha! Der Herr Kriegsgott aller hirnlosen Meckerziegen kann nicht mehr! Dann sage ich jetzt mal … so über den Daumen gepeilt … du hältst zwei Chatten stand. Das ist viel! Viel mehr als ich glauben möchte, aber nehmen wir mal an, du hast Glück und schaust erst beim dritten Gegner an dir herunter, weil du plötzlich dein Bein nicht mehr spürst … Tja, du hast vergessen, es rechtzeitig weg zu stellen!“

Er schlenkerte Medan ein wenig herum und wuschelte ihm seinen ordentlich geflochtenen Zopf durcheinander, während Medan auf seinen Zehen tänzelte, um nicht zu sehr gewürgt zu werden.

„Das, kleiner Bruder, kann schon mal passieren, wenn man weiter oben beschäftigt ist! Wie durch ein Wunder besiegst du deinen Gegner trotzdem noch schnell, weil du nämlich nur umkippen willst, ohne gleich tot zu sein. Leider denkt dein Gegner das Selbe und du musst dir deinen Sieg redlich verdienen, aber wie schon gesagt, du schaffst es. Nun liegst du also da, nur halb tot, inmitten von abgehackten Fingern, Händen, Armen, Beinen oder herausquellenden Gedärmen, inmitten von Blut, Pisse und Scheiße … Weil es dir da unten nicht gefällt, versuchst du aufzustehen, aber dein Bein macht nicht mit und irgendwie will auch dein einer Arm nicht so recht. Also tastest du nur mit einer Hand um dich herum nach besserem Halt und hast plötzlich ein glitschiges Auge in der Zerre … aber damit nicht genug! Oh, nein! In dem Moment siehst du eine wilde Horde Chatten auf dich zukommen! Sie fuchteln mit riesigen Messern und Schwertern und Äxten und sie sehen aus wie Irre … und diese Wahnsinnigen stürmen dir entgegen, und du liegst da und willst weg … doch du kannst nur noch kriechen, sie sind natürlich viel schneller, und da siehst du dein Weib, wie es schreit in den Wehen, und du siehst dein winziges, blutverschmiertes Töchterchen in deinen Armen, und dein Sohn weint, weil er sich das Knie aufgeschrammt hat, und du willst ihn trösten, doch du kommst nicht hin, weil dein Bein aufgeschlitzt ist … und diese blutbesudelten Chatten jauchzen und hetzen wie eine hechelnde Meute Hunde auf dich zu, die Blut geleckt hat und du weißt: Jetzt ist alles aus, und du pisst dir vor Angst in die Hosen und kneifst die Augen zu und wartest auf den ersten Schlag und bittest Hall, dass sie dich gnädig aufnimmt und dass es schnell vorbei ist …“

Conall atmete schwer. Mit einem Ruck gab er Medan frei, der sich schnell den Hals abtastete und seinen großen Bruder anstarrte, als hätte er einen Geist aus der Anderswelt vor sich.

Conall schüttelte traurig den Kopf und zeigte an sich herunter.

„Und dann“, flüsterte er. „Dann machst du die Augen auf und stellst fest, dass es die Chatten-Horde gar nicht auf dich abgesehen hat. Sie sind zehn Schritte weiter und haben den ältesten Sohn von Eburix samt seiner beiden Flankenreiter von den Pferden gezerrt. Wie animalische Bestien hauen und hacken und stechen sie auf die drei ein, mit gierigem Glitzern in den Augen wollen sie dem Königssohn seinen Schmuck abnehmen. Sie müssen sich natürlich beeilen, weil Ethel oder ihre Töchter sie irgendwann entdecken werden und ihrem Treiben ein Ende machen. Aber bis jetzt ist sie noch nicht zu sehen und die Armreifen und Bartperlen gehen schnell ab, bloß bei den Fingerringen müssen sie die Messer zücken, weil sie nicht lange zerren wollen und der Königssohn brüllt … Sein goldener Torques geht natürlich gar nicht runter, also hebt einer die Axt und der arme Junge … Hall, erbarme dich! Es ist kein Mensch mehr, der da schreit. Doch weil die Monster so in Rage sind und sich gegenseitig in die Quere kommen, trifft der Idiot mit der Axt nicht richtig, und die Schneide verklemmt sich im Brustkasten, und der Wahnsinnige reißt sie wieder raus, und der Königssohn kreischt, und die Axt kracht wieder runter … Diesmal ist es ein Ohr, weil der arme Junge in seinem Schmerz natürlich nicht still hält … Die Chatten geifern wie tollwütige Hunde, als beim nächsten Schlag das Gehirn herausquillt und der Rest vom Körper zuckt und zappelt und sich aufbäumt und stöhnt … Denk ja nicht, dass sich irgendeiner erbarmt … oh, nein! Sie zerstückeln ihn bei lebendigem Leibe und als sie es endlich geschafft haben, jauchzen sie und tanzen und raffen ihre Beute ein …“

Conall holte tief Luft und atmete rasselnd aus.

„Und was tue ich?“, fragte er tonlos und schüttelte seine geballten Fäuste. „Nichts tue ich. Ich kann nur starren, starren und nochmals starren … doch was das Allerschlimmste ist … Ich bin so ein erbärmlicher Hund, denn ich bin erleichtert. Unendlich erleichtert, dass nicht ich es bin, der da nicht mehr zu erkennen ist und ich danke Hall, als sie erscheint und ich endlich meine Augen schließen kann, jetzt wo keiner mehr kommt, der es vielleicht doch noch auf mich abgesehen hat … Und wie ich so daliege, höre ich lautes Hufgetrappel, König Donar kommt an mir vorbei mit Ethel an seiner Seite und ihre Töchter gleich hinterher. Du kannst dir ja vorstellen, wie lange diese blutrünstigen Chatten noch zu leben hatten.“

Conall kniff die Augen zu und öffnete sie langsam wieder. Staunend blickte er um sich, als wüsste er nicht genau, wo er war. Medan glotzte ihn an und zog schniefend die Nase hoch.

Mittlerweile hatte sich der gesamte Clan eingefunden. Alle beobachteten stumm, wie Medan sich schluchzend in die Arme seines ältesten Bruders warf und Conall ihn tröstete, wie er es schon immer mit seinem kleinen Bruder getan hatte, nur diesmal mit einem Arm und schmerzverzerrtem Gesicht. König Gort wischte seiner Elsbeth über die Wangen und gab ihr einen sanften Kuss.

„Lasst uns weiter ziehen“, sagte er mit belegter Stimme. „Gleich haben wir es geschafft.“

Schwerfällig löste sich die Menschenmenge auf, während Lavinia etwas murmelte, dass sich wie: „Rein rechnerisch dürfte es noch nicht mal eine Stunde gedauert haben. Immerhin waren die Heere ungefähr gleich stark und so konnten auch nur einer, höchstens zwei Gegner gegeneinander kämpfen … schon gar nicht wegen der gut durchdachten Eröffnungstaktik unsererseits.” Laut sagte sie aber: „Viviane?“

„Ja, Lavinia?“

„War es sehr laut auf dem Schlachtfeld? Ich meine: Wenn die Schwerter klirren und die Menschen schreien … Haben Arion und Dina dabei nicht gescheut?“

Viviane räusperte sich.

„Nein, sie haben nicht gescheut, Lavinia. Bei unseren Übungsfahrten auf der Burg wurden sie daran gewöhnt. Die Krieger haben nämlich immer die Schilde zusammengeschlagen und geschrien. Aber trotzdem war dieser Lärm gar nichts im Vergleich zur Schlacht. Da war es so laut, als ob der schlimmste Sturm und das gewaltigste Gewitter gleichzeitig um dich herum toben, und du kannst dich nirgends unterstellen.“

„Da kannst du nur hoffen, dass es bald vorbei ist.“

Viviane sah ihre kleine Schwester ernst an.

„Genau so ist es.“

„Ihr musstet euch doch bestimmt auch vor den Speeren der Chatten schützen. Wenn man dabei die ganze Zeit den Arm mit dem schweren Schild hochhalten muss … Das geht doch gar nicht!“

Lavinia schüttelte ihren Arm aus, der schon vom Zügel Festhalten wehtat.

Viviane lächelte sie an und nickte zu Robin.

„Dafür gibt es Halteriemen, die gehen quer über die Schulter. Unsere hat übrigens Conall gemacht. Sie haben gar nicht gescheuert. Alle haben uns darum beneidet.“

Robin schwoll die Brust, was ihn wie eine verkleinerte Ausgabe von Medan wirken ließ, der im Moment jedoch ziemlich geknickt und mit mächtig zerzaustem roten Zopf neben Conall ging. Die beiden schienen in ein sehr ernsthaftes Gespräch vertieft.

„Mein Papa hat diese Riemen gemacht?“, flüsterte Robin andächtig. „Die muss ich mir nachher unbedingt mal ansehen!“

„Nachher, Robin. Jetzt sind wir da.“

Mit diesen Worten tat sich vor ihnen der Wald auf und sie fuhren zwischen den letzten Bäumen hindurch auf die riesige Wiese vor der Burg. Der Tross fächerte sich längs des Fuhrweges auf und die Leute setzten sich ins Gras. Nur die Kämpfer sammelten sich um König Gort und Afal.

Loranthus wollte auch hingehen, aber Medan hielt ihn an seinem kurzärmeligen Hemd fest.

„Nicht du, Loranthus. Nur die, die bei der Schlacht dabei waren.“

„Aber ich war dabei!“

„Na gut. Dann hätte ich besser sagen sollen: Nur die, die gekämpft haben.“

Loranthus sah Medan verständnislos an und schaute Viviane hinterher, die mit den anderen über die Holzbohlen vom Burggraben lief und gerade den Wall passierte. Sie hatte einen so schleppenden Gang.

„Wohin gehen sie?“

„Sie betreten das Heiligtum.“

„Und wieso dürfen wir anderen nicht mit?“

„Weil sie dort von Afal gereinigt werden.“

„Gereinigt?! Wir haben uns doch heute morgen erst in der Ulster gewaschen!“

Medan schüttelte ernst den Kopf.

„Sie haben Menschen getötet, Loranthus. Diese Toten sind nun in der Anderswelt. Ihre Seelen müssen versöhnt werden, damit sie zu Beltaine oder Samhain nicht in unsere Welt zurück kommen und ihre Bezwinger mit sich ziehen.“

Loranthus beäugte Medan, als würde er plötzlich die Landessprache nicht mehr verstehen. Abrupt zuckte seine Hand zum Burgtor und sein Zeigefinger stieß vor.

„Aber die Chatten haben uns doch angegriffen! Nur wegen Salz! Da wurde gekämpft! Mann gegen Mann! Oder Weib! Das ist ja bei euch egal! Denkst du, da hätte auch nur ein einziger Chatte dich am Leben gelassen, wenn du dich nicht gewehrt hättest?! Ich, ein außenstehender, objektiver Grieche! Ich selbst habe gesehen, wie man aussieht, wenn man sich nicht gut genug gewehrt hat! Und glaube mir: So will ich nie aussehen! So willst du nie aussehen! So will keiner je aussehen!“

Medan legte Loranthus beruhigend die Hand auf die Schulter.

Doch der schüttelte sie brüsk ab, schubste Medan zurück und sprach mit verstellter Stimme: „He, du Hermundure! Ich habe ja nichts gegen dich persönlich, aber mein König sagt, ich soll dich töten, damit wir an euer Salz ran kommen. Euer Eisen bekommen wir natürlich auch noch mit dazu, gratis sozusagen! Und wenn ich mit dir fertig bin, komme ich in dein Dorf und hole mir dein Weib und deine Tochter! Was ich von deinen Kindern nicht gebrauchen kann, bringe ich auf den Sklavenmarkt! Oder …“ Loranthus fuhr sich mit dem Finger über seine Kehle und funkelte Medan angriffslustig an. „Bei Pallas Athene! Zeig mir einen …“ Er fuchtelte mit erhobenen Daumen vor Medans Nase herum. „ … einen Einzigen, der sich da nicht wehren würde!“

Medan blieb ruhig stehen, nickte.

„Komm. Ich kenne einen gigantischen Bergahorn. Von dort können wir ziemlich gut sehen. Es ist nur eine Zeremonie, Loranthus. Du brauchst dir keine Sorgen um sie machen.“

„Keine Sorgen?“

„Nein, keine Sorgen.“

Loranthus trottete Medan hinterher, der mit den anderen seines Alters zum Waldrand zurückging, und sie kletterten an einem wirklich hohen Baum bis hinauf in die Spitze. „Es ist zwar nicht so gut wie auf einer Warte mit Fernrohr …“

Loranthus beugte sich gewagt nach vorne und drückte einen dünnen Ast mit gefiederten Blättern nach unten.

„Es ist perfekt.“

Medan lächelte und beugte sich ebenfalls vor.

„Schade“, seufzte er. „Wirklich schade, dass wir keine Kriegsbeute gemacht haben.“

„Natürlich haben wir Kriegsbeute gemacht“, verkündete Loranthus so stolz, als hätte er höchst persönlich dafür gesorgt. „So viele Schwerter, Schilde, Speere, Äxte, Streitwagen … und der ganze Schmuck erst noch. Man hätte meinen können, die Chatten wäre zu einem Fest unterwegs gewesen.“

„Aber wir haben nichts davon mit nach Hause gebracht! Wo ist das ganze Zeug hin? Hat wohl alles unser Hochkönig eingeheimst!?“

„Nein, natürlich nicht!“, entrüstete sich Loranthus und warf Medan einen tadelnden Seitenblick zu. „Alles wurde euren Kriegsgöttern geopfert!“

„Alles? Alles geopfert?!“

„Alles.“

„Auch die Pferde?“

„Auch die Pferde.“

„Und wieso haben wir welche dabei, meine Schwester mehr als alle anderen zusammen?“

„Ach so, die! Die meisten sind von den Spähzügen, da haben sie ihre erbeuteten Pferde angebunden, sodass sie ausreichend grasen konnten und sie später geholt. Nach der Schlacht hat euer ranghöchster Druide auch bestimmt, dass nur die Pferde geopfert werden, die sowieso schon verwundet waren. Tödlich verwundet, wohlgemerkt! Er sagte, solange er der höchste Druide der Hermunduren ist, wird kein lebendes Wesen geopfert. Es sei denn, es ist dem Tode schon näher als dem Leben.“

„Weise gesprochen …“, lobte Medan und nickte beifällig. „ … und den verwundeten Pferden hat er damit ein gnädiges Ende verschafft. Aber …“ Er kniff die Augen zusammen. „ … wo haben sie alles geopfert? Ich meine, diese ganzen Dinge …“

„Ich weiß schon, was du meinst, Medan“, verkündete Loranthus im Brustton der Überzeugung. „Also, das war so: Die Körper der toten Chatten wurden auf Hochgerüsten angebunden und ihre Köpfe darum auf Pfähle gesteckt, damit sie jeden, der vorbeikommt, an die Schlacht gemahnen. Alles andere haben sie kaputt gemacht und im Moor versenkt.“

„Kaputt gemacht und im Moor versenkt?“

„Ja. Damit das Böse, das die Chatten euch antun wollten, auf sie selbst zurückfällt.“

„Verstehe“, murmelte Medan nachdenklich vor sich hin.

Loranthus betrachtete seinen jungen Freund wehmütig und flüsterte heißer: „Das ganze Moor hat sich rot gefärbt. Ein rotes Moor! Kannst du dir das vorstellen? Selbst als die Leiber der Pferde mit ihrem herrlichen Zaumzeug schon längst untergegangen waren und die verbogenen Schwerter, die zerbrochenen Torques, Streitäxte, Speere, Lanzen, Pfeile, Bögen, Messer, Armspangen, Ringe mitsamt …“

„Ist gut, Loranthus“, sagte Medan schnell. „Denk nicht mehr dran. Schau! Die Bauern beugen sich unter dem letzten Steintor und steigen nacheinander die Stufen zum Heiligtum hinauf. Die ersten Krieger sind schon oben angekommen und stellen sich im Kreis auf.“

„Ihr immer mit euren Kreisen …“

„Du weißt, das ist symbolisch gemeint. Der äußere Kreis ist das Symbol für die Menschen in dieser Welt, der innere Kreis, in diesem Fall von einem Scheiterhaufen gebildet, ist das Symbol für die Seelen der Verstorbenen in der Anderswelt. Es gibt aber noch einen anderen Grund, einen ganz simplen, irdischen: Sie können gleichberechtigt warten, bis Afal das Zeichen gibt.“

„Ach so.“

„Siehst du Afal? Er schreitet gerade mit dem vergoldeten Schädel auf den Scheiterhaufen zu.“

„Ja, ich kann euren obersten Druiden gut sehen. Er hat wieder diesen seltsamen Fellmantel mit den Rabenfedern um, den er schon zu Beltaine getragen hat. König Gort geht neben ihm und dieser Druide … wie heißt er noch mal? Hört sich irgendwie nach Gärtner an … Ach ja! Gardan.“

„Gut gedacht, Loranthus. Jetzt dauert es nicht mehr lange.“

„Aha! Afal winkt! Die Kämpfer treten der Reihe nach in den Kreis und knien sich nieder. Der erste ist Amaturix, danach kommt gleich Viviane.“

„Das liegt an ihrem hohen Rang – Druiden des Drachenbundes. Danach kommen alle, die unter ihnen stehen. Zuerst Wahedon, der erste Krieger. Silvanus wird auch als Krieger geehrt, danach die Handwerker, Dorfvorsteher und die anderen Bauern, als letzte die Sklaven. Kannst du sie gut sehen, Loranthus? Wie sie um Afal knien?“

„Nicht besonders. Ich kann mich aber auch nicht noch weiter zur Seite beugen, sonst falle ich vom Ast. Siehst du es von deiner Warte aus besser, Medan? Was macht Afal mit dem Schädel?“

„Er gießt jedem geweihtes Wasser über die Hände. Natürlich nur ein bisschen. Es ist ja symbolisch gemeint. Das Wasser hat Afal heute Morgen selbst mit seinem Sklaven, Luis, bei Pauline geholt.“

„Den kleinen Luis kenne ich. Aber wer ist Pauline?“

„Pauline ist die Quellgöttin auf dem Uhsineberga.“

„Aha. Ich verstehe. Ihr habt drei Quellen: Pauline oben auf der Burg und die Quellgöttinnen unten im Tal heißen Sünna und Uhsine. Oh! Was macht Gardan dort hinter Afal?“

„Er füllt den Schädel immer wieder nach.“

„Dieser Gardan war auch mit im Tross dabei und kennt sich in eurer Götterwelt aus. Er ist von der Bruderschaft der Wanderdruiden. Ich habe gehört, dass er drei Tage lang eine Geschichte erzählen kann und zwar mit dem exakten Wortlaut, wie sie schon vor zweitausend Jahren erzählt wurde. Stell dir das mal vor! Was der sich alles merken kann!“

„Das ist die Grundvoraussetzung, wenn man ein Druide werden will. Sie nehmen einen nur auf, wenn man ein starkes Gedächtnis hat, sonst braucht man sich gar nicht bewerben. Das beste Buch ist das Gedächtnis und gelehrt macht nicht, was man liest, sondern behält.“

„Tja, wer sein Wissen auf mündliche Art weiter gibt, der muss sich schon auf sein Gedächtnis verlassen können! Das habe ich begriffen, wenn ich auch weiterhin für Aufschreiben bin. Aber was ich absolut nicht verstehe … Gardan besitzt nichts, absolut nichts! Kannst du dir das vorstellen, Medan?! Alles, was er braucht, bekommt er geschenkt. Das wäre kein Leben für mich!“

Medan nickte bedächtig vor sich hin.

„Er muss ein sehr reicher Druide sein.“

Loranthus’ Kopf ruckte herum und er sah Medan an, als würden dem gerade Eselsohren wachsen.

Medan lächelte prompt mit gebleckten Zähnen zurück, in seinen Augen war allerdings Loranthus der Esel, er hatte sogar ein paar Ahornblätter an den richtigen Stellen.

„Na, stell dir doch mal vor, Loranthus: Überall, wo du hinkommst, wirst du mit offenen Armen empfangen. Ausnahmslos alle Menschen schenken dir Essen, Trinken, Kleidung, Unterkunft und sogar das eigene Weib oder die eigene Tochter. Glaube mir, es ist die höchste Ehre für eine Maid, bei einem Druiden zu liegen. Du brauchst dir also in deinem ganzen Druidendasein nie Sorgen machen, ob die Ernte gut ausfällt, ob dein Vieh gesund bleibt, ob dein Haus dem Sturm standhält oder das Dach kaputt geht, oder der Lehm abbröckelt … und nachts wird auch noch dein Lager angewärmt, ohne dass du werben musst. Geschweige, dass du dich um die eventuellen Auswirkungen kümmern musst.“

Loranthus überlegte. Ein interessanter Glanz bemächtigte sich seiner Augen und er sah in weite Ferne.

„Wahrlich, das wäre ein göttliches Leben …“, lallte er mit verschleierten Blick, doch plötzlich packte er einen Ast und keuchte: „Ha! Was ist denn das für ein riesiges blaues Feuer?!“

„Genial, nicht war?! Die Flammen züngeln extrem schnell hoch. Afal macht das. Schau genau hin! Sie halten ihre Schwerter oder Messer in die Flammen, schneiden sich damit ein paar Haare ab und werfen sie ins Feuer. Das ist die Buße dafür, dass sie einen Menschen getötet haben.“

„Aha. Und was machen die, die mehr als einen getötet haben? Müssen die sich dann auch mehr Haare abschneiden?“

„Hm, keine Ahnung. Aber wir gucken uns nachher Viviane und Silvanus mal genauer an.“

„Beim Zeus! Jetzt wird das Feuer grün!“

„Ja. Das machen die obersten Götter der Anderswelt, Hall und Ogmios. Sie haben die Opfergabe angenommen und versöhnen nun die unsterblichen Seelen der Getöteten. So finden sie dort ihre Ruhe und kommen nicht mehr mit Rachegelüsten zurück, wenn sie wieder in unsere Welt eintreten dürfen.“

„Das ist gut. Ich hätte mir sonst echte Sorgen gemacht. So ein angriffslustiger Wurm oder eine gefräßige Made sind ja auch wirklich zum Fürchten.“

Medan prustete los.

„Wenn sie als Wildsau wiedergeboren werden, können sie einen richtig arg erwischen.“ Loranthus verzog das Gesicht.

„Daran habe ich gar nicht gedacht. Und wenn ich so recht darüber sinniere, kann auch ein Wurm giftig sein und manch einer ist auch schon an anderen Kleinigkeiten gestorben: verdorbener Fisch, Gräte, Hühnerknochen, Schlangenbiss, Hundebiss … Jetzt liegen alle auf dem Boden.“

„Sie danken Dis und allen anderen Göttern, dass ihre Bitte erhört wurde, besonders aber Hall und Ogmios. Guck, der Schwellenrauch erlischt langsam. Die Schwelle zur Anderswelt kann nun nicht mehr überschritten werden. Gleich kommen sie aus dem Heiligtum heraus.“

„Sag mal, Medan, kann ich eigentlich auch mal euer Heiligtum betreten?“

„Natürlich. Wenn du Afal noch eine Opfergabe für das Nementon mitbringst, führt der dich bestimmt extra lange herum und du kannst jede Opfergabe einzeln betrachten, nebst Erklärung, warum sie dort liegt. Kommst du gegen Abend, schleppt dich Afal vielleicht sogar mit rüber zum Geißkopf. Dort erklärt er dir ganz genau, wie er die Sterne vom Himmel holt und zeigt dir seine Sammlung an Knotenmustern. Wenn du Glück hast, darfst du seine Sternenmuster mit der echten Konstellation vergleichen. Pass also auf, dass du nicht in den See der Weisheit fällst.“ Medan deutete nach vorne. „Sie kommen zurück. Guck mal zum inneren Burgtor, Loranthus! Dort laufen die Opferdruiden mit den jungen Stieren für das Großopfer. Wir können wieder runter. Die Reinigung ist vorbei.“

Als Loranthus, Medan und die andern jungen Leute wieder bei ihren Familien standen, liefen gerade zwei Stiere nacheinander aus dem äußeren Burgtor und steuerten einen Wall aus Gras und Holz mitten auf der Wiese an. Loranthus konnte seinen Blick gar nicht mehr abwenden. Es war eine erhabene Prozession, die er da zu sehen bekam.

Die Stiere waren mit Blumenkränzen geschmückt, ihre langen Hörner mit Efeu umwunden. Sie wurden von je einem niederen Opferdruiden geführt, deren weiße Gewänder einen schlichten Gegensatz zu den prachtvollen Stieren bildeten. Dahinter liefen Afal, König Gort, Gardan und die Kämpfer in Zweierreihen. Medan und Loranthus sahen Wahedon, Silvanus, Oen, Harthu, Arminius, Tarian, Conall, Zanadu, Hirlas, Wadi, Rivu, Nion, Susanne, Ria, Beth … über die Wiese schreiten, doch ihr besonderes Augenmerk galt Viviane. Sie hatte nicht mehr diesen schweren Schritt wie vorhin, sondern ging aufrecht und würdevoll neben Amaturix. Und ihr wallendes Mahagonihaar war noch genauso üppig wie vorher.

Die Stiere machten vor dem Wall halt, der fast mannshoch über die Wiese ragte. Die Kämpfer stellten sich im Halbkreis darum, der restliche Clan postierte sich gegenüber und vollendete den Kreis. Loranthus stand ganz still zwischen Hanibu und Medan, erwartungsvoll beobachtete er Afal.

Er hatte immer noch diesen exotischen Mantel aus Tierfellen und Rabenfedern an und wenn sein Kopf nicht eindeutig menschlich gewesen wäre, hätte er auch ein skurriles Wesen aus der Anderswelt sein können. Wie zu Beltaine reichte er auch diesmal jedem Tier aus einer goldenen Schale eine Hand voll Kräuter und machte mit seinem Daumen das Zeichen der vier Himmelsrichtungen auf ihrer Stirn. Mit sanfter, aber kraftvoller Stimme bedankte er sich bei ihnen, weil sie ihr Leben gaben. Seine letzten Worte waren kaum verklungen, da legten sich die Stiere auch schon ins Gras. Schnaufend schlossen sie die Augen.

Vollkommene Stille trat ein. Afal breitete die Arme aus, senkte sie herab zur Erde und schwang sie hinauf zum Himmel. Alle knieten nieder.

„Allmächtige Götter! Wir, die Nachkommen des stolzen Cernunnos danken euch. Ihr habt uns in der Not beschützt, unsere Waffen gelenkt und uns den Sieg über die beschert, die den Frieden nicht ehren, den ihr uns gelehrt habt. Nirgends werden die Bitten von uns Sterblichen so nahe vernommen wie hier, wo durch eure Huld das weiße Gold entsteht und deshalb bitten wir euch: Nehmt unsere toten Gefährten in allen Ehren in der Anderswelt auf und gebt ihren unsterblichen Seelen Ruhe und Frieden. Lasst sie wieder eintreten in diese, unsere, Welt, wenn ihr es denn wollt und wacht mit eurer göttlichen Macht über den ewigen Kreis unser aller Sein, hier und immerdar. Ihr Götter! Dieses Großopfer soll euch beweisen, wie sehr wir eure Gunst achten und begehren. Wir bitten euch: Nehmt unser Opfer wohlwollend an.“

Afal hob sein Hirschhornmesser zum Himmel und drehte sich mit ausgestreckten Armen um seine Achse. Würdevoll, ja sogar anmutig, schnitt er damit den Stieren die Halsschlagadern auf; betäubt von den Kräutern, merkten sie es nicht mehr.

Ihr Blut wurde von den niederen Opferdruiden aufgefangen und in große bronzene Kannen geschüttet, deren Ausgüsse wie Hirschköpfe geformt waren, die Henkel wie Geweihe. König Gort und Afal nahmen die Kannen entgegen, stellten sich Rücken an Rücken und hoben sie feierlich zum Himmel. Dann gingen sie in entgegengesetzte Richtungen und gossen den Inhalt im Kreis um den Wall, bis der letzte Tropfen geopfert war. Als sie zusammentrafen, ließen sie die Kannen erneut füllen und hoben sie wieder zum Himmel. Drei mal umrundeten sie so den Opferplatz und es entstanden drei rote Kreise.

Den Stieren wurden nun die Köpfe abgetrennt. Auch das machte Afal selbst und Loranthus stellte fest, dass es ihn gar nicht störte, so nahe dabei zu stehen. Es waren ja auch keine Menschenköpfe, die auf den Wall gelegt wurden. Aber es wirkte schon irgendwie grotesk, wie die Stierköpfe von der Erhöhung herabsahen, der eine nach Osten, der andere nach Westen. Blumen und Efeu waren so üppig, dass es nicht nur den gesamten Wall bedecke, sondern auch noch bis ins Gras hinab rankte.

Loranthus überlegte, wie es wohl von oben aussehen musste, aus der Sicht der Götter. Er kam zu dem Schluss, dass es auf sie wirken müsste wie ein abstraktes Blumengebinde. Seltsam belustigt richtete er seinen Blick wieder auf die irdischen Dinge.

Die Opferdruiden häuteten die Stiere, schnitten lange Fleischscheiben ab und legten diese in große Holzbottiche. Alles wurde mit einer dünnen Schicht Salz und Kräuter bedeckt, darauf folgte die nächste Lage Fleisch. Herzen und Lebern wurden ebenfalls geschnitten und gewürzt, kamen aber in kleinere Bottiche. Die Mägen der Tiere wurden mit Speck und Blut gefüllt und verknotet, die restlichen Eingeweide waren für die Hunde. Jetzt blieben nur noch die Gerippe übrig. Sie wurden in mehrere Kessel verteilt und zu Holzstößen getragen, die etwas abseits aufgeschichtet waren. Nun war von den Stieren alles da, wo es hingehörte.

Loranthus kam nicht umhin zu bemerken, wie sauber der Platz am Ende aussah.

Afal schabte einen Feuerstein über sein Feuereisen und ließ gekonnt die Funken in das trockene Gras spritzen. Schon qualmte es und die Boten begaben sich von Mutter Erde zu Vater Himmel. Bald entschwand der Rauch, dafür brannte nun der ganze Wall lichterloh und lockte die Götter herbei zum Opferschmaus.

Afal hielt eine Fackel ins Feuer und reichte sie König Gort. Der lief damit von einem Holzhaufen zum nächsten und zündete sie an.

Als wäre dies eine Aufforderung, gingen alle Clanmitglieder an den Bottichen vorbei und nahmen sich Fleischscheiben, die Stücken von Herz und Leber waren allerdings den Kriegern des Königs vorbehalten.

Nach Dörfern geordnet setzten sie sich um die Feuer, steckten das dünne Fleisch wellenförmig auf bereitliegende Spieße und hielten es in die Flammen.

Loranthus wartete darauf, dass seine Scheibe gar wurde und lugte nebenbei in den Kessel, der an einem Dreibein über dem Feuer hing. Morgen würde es also Fleischbrühe geben. Lavinia schien seine Gedanken zu erraten, sagte aber nichts, sondern lächelte nur. Bis auf schwaches Babygeschrei war auf der gesamten Wiese kein Laut zu hören. Abrupt verstummte auch dieses Geräusch, alle warteten.

Arminius drückte sein Fleisch prüfend zwischen den Fingern und nickte zufrieden. Bedächtig schnitt er die Hälfte ab und warf sie ins Feuer. Es zischte kurz auf, teilte sich, und schon schlugen die Flammen wieder zusammen, züngelten gierig empor. Arminius schob seinen Spieß in die Erde, ging auf die Knie und legte die Hände flach auf die Wiese. Alle taten es ihm nach, auch Loranthus und Hanibu.

„Heilige Mutter Erde, du gibst uns das Leben, du gibst uns Nahrung, du gibst uns Unterkunft, du gibst uns Heilung, du gibst uns alles, was wir brauchen und dafür danken wir dir. Wir achten dich und wir ehren dich, solange unsere unsterblichen Seelen im großen Kreis existieren. Aber du bist auch die Mutter aller anderen Wesen: aller Tiere, aller Pflanzen, allen Seins auf Erden. Deshalb: Vergib uns. Wir haben gegen unsere Brüder und Schwestern gekämpft. Wir haben sie verletzt und getötet und sie taten uns das Gleiche an. Ich weiß, wir alle, ob Götter oder deren Kinder, sind der Allmacht unterworfen, und natürlich bin ich froh, dass wir den Sieg errungen haben und unser göttliches Erbe verteidigen konnten. Doch ich bin kein Krieger und kein Druide und kein König, ich bin Bauer. Deshalb, ehrwürdige Mutter, erhöre meine Bitte: Lass mein Blut nie wieder gegen deine Kinder kämpfen und wenn es doch sein muss, hilf. Hilf den Gerechten.“

Loranthus zog nachdenklich die Stirn kraus. Nicht weil Arminius diese sanftmütige Einstellung demonstrierte – als objektiver Grieche hatte er schon längst begriffen, dass nicht alle Keltoi rauflustig waren; das traf nur für die Krieger zu und auch da nicht bei jedem. Nein, er wunderte sich, weil er diese Bitte an Mutter Erde noch nie gehört hatte. Was meinte er denn mit ‚hilf den Gerechten‘? Sollten sie möglichst schnell den Sieg erringen, damit Menschenleben verschont wurden? Und wenn doch einer von den Gerechten starb? Sollte Mutter Erde den gut in sich aufnehmen, damit er ein friedvolles Dasein in der Anderswelt führen durfte? Wie war das dann bei den ‚Ungerechten‘, die besiegt werden sollten? Wenn die nur gezwungenermaßen kämpften und ihre bösen Taten bereuten – gehörten sie dadurch zu den Gerechten? Wer richtete darüber?

‚Gerechte‘, ‚Gerichtete‘ … so oder so, oder alles zusammen – sonst sprach Arminius immer eine andere Bitte vor dem Abendbrot. Aber eigentlich war das hier ja auch kein Abendbrot. Dafür war es viel zu früh. Dieses Großopfer war also etwas ganz Außergewöhnliches. Das gab es scheinbar nur deshalb, weil die Kämpfer siegreich aus der Schlacht heimgekehrt waren, genau wie es Madite prophezeit hatte.

Loranthus sah zu Madite, die mit König Gort, Amaturix, Afal, seinem Weib Fea und Gardan am Feuer saß, da schossen plötzlich grüne Flammen aus dem Opferwall empor. Afal hob sein Horn und stieß drei Mal hinein, dass es laut über die gesamte Wiese schallte. Alle erhoben sich, streckten ihre Hände zum Himmel, jubelten, klatschten und hüpften hoch, so sehr freuten sie sich. Medan nickte ihm bedeutsam zu: Die Götter hatten ihr Opfer wohlwollend angenommen. Jetzt fehlte nur noch die ausgelassene Feier, dann würde Madite mit einem Teil ihrer Weissagung zu Beltaine schon mal recht gehabt haben.

Als wären seine Gedanken erhört wurden, erklang von Ferne Musik. Loranthus drehte sich um, und sein Herz machte einen Freudensprung. Sein Körper hüpfte hinterher, auf seiner Haut knisterte es, in seinen Adern loderte es auf und von seinem Kopf bis zum Fuß begann sein ganz persönliches Freudenfeuer zu prasseln.

Elektra erschien im Burgtor.

Neben ihr gingen Königin Elsbeth und davor der Barde, der sich ihrem Tross angeschlossen hatte. Kablitu hieß er und war ein guter Freund von Lew, dem Barden des Hirschclans. Lew war ja auch gerade auf Wanderschaft durch das Großkönigreich und hatte sich König Ebu vom Hermannsberg im Thuringer Wald angeschlossen, wo er schon vor der Schlacht zu Gast gewesen war.

Auch Kablitu beherrschte sein Spiel auf der Leier perfekt; Elektra und Königin Elsbeth tänzelten zu seiner Melodie über die Wiese Richtung Opferwall. Es sah so aus, als wären ihre Bewegungen vorgegeben, denn sie machten immer genau drei Schritte nach rechts vorne, drehten sich um sich selbst und machten darauf drei Schritte nach links vorne. Es war kein einziger Sprung dabei und als sie näher heran gekommen waren, wusste Loranthus auch, warum. Sie hielten große Weidenkörbe. Aus denen warfen sie bunte Blütenblätter heraus und verstreuten sie im Kreis um den Opferwall und um alle Leute an den Feuern. Anmutig setzten sie sich zu König Gort und Amaturix, die ihnen Spieße reichten; Afal blies in sein Horn und schwenkte den seinen auffordernd durch die Luft.

Jetzt konnten alle mit dem Essen beginnen.

Nach der ersten Scheibe holten sie sich neue. Die Sklaven teilten Met für die Erwachsenen, Tee und noch etwas anderes für die Kinder aus. Auch für die Erwachsenen hatten sie ein zweites Getränk in den Fässern und Loranthus ließ sich nicht lange bitten, es einmal zu probieren.

„Mmmh, das ist einfach köstlich! Euer Birkensaft zu Beltaine war schon wunderbar, aber das hier …“ Loranthus schmatzte genüsslich. „ … mmmh. Was ist das, Arminius?“

„Elder.“

„Was für’n Zeug?“

„Du kannst auch Holunder sagen. Wenn der Hollerbusch blüht, machen wir davon einen Sud und geben reinen Alkohol dazu. Schmeckt gut, nicht wahr?“

„Oh ja, daran könnte ich mich gewöhnen. Richtig lieblich und süffig.“

„Süffig, garantiert! Wenn es dir in den Kopf steigen sollte, es gibt auch Eldersud für die Kinder. Der wird aus Blüten, Wasser, Honig und Essig gemacht, schmeckt herrlich erfrischend und dreht den Kopf nicht schneller als man tanzen kann.“

„Tanzen, Elder ohne Alkohol, muss ich probieren“, murmelte Loranthus, schnupperte fasziniert an seinem Horn und sah zu Elektra hinüber. Sofort verschleierte sich sein Blick, als hätte er schon ein halbes Fass Elder intus.

Arminius griente Flora an, die nickte Großmutter Mara zu, Viviane und Lavinia kicherten und flatterten mit den Händen, als wollten sie fliegen lernen … Loranthus nahm nichts davon wahr.

Er schlürfte langsam aus seinem Horn und merkte nicht einmal, wie Bewegung in die Leute kam. Sie gingen umher, setzten sich an andere Feuer, redeten, lachten, tranken sich zu … der Barde spielte auf seiner Leier, andere Musikanten zückten ihre Instrumente, Lavinia füllte sein Horn mit Elder ohne Alkohol auf, Kinder fassten sie an den Händen und hüpften jauchzend zwischen den Feuern hindurch … „Ich freue mich, Loranthus, dich wohlbehalten wiederzusehen.“

Loranthus rieselte es heiß den Rücken runter.

Hastig drehte er sich zu Elektra um, die ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte und sich ganz ungezwungen neben ihn setzte. Wie war sie unbemerkt hinter ihn gekommen? Er hatte sie doch die ganze Zeit angestarrt!

„Elektra!“, krächzte er. „Wie bist du …?“ Er fuhr sich verlegen durch die Haare. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Deine Eltern haben mir schöne Grüße für dich aufgetragen. Sie waren sehr freundlich zu mir. Besonders deine Mutter und deine Großmutter Dana. Schau mal, das habe ich für dich geschnitzt, als ich bei ihn … äh … Großmutter Dana war.“

Bloß gut, dass er diese Begrüßung schon geübt hatte. So kam es fast fehlerlos über seine Lippen, nur ein bisschen zu eilig. Betont ruhig nahm er ihre Hand und legte ein kleines geflügeltes Pferd hinein. Mutig gab er sich einen Ruck, umarmte sie und hauchte ihr dabei rechts und links einen Kuss auf die Wange.

Elektra tippte auf das Holzpferdchen und zog ein vorwurfsvolles Schnutchen.

„Aber, Loranthus! Das kann ich doch nicht annehmen!“

Loranthus legte sich ins Zeug.

„Es ist nur eine Kleinigkeit! Klein, im wahrsten Sinne des Wortes!“ Er winkte ab. „Einer Königstochter nicht würdig, ich weiß. Aber Königin Birgie, also deine leibliche Mutter, meinte, du liebst phantastische Wesen und würdest dich darüber sehr freuen.“

Eigentlich hatte Königin Birgie ihm das Lindenholz zum Schnitzen gegeben, damit er aufhörte, vor Aufregung an seinen Fingernägeln zu kauen. Die untätige Wartezeit bis zur Schlacht hatte ihn dermaßen hibbelig gemacht, dass sie ihn vor die Wahl stellte: entweder Baldrian oder Schnitzen. Wenn er kein Fernrohr ans Auge gedrückt hielt, hatte er also das Holz statt seiner Nägel bearbeitet. Und siehe da! Königin Birgie war mit seinen ordentlich gestutzten Fingernägeln zufrieden und von dem geflügelten Pferdchen richtig beeindruckt. Darum hatte sie ihm auch ein schmales Lederband gegeben, damit er daraus einen Anhänger machen konnte.

Elektra sah ihn schelmisch an und zog sich den Anhänger über den Kopf.

„Da hat meine Mutter recht, aber trotzdem …“ Sie tippte sich tadelnd an den Hals.

„Nein, Loranthus! Ich kann wirklich nicht annehmen, dass das schon alles war!“

Loranthus sackte in sich zusammen und betastete den fast verheilten Schnitt am Daumen. Waren seine Mühen also doch umsonst gewesen. Vielleicht hätte er ihr lieber die Lilien schenken sollen, die ihm auf dem Weg zur Burg so gefallen hatten? Aber dieser Schmollmund …

Elektras azurblaue Augen blickten vorwurfsvoll, sie schniefte, ihr Mund zuckte, prustend warf sie sich auf ihn, wühlte ihre Lippen in seine und schob ihre Zunge verlangend hinterher. Loranthus riss die Augen auf, bewegte nichts – außer seine Zunge – und hielt sie sachte umschlungen. Gleichzeitig versuchte er, ihrem Druck standzuhalten und nicht umzukippen; seine Bauchmuskeln zitterten, Elektra schnurrte. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie ihren Mund löste. Sofort huschten ihre Lippen an sein Ohr und ihr heißer Atem trieb ihm wohlige Schauer vom Genick bis sonst wohin.

„Ich kann wirklich nicht annehmen, dass deine steife Rede schon alles war!“ Feixend biss sie Loranthus ins Ohrläppchen und ihre Hand rutschte an seinen Bauch hinunter. „Hmmm, schon besser. Das ist ja wohl eher die richtige Stelle dafür. So möchte ich ab sofort immer von dir begrüßt werden. Das ist einer Königstochter würdig.“

Loranthus japste. Ohne Gegenwehr ließ er sich von Elektra umdrücken und ergab sich stöhnend in sein Schicksal: Einer Königstochter musste man jeden Wunsch erfüllen. Das hatte sie ihm ja schon zu Beltaine im See erklärt.

Seine Sklavin Hanibu tanzte derweil mit Medan um die Feuer. Vor ihnen hüpften Viviane und Silvanus, Nora und Harthu, Susanne und Hirlas. Viviane drehte sich zu Hanibu um, deutete zwinkernd auf das Knäuel neben ihrem Feuer und flatterte wieder mit den Händen, als wolle sie fliegen. Sie grienten sich alle an; ihr Tanz wurde noch ausgelassener.

Bis in die Nacht hinein wurde getanzt, getrunken, gegessen, gelacht, erzählt … als die Sonne aufging, lag der ganze Clan über die Burgwiese verstreut, paarweise oder in Gruppen.

Die Kinder schliefen zusammen innerhalb der Feuer. Die Nacht war mild, sodass sie eigentlich keine zusätzliche Wärme gebraucht hätten, aber die Mitte gab ihnen einen besseren Schutz. Ihre Eltern, Großeltern und erwachsenen Geschwister waren vom Fest zwar noch benommen, doch der eine oder andere hätte es bestimmt bemerkt, wenn sich ein Raubtier angeschlichen hätte.

Viviane wäre die Erste gewesen, denn sie lag am Waldrand und hatte keinen Alkohol getrunken. Wenn sie bloß an einem Horn mit Met roch, wurde ihr schon übel. Deshalb trank auch Silvanus nur Tee und Eldersud für Kinder, er wollte ja keinen Schritt von ihr weichen.

Es war für ihn nicht schlimm, nüchtern zu bleiben; er fand es sogar lustig, dass Viviane so extrem auf Gerüche reagierte. Genau genommen zollte er dieser Erscheinung ihrer Schwangerschaft sehr große Ehrfurcht. Ihr Geruchssinn glich dem eines Hundes – er konnte das einschätzen, seine Ethmanja war die beste Hirschhündin weit und breit – und so hatte Viviane ihnen als Späher einen immensen Vorteil verschafft. Aber nicht nur ihre empfindliche Nase, sondern auch ihre listigen Täuschungen waren genial und Silvanus war überzeugt: Viviane war die personifizierte Todesgöttin für alle Feinde, die sich ihr in den Weg stellten.

Dieses Weib war nun seines. Offiziell zwar erst zu Lugnasad, wenn sie vom höchsten Druiden zusammengeführt wurden, aber Viviane hatte sich ihm bereits versprochen. Seit Beltaine waren sie zusammen und Silvanus war total stolz, Viviane sein eigen nennen zu können. Es störte ihn nicht einmal, dass sie das Kind eines anderen erwartete. Sie konnte ja nichts dafür. Außerdem hatte sie einmal erwähnt, dass dieser britannische Merdin fast so aussah wie er. Nur seine Augen waren nicht dunkelbraun, sondern blau. Wenn der Kleine dann Vivianes moosgrüne Augen bekäme, wäre das irgendwie befriedigend: Der Sohn des zukünftigen höchsten Druiden von Britannien würde bei ihnen aufwachsen und jeder, der ihn ansah, würde ihn für sein Kind halten.

Viviane blinzelte, sah in die lächelnden Augen von Silvanus und schlang ihm die Arme um den Nacken. Voller Leidenschaft gab sie ihm einen wilden Kuss, nahm seine Hüften in die Beinzange und presste ihn an sich, bis er stöhnte.

„Schon wieder Angriff ohne Vorkampf?“, hauchte ihr Silvanus ins Ohr und seine Lippen flüsterten weiter zu ihrem Nacken: „Seit wir es das erste Mal richtig gemacht haben, sind wir nicht mehr zum Spielen gekommen.“ Seine Zunge strich leicht über ihr Schlüsselbein, sachte biss er in ihre Schulter. „Du bist unersättlich.“

Viviane japste, bäumte sich auf und zog einen Schmollmund, während sie ihre Beine noch mehr verschränkte.

„Das liegt an meiner Schwangerschaft. Wir müssen es schließlich ausnutzen, wenn es eh schon zu spät ist. Außerdem: Wenn ich solchen Hunger habe, kann ich nicht spielen wie die Katze mit der Maus. Schon gar nicht …“ Sie rutschte sich ein wenig zurecht und schnurrte: „ … wenn sich die Maus so einladend vor dem Mauseloch präsentiert.“ Knurrend schnappte sie mit den Zähnen nach seiner Gurgel und Silvanus keuchte: „Friss mich!“

Lavinia drehte sich auf die andere Seite, gähnte und blinzelte verschlafen in die goldene Morgendämmerung. Hastig riss sie die Augen weit auf und rüttelte Robin, der neben ihr leise schnarchte. Brummend öffnete er ein Auge, sah Lavinia strafend an und drehte sich von ihr weg. Die ließ sich davon aber nicht beirren, zerrte ihn unsanft wieder zurück und drückte ihm mit den Daumen die Lider hoch. Robin knurrte und wollte sich auf sie stürzen, hielt aber mitten in der Luft inne, riss die Augen auf und ließ sich neben Lavinia fallen. Den Kopf behielt er jedoch oben.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Bewegung in die Leute kam. Gemächlich zogen sie die Speckblasen aus der noch warmen Asche, wischten sie sauber und schnitten sie in Scheiben. Die Feuer wurden neu entfacht und die Fleischbrühe erhitzt; dazu kam noch das restliche Fleisch. Die jungen Maiden hatten kühles Quellwasser geholt und manch einer schöpfte gleich mehrere Hörner hintereinander, um sie gierig in einem Zug zu leeren.

Viviane und Silvanus grienten sich an und beobachteten Conall, der jetzt das Wasser hinunter kippte wie gestern Met und Elder. Nur Loranthus schien kein Interesse an Ess- oder Trinkbarem zu haben und widmete die ganze Aufmerksamkeit seinen Händen, die er immer mal zur Nase führte. Silvanus ließ seinen Mittelfinger über Vivianes Hand kreisen und sie schnappte zu. Da grienten sie sich wieder an und winkten Elektra, die gerade zwischen Königin Elsbeth und dem Barden Kablitu saß und zu Loranthus herüber sah. Elektra hielt triumphierend den Daumen hoch, grinste breit und nahm noch ihren Zeigefinger und ihren Mittelfinger dazu. Silvanus schüttelte mit gespielten Entsetzen den Kopf; er sah gerade noch, wie Viviane ihre Finger einzog und die Faust in Siegerpose in die Luft stieß.

Nach der Mahlzeit erklang ein melodischer Posaunenstoß und Ruhe trat ein. Afal stellte sich neben die abgebrannte Opfergabe und deutete auf die geschwärzten Tierschädel.

„Nachkommen des stolzen Cernunnos! Die Götter haben unser Großopfer wohlwollend angenommen. Wenn sich die Sonne das dritte Mal neigt, werden sie zu uns herabsteigen und mit uns tanzen. Lasst sie uns ehrerbietig begrüßen. Lasst uns mit weitem Herzen über Mutter Erde wandeln und am Tag der Birke den Göttern huldigen. Geht nun in Frieden.“

Beschwingt fuhren alle in ihre Dörfer. Loranthus rannte mit Silvanus und Medan den kürzeren Weg quer durch den Wald. Als Arminius mit dem Rest der Familie ankam, hatten sie schon die Hühner aus dem Gehege gelassen, die Eier eingesammelt, Brunnenkresse am Fluss geholt, Zwiebeln und Möhren geputzt und Brot geschnitten. Loranthus musste schmunzeln, als Viviane eintrat und ihm dabei zusah, wie er die Kresse auf Butterbrote schnippelte und sie akribisch zusammenklappte.

Arminius klopfte ihm zufrieden auf die Schulter, wickelte die Brote in ein Leintuch und legte es mit Eiern und Gemüse in eine Kütze. Die Männer liefen los, um die Felder zu begutachten.

Viviane stand in der Tür und beobachtete Medan, wie er die Kütze schulterte und Robin, der stolz an den Fingern aufzählte, was sie alles für Arbeiten verrichtet hatten. Sie wäre auch gerne mitgegangen, aber ihre Mutter hatte Schmerzen im Unterleib. Da wollte sie ihr lieber einmal den Bauch abtasten.

„Also, Mama, ich kann nichts Ungewöhnliches finden. Alles sitzt da, wo es hingehört. Werden wohl die Bänder sein, die sich dehnen müssen. Die Gebärmutter ist immerhin schon faustgroß.“

Viviane drehte sich zu Lavinia um und hielt Daumen und Zeigefinger ein Stück auseinander.

„Unser Schwesterchen dürfte jetzt etwa so groß sein.“

Lavinia nahm sich das kleinste Ei aus der Bastschale und hielt es prüfend zwischen den Fingern.

„Dann ist es ja so groß wie das Ei von einem jungen Huhn!“

Vorsichtig legte sie das kleine Ei in ihre Hand, strich liebevoll darüber und wiegte es hin und her.

„Mein liebes Schwesterchen. Wenn du geboren bist, wiege ich dich genauso immer hin und her. Das kann ich schon gut, sagt Noeira.“

Viviane gluckste und wollte schon den Mund aufmachen, doch Flora schüttelte warnend den Kopf. Ihr stand nämlich gerade das Bild vor Augen, auf welche Weise Viviane damals Medan gewiegt hatte.

Sie hatte sich unter die Wiege gehängt und war daran hin und her geschaukelt. Das ging gerade noch gut. Der Balken an der Decke war ja stark genug, um die hängende Wiege und Viviane zu halten. Doch auf die Wiederholung dieser Belastungsprobe konnte Flora gerne verzichten und der Deckenbalken bestimmt auch, immerhin war er nun schon seit elf Generationen im stetigen Gebrauch und musste geschont werden.

Noeira stemmte die Hände in die Hüften.

„Da wir gerade von Babys reden … Wie bist du eigentlich zu deinem gekommen?“

Viviane schnaufte, als wäre ihr eine Fliege in die Nase geflogen.

„Das habe ich euch doch schon erzählt!“

Noeira winkte gelangweilt ab, von Fliegen – egal welcher Art – ließ sie sich nicht beirren, wenn es etwas Neues zu erforschen gab.

„Ja, ja, wir haben aufgepasst. Morgens Prüfung für das Drachenschwert im Wald, abends Initiation für den Orden mit himmlisch duftender Schale in einem sonst leeren Raum. Was mich persönlich dabei interessieren täte, ist das, was nach dem Riechen an der Schale passierte.“

„Na, nichts!“ Viviane warf die Hände in die Höhe und verscheuchte einen ganzen Schwarm Fliegen. „Nichts, nichts und nochmal nichts!“ Es war die reinste Fliegenplage. „Einfach nur am nächsten Morgen orientierungslos mit schmerzenden Gliedern aufgewacht!“

Noeira reckte das Kinn und sah Viviane herausfordernd an.

„Hast du nicht gesagt, du hättest einen Traum gehabt?“

Jetzt winkte Viviane ab, als wolle sie eine ganz besonders lästige Fliege mit einem Wisch schnappen.

„Ach, das war doch nur ein total abstrakter Traum, Noeira! Absolut surreal! Skurril! Abstrus! Hervorgerufen durch Drogen! So was Irres sehen nicht mal die Feinschmiede, wenn sie in Trance sind und ihre phantastischen Figuren ins Edelmetall treiben.“

Noeira wedelte mit ihrem Zeigefinger vor Vivianes Nase herum und beförderte sie energisch auf die Sitzbank.

„Da wäre ich mir nicht so sicher! Schließlich ist bei dir ja auch ein Kunstwerk entstanden. Hauptsache, der Kleine hat keine Hufe oder einen Hirschkopf, wenn er raus kommt! Das wird nämlich schwierig mit dem Anziehen.“

Viviane schüttelte übertrieben tadelnd den Kopf, verdrehte die Augen und nickte zur Tür.

„Du denkst schon wie Silvanus! Der hat letztens erst gemeint, ich solle bei den Mützchen Löcher rein machen, damit das Geweih gut durchpasst.“

„Also wirklich!“ Noeira klatschte entrüstet die Hand auf den Tisch. „Das schlägt dem Fass den Boden aus! Ich hoffe doch, du hast ihn für so eine freche Rede ordentlich bezahlen lassen!?“

Viviane grinste listig.

„Der bezahlt mir jeden Tag dafür! Doppelt und dreifach.“

„Recht so! Also los! Erzähl schon von diesem phantastischen Traum! Je mehr abstrakt, surreal, skurril und abstrus, umso besser.“

Mit rollenden Augen schaute Viviane zu Noeira und allen andern, die sich nun erwartungsvoll um den Tisch platzierten. Lavinia huschte schnell zwischen Großmutter Mara und Taberia, damit sie Viviane exakt gegenüber saß, und beugte sich sogar noch weiter vor als Noeira. Nur Hanibu sah aus, als wüsste sie schon Bescheid. Viviane seufzte und verschränkte die Hände auf dem Tisch.

„Also. Mein oberster Lehrer, Akanthus, hatte Merdin und mich in ein mickriges kreisrundes Grubenhaus ohne Mobiliar geführt und von außen den Riegel vorgeschoben. Da es nur ein winziges Fenster hatte, haben wir neben der Tür darauf gelauert, was nun kommt, denn wir waren auf einen erneuten Reaktionstest gefasst. Doch es passierte nichts, überhaupt nichts. Also haben wir uns auf die Bärenfelle gesetzt und erzählt, wie es uns bei der Prüfung früh morgens im Wald ergangen ist.

Merdin war in einem anderen Teil des Waldes unterwegs gewesen als ich und der irrigen Annahme, dass ich als Maid nicht so hart geprüft würde wie er. Bei Tarnung und Spurensuche war es ja egal, aber er hat gestaunt, weil ich mich gegen jeden meiner fünf Angreifer genauso erwehren musste wie er. Einen hatte ich sogar früher erwischt als er mich, weil ich ihn von einem Baum aus gesehen hatte. Zwar nur seinen blinkenden Schwertknauf, aber gesehen ist gesehen.

An den habe ich mich herangeschlichen wie ein Wolf auf Beutefang und habe ihm aus meinem längsten Blasrohr eine ordentliche Ladung Pfeile verpasst. Bis er endlich von seinem Baum unten war, hatte er einen im Hintern, einen im Oberschenkel und einen mitten im Genick. Natürlich ohne Betäubungsgift dran, er sollte mich ja im Schwertkampf testen, was er danach auch ziemlich rabiat tat. Am Ende sah er richtig zerzaust aus. Ich dagegen bin tadellos aus dem Wald herausgetreten und meine Prüfer hatten nichts zu bemängeln. Der Zerzauste hat mir sogar feixend sein Schwert hingehalten und Revanche gefordert. Ich habe es natürlich nicht berührt, es war ja nur Spaß.

Merdin musste lachen, als er sich die Szene vorstellte. Er konnte sich gar nicht mehr beruhigen und sprang in dem winzigen Raum herum, als hätte er einen von meinen Blasrohrpfeilen im Hintern. Weil es mittlerweile schon dunkel geworden war, nahm ich ein Stück Glut aus meinem Zunderschwämmchen und legte es in eine Ölschale, die vom obersten Deckenbalken hing. Merdin musste mich hochstemmen, sonst wären wir gar nicht an die Schale herangekommen, so extrem weit oben war sie angekettet. Kaum brannte das Öl, verströmte es auch schon einen ganz intensiven Duft, unbeschreiblich gut, einfach genial. Wir konnten gar nicht genug davon bekommen und reckten beide die Hälse, um möglichst viel von den Duftschwaden einzuatmen.

Wann ich die Besinnung verloren habe, kann ich absolut nicht sagen. Jedenfalls sah ich einen Hirsch in meinem Traum. Der stand vor mir auf einer großen Wiese und rief mich. Ich lief auf ihn zu, schlug im letzten Augenblick einen Haken und rannte an ihm vorbei. Er stellte sich auf die Hinterläufe und preschte mir lachend hinterher. Übermütig trieben wir uns gegenseitig durch einen schattigen Birkenwald und einen steilen Berg hinauf. Oben auf der Kuppe befand sich eine sonnige Wiese mit herrlichen Blumen und Kräutern.

Ich pflückte Blumen und steckte mir die wohlriechenden Kräuter in den Mund. Die Sonne wärmte mich so angenehm, also legte ich mich auf die Wiese und ruhte mich aus. Als die Sonne im Zenit stand, begann ich zu schwitzen.

Der Hirsch legte sich neben mich und leckte mir den Schweiß ab. Das kitzelte, aber ich fühlte mich gleich viel besser und döste kurz ein. Als ich aufwachte, äste der Hirsch an einem kleinen Weiher. Wir tranken das herrlich erquickende Wasser und liefen gemeinsam von einem duftenden Kraut zum anderen.

So kamen wir zu einem Weg, der zum nächsten Berg führte. Dort glitzerte es in der Sonne und wir wollten sehen, was das war. Also sind wir wieder losgelaufen, aber der Pfad wurde immer schmaler und abschüssiger. Kurzerhand nahm mich der Hirsch auf seinen Rücken, damit ich nicht vom Wege abglitt.

Ich wollte ihm danken und streichelte über seine Flanken, seinen Rücken, die Schultern, den Hals und das Geweih. Bei jedem seiner Schritte konnte ich seine sehnigen Muskeln spüren. Er strotzte vor Kraft. Sein Fell war weich und warm. Sein stattliches Geweih fühlte sich herrlich an. Ich musste es einfach immer wieder berühren und meine Finger glitten über jeden Zacken in seiner Krone.

Der Pfad ging bald steiler nach oben, doch der Hirsch trug mich sicher hinauf und ich war froh, so einen guten Weggefährten zu haben. Auf der Bergkuppe fanden wir wieder eine große Wiese mit saftigem Gras. Was von Weitem so gefunkelt hatte, waren Tautropfen, die in der Sonne glänzten. Das wunderte mich, denn nachmittags gibt es eigentlich keinen Tau mehr.

Erstaunt betraten wir die Wiese und schon beim ersten Schritt merkten wir, dass es kein echter Tau war, sondern winzige Kristalle. Die Wiese war übersät mit Kristallen und es fühlte sich ganz seltsam an, darüber zu laufen. Aber der Hirsch rannte wieder übermütig vor mir her und so trieben wir uns gegenseitig, bis wir erschöpft ins Gras fielen und er mir eifrig den Schweiß ableckte. Kaum hatte er mich auf diese Weise ein wenig abgekühlt, neigte sich die Sonne zum Horizont und die Kristalle erstrahlten in den zartesten Farben.

Ich wollte mir die blauen und grünen genauer ansehen, der Hirsch lief zu den goldenen und veilchenfarbenen, doch wir konnten sie nicht berühren, weil plötzlich Wind aufkam. Die Kristalle trudelten über die Wiese, wie zuvor wir, und als der Wind stärker wurde, trennten sie sich sogar nach Farben. Es sah seltsam aus, aber sie reihten sich tatsächlich aneinander und bildeten einen breiten, vielfarbigen Weg.

Der Hirsch sah mich fragend an, ich nickte und wir betraten den Pfad. Er ging auf der goldenen Bahn, ich legte ihm die Hand auf die Schulter und betrat die grüne. Es wurde heiß und immer heißer, die Abendsonne gleißte, wir konnten kaum noch den Weg vor unseren Füßen erkennen. Mir kam das Laufen auf dem Pfad unwirklich vor. Es war, als würde ich auf der Stelle gehen, aber ich kam trotzdem vorwärts, die Kristalle selbst trugen mich voran. Je weiter wir aufstiegen, desto heißer und strahlender wurde das Licht der Sonne und ich musste die Augen schließen. Der Hirsch führte mich.

Dann waren wir am Ende angekommen und der Sonnenkönig saß vor uns in seinem großen Himmelswagen. Er lächelte und sprach: ‚Danke, dass ihr mir meinen Götterpfad zurückgebracht habt. Dafür gebe ich euch das Schönste, was ein Gott einem Menschen schenken kann.‘ Bei diesen Worten senkte er seine Hände zu den farbigen Kristallen und warf sie hoch in den azurblauen Himmel. Dort tanzten sie, bis sie ihren angestammten Platz fanden und ihre Farben erstrahlten noch heller. Staunend blickten wir hinauf, voller Ehrfurcht.

Der Sonnenkönig sah uns freundlich an und sagte: ‚Und nun euer Lohn.‘ Er hob die Hände zu den Göttern, die um den See der Weisheit im Himmel saßen und bat sie um einen Schluck Wasser daraus. Sie nickten, schöpften jeder eine Hand voll Wasser und warfen es uns mit vollendeter Anmut entgegen. Ganz sanft nieselte es auf uns herab und die große Hitze wich einer angenehmen Frische. Die Regentropfen perlten an uns herunter, vereinigten sich zu einem kleinen Bach und wir glitten darauf zur Erde zurück. Der Sonnenkönig winkte zum Abschied, freudig wiehernd strebten seine Pferde ihrem Nachtlager entgegen.“

Viviane betrachtete die verträumten Gesichter der Frauen. Sie alle schienen noch auf dem Weg zwischen den Welten zu sein. Hanibu hatte garantiert nicht alles verstanden, aber sie sah vor sich hin und ihre Augen wiesen diesen entrückten Blick auf, den sie schon einmal gehabt hatte – damals, bei ihrer ersten Begegnung mit Lew.

Noeira fing sich als Erste. Übermütig schnalzte sie mit der Zunge und schürzte mit Verschwörermiene die Lippen.

„Also, ich will dir mal was verraten, Viviane. Wenn Conall zum Höhepunkt kommt, tanzen vor seinen Augen auch die Sterne.“

Taberia kicherte und dann prusteten alle Frauen los, sogar Großmutter Mara. Lavinia sah interessiert von einer zur anderen.

Flora tätschelte ihren Bauch. „Ja, ja. Und wenn es dann zu nieseln anfängt … und man findet keinen Unterschlupf …“ Sie tippte gegen ihren Unterleib. „ … ist man nass.“ Alle grölten, nur Viviane zog einen Schmollmund.

„Ha, ha. Wie lustig“, knurrte sie, kniff die Augen zusammen und sah sich suchend im Langhaus um. Allerdings schien sie nicht zu finden, wonach sie suchte und lugte deshalb auch noch unter den Tisch. Noeira bückte sich hinterher.

„Was suchst du denn?“

„Was wohl, meinen Humor natürlich. Der scheint mir gerade abhanden gekommen zu sein.“

Alle schmunzelten, nur Lavinia beugte sich über den Tisch und deutete zur Tür.

„Dort!“

„Was, dort?“

„Na, dort! Mitten auf der Wiese! Da läuft er, dein Humor!“

Viviane reckte den Hals.

„Ich kann nichts sehen. Wo denn?“

„Oh je! Oh je, oh je! Jetzt kommt er mit vollem Karacho wieder zurück! Achtung! Ha!“

Lavinia sprang auf, riss die Arme hoch und klatschte die Hände zusammen. „Hab ihn erwischt! Bitte schön! Sag mal ‚aaaa‘, Viviane!“

Viviane schmunzelte, sagte artig „aaaa“ und Lavinia stopfte ihr den Humor in den Rachen zurück. Höchst erfreut über den guten Geschmack kaute sie alles ordentlich durch, nuschelte „Nichs desdo drodz, dad hädd mi jama eine vohe sang gönn“, schluckte laut und leckte sich die Lippen. Lavinia kicherte.

Noeira nahm das Spucktuch, das sie immer für Belisama über der Schulter hängen hatte, und wischte Viviane damit sorgfältig den Mund ab. Nebenbei tätschelte sie ihr die Schulter und ließ ihren Gedanken freien Lauf:

„Erstens: Du hast nie danach gefragt. Und zweitens: Wer von uns hätte ahnen können, dass es derlei Initiationen gibt!? Wir sind einfache Bauern! Mutter webt und färbt, ich schnitze Holz, Taberia und Großmutter Mara töpfern, Vater ist Schmied, Conall Sattler, Tarian Tischler, Silvanus Wagenbauer, Schuster und Glasmacher. Dafür braucht man doch keine Initiation! So was gibt es eben nur bei Druiden! Und wenn …“ Noeira fuchtelte mit dem Zeigefinger und tippte sich gegen den Kopf. „ … wenn wir es geahnt hätten? Was hätten wir – deiner Meinung nach – der Taube für einen Brief mitschicken sollen?“ Sie kniff die Augen zusammen und tat so, als müsse sie ein winziges Stück Papyrus beschreiben. „Viviane, hüte dich vor zutraulichen Hirschen im Wald und lass dich nicht nass regnen, sonst bekommst du ein kleines Hirschlein geschenkt?“

Viviane schnaubte. „Da hätte ich bestimmt das Gegenteil davon gemacht, nur um das Hirschlein zu bekommen. Das habe ich noch nicht in meiner Tiersammlung.“

Noeira tätschelte grinsend Vivianes Bauch. „Nur Geduld! Bald hast du eins. Musstest du vor dieser Initiation eigentlich wieder hungern?“

„Ja, natürlich. Wir verbrachten drei Tage in der Höhle mit dem kleinen See, genau wie beim ersten Mal. Es gab also nur geweihtes Wasser.“

„Sonst nichts?“

Viviane schüttelte den Kopf.

„Wie konntest du dann überhaupt gegen all die Krieger im Wald bestehen? Mich hätte der erste bloß anhauchen müssen, da wäre ich schon umgefallen!“

Viviane lachte laut auf und verscheuchte erneut einen Fliegenschwarm.

„Das geht besser, als du dir vorstellen kannst, Noeira. Immer, wenn man Hunger bekommt, trinkt man sich den Bauch mit dem geweihten Wasser voll. Sonst sitzt man nur in der Höhle und wandert zwischen den Welten. In Trance zu geraten, muss man natürlich erst lernen. Bei meiner ersten Initiation habe ich das noch nicht so gut hinbekommen. Da hat mich der Hunger viel stärker gequält. Aber als ich bei dieser letzten Initiation aus der Höhle heraus in die Morgendämmerung trat … Das war absolut genial!

Ihr ahnt gar nicht, was ich plötzlich alles sehen, hören, fühlen, riechen und sogar schmecken konnte! Fährten lesen war ein Kinderspiel! Verstecken erst recht! Und ich spürte eine Kraft in mir wie noch nie zuvor! Jeden, der sich mir in den Weg stellen wollte, den habe ich einfach umgerannt. Mein Lehrer Akanthus hat es die ‚pure Macht der Sinne‘ genannt, die unserem Körper durch das geweihte Wasser dargebracht wird.“

Noeira winkte ab.

„Das hört sich alles recht interessant an, aber auf so eine Erfahrung kann ich gerne verzichten. Mir gluckert schon der Magen von dem ganzen Wasser-Gerede.“

Flora klatschte in die Hände, stand auf und ging hinter den Ofen.

„Da hilft nur eines: Wir essen zu Mittag. Viviane, hol mal die Buttermilch aus dem Keller. Lavinia, hier sind die Holzbrettchen. Noeira, schnipple die Kresse. Taberia, schäl die Zwiebeln. Mara, stech Löcher in die Eier, die schlürfen wir aus.“

Viviane streute sich gerade Salz über ihr zweites Kressebrot, da ertönten die Hörner. Alle traten verwundert auf den Vorbau; nur Viviane blieb sitzen, klappte schnell ihr Brot zusammen und rief Hanibu zurück. Die kam an den Tisch, stopfte sich noch den Rest Zwiebel in den Mund, klatschte einen dicken Klumpen Butter aufs Brot und rollte es halbwegs zusammen. Nach einem Griff in das Näpfchen mit Kresse rannte sie neben Viviane her zur Koppel und versuchte nebenbei, ihr Brot umzudekorieren.

Viviane scheuchte eine Schar Hühner aus dem Weg und rief: „Das gilt mir! Ich habe zwar gestern niemanden gesehen, der meine Hilfe nötig gehabt hätte, aber wer weiß, was da passiert ist! Es hört sich jedenfalls so an, als könnte ich deine Hilfe gebrauchen, Hanibu.“

Hanibu zäumte Dina in Windeseile wieder auf, Viviane ihren großen Arion. Dabei hielt sie ihr Kressebrot zwischen den Zähnen, weil sie es auf die Schnelle nicht weglegen wollte. Arion schnappte einmal zu und grinste sie aus seinem Pferdegesicht schelmisch an. Viviane ließ die Zügel los und stemmte die Hände in die Hüften, da sprang der Schalk auch in ihre Augen. Sie tätschelte seine Nüstern und kraulte ihn hinter den Ohren, während sie ihm das Zaumzeug überstreifte.

„Du bist scheinbar der einzige Mann, der sich um meine Figur sorgt. Silvanus hält mir immerzu was Essbares unter die Nase und schaut nach, wie lange meine Bauchmuskeln noch durchhalten.“

Arion schnaubte und kaute gemächlich weiter.

„Ganz recht. Ich will ja nicht auseinandergehen wie Brotteig. Da es dir so gut schmeckt, gebe ich dir natürlich gerne was ab, wenn ich wieder Kressebrot habe, aber sei froh, dass es kein frisch gebackenes Brot war, Arion. Sonst würdest du bald Bauchschmerzen bekommen und wer würde dich da wohl verarzten müssen, na?!“

Arion schnaubte wieder, schluckte und Viviane schwang sich auf seinen Rücken. Nebenbei bemerkte sie, dass auch Dina zufrieden kaute und Hanibus Hände brotlos waren.

„Und jetzt wie Bruder Wind zum Uhsineberga!“

Arion preschte vorneweg, Dina galoppierte hinterher, wild flatterten die Haare der Pferde und Frauen im Wind. Ohne Streitwagen waren sie viel schneller wieder oben auf dem Berg und sahen schon von Weitem eine alte Frau vor dem Burgtor stehen. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen und knetete ihre Hände. Beim Näherkommen gewahrten sie ihr verweintes Gesicht, bevor sie sich tief und lange verbeugte.

Der Wächter nahm ihnen die Pferde ab und Viviane lief mit Hanibu eilig neben der Frau her. Nach zwei Versuchen gab sie es allerdings auf, die alte Frau nach dem Problem zu fragen, da sie kein ordentliches Wort herausbrachte und nur wehklagte, während sie mit kleinen Schritten an den einfachen Häusern der Handwerker vorbei trippelte, hoch zu den größeren der Krieger, bis sie vor einer Tür anhielt und sich wieder tief verbeugte.

Viviane und Hanibu traten ein und wussten sofort Bescheid.

Eine junge blonde Frau saß auf dem Strohlager und krümmte sich wimmernd. Ihr Unterkleid und das Laken waren blutverschmiert. Ein kleiner Junge klammerte sich an ihren Arm und schluchzte jämmerlich.

„Tinne, jetzt doch noch nicht! Es sollte doch erst in zwei Monden kommen!“, rief Viviane, ging schnell die paar Schritte zum Lager und fasste nach ihren Händen. Doch Tinne stöhnte nur und krümmte sich noch weiter vor.

Viviane sah Hanibu an und schüttelte den Kopf. Die alte Frau schnappte laut nach Luft, doch Viviane herrschte sie an: „Ich brauche heißes Wasser!“

„Es ist …“, sie schniefte und wischte sich die Augen, „ … nur noch ein bisschen Wasser da, hohe Dru …!“

Viviane fauchte: „Bei allen Göttern! Dann schaff es bei, Weib! Du hattest Zeit genug!“ Die Frau stand stocksteif. Erschaudernd griff sie nach zwei Holzeimern und schlurfte benommen zur Tür hinaus. Hanibu überlegte nicht lange und rannte ihr nach. Viviane redete unterdessen beruhigend auf Tinne ein, wusch sich die Hände, träufelte Essig darauf und untersuchte Tinne. Mit dem bisschen Wasser, das übrig war, bekam sie gerade noch das Blut von den Händen und strich dem kleinen Jungen sanft über den blonden Schopf. Er hörte sofort auf zu weinen und lächelte zaghaft.

Viviane setzte sich neben ihn, hob ihn auf ihren Schoß und strich ihm wieder über das Haar, die Schläfen, die Stirn. Ihre andere Hand streichelte langsam über seinen Unterarm. Leise fing sie an zu reden.

„Tinne, hör mir zu. Der Kopf ist schon durchgetreten, da kann ich nicht mehr schneiden. Aber eine normale Geburt ist zu schwer für ein so früh Geborenes. Es wird wohl nicht überleben.“

Tinne presste sich die Hände auf den Bauch und keuchte: „Dieses Kind … ist das einzige, was mir … von German geblieben … ist.“

„Du machst das genau richtig, Tinne“, lobte Viviane und massierte ihr den Rücken. Zärtlich strich sie ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte ganz ruhig: „Vielleicht ist uns Epona freundlich gesonnen und wir haben Glück. Du hast ja schon einmal geboren. Wenn es stark ist, dann könnte es gelingen. Knie dich auf die Bastmatte und halt dich an der Truhe fest, so rutscht es leichter. Komm, ich führe dich.“

Tinne fasste nach Vivianes dargebotener Hand und sah ihr fest in die Augen.

„Wenn die Götter dieses Kind am Leben lassen, opfere ich ihnen den Armreif, den mir German zu Beltaine geschenkt hat.“ Sie horchte in sich hinein, umfasste ihren Bauch und begann wieder zu atmen, tiefer, kraftvoller, verbissener.

Viviane massierte ihren Rücken und wartete, bis sie sich vollends entspannt hatte, dann stand sie mit dem Jungen im Arm auf und zog Tinne vom Lager hoch.

„Der silberne mit den eingefassten Korallenstücken?“, fragte sie ganz ruhig und nickte bedächtig. „Ja, das wäre wirklich eine angemessene Opfergabe.“

Die Tür ging vorsichtig auf und die Frauen kamen mit den Wassereimern herein. Viviane drückte der Alten den kleinen Jungen in die Arme, schob sie wieder zur Tür hinaus und wirbelte zu Tinne herum, die sich an der Truhe festklammerte und mit schmerzverzerrtem Gesicht lautstark presste.

„Hecheln, Tinne!“, rief Viviane in scharfem Ton und kniete sich neben sie. „Nicht pressen! Du darfst noch nicht nachgeben!“

„Geht … nicht!“, keuchte Tinne und versuchte zu gehorchen, aber der Drang war stärker und sie schlug die Zähne aufeinander, krampfte sich zusammen.

„Denk an dein Kind und hechle!“, befahl Viviane, drückte Tinne die Finger in den Rücken und flüsterte in ihr Ohr: „Lass es von alleine rutschen! Ganz sanft! Es soll leben! Drück erst, wenn ich es sage! Denk an German, wie er sich freut! Wie er wieder zu dir zurückkommt! Schau in seine Augen!“

Hanibu beobachtete vom Ofen aus, wie sich Tinne zusehends entspannte und unter Vivianes Kommando zu hecheln begann und war sich sicher, im Rhythmus ihrer schnellen Atemzüge die Worte ‚seine Augen‘ zu verstehen. Tinne schrie es sogar laut heraus, als sie endlich pressen durfte, und Viviane jauchzte dazu: „Es hat auch die dunklen Haare von German geerbt! Gleich kannst du es selbst sehen! Ein Mal noch pressen!“ Als Tinne das hörte, lachte sie laut auf, holte tief Luft und presste mit aller Kraft und Viviane schrie: „Mehr! Noch mehr!“, da hielt sie auch schon das Baby in den Armen.

„Du hast eine ganz prächtige Maid geboren, Tinne“, sagte sie mit hörbarer Anerkennung und schlug das Baby schnell in das Tuch ein, mit dem sie es aufgefangen hatte. Auffordernd nickte sie Hanibu zu.

Hanibu wollte gar nicht hinsehen, aber sie sollte ja die Nabelschnur durchschneiden. Und dann war sie richtig erstaunt, als sie ein ganz normales Baby vor sich hatte, nur viel kleiner und von einer dicken Schicht Käseschmiere umhüllt. Viviane legte es auf die saubere Seite vom Lager und holte ein Röhrchen aus ihrer Tasche. Das steckte sie der Kleinen erst in die Nase, dann in den Mund und saugte den Schleim aus den Atemwegen heraus. Nach einem kleinen Klaps quäkte sie leise.

Viviane hielt die Hand hin und Hanibu legte ihr ein feuchtes, lauwarmes Tuch hinein. Damit wischte sie ganz vorsichtig das Blut von der Kleinen und wickelte sie in Tinnes Wolldecke, bis nur noch das winzige Gesichtchen herauslugte.

Tinne sah zu. Dafür musste sie sich fast verrenken, weil sie immer noch vor der Truhe kniete. Tränen schwammen in ihren Augen.

Als die Nachgeburt herauskam, kümmerte sich Hanibu um Tinne. Viviane ging derweil im Haus umher und schüttelte immer wieder unzufrieden den Kopf. Seufzend zog sie ihr Übergewand aus, hielt es vor das Baby und beugte sich schützend darüber.

„Hol mal das Weib herein, Hanibu.“

Zögerlich trat die alte Frau ein. Hanibu gab ihr einen Schubs und schloss schnell die Tür hinter ihr.

Viviane raunte: „Ich brauche eine Tragetasche mit besonders weichem Schaffell, einen Berg gekämmte Wolle, lieber noch Daunen. Ich nehme auch beides. Und die Wiege muss her.“

„D … die b … braucht noch Wahedon für s … seinen Sohn, ho …“

„Bei allen Göttern!“, fauchte Viviane leise. „Stell dich nicht an wie der erste Mensch! Borge dir halt woanders eine! Es wird ja noch mehr Wiegen auf der Burg geben! Habt ihr eine Ziege?“

Die Frau wischte sich über die Augen und nickte hastig.

„W … wir h … haben zwei Z … Ziegen, hohe Druidin.“

„Noch besser. Wir brauchen viel Ziegenmilch für Tinne und das Baby. Und dann holst du noch neues Stroh, ein neues Laken und eine neue Bastmatte. Und neues Wasser zum Saubermachen!“

Die Frau griff nach den Eimern, stolperte wieder zur Tür hinaus und zog sie diesmal schnell hinter sich zu. Hanibu führte Tinne auf den Abort, goss ihr dort kaltes Wasser über den Unterleib und half ihr danach beim Waschen im kleinen Badehaus neben dem Schwitzbad.

Interessiert blickte sie sich um, aber das Badehaus gefiel ihr nicht besonders. Hier oben hatten sie nun mal keinen Fluss nahe beim Haus wie unten in den Dörfern. Da mussten sie sich schon mit einem großen Waschzuber begnügen, in dem das bisschen Wasser kaum zu sehen war, was im Moment zur Verfügung stand. Tinnes Vorrat an Wolle war dagegen höchst zufriedenstellend. Sie nahm sich eine ordentliche Handvoll und wickelte sie in ein großes Leintuch, während Tinne sich abtrocknete und dann tatsächlich ihr Unterkleid in den Zuber warf. Schnell drückte sie ihr das Leintuch in die Hand, um das Kleid selbst in der Pfütze auszuwaschen, und hätte wohl die ganze Zeit missbilligend vor sich hingeschaut, wenn Tinne ihr nicht ein Töpfchen mit dieser famosen Waschpaste aus Rosskastanien hingehalten hätte. Als sie das dreckige Wasser in den Kanal abgoss, brachte sie sogar ein anerkennendes Nicken zustande. Die Tonröhre war gut konzipiert.

Das Schmutzwasser gurgelte und gluckste und schon war es weg.

Frisch angezogen und verpackt huschte Tinne durch die Hintertür wieder ins Haus und Hanibu verriegelte sie sorgfältig. Viviane hielt das Bündel im Arm, summte leise vor sich hin und schob bei ihrem Anblick die Decke einen Spalt breit auseinander. Ihr Blick und ihre Körperhaltung triumphierten geradezu, als sie Tinne mit einem verschmitzten Blick bedeutete, sie solle in die Lücke hineinschauen.

Tinne schwankte einen Moment, presste die Hände auf den Busen und kam zögerlich näher. Zaghaft lugte sie an Vivianes Fingern vorbei. Ihr ängstlicher Blick wich schlagartig einem strahlenden Lächeln, keuchend schlug sie sich ihre zitternden Hände vor den Mund. Und dann, ganz vorsichtig, berührte sie die rosige Wange ihrer neugeborenen Tochter. Sofort schnappte das winzige Mündchen herum.

Viviane lachte leise.

„Sie hat einen starken Saugreflex. Meinen Finger konnte ich gerade noch in Sicherheit bringen. Und sie hat eine sehr gesunde Farbe“, betonte sie. „Sehr groß für knapp sieben Monde und auch sehr kräftig. Sie ist wirklich eine Ausnahme. Es würde mich gar nicht wundern, wenn aus ihr mal eine große Kriegerin wird, genau wie ihr Vater. Komm, Tinne! Nimm sie mal!“

Abwehrend streckte Tinne die Hände vor, doch Viviane verstand die Geste falsch und drückte ihr strahlend das Bündel hinein. Sofort drehte das Baby den Kopf und suchte nach Nahrung. Viviane gluckste.

„Sag ich doch! Überaus kräftiger Saugreflex. Einfach perfekt. Lass sie gleich trinken!“

Energisch beförderte sie Tinne auf die Sitzbank, hakte eine der Fibeln ihres Kleides auf und legte ihr das Kind an. Gierig schnappte der suchende Mund nach Tinnes Brust und saugte sich so fest, dass sie erschrocken japste. Viviane tätschelte ihre Schulter.

„Leg sie an, so oft sie will. Ich lass dir ein Näpfchen Wollfett da. Bei dem Elan wirst du es bald brauchen. Aber bis deine Milch richtig einschießt, gibst du ihr Ziegenmilch. Die ist besonders nahrhaft. Wenn das Weib wiederkommt, zeige ich dir gleich mal, wie du das mit der Kapillare machen musst.“

„So, wie du vorhin den Schleim abgesaugt hast? Das war doch der Kiel von einer Feder, nicht wahr?“

„Schwanenfeder, genau. Ich sehe, du hast gut aufgepasst, Tinne.“

„Und wofür brauchst du die Daunen?“

„Das ist mein Problem“, gab Viviane zu und seufzte. „Bis jetzt hatte ich nur tote Frühgeborene oder sie haben zumindest nicht lange gelebt. Dieses Kind ist aber viel kräftiger als die anderen. Trotzdem müssen wir damit rechnen, dass …“

„Ich habe aber keine Daunen“, schluchzte Tinne und wischte sich mit der freien Hand die aufsteigenden Tränen aus den Augen.

„Beruhige dich, Tinne. Wenn wir auf die Schnelle keine auftreiben können, muss es auch so gehen“, tröstete sie Viviane. „Ich kann dir nichts versprechen, aber ich kann alles versuchen, damit sie am Leben bleibt und gesund. Wir packen sie warm ein, ob mit oder ohne Daunen – Hauptsache Wolle. Damit kommt sie in die Tragetasche mit dem Schaffell und die legen wir in die Wiege, am Besten noch eine Wolldecke drumherum.“

Viviane deutete auf einen starken Deckenbalken in der dunkelsten Ecke von Tinnes Haus.

„Wir nehmen den Balken dort zum Aufhängen. Dort kann sie keinen Zug abbekommen. Davor habe ich nämlich Angst. Wenn du sie wickelst, lass immer die Tür zu und mach eine dicke Decke, besser noch zusätzlich eine Kuhhaut vor die Fenster. Dann brauchst du zwar eine Lampe oder genauer viele Öllampen, aber das wird schon gehen, wenn nötig borgst du dir welche. Wenn du sie stillst, immer auf deiner nackten Haut mit einem Schaffell darüber. So hat sie es am wärmsten. Und wenn du richtig einheizt, kannst du sie auf dem Fell auch nackt strampeln lassen; immer mit einer Decke darüber, versteht sich. Aber Baden ist tabu! Die Käseschmiere ist der natürlichste Schutz, den es gibt. Wir haben wirklich Glück, dass es Sommer ist. Sie hat die besten Chancen, durchzukommen. Hast du schon einen Namen für sie?“

Tinne lächelte auf ihr Töchterchen herab.

„Ich werde sie Germania nennen.“

Viviane nickte.

„Das hätte German sicher gefreut.“

„Kann ich mit ihr raus? Wegen der Sonnenwende?“

Viviane schüttelte vehement den Kopf und sagte in scharfem Ton: „Sie bleibt solange im Haus, wie ich es anordne! Nur wenn das Wetter absolut passt, darf sie unter meiner Aufsicht raus. Da fällt mir ein: Du solltest das Pergament in den Fensterrahmen ordentlich säubern, damit es schön hell hier drinnen wird. Licht ist wichtig, also probieren wir es auf diese Weise. Ich werde natürlich mit dem König reden, damit du nicht an der Sonnenwendfeier teilnehmen musst. Wer ist eigentlich das Weib, das bei dir ist? Das war doch nicht deine Mutter?!“

„Nein, das ist unsere Sklavin. Sie hat schon zu Germans Familie gehört, als ich ihn geheiratet habe. Aber jetzt muss ich sie wohl verkaufen, denn ohne meinen Mann werde ich mir bald nicht einmal mehr die Butter aufs Brot leisten können.“

Viviane winkte ab.

„Darüber rede ich auch mit dem König. Dein Mann ist schließlich für unser Königreich in die Anderswelt gegangen. Was hast du gelernt, als du noch nicht das Weib eines Kriegers warst?“

„Ich habe bei uns am Falkenstein die Schafe gehütet.“

„Du bist Schafhirtin!? Das passt ja wie die Faust aufs Auge. Unser Schäfer, Oen, ist zum Krieger berufen worden und seine Schwester will Harthu heiraten, der auch in den Kriegerstand aufgenommen wird. Sie braucht also garantiert keine Schafe mehr hüten. Wie du siehst, ist der Posten für den Schäfer frei. Du wirst keine Not leiden, Tinne, auch wenn du nicht so schnell einen neuen Mann findest.“

Tinne nahm Vivianes Hände.

„Als mein erster Mann so plötzlich vor zwei Jahren zu Lugnasad starb, konnte ihm keiner helfen. German ergriff sofort die Gelegenheit, obwohl ich hochschwanger war, und warb um mich. Aber weil es mir so gut bei euch gefiel, wollte ich nicht mit in sein Königreich ziehen. German gab nach, bewarb sich bei König Gort und dieser war höchst erfreut, als er einen erfahrenen Lanzenkämpfer bekam.“ Tinne lächelte versonnen vor sich hin, bevor sie seufzend wieder in die Gegenwart zurück kam. „Wenn ich mit German ins Nachbarkönigreich gezogen wäre, hätte das an seinem Schicksal nichts geändert, wohl aber am Leben seiner Tochter. Die Götter lächeln ihr zu, dank dir, Viviane.“

Viviane winkte ab.

„Danke mir lieber nicht zu früh. Ab sofort werde ich dich und deine kleine Germania immerzu belästigen. Sie ist mein Experiment. Und wenn ich zur Sonnenwende mit den Göttern tanze, werde ich sie fragen, ob es gelingen wird.“

Es klopfte an der Tür. Diesmal ging Viviane hinaus, denn da standen gleich mehrere Leute; alle hatten die Hände voll. Der eine hielt eine Wiege, der andere ein Bündel Stroh, eine Frau hatte einen Sack gekämmte Wolle, eine andere eine Tragetasche aus Leder, gefüllt mit Babysäckchen, Windeln und Laken. Ein Schuster hielt mit seiner Lederschürze einen Topf dampfender Brühe fest. Daneben stand seine Frau mit einem Laib Brot, rief: „Vom König!“ und schwenkte strahlend ein großes Kissen; die alte Sklavin schielte auf ihre Wassereimer hinab.

„Aha, ich kann mir schon denken, wo ihr Tinnes Sohn gelassen habt!“, lachte Viviane und nickte dem Schuster und seiner Frau dankend zu. „Perfekt. Ich danke euch allen.“ Viviane schnappte sich das Kissen, die Ledertasche und den Wollsack. „Wartet bitte einen Augenblick hier draußen. Ich lasse euch gleich herein.“

Sie bugsierte ihre Utensilien schnell durch die Tür und trat sie mit dem Fuß zu. Sorgfältig legte sie das saubere Laken auf den Tisch, breitete Wolle und die Daunen aus dem Kissen darauf aus und schlug den restlichen Stoff darüber ein. Dann nahm sie Tinne die eingeschlafene Germania ab, wickelte sie erst in die Windeln, als nächstes in das viel zu große Babysäckchen und zum Schluss in das Tuch mit der Füllung, bis nur noch ihr winziges Gesichtchen heraus lugte. Hanibu hielt die Ledertasche auf und Viviane legte ihr Bündel vorsichtig hinein.

Zufrieden besahen sie sich ihr Werk. Jetzt konnten die Leute kommen.

Nachdem alle ihre Glückwünsche ausgesprochen hatten und jeder einen Blick in die Tasche werfen durfte, halfen alle mit. Die Männer hängten die Wiege an den Deckenbalken. Die Frauen nahmen das schmutzige Stroh aus dem Lager und ersetzten es durch frisches. Die Sklavin gab ihnen ein neues Laken aus der Wäschetruhe, knickte die schmutzige Bastmatte zusammen und steckte sie in den Ofen; eifrig schrubbte sie das Blut von den Holzbohlen und legte eine neue Bastmatte vor die Truhe.

Als alles erledigt war, brockten sie sich Brot in die Brühe und tranken einen kräftigen Tee von dem Wasser, das endlich gekocht hatte. Tinne erzählte den wissbegierigen Leuten von der Geburt, bis sie müde wurde. Das war für Viviane das Signal zum Aufbruch. „Wir kommen morgen wieder, Tinne. Sechs mal am Tag gibst du Germania ein Röhrchen von der Ziegenmilch. Mehr nicht! Anlegen kannst du sie aber beim kleinsten Mucks, das wird sie beruhigen. Sie darf ihre Kräfte nicht mit Schreien verausgaben, die braucht sie zum Leben. Deine Gäste möchte ich bitten, nun zu gehen. Ihr habt uns sehr geholfen. Wir werden bei der Quellgöttin auch für euch bitten.“

Die Helfer gingen mit Viviane und Hanibu hinaus und verneigten sich zum Abschied vor Viviane. Die bedankte sich noch einmal für ihre Hilfe, holte mit Hanibu die Pferde von der Koppel und ritt zum Burgtor hinaus. Bis zum Waldrand blieb Hanibu still, doch dann hielt sie es nicht länger aus.

„Viviane, was ist mit dir?“

Viviane drehte sich zu Hanibu und sah sie erstaunt an, weil sie es in äthiopischer Sprache gesagt hatte.

„Ich habe dich verstanden, Hanibu, aber ich weiß nicht, was du meinst.“

„Ich meine, wie du die alte Sklavin behandelt hast. Das warst doch nicht du, nicht die Viviane, die ich kenne.“

Viviane sackte auf Arion zusammen.

„Ich bin aggressiv?“

„So schlimm nun auch wieder nicht, aber …“

Viviane nickte.

„Silvanus hatte also doch recht. Er meinte, ich würde schnell zornig und wäre launisch. Da war ich natürlich erst recht wütend. Vater meinte, das wäre wegen der Schwangerschaft. Na, er muss es ja wissen! Aber ich will doch gar nicht aggressiv sein oder launisch!“

Hanibu schüttelte den Kopf und wechselte wieder ins Griechische.

„Als ich dich kennen gelernt habe, da warst du schon schwanger und du warst immer freundlich zu allen, egal ob Sklave oder Herr. Daran liegt es also nicht.“ Sie sah Viviane nachdenklich an. „Ihr habt gestern viel von dieser Schlacht erzählt, aber ich habe nicht genug davon verstanden. Wenn ihr so schnell redet, ist das schwer für mich. Bitte, übersetze es mir ins Griechische. Wenn dir Worte in meiner Sprache einfallen, kannst du sie natürlich dazu nehmen.“

„Was willst du wissen?“

Hanibu zog die Augenbrauen hoch.

„Ich will alles wissen, auch das, was du nicht erzählt hast.“

Viviane verzog das Gesicht.

„Das dauert aber länger.“

Hanibu deutete auf den Fuhrweg, über dem sich die hohen Ahornbäume zum grünen Gewölbe vereinten.

„Wir können langsam reiten, die Arbeit ist getan.“

Viviane überlegte kurz, womit sie beginnen sollte. Sie entschied sich, mit Baria anzufangen. Ihre Wolfstochter hatte als Erste bemerkt, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie dachte damals wirklich, sie müsse an einem Geschwür sterben. Deshalb hatte sie sich als Späher gemeldet und so begann ihr Kampf noch vor der Schlacht.

Hanibu zuckte zusammen, als sie ihr aufzählte, wie viele Späher sie getötet hatte; wie sie ihre Köpfe nahm. Dann kam der Vorkampf. Wieder unterschätzten sie die Gegner. Dem einen warf sie den Speer ins Auge, dem anderen stieß sie ihr Schwert in die Lunge, dass sein Blut schäumend aus Mund und Nase quoll. Am nächsten Tag starben die Menschen um Viviane herum, doch diesmal war es meist Silvanus, der sie in die Anderswelt schickte. Viviane war ja nur der Lenker oder wie sie es nannte: die Leitwölfin. Beim Kampf mit den Königen war es wieder Viviane, die tötete. Endlich war die Schlacht vorbei, überall lagen Tote, Sterbende … nicht viele konnte sie retten.

Als sie ein wenig Ruhe gefunden hatte, war es ihre Großmutter Dana, die ihr bewies, dass sie gar kein Geschwür hatte, sondern schwanger war. So wurde sie sehr zornig auf ihren guten Freund Merdin, der sie geschwängert hatte, ohne um Erlaubnis gefragt zu haben.

Hanibu nickte bedächtig.

„Ich habe dir einst erzählt, dass schwarze Weiber in ihrer Hochzeitsnacht die Sterne tanzen lassen. Kannst du dich noch erinnern? Damals hast du nicht gefragt, wie das geht und ich dachte, du weißt es schon. Jetzt ist mir natürlich klar, dass du es nicht wusstest.“

„Ihr kennt diese Droge auch in deiner Heimat?“

„Vielleicht ist es nicht dieselbe, aber die Wirkung ist gleich.“

„Da springen auch Hirsche durch eure Träume?“

Hanibu lachte laut auf und ihre weißen Zähne blitzten in dem braunen Gesicht.

„Hirsche gibt es bei uns nicht. Wir haben Antilopen. Aber jeder hat mit seinem Gefährten seinen eigenen Traum. Dieser Merdin hat dich vielleicht als Hirschkuh gesehen, weil er auch zum Hirschclan gehört, genau wie du.“

„Du meinst, er hat mich anders gesehen?! Genau, wie ich ihn anders gesehen habe?!“ Verdutzt schürzte Viviane die Lippen. „Das wäre … möglich. Normalerweise esse ich keine Kräuter einfach so, aber Hirschkühe tun das wohl. Und ein Hirsch hat auch noch nie still gehalten, wenn ich ihn streicheln wollte, obwohl ich nie mit der Bratpfanne in den Wald gehe. Interessant.“ Viviane sah zur Sonne, die den erhabenen Wäldern von Raino entgegenstrebte. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Er hat mich also gar nicht erkannt. Schwachsinn! Er hat gar nicht gewusst, was er die ganze Zeit gemacht hat! Er konnte wirklich nichts dafür!“

„So ist es. Aber dein Zorn kommt, glaube ich, nicht davon. Du hast deinen Frieden mit Merdin geschlossen, genau wie Silvanus.“ Hanibu schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, ich bin sicher: Es liegt am Kampf, Viviane, an den vielen Toten, deinem Blutrausch, deiner Trauer.“

Viviane seufzte schwer.

„Du ahnst ja gar nicht, wie sich das anfühlt. Jede Nacht sehe ich ein skurriles Wesen, ein monströses Geschöpf mit messerscharfen Krallen, ellenlangen Fangzähnen, dichtem Schuppenpanzer und einem langen Schweif mit Giftstachel. Es springt und rennt an vielen Leibern vorbei und beißt, kratzt, sticht und schlägt um sich. Aus seinem blutverschmierten Maul tropft giftiger Speichel, es brüllt, es jault so bestialisch und es lacht und johlt und jauchzt, dass mir der Schädel dröhnt. Und wenn es mich mit seinen glühenden, roten Augen ansieht … Ich habe Angst, Hanibu.“

„Dass dich die Geister der Menschen heimsuchen, die du getötet hast?“

„Nein, nicht wegen der Geister. Deswegen sind wir schließlich von Afal gereinigt wurden. Es ist auch nur ein einziges Monster und das … bin ich selbst.“

Hanibu schürzte die Lippen und betrachtete Viviane mit schräg gelegtem Kopf.

„Du hast Angst, dich voll und ganz in dieses Monster zu verwandeln. Dass die Bestie aus deinem Kopf entkommt und sich in deinem Körper breit macht? Ist es das, was dich so quält, Viviane?“

„Ja. Es zieht mich wie magisch an, aber ich habe Angst vor ihm, Angst vor mir! Und ich verstehe nicht, warum ich mich nicht befreien kann! Ich will es nicht! Ich will nicht so sein! Ich will Frieden! Aber es klebt an mir fest wie Harz, trotz Reinigungsritual durch unseren höchsten Druiden! Obwohl mir die Götter verziehen haben!“

„Hast du dir selbst verziehen?“

Viviane stutzte und schürzte die Lippen, sagte aber nichts.

Hanibu nickte verstehend.

„Ohne diese monströse Bestie in dir wäre dein Volk jetzt vielleicht versklavt. Auf alle Fälle wären die Hermunduren in die Knechtschaft der Chatten geraten, als Klientel, wie ihr hierzulande sagt. Es war richtig, die Bestie frei zu lassen. Aber dadurch hast du viel mehr durchgemacht als andere. Du hast öfter getötet und bist in einen enormen Blutrausch geraten. Dein Geist hat extrem gelitten. Wenn das Feuer brennt, ist es angenehm warm, aber wenn die Flammen hoch lodern und um sich greifen, dann wird es immer schwerer, es zu löschen.“

„Gegenfeuer oder genügend Wasser hilft.“

Hanibu wiegte den Kopf.

„Weißt du, Viviane, ich habe oft über deinen Geisterflug nachgedacht, den du bei deiner ersten Initiation durchstehen musstest“, murmelte sie und sah Viviane forschend an; wartete, bis diese nickte. „Du hast damals von Bestien erzählt, die dich im finsteren Wald angefallen haben. Du und deine Hilfsgeister haben sie getötet oder in die Flucht geschlagen. Diese Bestien … das waren deine ureigenen Charaktere: Angst, Hass, Boshaftigkeit, Zorn, Überheblichkeit …“

Hanibu hob beschwichtigend die Hände, als Viviane zum Protest ansetzte, und wollte weiter reden, doch Viviane hielt ihr einfach den Mund zu und wartete, bis sie still hielt.

„Kann ich die Hand wieder weg tun?“

Hanibu nickte.

„Gut, dann will ich dir mal was sagen, Hanibu. Jeder Mensch trägt die dunkle Seite in sich! Du, ich, jeder. Das ist das Erste, was man als angehende Druidin erkennen muss. Tagelang haben wir uns gegenseitig analysieren müssen. Das war fast wie nackig ausziehen, aber es ist sehr wichtig, die Gegensätze zu erkennen und festzustellen, wie daraus ein Gleichgewicht entsteht. Wer ein Druide sein will, muss nämlich besonders hohe Anforderungen an sich stellen. Moralisch müssen Druiden einwandfrei sein, schließlich repräsentieren wir die Verbindung der Menschen zu den Göttern. Beide Seiten müssen einen Druiden für hoch achtenswert befinden. Beide Seiten müssen Vertrauen haben in einen Menschen, der vor allen Anfeindungen gefeit ist, denen von innen und denen von außen.

Einem Druiden muss man absolut, ohne Vorbehalte, trauen können. Und das schafft dieser nur, indem er Frieden hält. Frieden mit sich selbst, Frieden mit allen Menschen und Frieden mit den Göttern. Deshalb soll ein Druide nicht kämpfen. Wir Druiden behüten das Wissen und die Weisheit, so bringen wir die Brücke zwischen Menschen und Göttern zustande.“

Viviane musterte Hanibus nachdenkliche Miene und fragte sich, ob sie es in der griechischen Sprache gut erklärt hatte. Deshalb fügte sie noch hinzu: „Du hast also Recht, was meine Initiation angeht. Wenn man normal bei Bewusstsein ist, geht man ganz anders mit seinem Innersten um. Aber wenn man …“ Sie suchte nach den richtigen Worten. „Wenn man in sich selbst schwebt, dann sieht man sich aus einer ganz anderen Perspektive. Man erkennt noch viel mehr, kann andere Wege gehen, weiter laufen, tiefer graben … und alles Schlechte hineintreiben …“ Seufzend hob sie die Hände. „Ich kann es schlecht erklären.“

Hanibu sah Richtung Süden, in weite Ferne.

„Um den Frieden zu wahren. Ich weiß, was du meinst und ich möchte behaupten, dass es wenige Menschen gibt, die eine derart geringe Schattenseite in sich tragen wie du, Viviane. Vielleicht liegt das daran, dass deine Hilfsgeister alle schlechten …“ Hanibu wackelte Achtung heischend mit ihrem Zeigefinger vor dem Mund herum. „ … deiner Meinung nach, schlechten Eigenschaften in die Flucht geschlagen haben. Weil du es wolltest. Vielleicht ist das gerade so enorm wichtig, wenn man Druide ist und ihrem Kriegerbund angehört. Also glaube mir: Du bist ein moralisches Vorbild für mich und für jeden, der mit dir zu tun hat. Hast du mich verstanden?“

Viviane bohrte sich im Ohr herum und nickte. Hanibu lächelte, doch sie war noch nicht fertig.

„Jetzt, denke ich, sind ein paar deiner schlechteren Charakterzüge aus ihren Verstecken gekrochen. Manchmal bis du aggressiv, launisch, kurz angebunden … wie ein Hirschhund, den man auf eine Fährte ansetzt.“

Hanibu hob wieder abwehrend die Hände, um Vivianes Protest zuvor zu kommen.

„Es ist, als wäre die Schattenseite größer geworden. Als hätte die Dunkelheit die Bestien hervor gelockt und nun haben sie einen Mordshunger.“

Viviane zog die Augenbrauen hoch und schob die Unterlippe vor, sagte aber nichts. Hanibu machte ein Gesicht wie sonst Viviane, wenn sie einen verunsicherten Kranken vor sich hatte und deshalb ganz genau erklärte, wie sie ihn zu heilen gedachte.

„Du brauchst keine Angst haben! Du wirst deinen Frieden finden! Niemals wird die Bestie von dir Besitz ergreifen, es sei denn, du willst es! Du bist kein ruchloser Mörder, kein Frefler! Natürlich bist du ein Krieger, aber du, Viviane, bist ein Verteidiger des Lebens! Die Götter haben dich in den Kreis eintreten lassen, um auf vielerlei Art Leben zu geben und zu bewahren!

Hanibu deutete auf Vivianes Bauch.

„Du bist ein Weib, Viviane. Du gebärst Leben, wie die große Mutter Erde. Du nährst dieses Leben, wie die große Mutter Erde und du schützt dieses Leben, wie die große Mutter Erde. Und wie die große Mutter Erde tust du das nicht nur für dich! All jenen, denen du mit deinem Können hilfst, gibst du Leben, egal ob als Ärztin oder Kriegerin! Vielleicht geht der Krieger in dir immer noch auf dem blutigen Pfad und fletscht die Zähne wie ein hungriger Hund, dem man seinen Knochen weggenommen hat, jedoch die Ärztin und Mutter in dir weint garantiert. Erst, wenn du beide Teile deiner Seele wieder vereint hast, wird es dir besser gehen.“

„Besser gehen“, echote Viviane und runzelte die Stirn. „Schon mal Holz gehackt?! Ich komme mir nämlich vor wie ein dürrer Ast, den Großmutter Mara für den Ofen auserkoren hat! Und ich garantiere dir, Hanibu: Nie werde ich wieder so sein wie früher!“

„Ich weiß. Dafür hast du zu viel Leid erblickt. Aber …“

Hanibu zuckte die Achseln und betrachtete Viviane, als ob sie sich nun selbst weiterhelfen müsste. Viviane tippte sich auch sogleich gegen den Kopf.

„Aber es ist geschehen, nicht mehr zu ändern, vorbei; man muss daraus lernen und die richtigen Schlüsse ziehen. Und nun sollte ich den Krieger, der ein Teil von mir ist, auf den friedlichen Weg zurückführen. Vielleicht als Wächter?“

„Genau. Wie damals, als du bei deinem Geisterflug gegen die Ungeheuer gekämpft hast. Die hast du ja auch dahin zurückgeschickt, wo sie hergekommen sind. Lass den Krieger in dir all deine Wut und deinen Zorn zur dunklen Seite treiben, werfe noch hinterher, was du nicht haben willst und dann stell deinen Krieger vor dein ganz persönliches Schattenreich und befehle ihm, niemanden durchzulassen, es sei denn, du brauchst etwas aus der Dunkelheit.“

„Hanibu, du wirst mir unheimlich.“

Hanibu zog die Augenbrauen hoch.

Viviane feixte. „Weil du mich besser kennst, als ich mich selbst. Und ich kenne mich schon länger als nur zwei Monde.“

Hanibu verneigte sich.

„Es ist mir eine Ehre, dich besser zu kennen, als du dich selbst, Druidin und Freundin Viviane.“

Viviane verneigte sich ebenfalls.

„Es ist mir eine Ehre, deinen Rat zu befolgen, schwarze Perle und Freundin Hanibu.“

Hanibu ließ ihre weißen Zähne wieder aufblitzen und schüttelte gleichzeitig den Kopf über Vivianes Rede. Sie wusste allerdings aus Erfahrung, dass sie ihr den Vergleich mit der schwarzen Perle nicht austreiben konnte. Viviane war eben Viviane und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte man sie höchstens mit guten Argumenten vom Gegenteil überzeugen – man konnte es aber auch lassen, weil sie eigentlich nie etwas tat, was nicht rechtschaffen war. Bei Geisterflügen und imaginären Bestien konnte sie sowieso nicht mithalten.

„Und wie willst du diese Biester in die Dunkelheit zurück schicken? Mit einem Kräutertrank wie bei deiner ersten Initiation?“

„Bloß keine Giftmischerei! Da wird mir schon schlecht, wenn ich nur daran denke! Meine Initiationen habe ich zum Glück alle hinter mir!“ Viviane schüttelte sich angewidert und schnippte dann schmunzelnd mit den Fingern. „Da gibt es einen anderen guten Weg. Einen viel besseren. Ich werde Baria besuchen, noch vor der Sonnenwendfeier. So kann ich wirklich gereinigt mit den Göttern tanzen. Für heute ist es aber erst mal genug. Robin und Lavinia wollen sicher noch zeigen, wie gut sie auf der Tin Whistle geübt haben, während ich weg war.“

Hanibu lachte auf.

„Sie waren sehr emsig! Jeden Abend haben wir den anderen etwas vorgespielt. Das hat sie immer aufgeheitert.“

Viviane verzog das Gesicht und sah den Weg entlang. Gestern noch – in einem anderen, dunklen Leben – war sie als Kriegerin durch die Buchenwälder von Raino gezogen. Hatten ihre Augen eigentlich wahrgenommen, was die Götter für ein herrliches Gebirge dort erschaffen hatten? Eine Hügelkette dicht aneinander geschmiegter Berge, hoch und erhaben, umgeben von einzeln stehenden Bergen wie Könige, die sich um einen Hochkönig sammeln. Wenn man es so betrachtete, ritt sie selbst gerade einem solchen König, dem Uhsineberga, den Buckel runter.

Seufzend lugte sie durch die Ahornbäume, Buchen und Tannen zum Ausgang des Waldes, der als goldenes Tor inmitten grüner Wände erstrahlte.

„Ihr habt auch eine schlimme Zeit hinter euch. Es ist bestimmt ganz schrecklich, wenn man daheim bleiben muss und gar nicht weiß, wie es den anderen geht.“

„Es war schlimm. Aber deine Mutter hat dafür gesorgt, dass wir zu müde waren, um darüber lange nachdenken zu können. Außerdem ist Königin Elsbeth jedes Mal vorbeigekommen, wenn sie von König Gort eine Taube bekommen hat. Wir waren also immer recht gut informiert. Ach, sieh mal!“ Hanibu deutete zwischen den letzten Sträuchern hindurch über die Wiese. „Da vorne kommen Lavinia und Robin!“

Die Kinder trugen Körbe, winkten und liefen ihnen entgegen oder besser, sie hopsten ihnen entgegen und sangen: „Wir haben kleine Hanibus, ganz viele süße Hanibus! Hanibus, Hanibus, viele, süße Hanibus!“

Viviane sah Hanibu verdutzt an. Die lachte.

„Mein Name bedeutet Himbeere.“

„Sooo? Das hast du mir noch gar nicht erzählt!“

„Wir haben Obst durchgenommen bei unseren abendlichen Lektionen in meiner Sprache.“

„Oh, an die Lektionen habe ich gar nicht mehr gedacht, Himbeere! Quatsch. Jetzt bringst du mich total durcheinander! Ich meinte natürlich, Hanibu! Hoffentlich habe ich nicht zu viel versäumt!?“

Viviane setzte eine leidende Miene auf, Hanibu kicherte und winkte ab.

„Keine Sorge, Viviane. Die Kinder werden sich freuen, wenn sie dir mal etwas beibringen können.“

Vor einem Feld, das dicht mit Färberwaid überwuchert war, trafen sie zusammen. Viviane beugte sich zu den Kindern herunter und rieb sich begeistert die Hände.

„Mmmh, ihr habt ja viele Himbeeren gesammelt! Und groß sind die! Fast so groß wie Hanibu!“

Lavinia und Robin sahen sich an, kicherten und streckten ihre Körbe hoch.

„Probiert mal! Wir haben euch extra welche übriggelassen. Der Rest liegt schon im Backofen und trocknet vor sich hin. Natürlich haben wir vorher noch eine Wagenladung frisches Brot gebacken. Das Holz zum Anheizen haben wir übrigens ganz allein gesammelt.“

„Da wart ihr aber fleißig!“ Viviane gab Hanibu eine Himbeere, nahm sich auch eine und sagte in Hanibus Sprache: „Sehr – schön – süß – die – kleine – Hanibu!“

Die Kinder nickten eifrig und wiederholten ihre Worte. Strahlend reichte Hanibu Lavinia die Hand und auch Viviane zog Robin zu sich hoch auf Arion. Übermütig langte sie in seinen Korb.

„Mmmh! Getrocknete Himbeeren schmecken zwar auch gut, aber frisch sind sie einfach köstlich! Mit solcher Verpflegung könnte ich ein paar Tage reisen! Aber vorher hole ich noch Afal und Armanu. Dann gibt es einen leckeren Obstsalat.“

„Obstsalat?“, fragte Hanibu, zog verwirrt die Augenbrauen hoch und wirkte sehr besorgt. Doch Lavinia und Robin kicherten übermütig und machten untereinander aus, wer erzählen durfte. Lavinia hatte das Vergnügen und drehte sich zu ihr um.

„Afal bedeutet Apfel und Armanu Aprikose.“

„Ach, so! Jetzt verstehe ich. Und was heißt Robin?“

„Rotkehlchen!“, rief Robin schnell. „Ich tauge zwar nicht für Obstsalat, aber essen tue ich ihn gerne!“

„Das glaube ich dir aufs Wort, kleines Rotkehlchen! Und Lavinia?“

Lavinia reckte sich und flüsterte verschwörerisch: „Der Name kommt aus dem Land der Latiner. Eine Königstochter hieß so, vor langer Zeit, tausend Jahre glaube ich. Großmutter Maras Ahnen kommen doch aus der Gegend. Eine ihrer Großmütter hieß ebenfalls Lavinia und sie hat Mama beschwatzt, ihn mir zu geben, weil ich wohl genauso ausgesehen habe, als ich geboren war.“

„Jaaa“, gluckste Viviane. „Daran kann ich mich noch bestens erinnern! Unsere Großmutter Mara hatte schon immer ein Talent darin, den Leuten die richtigen Argumente schmackhaft zu machen. Aus dieser latinischen Königstochter, Lavinia, entwickelte sich nämlich ein stolzes und mächtiges Adelsgeschlecht und schuf nach den Griechen das größte Imperium.“

Hanibu sah Viviane nachdenklich an. „Wer sollte …“ Ihr sackten die Schultern nach unten. „Römer.“

Lavinia tätschelte ihre Arme und schmiegte sich seufzend hinein.

„Vor mir brauchst du keine Angst zu haben, Hanibu. Wenn ich einmal Kinder bekomme, werde ich jedem eigenhändig den Hintern versohlen, der andere überfallen will.“

Hanibu streichelte Lavinia über die nussbraunen Ringellöckchen und lächelte Viviane wehmütig zu. Die räusperte sich.

„Wenn wir gewaschen sind, können wir noch ein bisschen auf der Tin Whistle spielen! Was haltet ihr davon? Und natürlich müsst ihr mir danach ganz genau vorsagen, was ihr alles in Hanibus Sprache neu gelernt habt, damit ich das auch lerne.“

„Ja! Das machen wir!“, jauchzte Lavinia und Robin lehnte sich zufrieden an Viviane.

Die strich ihm über das Haar und als sie den Blick wieder hob, sah sie Conall aus dem äußeren Tor treten. Auch er schien es eilig zu haben und Viviane dachte schon, es wäre im Dorf etwas passiert. Doch dann erreichte er die Wegbiegung und sie konnte ihren ältesten Bruder von vorne sehen.

„Warum kommt Conall auch mit einem Korb?“

„Keine Ahnung! Aber es scheint wichtig zu sein, so schnell wie er rennt“, stellte Lavinia fest und Robin fügte noch hinzu: „Papa war vorhin noch nicht zu Hause, als wir losgelaufen sind.“

Conall verlangsamte seinen ausgreifenden Schritt und kam grinsend vor den Reitern zum Stehen.

„Da seid ihr ja endlich! Seht mal, wir haben Johannisbeeren mitgebracht! Sind ganz süß! Probiert mal!“

Conall reichte seinen Korb zu Viviane hoch und die streckte ihn Robin, Hanibu und Lavinia hin. Jeder nahm sich einen Stängel Beeren, erst dann griff Viviane hinein.

„Ja, Conall, die sind wirklich fast genauso süß wie die Himbeeren von Robin und Lavinia.“

Conall sah wenig begeistert in den Himbeerkorb seines Sohnes und deutete eifrig auf seinen eigenen.

„Großmutter Mara macht gerade Marmelade. Die hier haben wir euch extra übrig gelassen.“

„Aha. Wer ist denn wir, Conall?“

„Na ich, Tarian, Medan und Loranthus.“

Viviane kniff die Augen zusammen und visierte ihren ältesten Bruder mit schräg gelegtem Kopf an.

„Was soll ich euch geben, Conall.“

Conall versuchte, mit der freien Hand zu wedeln, obwohl der dazugehörige Arm noch nicht funktionstüchtig war und verzog vor Schmerz prompt ein wenig das Gesicht.

„Nichts! Rein gar nichts!“

Viviane hob eine Augenbraue, und Conalls Handfläche klappte sofort nach außen in eine beschwichtigende Geste, die auch ein wenig misslang.

„Na gut, na gut! Wir wollten dich fragen, ob du uns mal auf deinen neuen Pferden reiten lässt. Wenn die den ganzen Tag auf der Weide stehen, fressen sie bald unser ganzes Gras weg. Da haben wir gedacht, wir könnten mal ein bisschen durch die Gegend reiten und ihnen ein schönes Plätzchen suchen. Jeden Tag ein anderes wäre … praktisch? So lange … bis ihr euch … häuslich niedergelassen habt?“

Viviane sah ihn nachdenklich an, klopfte auf den Korb und schnalzte mit der Zunge.

„Das wird aber nicht reichen. Conall …“

„Na gut, na gut! Ich mach dir noch einen schönen Lederranzen dazu, mit passenden Schlaufen für dein Handwerkszeug und weichen Riemen, damit du ihn bequem auf dem Rücken tragen kannst.“

Er deutete hoffnungsvoll auf ihre Arzttasche, die fast aus allen Nähten platzte; wahrscheinlich ein Geschenk von irgendeinem Halbgott der Ärzteschaft, der zwar nähen konnte, aber kein derbes Rindsleder bearbeiten und erst recht nicht kunstvoll. Selbst Viviane schien das schon aufgefallen zu sein, so erfreut wie sie aussah.

„Gute Idee. Denk aber dran, dass alles in Tüchern eingewickelt ist, wenn du die Schlaufen ausmisst, und ich will noch ein paar Extras! Wird also ein großer Ranzen. Aber das wird immer noch nicht reichen. Conall …“

Conall seufzte.

„Ich habe noch ein schönes Täschchen für deine Tin Whistle gemacht – sogar punziert mit dem Knoten von Taliesin.“

„Oh, da freue ich mich aber! So ein Täschchen wie Robin hat?“

Conall nickte hoffnungsvoll.

„Und Tarian macht dir noch eine neue Wiege, denn die alte braucht ja Mutter selbst.“

„Einfach oder mit Verzierungen?“

Conall strahlte.

„Natürlich mit! Welcher Handwerker würde sich diese Gelegenheit entgehen lassen!? Er wollte Cernunnos im Relief darstellen, wie er majestätisch durch den Wald schreitet.“

Viviane winkte ab und zog eine Grimasse.

„Wie konnte es auch anders sein?! Na, dann will ich mich mal nicht so haben. Nehmt sie ruhig. Wenn ihr wollt, können wir zusammen reiten. Wir müssen ohnehin noch zur Quellgöttin. Tinne hat ihr Töchterchen viel zu früh bekommen. Wir wollen Sünna bitten, dass sie am Leben bleibt und gesund aufwächst.“

„Ach, Viviane! Ruh’ dich mal aus! Es wäre eine Ehre für uns, die Nachgeburt zu Sünna zu bringen und für Germans Kind zu bitten. Wie soll die Kleine denn heißen?“

„Germania.“

„Da würde sich German aber freuen. Ich sag schnell den anderen Bescheid.“

Conall musste blinzeln, faselte etwas von „was ins Auge bekommen“ und streckte seine Hand aus, damit ihm Viviane das kleine Päckchen hinein legen konnte, während er sich die Augen rieb. Kaum hatte er die Finger um den Lederlappen geschlossen, drehte er sich um und ging eilig Richtung Tor davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Viviane schnalzte mit der Zunge, doch sie ließ die Pferde mit Absicht langsam gehen. Bis zur Dorfumfriedung war es nicht mehr weit und sie wollte Conall nicht noch einmal über den Weg laufen. Lavinia und Robin kicherten. Viviane sah sie erstaunt an.

„Was ist denn los, ihr beiden?“

Robin grinste schelmisch.

„Na, wie du mit Papa gehandelt hast! Selbst Mama könnte das nicht besser!“

„Ja, genau!“, gluckste Lavinia. „Es war wie auf dem Markt. Du hast einen sehr guten Handel abgeschlossen.“

Viviane prustete los.

„Ja, das habe ich wirklich, Lavinia. Aber eigentlich wollte ich Conall doch nur sagen, dass ich alleine schon neunzehn Pferde mitgebracht habe, Silvanus’ nicht mitgerechnet. Da reichen Conall, Tarian, Medan und Loranthus nicht aus, um sie in Bewegung zu halten. Und wenn sie die restlichen Pferde hinten dran binden, könnten sie sich unterwegs verheddern.“

Jetzt kicherten alle und Lavinia zwinkerte Hanibu zu.

„Hanibu könnte sie als Karawanenführer ausbilden. Ihr Großvater ist das nämlich in ihrer Heimat. Und die Kamele dort können ganz viel Wasser trinken und deshalb dauert es ganz lange, bevor sie loslaufen. Und ihre Dörfer sind bei Oasen. Dort gibt es Brunnen, wie auf den Burgen. Das hat sie uns erzählt.“

Robin klatschte begeistert in die Hände.

„Oasen und Kamele will ich mir später einmal ansehen, wenn ich groß bin. Hanibu nehme ich mit und sie wird dann mein Karawanenführer.“

Viviane sah Hanibu verschmitzt an und lenkte Arion zum Gatter.

„Da musst du als Erstes lernen, wie du ein Pferd zäumst, Weltreisender Robin. Denn das bekommst du ja, wie versprochen, von mir. Hier, setze dich mal auf den Pfosten und nimm Arion die Zügel ab.“

Robin bekam ganz große Augen und kletterte wie gewünscht von Arion hinüber auf den Pfosten. Arion stellte sich davor und streckte ihm seinen Kopf entgegen, als hätte er Viviane verstanden. Er hielt ganz still und als Robin voller Stolz das Zaumzeug über das Weidengeflecht legte, schnaubte er zu Dina hin.

„Ach ja, Arion! Da hast du natürlich vollkommen recht“, meinte Viviane und tätschelte ihm den Hals. „Lavinia kann das auch gleich lernen. Komm, Lavinia, setzt dich mal wie Robin.“

Dina stellte sich auf die andere Seite vom Gatter, damit Lavinia bequem von ihrem Rücken auf den Torpfosten hinüber klettern konnte, hielt ruhig ihren Kopf hin und ließ sich das Zaumzeug abnehmen. Zur Belohnung streichelte Lavinia ihre lange, silberne Mähne und umarmte ihren Kopf, soweit ihre Hände herumreichten.

„Ich hab dich ja so lieb, meine schöne und kluge Dina.“ Arion schnaubte und kam sogleich neben Dina. „Und dich natürlich auch, mein großer, schöner Arion.“ Lavinia wollte auch ihn umarmen, doch Arion stupste sie sachte in die Schulter. „Arion, du Schelm! Natürlich bist du auch klug! Das größte und schlaueste Pferd im ganzen Land!“

Jetzt schien Arion zufrieden und drückte seine Nüstern in Lavinias offene Hände.

Hanibu zeigte zum hinteren Tor.

„Seht mal, da reiten die Männer gerade los!“

Viviane hob anerkennend den Daumen.

„Absolut korrekt, Hanibu! Du lernst wirklich sehr schnell!“

Viviane bemerkte nicht, wie Hanibu strahlte, denn sie recke ihren Hals zum Wegende.

„Sie haben jeder noch ein Pferd im Schlepptau und scheinbar auch ihr Abendbrot dabei. Ach, Vater und Silvanus sind auch mit von der Partie! Das hätte ich mir ja denken können. Na, wenn sie jeden Tag die Pferde tauschen, wird es ihnen in nächster Zeit nicht langweilig.“

Viviane drehte sich zu Lavinia und Robin.

„So ihr zwei. Das ging ja schon richtig gut. Ab jetzt könnt ihr jedes Mal die Pferde zäumen.“

„Auch aufzäumen?“, fragte Robin hoffnungsvoll und hüpfte im hohen Bogen ins Gras. „Natürlich! Aber jetzt nehmt mal die Körbe mit rein und sagt Mutter, dass wir noch schnell zum Fluss gehen. Gegessen haben wir schon bei Tinne.“

Als Viviane und Hanibu ihnen nach dem Waschen hinterher kamen, waren Robin und Lavinia gerade eifrig damit beschäftigt, Tontöpfe auf den vordersten Tisch zu stellen, die sie von Flora und Großmutter Mara gereicht bekamen. Taberia setzte die kleine Armanu in die Ecke auf ein Kuhfell und gab ihr kleine Holztiere zum Spielen, Noeira wickelte die schlafende Belisama in eine Wolldecke und legte sie daneben. Dann gingen die Frauen geheimnistuerisch die Treppe hoch, um etwas äußerst Wichtiges zu erledigen, wie sie Viviane versicherten. Viviane sah ihnen verdutzt nach, lenkte ihre Aufmerksamkeit aber gleich wieder auf die Kinder.

Lavinia nahm geschäftig von drei hübsch bemalten Tontöpfchen die Deckel ab und verdrehte die Augen, weil Robin die Töpfe noch einmal unschlüssig hin und her tauschte. Als Robin endlich alles zu seiner Zufriedenheit arrangiert hatte, bedeutete er mit einer übertriebenen Geste, Viviane solle sich hinsetzen. Viviane setzte sich und schaute besonders erwartungsvoll drein. Robin breitete auch sogleich einladend die Arme über den Töpfen aus, als hätte er soeben seinen Marktstand eröffnet.

„Schau mal, Viviane, was wir alles geschafft haben, als du weg warst!“

Er zeigte auf den vordersten Topf.

„Das ist Honig aus der ersten Klotzbeute. Den haben ich und Mama gemacht. Das hier ist Honig aus der zweiten Klotzbeute, den haben Lavinia und Großmutter Flora gemacht. Der hier ist aus der dritten, den haben Hanibu, Taberia und Urgroßmutter Mara gemacht. Du musst unbedingt mal probieren, Viviane! Wir wollen mit dir ein Experiment machen.“

Robin zückte sein Messer und schabte konzentriert ein Stückchen Honig aus dem ersten Topf. Dann hielt er Viviane das Messer hin, als wolle er ihr etwas äußerst Wertvolles darbieten. Viviane nahm den Honig deshalb auch besonders ehrfürchtig entgegen und steckte ihn in ihren Mund.

„Hmmm, sehr gut! Nicht zu süß … sehr fruchtig … mild … Ich würde mal sagen: Das ist Honig von Himbeerblüten und Erdbeerblüten.“

Lavinia nickte eifrig. Robin nickte auch, aber ganz bedächtig.

„Ganz genau, Viviane. Und der hier?“

Er zückte wieder sein Messer und hielt Viviane eine zweite Scheibe hin.

„Hmmm, das schmeckt süß … nach Sonne, Wiese, Wind … Das ist Honig von Löwenzahn.“

Robin riss die Augen auf und sah Lavinia bestürzt an. Leicht zögernd nahm er wieder sein Messer und schnitt aus dem dritten Topf ein dünnes Scheibchen, doch diesmal musste ihm Lavinia erst einen Schubs geben, damit er es über den Tisch streckte.

Viviane ließ den Honig im Mund zergehen und lächelte mit geschlossenen Augen.

„Wald, Laub, Regen, Harz, Birken, Linden, … Es ist eindeutig Honig von Bäumen.“

Robin sackte auf die Bank und kippte kraftlos mit dem Rücken an die Lehne. Er beäugte Viviane, als wäre sie ein Geist aus der Anderswelt. Viviane musterte ihn ebenso besorgt.

„Welchen habe ich falsch gehabt?“

Lavinia ließ sich schwungvoll neben ihn plumpsen und tätschelte grinsend Robins Hand. „Keinen einzigen, Viviane. Also …“ Sie hielt Robin ihre Hand unter die Nase.

Robin versuchte, die Hand zu ignorieren, bis sie gegen seine Brust klatschte. Da seufzte er tief und kramte übertrieben lange in seiner kleinen Gürteltasche. Sein Mienenspiel entsprach sieben Tagen Regenwetter, als er endlich ein leeres Schneckenhaus herauszog. Lavinia schnappte es ihm aus der Hand und johlte triumphierend.

„Na endlich! Und jetzt das gleiche Spiel noch mal mit der Marmelade, Viviane! Schließlich hat Robin noch so ein schönes Schneckenhaus. Das wird dann mit dem hier …“ Sie drehte ihre neue Errungenschaft prüfend vor den Augen hin und her. „ … einen Ehrenplatz in meiner Sammlung bekommen.“

Robin fuchtelte abwehrend mit den Händen durch die Luft.

„Da bekommt Viviane aber die Augen verbunden, sonst erkennt sie die ja schon an der Farbe!“

„Ts, ts, ts!“ Lavinia stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn mitleidig an. „Die Begründung hättest du dir besser sparen sollen!“

Robin stutzte, verstand nicht, was sie damit sagen wollte und holte, statt zu fragen, lieber ein Leintuch vom Nagel neben dem Tellerbord.

Nachdem Viviane auch drei verschiedene Marmeladen am Geschmack erkannt hatte und Lavinia ihren Wetteinsatz hüpfend die Treppe hochbrachte, lugte Großmutter Mara kopfüber herunter und strahlte.

„Warte einen Augenblick, Viviane. Noeira ist gleich fertig. Mach’s dir so lange bequem!“

Also setzte sich Viviane zu Robin, der ihre Gesellschaft allerdings nicht zur Kenntnis nahm. Doch als Noeira mit aufgesteckten Haaren die Stufen herunter kam und Vivianes Augen mit jedem ihrer Schritte größer wurden, war er in seiner Verblüffung nicht mehr alleine – wenn auch aus einem anderen Grund.

Noeira drehte sich in ihrem neusten Kleid vor den beiden hin und her, schlenderte langsam bis zur offenen Tür, schwang dort betont würdevoll herum und kam noch gemächlicher zurück, wobei sie übertrieben ihre Hüften wiegte und den Sitz ihrer aufgetürmten Haare prüfte. Viviane klappte der Mund auf und Noeira winkte ab.

„Ja, ja! Ich weiß, dass ich noch ein bisschen schlanker werden muss! Etwa so, guck!“

Sie presste sich die eine Hand auf den Bauch, die andere in den Rücken und posierte vor Viviane. Ihre erwartungsvoll lächelnde Miene wurde nach einem Wimpernschlag eine ungeduldig lächelnde; im nächsten Augenblick war nur noch die ungeduldige übrig.

„Bei allen Göttern! So schlimm ist es doch nun auch wieder nicht! Conall sagt, mein Bauch ist schon wieder schön fest. Und das nach nicht mal zwei Monden und immerhin beim zweiten Kind! Noch hundert Mal Butter stampfen und circa zwei Dutzend Hühner rupfen, dann bin ich wieder knackig wie ein frisch gepflückter Apfel! Vielleicht noch den Rest des Jahres Korn mahlen?“

Prüfend schaute sie an sich herunter und runzelte die Stirn.

„Oder meinst du, gelb passt nicht zu mir?“

Viviane erwachte aus ihrer Starre und wedelte beschwichtigend mit den Händen.

„Nein, nein, Noeira, es liegt nicht an deiner Figur! Du bist wirklich schon wieder schön schlank … beneidenswert schlank!“ Viviane tätschelte ihren Bauch und strich das Kleid glatt, worauf sofort die kleine Beule sichtbar wurde. „Hoffentlich geht das bei mir dann auch so schnell … Und dieses leuchtende Gelb passt einfach genial zu deinen rotblonden Haaren, wie … wie ein herrlicher Sonnenaufgang. Nein, Noeira, ich bin einfach nur so perplex! Das ist doch die Seide, die ich euch aus Britannien mitgebracht habe!?“

Noeira nickte stolz und hielt ihr Kleid hoch, damit Viviane sich überzeugen konnte. Bewundernd strich sie über den weichen Stoff und schüttelte langsam den Kopf.

„Ich habe schon so viele schöne Kleider gesehen … aber dieses hier ist einfach … fantastisch.“

Noeira klatschte begeistert in die Hände und jauchzte vergnügt.

„So sehr gefällt es dir?“

Viviane hielt beide Daumen hoch und nickte anerkennend.

„Das hatten wir gehofft! Wir haben alle zusammen überlegt, wie wir dieser göttlichen Seide am besten gerecht werden. Hanibu hat uns aufgemalt, wie sie die reichen Griechinnen in Massalia und Antibes getragen haben. Peblos sagen sie dazu!“ Sie breitete die Arme aus und drehte sich im Kreis. „Und das ist dabei herausgekommen! Man beachte die Raffung an den Schultern und die filigranen Broschen in Form von Rosen!“

„Du siehst aus wie eine griechische Göttin. Das müssen wir unbedingt Loranthus nachher zeigen.“

Noeira wackelte verneinend mit dem Zeigefinger und feixte.

„Wir haben noch mehr griechische Göttinnen!“ Sie lugte zur Treppe, von der aus es erwartungsvoll kicherte, und klatschte schallend in die Hände. „Wir haben noch Thera in Goldbraun … Hera in Lindgrün … Leto in Violett und … Iris in Rosa …“

Dabei schritten Großmutter Mara, Flora, Taberia und Hanibu nacheinander die Stufen herab auf Viviane zu. Die rieb sich begeistert die Hände.

„Ich muss zu Lugnasad ein paar Flaschen Massageöl mitnehmen! Alle Weiber werden sich wegen euch die Köpfe verrenken! Ach, was red ich da! Am besten ein ganzes Fass! Ich habe die Männer vergessen!“

Noeira wedelte wieder verneinend mit ihrem Zeigefinger und streckte ihn Achtung gebietend in die Höhe. So ging sie die Treppe hinauf und kam mit einem dunkelgrünen Kleid zurück, dass sie mit übertriebener Verbeugung Viviane entgegenstreckte.

„Am meisten wegen dir, Viviane, oh du Ursache aller verzerrten Gliedmaßen und Behebung der Wirkung! Ach, apropos Ursache – Wirkung! Keine Angst, Viviane! Ob mit oder ohne Gürtel, das Kleid ist so konzipiert, dass es jeder Figur angepasst ist, weil die Griechinnen die Gürtel genau unter dem Busen schnüren. Das zeigen wir dir gleich. Wir können sogar untereinander tauschen und variieren wie wir lustig sind, weil wir die Gürtel und Taschen von den Resten gemacht haben. Es passt alles gut zusammen und je nachdem, wie du die Taschen trägst, wirkt es jedes Mal anders.“

Viviane hielt sich das Kleid an, strich sachte über den Stoff und sah strahlend an sich herab.

„Ich ahne Schreckliches, Noeira.“

Noeira zog die Augenbrauen hoch und wollte schon fragen, doch Viviane grinste sie an.

„Eine schreckliche Dürre wird über alle Weiber kommen, wenn wir zu Lugnasad damit herumlaufen.“

„Verrenkte Hälse verstehe ich ja, aber wieso auch noch eine Dürre?“

„Na, was meinst du, was die für einen Durst bekommen, wenn sie immer mit offenem Mund gucken, jedes Mal, wenn wir vorbeigehen.“

Taberia klatschte begeistert in die Hände, rannte schnell die Treppe hoch und kam mit kleinen Seidentäschchen und den passenden Gürteln wieder. Viviane raffte alles an sich und hielt es sich der Reihe nach gegen ihr grünes Kleid. Taberia assistierte ihr und schmunzelte zufrieden.

„Ich sehe schon: Du wirst zu Lugnasad ganz schön was zu tun bekommen, Viviane!“ Sie zählte an ihren Fingern ab: „Verrenkte Hälse, trockene Rachen, vielleicht noch ein paar gebrochene oder verstauchte Glieder, weil manche nicht dahin gucken, wohin sie laufen …“

Alle Frauen ahmten sogleich mögliche Varianten nach und stachelten sich gegenseitig an, als es um die korrekte Darstellung des Unfallhergangs ging. Viviane warf ihnen mehrmals einen strafenden, aber nachsichtigen Blick zu und drehte sich tänzelnd mit ihrem Kleid hin und her. Bewundernd verfolgte sie die geschmeidigen Bewegungen der Seide und ihr Blick fiel auf Robin, der sie immer noch mit einem abwesenden Blick bedachte. Sie hielt inne, schlug das Kleid zurück und kramte in ihrer Gürteltasche.

„Robin! Hast du das schon mal gesehen?“

Sie streckt ihm die Hand entgegen. Robin erwachte aus seiner Starre und betrachtete den seltsamen Gegenstand auf ihrer Hand genau.

„Hm, das kommt mir irgendwie bekannt vor. Was ist das, Viviane?“

„Ein Schmetterling. Habe ich vorhin an einem Blatt hängen sehen. Seine Brüder und Schwestern sind wahrscheinlich alle schon ausgeflogen.“

Robin schüttelte den Kopf.

„Viviane. Ich weiß doch, wie ein Schmetterling aussieht und das ist garantiert keiner.“

„Noch ist es kein richtiger Schmetterling, aber bald. Wenn du ihn jeden Tag beobachtest, dann wirst du sehen, wie er sich verändert. Und wenn du den Tag nicht verpasst, dann wirst du ein Wunder erleben, das nur unsere große Mutter vollbringen kann.“

Robin klatschte sich die Hand gegen die Stirn und nickte begeistert.

„Jetzt weiß ich’s, Viviane! Das war mal eine Raupe! Ihr Lebensfaden ist abgelaufen, Mutter Erde schickt sie in die Anderswelt und die Götter geben ihr ein neues Leben. Es ist wie bei den Fliegeneiern aus Naschus Bein! Erst waren es Eier, dann sind daraus Maden geschlüpft und die haben das faule Fleisch gefressen, bis sie ganz dick waren. Nach einem halben Mond war Naschus Wunde sauber und die Maden wurden plötzlich ganz starr und haben sich verpuppt. Lavinia meinte, sie hätten es sich redlich verdient, als Fliegen wiedergeboren zu werden, weil sie so hilfreich waren. Deshalb hat Naschu sie uns geschenkt und wir haben jeden Tag nachgesehen, wann sie aus der Anderswelt zurückkommen. Und plötzlich … schwupps …“ Robin zog an seinem Hemd, als wolle er es zerreißen. „ … waren sie wiedergeboren! Erst sahen sie klebrig aus und dann haben sie geglänzt wie ein Kupferspiegel, nur in Grün.“ Robin stieß begeistert seinen Finger in die Luft. „Guck mal, Viviane! Das da oben könnte eine von unseren fleißigen Maden sein!“

Robin verfolgte mit seinem Finger den Flug einer dicken Fliege, die hektisch am Deckenbalken entlang schwirrte, bis sie endlich den Ausgang fand. Enttäuscht nahm er den Arm herunter.

„Ach, jetzt ist sie raus geflogen. Na, auch gut. Ich zeig Lavinia mal meinen Schmetterling!“ Ausgelassen hopste er zur Treppe, hielt aber mitten im Sprung inne und grinste schelmisch. Dann polterte er ganz langsam die Treppe hoch und rief mit verstellter, tiefer Stimme: „Laviniaaa! Ein eeechtes Geschöpf aus der Anderswelt kommt die Treppe herauf! Uuuuuuh! Es kommt auf dich zuuu und will dich hooolen! Uaahuu!“

Lavinia kreischte auf und sie hörten, wie oben ihre kleinen Füße eilig herum trippelten, bis es einen Schlag tat. Lavinia war garantiert in ihr Lager gesprungen und hatte sich wohl auch mindestens zwei Wolldecken über den Kopf gezogen, denn ihr Kreischen klang jetzt deutlich dumpfer.

„Robin!?“, rief Viviane die Treppe hoch. „Die Fliege schwirrt gerade zum Tor hinaus! Sie will bestimmt deinen Vater begrüßen! Ich kann ihn schon hören!“ Sie drehte sich zu den Frauen und flüsterte: „Haben die Männer unsere Kleider schon zu Gesicht bekommen?“

„Wir wollten sie erst dir zeigen“, flüsterte Flora und scheuchte die anderen hinter den Ofen. „Los, versteckt euch! Die überraschen wir! Mal sehen, ob denen die Augen auch so groß werden wie bei Viviane.“

Flora lugte noch mal kurz hinter dem Ofen hervor und schnappte sich das grüne Kleid, da kam auch schon Silvanus hereingestürmt und riss Viviane von den Füßen. Sie hängte sich lachend an seinen Hals und gab ihm einen langen Kuss.

„Na, ihr Pferdehirten! Habt ihr eine geeignete Weide gefunden, damit unsere Tiere auch ja alle satt werden?“

Silvanus stellte sie wieder auf die Füße.

„Nicht nur das, Viv. Wir haben sogar das Problem mit dem Transport dorthin gelöst. Das heißt, wenn es dir zusagt.“

Viviane sah ihn fragend an, doch da kamen auch schon die anderen Männer herein, oder besser gesagt: Jeder von ihnen versuchte, als Erster durch die Tür zu kommen. Da aber keiner nachgeben wollte, steckten sie im Türrahmen fest.

Silvanus schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Doch als sich Medan durch die Beine der anderen hindurch quetschte, nickte er anerkennend.

„Klein kann man sein, man muss sich nur zu helfen wissen und … darf aus dem Krabbelalter noch nicht raus sein.“

Medan baute sich vor Silvanus auf, legte seinen Kopf übertrieben weit in den Nacken und grinste.

„Wo du recht hast, hast du recht, großer Bruder.“

Loranthus drückte sich rückwärts.

„Der Klügere gibt nach“, sagte er selbstgefällig grinsend und rieb sich die Schultern.

Jetzt hätten eigentlich Conall und Tarian genug Platz gehabt, blockierten sich aber hartnäckig weiter. Arminius stützte sich auf den Schultern seiner beiden Söhne ab, drückte sie seitwärts an den Türrahmen und schwang sich durch die Lücke.

„Wenn zwei sich streiten, freut sich der dritte.“

Conall und Tarian reichten sich die Hand und traten gemeinsam durch die Tür.

„Wenn du einen Kampf nicht gewinnen kannst, dann gewinne wenigstens die Eintracht.“

„Ach! Apropos Eintracht …“ Arminius schlug sich die flache Hand vor die Stirn. „Wir haben dir was mitgebracht, Viviane! Loranthus!?“

„Hab schon!“, rief Loranthus und kam mit zwei langen Holzstangen herein, die er Arminius entgegen streckte. „Das hat uns Naschu mitgegeben. Er meinte, es könnte dir gefallen, Viviane.“

Arminius stellte die Stangen vor sich hin und machte ein höchst konzentriertes Gesicht. Dann stieg er vorsichtig auf die kleinen Querhölzer, die in Kniehöhe abstanden und machte ein paar Schritte vorwärts. Viviane schürzte die Lippen und neigte sich nach rechts und links, einmal, um Arminius die Sicht hinter den Ofen zu versperren, und natürlich auch, um die Stangen genauer anzusehen.

„Papa, du machst einem Storch alle Ehre. Achtung, tiefhängende Äste!“

Arminius schwenkte vor dem Deckenbalken herum, kam ins Straucheln, hüpfte von den Fußstützen und hielt Viviane die Stangen hin.

„Probier’s erst mal selbst! … von wegen Storch.“

Lavinia und Robin kamen gerade einträchtig die Treppe herunter.

„Lässt du uns auch mal, Viviane? Das macht bestimmt großen Spaß! So sind wir auf einen Schlag ein ganzes Stück größer!“

„Natürlich, ihr zwei. Aber dann bin ich dran! Immerhin ist das wirklich eine gute Idee von Naschu. Er wollte bestimmt, dass ich mich nicht mehr so strecken muss, um zu Silvanus hochzukommen.“

„Sag das doch gleich“, piepste Silvanus, ging in die Hocke und trippelte übertrieben schnell vor Viviane hin und her.

Viviane kuschelte sich in seine Arme und sah zu ihm hinab.

„So geht’s natürlich auch.“

Dann schauten alle Lavinia und Robin zu, die sich gegenseitig überbieten wollten, wer am weitesten mit den Stangen laufen konnte. Sie hatten schon lange nicht mehr so gelacht, und sogar die Frauen lugten hinter dem Ofen hervor.

„So, jetzt versuch ich mal mein Glück.“

Viviane nahm Robin die Stangen ab und stieg auf die Fußstützen. Johlend stakste sie durchs Zimmer und drehte eine Extrarunde um den Ofen. Dabei zwinkerte sie den Frauen zu.

„Und nun kommen wir zum Höhepunkt des heutigen langen Sommerabends! Dazu müsst ihr euch alle hinsetzten, sonst fallt ihr eventuell um. Jetzt kommen nämlich die Göttinnen des Olymp zu den Nachfahren des Cernunnos und präsentieren die neusten Kleiderkreationen aus der Heimat von Loranthus.“

Die Männer setzten sich auf die Bänke und blickten erwartungsvoll zu Viviane, die immer noch auf den Stangen balancierte.

„Zuerst erscheint die ehrwürdige Mutter aller Götter, Thera – repräsentiert von Großmutter Mara – in einem ihrem Rang ebenbürtigen goldbraunen Kleid. Man beachte die auffällige Raffung an den Schultern, erhaben und sinnlich zugleich!“

Großmutter Mara trat verlegen lächelnd hinter dem Ofen hervor und alle Männer klatschten begeistert in die Hände.

„Und nach Thera kommt natürlich gleich Hera, die erste aller Göttinnen, in einem bezaubernden Lindgrün wie das Kleid von Mutter Erde im Lenz, wenn sie – passenderweise – die Saat in sich trägt.“

Flora schwebte hinter dem Ofen hervor und sah die aufgerissenen Augen von Arminius. Ein strahlendes Lächeln umspielte ihre vollen Lippen.

„Und nun noch Demeter in Strahlend-Gelb, Leto in Mystisch-Violett und in Rosa-Abendrot unsere Götterbotin Iris, die gerade von einem Botengang aus Äthiopien kommt und dort schön braun geworden ist.“

Jetzt kamen Noeira, Taberia und Hanibu hinter dem Ofen hervor. Noeira schwenkte ihre Hüften und musste kichern, als sie Conalls begeistert-schmachtendes Mienenspiel beobachtete. Taberia zog Hanibu hinter sich her, lächelte Tarian zu und stellte sich neben Noeira. Hanibu wollte sich verstecken, aber Taberia zerrte sie bestimmend neben sich, ohne den Blick von ihrem Mann zu wenden, der mit offenem Mund auf der Bank saß.

Loranthus fand als erster die Sprache wieder und sah Arminius fragend an, denn ihm stand eigentlich das erste Wort zu. Doch Arminius schienen die Worte abhanden gekommen und so nickte er nur zurück. Loranthus rutschte sich auf der Sitzbank in Position und räusperte sich, als wolle er im Senat eine Rede halten.

„Viviane, du hast uns nicht zu viel versprochen. Es ist eine wahre Pracht, die wir hier erblicken dürfen! Atemberaubend schön! Genau so müssen sie aussehen, die obersten Göttinnen des Olymps. Ich nehme an, du hast auch ein Kleid?“

Flora reichte Viviane das grüne Kleid. Sie stieg von den Stangen und drapierte es über ihren Schultern.

Silvanus ruckte auf der Bank nach vorne.

„Du bist Aphrodite, Viviane! Wahrlich, so schön …“

Viviane winkte ab, lächelte aber erfreut.

„Nein, Silvanus. Ich bin natürlich Athene. Das passt besser zu mir. Aphrodite ist schon vergeben.“

Viviane nickte in Richtung Burg und lächelte Loranthus zu. Alle lachten, als Loranthus versuchte, sich hinter Tarian zu verstecken.

Die Kinder ergriffen die Gelegenheit und stellten sich bittend vor Viviane. Die gab ihnen natürlich die Stelzen und kicherte weiter, bis sie den Kopf schief legte und ihnen nachdenklich hinterher schaute.

„Silvanus? Wie habt ihr noch mal das Transportproblem mit den Pferden gelöst, sagtest du?“

Statt Silvanus erhob sich Arminius und legte ihr den Arm um die Schultern.

„Dieses Moosgrün passt perfekt zu deinen Augen und deinem wunderschön glänzendem Haar, Töchterchen.“

Viviane sah ihn von der Seite her an und drehte sich betont langsam zu Lavinia, die gerade begeistert auf die Stangen kletterte, während Robin assistierte.

„Ach. Jetzt wird mir alles klar“, murmelte sie und tippte sich mit dem Zeigefinger sehr nachdenklich an die Lippen. „Hm, Naschu will doch sicher nicht … alleine mit euch reiten?“

Arminius griente verlegen.

„Eigentlich wollten alle … ich meine … nur die Männer …“

„Hm. Zanadu, Naschu und Hirlas, das ist natürlich eine wirklich gute Lösung. Aber so ganz reicht das immer noch nicht …“

Arminius klopfte ihr auf die Schulter und ging noch mal vor die Tür. Mit einem triumphierenden Lächeln hob er noch ein Stangenpaar hoch und stellte es vor Viviane. Robin kam gleich angerannt und sah Viviane hoffnungsvoll an.

Viviane verdrehte die Augen, schob ihm die Stangen hin und seufzte.

„Naschu kennt meinen schwachen Punkt wirklich ganz genau. Also gut, aber nur unter einer Bedingung.“

Arminius nickte vorsichtig.

„Und die wäre …?“

„Ein Pferd bleibt immer hier. Jeden Tag ein anderes.“

„Hmpf. Na gut.“

„Dann wäre ja alles geklärt.“

Arminius griente jetzt wieder und bedachte erst Silvanus und danach Viviane mit einem verschwörerischen Lächeln.

„Ganz recht. Und deshalb nimmt jetzt jeder die ihm angetraute Göttin, äh Gattin, und führt sie zum rechtmäßigen Beilager, auf dass uns alle der süße Schlaf neue Kraft für den morgigen Tag schenkt.“

„Hmpf“, machte jetzt Viviane und schaute ihrem Vater nach, der Flora unter hakte und beschwingten Schrittes zur Tür hinausging. Silvanus nahm tröstend ihre Hand und flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin sich ihre Mundwinkel wieder nach oben bewegten.

Alle polierten sich die Zähne mit ihren kleinen Wolltüchern, pulten mit spitzen Haselnussgerten die Zahnzwischenräume frei, spülten kräftig aus und gingen in ihre Häuser. Silvanus hielt sich dicht hinter Viviane, strich ihr unauffällig über den Rücken und erhaschte im Obergeschoss noch einen Kuss von ihr. Artig verschwand er hinter dem Vorhang und legte sich neben Medan und Loranthus auf sein Strohlager.

Doch bei den Maiden auf der anderen Seite des Vorhangs wurde es nicht ruhig, im Gegenteil. Viviane japste laut. Hastig schlug Silvanus seine Wolldecke zurück und schnellte hoch, da hörte er Viviane fragen: „Wer hat das gefilzte Täschchen auf mein Lager gelegt?“ Also stand er sehr leise auf und lugte ganz vorsichtig durch einen äußerst winzigen Spalt. Medan und Loranthus postierten sich zu beiden Seiten und schielten mit hindurch.

Lavinia kicherte schelmisch und hopste mit Schwung auf ihr Schaffell.

„Na, ich und Hanibu natürlich, wer denn sonst? Wir haben es ja schließlich extra für dich gemacht.“

„Das hübsche Filztäschchen ist für mich? Grün mit roten Karos, das habt ihr aber schön gemacht!“

Lavinia winkte Viviane näher heran und flüsterte in ihr Ohr: „Du kannst es auch aufmachen. Einfach an der Schleife ziehen, dann aufklappen.“

„Das kommt mir irgendwie bekannt vor“, raunte Viviane verschwörerisch zurück, tat aber gleich, wie ihr geheißen.

Vorsichtig zog sie die Schleife auf, die ein wenig zu groß geraten war – bestimmt hatte Lavinia sich daran versucht. Mit spitzen Fingern schlug sie die vier Ecken auseinander und japste: „Aber das ist ja ein Fidchellspiel! Ein Fidchellspiel aus grünem Filz mit rotem Wollfaden für die Karos! Und die Spielfiguren sind kleine Halbkugeln aus Holz, mit irren Mustern in Orange-Braun und Violett-Weiß! Was sind denn das für Dinger? So was hab ich im Leben noch nicht gesehen!“

„Pantherschildkröten“, kiekste Lavinia und kuschelte sich eng an Hanibu. „Hanibu hat uns aufgemalt, wie sie aussehen und Noeira hat sie aus ein paar Lindenholzabfällen geschnitzt. Die wilden Muster hat Hanibu aber selber aufgemalt. Sie sind wirklich echt, hat sie uns versichert. Besonders die jungen Pantherschildkröten sind total farbenprächtig, wenn sie so alt sind wie ich und … ob du es glaubst oder nicht: Sie sind auch so schwer wie ich, oder noch schwerer! Stell dir das mal vor, Viviane! Natürlich sind die hier eine Miniaturausgabe!“

„Was es nicht alles gibt …“

Viviane ließ sich auf ihren Schlafplatz am Fenster sinken und schaute ungläubig auf ihre Finger, die mit den abstrakt gemusterten Halbkugeln klapperten. Je mehr sie die Pantherschildkröten mischte, desto verwirrender wurde das Farbenspiel. „Wahnsinn! Sie sind wirklich winzig und federleicht. Ideal für ein kleines Täschchen. Ein Fidchellspiel zum Mitnehmen …“

Jetzt kicherte Hanibu und sprach langsam in der Mundart der Hermunduren: „Kannst du dich noch erinnern, wie wir auf der Wiese gelegen haben? Damals hatte ich Angst vor deinen Leuten, weil ich so anders aussehe als ihr und du hast gesagt …“

Viviane drehte sich zu Hanibu und nickte.

„Du wirst sehen, meine Leute werden dich gut aufnehmen, sei ganz zuversichtlich. In fast jeder Herde gibt es schließlich ein schwarzes Schaf. Jetzt haben wir endlich auch eins.“ Viviane lächelte wehmütig. „Ja, ich kann mich noch an jedes Wort erinnern, obwohl es mir so vorkommt, als wäre es schon ewig her. Dabei war das gerade mal vor zwei Monden.“

„Und was hast du noch gesagt?“

„Ich hab dich zum Lachen gebracht, weil ich gesagt habe: Du und ich auf der Weide als Schafe, wie wir genüsslich den Löwenzahn kauen. Und was wir dann für eine Wolle abgeben. Meine Mutter macht daraus die exotischsten Kleider in Schwarzweiß. Darauf kann man dann Fidchell spielen. Ich höre schon die Rufe der Händler: Fidchell spielen wann immer du willst! Leicht und luftig oder dick und wärmend!“

„Genau. Und das habe ich Lavinia alles erzählt.“

Hanibu drückte Lavinia an sich, beide lächelten glücklich.

„Wir haben in deiner Sprache gesprochen und in meiner Sprache und manchmal auch mit den Händen und Füßen … Aber wir konnten uns gut verstehen. Lavinia kann deshalb sogar schon ein paar Wörter in Griechisch.“

Lavinia rutschte sich gerade zurecht und deutete auf das Fidchellspiel in Vivianes Händen.

„Eines Nachts bin ich aufgewacht und hatte diesen Einfall. Hanibu war ganz begeistert, obwohl ich unbedingt grüne und rote Wolle nehmen wollte statt braun und weiß. Sie hat mir auch beim Filzen geholfen, sonst wäre es wohl nicht so schön gleichmäßig geworden.“ Lavinia verzog entschuldigend das Gesicht, doch nur kurz, und redete dann stolz weiter: „Natürlich ist das hier kein richtiges Brett wie bei dem Spiel, das du Papa aus Britannien mitgebracht hast. Dafür kann man es aber beidseitig benutzen.“

Viviane hielt anerkennend das viereckige Wolltuch hoch und besah sich auch die Karos auf der Rückseite.

„Es ist perfekt. Das war ein genialer Einfall, Lavinia!“

Lavinia streckte sich und nickte heftig.

„Noeira hat das auch schon gesagt, weil ich …“ Sie seufzte und zog einen herzerweichenden Schmollmund. „Weil ich so traurig war.“

„Traurig? Wo du so ein schönes Fidchellspiel gemacht hast?“

Lavinia hob Achtung heischend den Finger, klapperte mit den Augenlidern und langte unter ihre Wolldecke. Dort raffte sie etwas Kugeliges ein und streckte Viviane die geschlossenen Hände entgegen.

„Ich war traurig, weil meine eigene Idee für die Spielfiguren nicht funktioniert hat. Ich wollte nämlich unbedingt Elefanten filzen, wie die Figuren bei dem echten Fidchellspiel.“

„Aha, Elefanten.“

Viviane machte einen langen Hals mit neugierigem Gesicht, bis Lavinia die Finger spreizte. Da schlug sie sich die Hand vor den Mund und prustete los: „Ist der aber niedlich! Ein rosa Flaumball mit Segelohren und kurzen Wollfäden, einer dick, einer dünn!“

„Ja, ja! Lach nur! Nach diesem Probeexemplar habe ich es eingesehen: Elefanten kommen nicht in die Tasche. Sie sind einfach zu dick und die Rüssel sind in Wirklichkeit auch länger …“

„Ach, nein! Der kurze Rüssel reicht vollkommen! Er muss doch kein Gras rupfen! Und, dick … hm …“ Viviane piekte dem wuscheligen Ball ihren Finger in die Stelle, wo sie den Bauch vermutete. „Ich weiß nicht … Irgendwie sieht er wirklich wie ein Elefant aus. Ich habe zwar noch keinen echten gesehen, aber wenn ich ihn mal mit den Figuren von Vaters Fidchellspiel vergleiche … außer, dass er rosa ist …“ Sie drehte den Wuschel prüfend nach allen Seiten und strich ihm liebevoll über die abstehenden rosa Ohren. „Nein, dick ist er nicht, höchstens gut im Futter. Und erst das niedliche Schwänzchen hinten dran! Sogar mit Quaste!“

Viviane wedelte den winzigen Wollfaden hin und her, der am Ende einen Knoten hatte und dahinter extra verzottelt war. Das konnte nur der Schwanz sein, denn der vermeintliche Rüssel war etwas länger und glatt. Verschmitzt grinsend, warf sie den Ball hoch in die Luft und fing ihn wieder auf, plötzlich riss sie die Arme auseinander und umarmte Lavinia und Hanibu stürmisch.

„Das ist das schönste Geschenk, was ihr mir machen konntet! Ich danke euch von ganzem Herzen!“

„Das freut uns, Viviane.“ Lavinia nahm ihr das gefilzte Tuch aus der Hand. „Guck mal! Wir haben extra eine schmale Brettchenwebkante in Grün-Rot gemacht, die legst du einfach ein und fertig ist die Umhängetasche. Aber jetzt wird geschlafen. Die Nacht ist kurz und morgen wird wieder ein langer Tag. Da spielen wir mal eine Partie, Viviane.“

„Ja, Vater! Äh, ich meinte natürlich: Ja, Lavinia! Den rosa Elefanten will ich aber unbedingt dazu. So ein Sonderexemplar hat nicht jeder … und schon gar nicht von seiner kleinen Schwester.“

Lavinia ließ sich kichernd zurück plumpsen, zerrte an ihrer Decke und strampelte so lange, bis sie nur noch ab ihrer Nase hervorlugte. Viviane streckte sich schmunzelnd neben ihr aus und zog betont sorgfältig ihre eigene Wolldecke über sich.

„Endlich …“, flüsterte Lavinia und gähnte müde. „Kannst dir übrigens noch einen schönen Namen für den Elefanten aussuchen …“ Mit letzter Kraft kuschelte sie sich an Viviane, fasste nach ihrer Hand und streckte die andere nach Hanibu aus.

„Rosvinia!“, hauchte Viviane und strich ihrer kleinen Schwester über den nussbraunen Haarschopf. Sie seufzte, weil Lavinia wirklich schon eingeschlafen war. Wer unschuldig ist, schläft einfach besser, wurde ihr wieder einmal bewusst. Sie selbst hatte Angst, die Augen zu schließen, denn seit der Schlacht sah sie jedes Mal schmerzverzerrte Gesichter, um Gnade flehende Augen und verunstaltete, zuckende Körper. Fest presste sie das Stoffbündel an sich, sog den vertrauten Duft des Hauses in sich ein und lauschte auf das Plätschern des Flusses. Ganz kurz huschte der Gedanke durch ihren Geist, dass ihre Mutter noch extra eine Kütze voller Blumen gesammelt haben musste, denn das Stroh roch nicht nur nach den üblichen beigemischten Bettkräutern, sondern intensiv nach Blüten aller Art.

Tief atmete sie den Wohlgeruch ein und lächelte über diesen ganz besonderen Willkommensgruß. Und wirklich kamen diesmal die schrecklichen Bilder nicht, denn Sünna sang ihr gleichmäßiges, altbekanntes Lied und nahm sie mit in ihre klare, friedliche Welt – die Welt ihrer Kindheit, bei der sie die ersten Schritte ihres Lebens über eine sonnenbeschienene Wiese tat und ihre winzige Nase in jede Blüte steckte, die ihr gefiel.

Der mondhelle Pfad

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