Читать книгу Zugtiere in Trägerhosen - Phil Gaimon - Страница 8

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KAPITEL 1

Für ein oder zwei Jahre war der Profiradsport fast so etwas wie Mainstream gewesen, aber 2013 war eine Zeit, die ich die »Post-Dopokalypse« zu nennen pflege. Als namhafte Sponsoren das Handtuch warfen*, mussten die Manager der Rennställe mit dem klarkommen, was sie aus der Fahrradindustrie herausquetschen konnten. Weitere Teams stiegen aus und der ganze Profizirkus war nur noch ein Trümmerfeld im Vergleich zu dem, den ich als Teenager verfolgt hatte.

In den meisten Sportarten wird jemand, der beim Doping erwischt wurde, ausgeschlossen und kehrt meistens auch nicht mehr auf die Bildfläche zurück, aber im Radsport war das Doping zu weit verbreitet und zu tief verwurzelt. Lance Armstrongs früherer Trainer Chris Carmichael zum Beispiel hatte sich zwar vermutlich auf der falschen Seite der Regeln bewegt, als er sich einen Namen als erfolgreicher Radsport-Coach machte, aber er nutzte den Boom, um sein Unternehmen für Trainingsberatung aufzubauen, das bis zum heutigen Tag besteht. Die meisten der Sportlichen Leiter und Manager der Teams, die sich über Wasser halten konnten, waren frühere Doper, und die Rennen wurden von Fahrern gewonnen, die entweder bereits Sperren verbüßt hatten oder einfach nicht erwischt worden waren. Im Peloton wimmelte es von markanten Kinn- und Stirnpartien – eine typische Nebenwirkung von Wachstumshormonen – und fast ein Drittel der Fahrer in der WorldTour besaßen Rezepte für Asthmasprays, ein halblegales leistungsförderndes Mittel. Ich bewunderte Alberto Contador für seine Zähigkeit und seine Fahrweise, aber wenn ich ihn auf alten Aufnahmen sah, wie er Lance am Berg attackierte, kam ich ins Grübeln. Er hat damals bestimmt betrogen, tut er es vielleicht immer noch? Gewinnt er nur aufgrund der Mittel, die er früher genommen hat? Dann wurde Contador positiv auf Clenbuterol getestet und machte ein verunreinigtes Steak dafür verantwortlich. Sein Teammanager war Bjarne Riis, bekannt als »Mr. 58 Prozent«, eine Anspielung auf die atemberaubenden Hämatokritwerte, die er dank EPO in seiner Zeit als aktiver Fahrer erreichte.*

Eines der WorldTour-Teams firmierte unter dem Namen »Katusha«, der russischen Bezeichnung für einen Mehrfach-Raketenwerfer, der auch als »Stalinorgel« bekannt war. Das Marketing war sehr effektiv. Als mein Raketenwerfer kaputtging, habe ich mir sofort einen neuen Katusha gekauft.

Ein anderes großes Team gehörte dem Kasachen Alexander Winokurow, der beim olympischen Straßenrennen 2012 augenscheinlich einen kolumbianischen Fahrer bestochen hatte, ihm den Sieg zu überlassen. Beide streiten dies ab, aber die Spiele sollten eigentlich heilig sein, und es erschien mir einfach falsch, dass »Wino« nun Teamchef der von der kasachischen Regierung finanzierten Astana-Mannschaft wurde.

In der Dopokalypse wurde immer dann, wenn ich dachte, der Sport wäre gesäubert worden, ein weiterer Radrennfahrer, gegen den ich gefahren war oder zu dem ich aufgeschaut hatte, positiv getestet. Bei Neoprofis konnte man vielleicht davon ausgehen, dass sie noch nicht mit Dopingmitteln behelligt wurden, trotzdem war schwer zu sagen, wem man zujubeln durfte und wem nicht. Die Zuschauer begegneten längst jeder Leistung mit Skepsis und sprachen ähnlich über EPO, wie Basketballfans darüber diskutieren mochten, ob Michael Jordan in seiner besten Zeit besser war als LeBron James – endlose Mutmaßungen wurden darüber angestellt, wer etwas nahm, wer nicht und wer vielleicht inzwischen damit aufgehört, früher aber definitiv zugegriffen hatte. Die Leute vertrauten höchstens Fahrern mit »Clean«-Tattoos, aber wir gewannen nicht besonders oft.

Der US-Radsport war durchsetzt mit früheren Dopern wie Jonathan Vaughters (dessen sauberes Karomuster-Team inzwischen Garmin-Sharp hieß, nachdem man sich einen neuen Sponsor gesichert hatte), George Hincapie, der bei der schweizerischen Mannschaft BMC angeblich ein Jahressalär von einer Million Dollar einstrich, und Levi Leipheimer, der einer der Kapitäne beim Team Rabobank gewesen war (einem der schmutzigsten Rennställe aus jener Zeit) und bei Quick-Step unter Vertrag stand, als er über seine Vergangenheit auspackte. Die Verantwortlichen von Quick-Step müssen über seine Geschichte im Bilde gewesen sein, aber als er an die Öffentlichkeit ging, gaben sie sich bestürzt und feuerten ihn – die Strafe dafür, dass er das Gesetz des Schweigens gebrochen hatte. Auf diese Weise in den Ruhestand zwangsversetzt, veranstaltet Levi inzwischen einen jährlichen »Gran Fondo« im kalifornischen Santa Rosa, wo einige tausend Hobbyradsportler eine Startgebühr entrichten, um auf den Trainingsstrecken eines früheren Dopers fahren zu dürfen. Ist das verkehrt? Hat er seine Strafe verbüßt? Keine Ahnung. Wenn man sich mit ihm unterhält, macht er einen netten Eindruck.

Dann war da noch Tom Danielson. Am Berg einer der besten Fahrer der Welt, hatte er bei Vaughters unterschrieben, irgendwann reinen Tisch gemacht und saß nun eine verminderte Sperre ab, nachdem er als Kronzeuge gegen Lance ausgesagt hatte. Continental-Fahrer hassten Doper, und aus irgendeinem Grund war Danielson derjenige aus dieser Generation, den sie am meisten verachteten – die eine Hälfte konnte den Kerl nicht ausstehen, die andere wollte ihm eine reinhauen. Weil ich es nicht besser wusste, hatte ich ihm zugejubelt, als die Tour of Georgia 2005 durch Tucker kam, aber ich war wütend, als er sieben Jahre später bei einem Benefizrennen auftauchte, bei dem ich auch dabei war. Nachdem sich die Startflagge senkte, setzte ich also alles daran, den Doper in Grund und Boden zu fahren. Der Schuss ging nach hinten los, als Danielson mich ansprach und mir sagte, wie beeindruckt er doch von mir sei: Ich sei ein großes Talent und er könne mir helfen, es in die WorldTour zu schaffen, wenn ich den Winter über mit ihm zusammen in Tucson in Arizona trainieren würde. Ich konnte diesen Drecksack von Betrüger nicht leiden, aber ich fühlte mich geschmeichelt. Schon die alten Herren hatten bei den gemeinsamen Trainingsausfahrten ja davon gesprochen, dass ich es nach Europa schaffen könnte, aber Danielson war der Erste, von dem ich es hörte, der auch Ahnung davon hatte.

Mein Coach zu dieser Zeit war Matt Koschara. Er hatte eine lange, saubere Karriere als Profi gehabt, sich zehn Jahre lang gegen Doper abgestrampelt und war kaum über die Runden gekommen. Im Nachhinein sah er die Sache so, dass er Opfer gebracht hatte, die er nicht hätte bringen sollen. Koschara war für mich ebenso sehr Ratgeber wie Trainer.

»So wie es im Moment um den Radsport bestellt ist, kannst du es gleich sein lassen, wenn du nicht in der Lage bist, mit Dopern auszukommen«, sagte er. »Kein WorldTour-Team wird einen Typen mit Clean-Tattoo anheuern, wenn sie befürchten müssen, dass er ihre Manager und die Hälfte der Fahrer hasst.«

Er meinte, ich könnte ja vielleicht eine Art Bindeglied zwischen der sauberen neuen und der schmutzigen alten Generation sein – der erste Radprofi, der sich offen gegen Doping ausspricht, aber trotzdem in die alte Garde integriert ist. Davon abgesehen konnte ich, wenn ich mir die Tour vor Augen führte, die ich mit Danielson in Florida absolviert hatte, den potenziellen Trainingsnutzen nicht abstreiten – immerhin hatten wir 160 Kilometer in deutlich unter vier Stunden abgerissen.

»Es gibt keine bessere Trainingseinheit, als sich mal so richtig schön die Fresse polieren zu lassen«, schloss Koschara. Der Typ ist ebenfalls Autor. Kann echt mit Worten umgehen. Und wie es der Zufall wollte, war ein Freund und früherer Teamsponsor von mir gerade dabei, sein Haus in Tucson zu verkaufen, und meinte, ich könnte dort unterkommen, solange ich die Bude für die Makler sauber hielt. Also packte ich mein Auto voll und fuhr nach Arizona.

Ich war davon ausgegangen, Danielson nicht leiden zu können, aber ich war überrascht, wie aufbauend und positiv (kein Wortspiel beabsichtigt) er war. Er stellte unentwegt Fragen und brachte mir einiges über das Training bei. Lance hatte immer alles dafür getan, um zu gewinnen, einschließlich Doping im großen Stil, aber auch in punkto Coaching, Ernährung, Doping, Ausrüstung und Doping war für ihn stets nur das Beste gut genug. Danielson hatte eine Menge von ihm gelernt und war erpicht darauf, die erlaubten Aspekte an mich weiterzugeben, zum Beispiel wie man mit einem Powermeter trainiert, einem modernen Gerät, das laufend aufzeichnet, wie viel Watt man tritt. Toms Botschaft lautete: »Wir haben es früher anders gemacht, aber so ist es besser.«

Wir begannen den Tag, indem wir locker mit 200 Watt zum Fuß des Mount Lemmon gondelten, was sozusagen unser Weg zur Arbeit war, denn erst dort fing das eigentliche Training in unserem sechstägigen Trainingszyklus an:

Tag 1: drei Intervalle à 20 Minuten bei 400 Watt, gefolgt von einer Ausdauer-Einheit, insgesamt vier Stunden

Tag 2: drei Intervalle à 40 Minuten bei 370 Watt, danach wieder Ausdauer, insgesamt fünf Stunden

Tag 3: sechs Stunden, durchgängig bei Ausdauer-Pace, ohne Frühstück und ohne Kohlenhydrate, um »den Fettstoffwechsel anzukurbeln«, was auch immer das hieß

Tag 4: wie Tag 1, plus 5 Watt

Tag 5: wie Tag 2, plus 5 Watt

Tag 6: auf keinen Fall das Sofa verlassen, wozu ich ohnehin nicht imstande war

Schon komisch, wie einfach es auf dem Papier klingt, sich an die Zahlen zu halten, und wie unglaublich schwer es in der Praxis war, es tatsächlich zu tun. Danielson beendete jede Einheit hustend und spuckend über dem Lenker zusammengesackt. Ich glaubte, auch vorher schon hart trainiert zu haben, aber ich hatte nicht einmal gewusst, was Training bedeutet, bis ich mich an seinem Hinterrad abstrampelte und von WorldTour-Schweiß besprenkelt wurde. Ich schlief jede Nacht zehn Stunden und war abends kaum in der Lage, die Treppe zum Schlafzimmer hochzukommen. Und ich aß während dieser Tage Unmengen an Haferbrei. Sie ahnen ja nicht, wie viel Haferbrei ich aß.

Weit davon entfernt, der hinterlistige Doper zu sein, den ich erwartet hatte, erwies sich Danielson als großzügig und liebenswürdig. Gegen Ende einer unserer gemeinsamen Trainingseinheiten hatte ich kaum eine Meile von meiner Unterkunft entfernt einen Platten. Ich sagte ihm, er solle ruhig vorfahren, aber er wartete, während ich den Schlauch wechselte. Als er erwähnte, dass ihm die Wohnung, die er in Tucson gemietet hatte, inzwischen ziemlich auf den Senkel ging, meinte ich: »Weißt du was, Alter? Du solltest dir mal das Haus von meinem Kumpel Billy ansehen.«

Verhandlungsbasis waren 520.000 Dollar und Danielson schlug sofort zu. Als er das erste Mal dopte, hatte er vermutlich gar nicht im Sinn, zu betrügen und saubere Fahrer zu bescheißen. Wahrscheinlich war er mit seinen Teamkollegen zusammen und einer meinte: »Weißt du was, Alter? Du solltest dir mal EPO spritzen.«

Als ich ihn schließlich auf das Thema Doping ansprach, meinte Danielson, dass es ihm nicht falsch vorgekommen wäre, da alle anderen es auch taten. So ähnlich wie auf der Autobahn, wo sich ja auch keiner ans Tempolimit halten würde. Ich wusste, dass er Fehler gemacht hatte, aber er schien ein Kerl zu sein, der sich bemühte, es nun besser zu machen als in der Vergangenheit, und mir zu helfen, war seine Weise, Wiedergutmachung zu leisten. Falls Sie mal vorhaben, jemanden zu hassen, sollten Sie eins unbedingt vermeiden: Lernen Sie ihn nicht näher kennen.

Amerikaner erinnern sich, wo sie waren, als sie von der Ermordung Kennedys oder den Anschlägen vom 11. September erfuhren, und genauso ist es mit Radfahrern, wenn es um Lance Armstrongs Geständnis bei Oprah Winfrey geht. Ich saß mit meinem früheren Teamkollegen Isaac Howe in dem Haus in Tucson und wir versanken samt unserer »Clean«-Tattoos fassungslos im Sofa.

Kaum besser fühlte ich mich, als ich am nächsten Tag am Ende von Danielsons Intervallen nicht mehr mithalten konnte.

»Du kletterst wie ein Tier«, meinte ich zu ihm, als wir oben auf dem Mount Lemmon angekommen waren und ich mit dem Mund voll Energieriegel am Aussichtspunkt Windy Point auf der Leitplanke saß.

»Ja, wie ein Elefant«, lachte er. »Du kommst mir jedes Mal ein Stückchen näher. Du packst das schon.«

Er hatte recht. Nach ein paar Wochen konnte ich mit ihm mithalten und einmal hängte ich ihn sogar ab. Ein Mal.

* Nike hatte einen Haufen Geld in Lance gesteckt und hat seither einen Bogen um den Radsport gemacht.

* Der Hämatokrit bemisst den Sauerstoffgehalt des Bluts – ein wichtiger Faktor bei Etappenrennen. Alles über 50 Prozent wird als fragwürdig eingestuft. Selbst unter Nicht-Dopern weiß jeder Radsportler, der etwas auf sich hält, die Ergebnisse von Bluttests zu deuten.

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