Читать книгу Möglichkeiten, Zeit zu verbringen - Philine Speicher - Страница 8

Eine wahrscheinliche Möglichkeit, wie es weiterging

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Nach dieser einen Nacht war seine Frau komplett unnahbar für ihn. Er fühlte es noch bevor er ganz aufgewacht war. Irgendetwas war anders im Haus. Es fröstelte ihn und er spürte die Leere des Hauses. An diesem Tag trank er nicht und es war schon lange dunkel, als seine Frau nach Hause kam.

Sie hatte sich die Knie auf den Holzbänken wund gekniet und war sie am Morgen, als sie das Haus verließ, noch für jeden sichtbar, durch den Wind gewesen, hatte sich ihr durcheinander sein über den Tag gelegt und ihre Meinung verfestigt. Als sie nach Hause kam, war sie ganz ruhig. Sie räumte ihre Bettdecken aus dem Schlafzimmer ins Gästezimmer und hinter sich schloss sie die Tür zu. Sie würde so etwas nie wieder geschehen lassen. Da konnte der Pfaffe ihr noch so oft sagen, dass Gott dies wolle, dass die Ehe der Vermehrung dienen solle – nicht mit ihr! Sie fühlte, dass es falsch war. Und sie fühlte, dass sie es zugelassen hatte, dass sie es fast sogar gewollt hatte. Nach allem, was sie von Kind auf gelernt hatte, was sie gelesen hatte und was man ihr gesagt hatte, konnte das nicht in Ordnung sein. Sie entschied sich, dass es besser war, zu sterben. Selbstmord war allerdings nach der kirchlichen Lehre Sünde, weshalb sie warten musste, bis sie quasi von alleine starb. Dies war ihr fester Plan, als sie ihre Bettdecken ins Gästezimmer trug. Dort setzte sie sich hin und wartete.

Ihr Mann saß im Wohnzimmer und wartete. Keiner machte ein Geräusch und so verging Zeit.

Er ahnte bereits, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor. Nicht mal fernsehen machte ihm Spaß.

Das Gästezimmer war holzvertäfelt, hatte ein einziges Fenster über dem Bett und am Fußende des Bettes hing ein Kreuz. Das Kreuz starrte sie die meiste Zeit an. Irgendwann fielen ihr die Augen zu. Am nächsten Morgen ging sie sofort in die Kirche und kniete. Im Haushalt hatte sie heute nichts getan und würde sie auch nichts mehr tun. Sie aß auch kaum etwas.

Als er mittags aufstand, vermisste er den Kaffee, die Milch, den Zucker. Er machte sich selbst Frühstück. Er trank nichts. Nach ein paar Tagen fiel ihm auf, dass sie nichts mehr im Haushalt tat. Er wusch die Wäsche und putzte die Küche. Schließlich machte er den ganzen Tag den Haushalt. Es fühlte sich komisch an, nicht zu trinken. Eines Tages ging er mittags in die Stadt, aber statt in die Kneipe zu gehen, wie er es gewohnt war, ging er in die Kirche. Er wusste nicht, wieso. Seine Schritte führten ihn die Stufen hinauf, durch die schwere Holztür hindurch in das riesige Kirchenschiff. Vor der Ehe hatte er dies versprochen. Er saß im Bauch der Kirche und sah seine Frau auf der Bank neben dem Beichtstuhl knien. Sie sah schlecht aus. Von ihrer jugendlichen Üppigkeit war im Grunde nichts geblieben, obwohl sie dem Alter nach noch mehr als Jugendlich war. Ihr Rock war ihr zu groß und die Bluse ungewaschen und zerknittert. Er musste bügeln lernen. Seine Frau bemerkte ihn nicht, so sehr war sie in ihr Gebet und das Warten auf den Tod vertieft. Aber er bemerkte, dass sie schwanger war. Im ersten Moment durchzuckte ihn Freude, aber gleich darauf kam die Sorge. So abgemagert wie seine Frau war und so sehr wie seine Frau sich aufgegeben hatte, würde sie das Kind nicht überleben. Und damit hatte er Recht.

Von diesem Tag an stand er früher am Morgen als seine Frau auf, putzte die Küche, legte ihr frische Wäsche hin, stellte Frühstück auf den Tisch und flehte seine Frau an, nicht so stur zu sein und ihre Meinung zu ändern. Er trank keinen Alkohol mehr in dieser Zeit und ging an mehreren Tagen in der Woche ebenfalls in die Kirche, um sie davon zu überzeugen, dass er sich verändert hatte, dass er nun wusste, was wichtig war und dass er sie nie wieder in seinem Leben anrühren würde. Die anderen Tage in der Woche erledigte er Sachen für den Haushalt, sprach mit Ärzten und versuchte, sich nicht seiner Verzweiflung hinzugeben.

Sie aber bemerkte meist noch nicht mal, dass er da war. Sie hatte gelernt, langsamer zu atmen, sich langsam zu bewegen und alles in ihr wartete ruhig darauf, dass es zu Ende ging. Und sie spürte, dass es zu Ende ging. Trotz der Schwangerschaft wurde ihr Körper leichter, sie hörte auf, so viel wie früher zu denken und morgens fiel es ihr immer schwerer, aus dem Bett zu kommen. Sie hatte ihre frühere Disziplin verloren und ihr Blick war nicht mehr die ganze Zeit auf das Kreuz über ihrem Bett gerichtet. Der Himmel war blau und im Himmel zogen Wolken.

Das Kind kam im Spätsommer und es kam zu früh. Sie war schon einige Wochen nicht mehr in die Kirche gegangen und hatte nur noch in ihrem Bett gelegen und langsam die Luft geatmet, die durch das geöffnete Fenster ins Zimmer strömte. Er hatte neben ihrem Bett gesessen und versucht, sie zum Essen zu überreden. Als die ersten Wehen losgingen, verkrampfte sich ihr abgemagerter Körper und sie fixierte zum ersten Mal seit Tagen sein Gesicht und danach das Kreuz.

Er holte den Arzt und mit der Geburt verstarb sie. Sie hatte zu Ende gebracht, was sie begonnen hatte. Ihre Haut spannte über ihrem knochigen Gesicht und die Lippen waren spröde und aufgesprungen. Der Arzt stellte den Totenschein aus und der Sohn in seinem Arm schrie. Er war zu klein und würde sich nur schlecht entwickeln, besonders wenig im Kopf.

Nach der Beerdigung seiner Frau kehrte er wieder zu einem Teil seiner Gewohnheiten zurück. Er trank wieder sehr viel und der Sohn wurde in verschiedenen Heimen und später Besserungsanstalten größer, wenn auch nie groß. Als sein Vater an seiner Sucht verstarb, erbte er sehr viel Geld.


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