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Cap. III

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Donnerstag, 27. April 926

»Legt euch in die Riemen! Wir steuern direkt drauf zu«, ruft uns Milo zu. Wir nähern uns den zahlreichen Booten, die zuvor das vom Rauch eingehüllte Wazzarburg verlassen hatten. Selbst wenn oder gerade weil diese äbtische Bastion am Bodamansee gefallen war, müssen wir von den Leuten des Abtes mehr erfahren. Offenbar waren vor dem Eintreffen der Ungrer sämtliche Boote der Umgebung zusammengezogen worden, denn vor uns lag mittlerweile eine regelrechte Flottille. Als wir uns einem der größeren Boote nähern, hebt Milo mit gestrecktem Arm die Hand zum Gruß: »Wir kommen als Freunde! Benötigt Ihr Hilfe?« Was für eine schöne Art und Weise, zu verbergen, dass man eigentlich selbst der Hilfe bedarf.

»Wer seid Ihr?« Ein großgewachsener älterer Mann in Mönchskutte steht am Bug des angesteuerten Bootes und beschwichtigt mit einer kurzen Handbewegung seine mit Bogen bewaffneten Begleiter.

Milo senkt unmerklich den Kopf zum Gruß: »Ich bin Milo, Abgesandter des Tribuns von Arbona und überbringe Euch die Grüße meines Herrn.« Wir hören auf zu rudern, holen das Segel ein und treiben langsam auf das Boot des Mönchs zu. »Wie haben sie Eure Mauern überwunden? Habt Ihr viele Opfer zu beklagen?«

Grinsend mustert uns der Mönch reihum: »Bislang hat keiner dieser Teufel unsere Insel lebend erreicht. Und es sind auch noch keine Opfer zu beklagen.« Anna schaut finster in die Richtung des Mönchs, Milo mahnt sie mit einem scharfen Blick, nun bloß keine Geschichten aufzurollen.

»Aber Wazzarburg steht in Flammen!«, spricht Milo das Offensichtliche aus.

Den Mönch scheint dies nicht zu kümmern: »Das soll es auch.«

»Wie bitte?«

»Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis der Feind eine Möglichkeit gefunden hätte, uns trotz des kleinen Streifens Sees zwischen ihm und der Insel des heiligen Georg zu erreichen. Unser Herr Abt hat uns die Alten, Kranken und Jungen geschickt, um sie in Sicherheit zu wissen. All jene, die außerstande wären, zu kämpfen. Unsere einzige Aufgabe ist es, am Leben zu bleiben, bis alles vorbei ist. Den Brand haben wir gelegt, um den Anschein zu erwecken, dass alles, was an Wert zu holen wäre, bereits verbrannt ist. Außerdem ist diese Rauchsäule überall an den Ufern des Bodamansees zu sehen. Damit sind alle gewarnt. Sobald sie weitergezogen sind, kehren wir zurück.«

»Das ist Wahnsinn«, setzt Milo zu einer Entgegnung an, wird aber vom Mönch mit strengem Blick zum Schweigen gebracht.

»Weder brauchen wir Eure Hilfe noch können wir Euch welche beikommen lassen. Unsere Vorräte reichen gerade mal für uns.« Wie erwartet, hat er Milos Heuchelei von Beginn an durchschaut.

Wir lassen die Flottille an Flüchtlingsbooten hinter uns und bewegen uns das nördliche Ufer entlang. »Vielleicht finden wir woanders Hilfe«, erklärt sich Milo.

»Wenn die Ungrer bereits in Arbona sind, zeigt das, dass sie bereits den Rîn überschritten haben. Bestimmt sind sie schon bis nach Constantia vorgedrungen. Wir sollten umdrehen.« Milo lauscht meinem Vorschlag, geht jedoch nicht darauf ein.

»Ich gebe dem Jungen recht«, hören wir plötzlich Sindolts Stimme. »Das Ufer des Bodamansees ist verloren, und die Bewohner der Inseln sind zu sehr auf ihre Vorräte angewiesen. Viel Erfolg versprechender wäre es, weiter im Landesinneren nach Hilfe zu suchen.«

»Sprich!«, ermutigt ihn Milo nun etwas aufmerksamer.

»Nun, hat der Mönch nicht davon gesprochen, dass lediglich die nicht Kampffähigen evakuiert wurden? Das würde bedeuten, dass der Abt des heiligen Gallus trotz Burchards Feldzug über einige Kämpfer verfügt. Vielleicht sollten wir ihn besser direkt um Hilfe bitten, als bei seinen Untergebenen zu hausieren.« Sindolts Vorschlag scheint Gehör gefunden zu haben, sodass Milo das Ruder herumreißt und Kurs auf Arbona nimmt.

»Euch ist schon klar«, kommt es nun gehässig von Strello, »dass wir eine erneute Erkundungsfahrt vergessen können, wenn wir bei Tag in Arbona anlegen und den Ungrern somit unser Boot zeigen?« Milo entschließt sich, etwas westlich von Arbona auf die Nacht zu warten.

Auch wenn ich Strello ebenfalls recht geben muss, fühle ich bei der ganzen Sache ein unerklärliches Unbehagen. Strello verbessert diesen Umstand zudem nicht gerade. Seit er durch Milo bestätigt wurde, hört er nicht mehr auf zu reden. Ich wünsche mir unsere ruhige morgendliche Überfahrt zurück. Bestärkt durch unser Schweigen werden seine Kommentare immer gehässiger, und schließlich erklärt er, wie froh er sei, dass wir nicht auch noch auf die Idee gekommen seien, die Flüchtlinge aus Wazzarburg nach Arbona einzuladen: »Wir haben schon genügend Fremdlinge aufgenommen, die uns das letzte Brot wegessen, als dass wir noch weitere Schmarotzer bräuchten.« Ohne Umschweife blickt er dabei Anna direkt ins Gesicht.

»Nun ist es aber genug«, bringt ihn Milo endlich zum Schweigen. »Du darfst gerne zurück nach Arbona schwimmen.« Die weitere Zeit verbringen wir schweigend. Am späteren Nachmittag legen wir westlich von Arbona an. »Nehmt nur das Nötigste vom Boot, wir werden weiterfahren, sobald die Nacht hereinbricht«, gibt Milo eine kurze Anweisung.

»Hast du gehört? Nur das Nötigste!«, blafft Strello Anna an, die sich beim Aussteigen eine wärmende Decke geschnappt hat.

»Noch ein Wort, Strello, und ich schicke dich hier und jetzt ohne jegliche Ausrüstung auf den Weg zum Kloster des heiligen Gallus«, knurrt Milo. Das wäre nicht einmal die dümmste Idee. Bestimmt wäre es von hier aus einfacher, unbemerkt durch die feindlichen Linien zu kommen, als vom belagerten Arbona aus. Mit meinem Sax bewaffnet und einem Stück Brot in der Hand setze ich mich in Annas Nähe. Ich habe das Gefühl, sie beschützen zu müssen, selbst wenn es gegen meine eigenen Leute ist. Unsere drei Gefährten stehen währenddessen direkt am Ufer, und ich vernehme den unzufriedenen Tonfall Strellos, Milos Ärger darüber und einen schlichtenden Sindolt dazwischen. Sollte ich mich ebenfalls einmischen und die drei daran erinnern, wie wichtig im jetzigen Moment absolute Ruhe ist? Ich setze mich näher zu Anna und möchte gerade einen Spruch loswerden, um die Situation etwas aufzulockern.

Doch Anna stößt mich mit voller Kraft zur Seite und schreit: »Achtung!« Ich stürze zu Boden und höre knapp hinter mir das dumpfe Geräusch von Metall auf Holz. Wir waren mitten in eine Gruppe ungrischer Späher geraten. In letzter Sekunde hatte mich Anna zur Seite gestoßen und dabei geistesgegenwärtig meinen blanken Sax an sich gerissen. Dadurch hatte der Angreifer ins Leere geschlagen, während Anna blitzschnell reagiert und ihm meinen Sax zwischen die Rippen gestoßen hat. Der Todesschrei des fremdartigen Kriegers vermag allerdings kaum das Schreien zu überdecken, welches fast gleichzeitig vom Ufer ertönt. Ich sehe, wie Sindolt den schwer verletzten Milo über einen gefallenen Ungrer ins Boot hievt, während Strello einem weiteren Feind den Gnadenstoß versetzt.

»Schnell zum Boot!«, rufe ich Anna zu, die den Sax inzwischen wieder frei bekommen hat. Doch stürmt bereits ein weiterer dieser Teufel auf uns zu. Ich kriege gerade noch einen dicken Ast zu greifen, um ihn auf Distanz zu halten. Anna steht dicht an meiner Seite und hält ihm herausfordernd die vom Blut seines Kameraden tropfende Schwertklinge entgegen. Von rasender Wut ergriffen, wagt er einen Schritt nach vorn, doch zertrennt im selben Augenblick die Klinge einer Axt Muskeln und Sehnen seiner Schulter und zertrümmert den Knochen des Schlüsselbeins. Hinter dem zusammensackenden Krieger erscheint Sindolts triumphierendes Gesicht, das sich jedoch fast im gleichen Moment zu einer schmerzerfüllten Fratze verzerrt. Von einem Pfeil getroffen sinkt er zu Boden. Während Anna dem Ungrer den Gnadenstoß versetzt, werfe ich einen Blick ins umliegende Dickicht und sehe den Schützen im Wald verschwinden. »Bestimmt warnt er seine Leute. Wir müssen hier weg!« Ich packe Anna am Arm und möchte zum Boot eilen, doch liegt dieses längst nicht mehr am Ufer. Um seine eigene Haut zu retten, hat sich Strello vom Ufer abgestoßen und ist für uns bereits unerreichbar.

Auf unsere Rufe reagiert er lediglich mit einem selbstzufriedenen Winken und dem Satz: »Das Boot war ohnehin zu voll«.

»Dieser Bastard!«

»Hoffentlich hat es immerhin Milo geschafft«, flüstert mir Anna zu, wischt die Klinge an der Kleidung ihres letzten Opfers ab und beobachtet, wie der Verräter in den See hinaus rudert. Sie reicht mir den Sax und packt die wenigen zurückgelassenen Sachen zusammen.

Wir durchstreifen den Wald im Hinterland von Arbona, kommen in der zunehmenden Dunkelheit aber nur sehr schwer voran. Schließlich geben wir auf und machen es uns in besonders dichtem Buschwerk für die Nacht bequem. Im morgendlichen Licht werden wir hoffentlich besser vorankommen. Und vielleicht suchen sie dann nicht mehr nach uns. »Wie kommen wir morgen bloß nach Arbona?«, überlege ich laut.

»Nach all dem möchtest du wirklich dahin zurück?« Ich denke über Annas Frage nach und vermag, keine Antwort zu finden. »Besser, wir schlagen uns allein durch und suchen die Krieger des heiligen Gallus.«

Darauf entgegne ich: »Aber im Wald wird es doch ebenso von Spähern wimmeln.«

»Dann müssen wir eben auf der Hut sein. Außerdem konnten wir uns vorhin doch ganz gut gegenseitig beschützen.«

Damit habe ich meine Antwort. »Einverstanden.« Ich würde nicht von ihrer Seite weichen. Zusammen sehen unsere Überlebenschancen gar nicht so schlecht aus.

Wir sitzen nah beieinander. Anna hat die Decke vom Boot über uns geworfen, und so warten wir auf die vollkommene Dunkelheit. Damit erübrigt sich auch das abwechselnde Wache halten. Wer würde uns im dunklen Wald schon finden? »Ich bin dir noch immer eine Antwort schuldig«, spricht Anna leise.

»Eine Antwort worauf?«, frage ich ehrlich verwundert.

Anna fährt fort: »Ich war, soweit ich mich erinnern kann, nie in Arbona, aber ich scheine dir vertrauen zu können, als wären wir uns schon einmal begegnet. In deiner Nähe fühle ich mich sicher.«

»Mir geht es genauso«, stimme ich ihr zu, »und dies nicht nur, weil du mich heute vor dem sicheren Tod bewahrt hast. Ich schulde dir etwas.«

»Woher kommst du? Und sag jetzt bloß nicht Arbona. Ich weiß selbst, wo ich dich gefunden habe«, setzt Anna belustigt nach und ignoriert damit besonders meinen letzten Satz ganz geschickt.

»Du wirst es mir nicht glauben, aber ich weiß es nicht. Ich kann dir weder sagen, woher ich komme, noch wer meine Eltern sind«, versuche ich meine wirren Gedanken zu ordnen. »Ich kann mich bloß an Arbona erinnern. Man nannte mich aber auch einmal ›Marcus aus dem Albgau‹. Damit konnte ich noch weniger anfangen.« Wir schweigen uns an. Nun hält sie mich wohl endgültig für verrückt.

Doch dann beginnt Anna zu erzählen: »Es ist wohl einfach zu viel passiert in den letzten Tagen. Meine Erinnerungen sind wie von einem dunklen Schatten überzogen.«

»Und deine Geschichte als Magd des Wolfbert?«, frage ich vorsichtig.

Anna möchte antworten, hält dann kurz inne und versucht es erneut: »Nicht alles war erfunden.« Dachte ich es mir doch. »Tatsächlich verbrachte ich einige Zeit am Hof des Wolfbert, doch ist alles, was vorher passierte, nicht von Belang.« Ich beobachte sie stirnrunzelnd. Schließlich ringt sie sich zu einer Erklärung durch: »Meine Eltern habe ich nie kennengelernt. Stattdessen wuchs ich am Hof eines Bauern des Wolfbert auf.« Anna hält kurz inne. Ihr tiefes Schlucken und die bebenden Lippen lassen nichts Gutes erahnen. »Der Kampf um die Herzogsherrschaft über die Alemannia hat viel Tod und Verderben über uns gebracht.« Ich blicke schweigend auf meine Füße. »Wenn wir morgen überhaupt eine Chance auf Rettung durch das Galluskloster erhoffen möchten, sollten wir jetzt schlafen«, beendet Anna unser Gespräch. Sie dreht sich leicht mit dem Rücken zu mir, sodass ich nicht anders kann, als meinen Arm um sie zu legen. Für einen kurzen Augenblick vergesse ich die Gefahr und bin einfach nur froh, dass das Schicksal uns zusammengeführt hat. Gemeinsam schlafen wir ein.

Flucht durch Schwaben

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