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4. Walther Rathenau

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Am Morgen des 24. Juni 1922 machte sich Außenminister Walther Rathenau von seiner Villa in Berlin-Grunewald auf den Weg zur Arbeit, wie er es gewöhnlich tat, wenn er sich in der Hauptstadt aufhielt. Weil das Wetter schön war, wies er seinen Chauffeur an, die schwarze Limousine mit offenem Verdeck zu nehmen. Der Minister saß allein im Fond.

Er hatte keinerlei Sicherheitsvorkehrungen getroffen, fuhr jeden Tag dieselbe Strecke und hatte den Polizeischutz abgelehnt, der ihm angeboten worden war. Als sein Wagen abbremste, um kurz vor der Einmündung in die Hauptstraße eine Kurve zu nehmen, kam ein anderes, größeres Fahrzeug, auch ein Cabriolet, aus einer Seitenstraße und überholte ihn. Im Fond saßen zwei Männer, die etwas merkwürdig gekleidet waren. Sie trugen lange Ledermäntel und Lederhelme, die nur ihre Gesichter ungeschützt ließen.

Auf gleicher Höhe angekommen, drosselte das überholende Fahrzeug die Geschwindigkeit und drängte Rathenaus Wagen quer über die Straße. Als der Minister beunruhigt aufblickte, beugte einer der Insassen des anderen Wagens sich vor, hob eine langläufige Maschinenpistole auf, klemmte sie sich in die Achselhöhle und eröffnete das Feuer. Eine schnelle Serie von Schüssen gellte. Rathenaus Chauffeur brachte den Wagen zum Stehen und rief um Hilfe. Im selben Moment detonierte eine Handgranate, die der andere in Leder gekleidete Attentäter in den Fond der sich nun aufbäumenden Limousine geworfen hatte. Der Chauffeur konnte den Wagen wieder starten, doch für den sterbenden Außenminister kam jede Hilfe zu spät. Auch eine hinzueilende Krankenschwester vermochte nichts auszurichten.

Die Attentäter, Erwin Kern, Hermann Fischer und ihr Fahrer, hielten anschließend in einer Seitenstraße, zogen ihr Lederzeug aus, beseitigten die Maschinenpistole und schlenderten in aller Ruhe davon, während Polizeiwagen auf dem Weg zum Schauplatz des Verbrechens an ihnen vorbeirasten. Kurz darauf startete die Polizei die größte Menschenjagd, die Deutschland je erlebt hatte. „Gesucht“-Plakate tauchten im ganzen Land auf, und sämtliche Polizeikräfte wurden mit Augenzeugen-Beschreibungen der Männer versehen. Zwei der Attentäter versteckten sich auf Burg Saaleck in Sachsen-Anhalt, wo ein Aufseher mit ihnen sympathisierte, aber die Polizei spürte sie auf, und bei einer Schießerei wurde Kern getötet, während Fischer Selbstmord beging. Sie waren beide Mitte 20, der Fahrer, Ernst Techow, war erst 21. Ihn zeigten seine Eltern an; vor Gericht behauptete er, unter Zwang gehandelt zu haben, und erhielt eine relativ milde Gefängnisstrafe. Rathenaus Mutter hatte Techow in der Zwischenzeit in einem emotionalen Brief an seine Mutter vergeben, was starke Schuldgefühle in dem jungen Mann auslöste. Bei seiner Entlassung im Jahr 1927 schloss er sich der französischen Fremdenlegion an, und während des Zweiten Weltkriegs sühnte er sein Verbrechen angeblich, indem er Juden in Marseille vor der Deportation nach Auschwitz rettete.

Die polizeilichen Ermittlungen ergaben bald, dass die Attentäter zu einer sehr viel umfassenderen Verschwörung aus zum Teil noch jüngeren Männern gehörten. Einige darunter waren erst 16 Jahre alt, und alle stammten sie aus gutem Hause. Unter den Verschwörern waren die Söhne eines Generals, eines höheren Polizeibeamten und eines verstorbenen Mitglieds des Berliner Stadtrats. Alle gehörten sie extrem rechten nationalistischen Organisationen an, und mehrere hatten in der berüchtigten, 6000 Mann starken Freikorps-Brigade gedient, die von dem ehemaligen Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt geführt wurde und sowohl an der blutigen Niederschlagung der Münchner Räterepublik 1919 als auch im Jahr darauf am rechten Kapp-Putsch beteiligt gewesen war, bei dem in einem stümperhaften Versuch, die Republik zu stürzen, kurzzeitig Berlin besetzt worden war.

Im Anschluss an die Zwangsauflösung der „Brigade Ehrhardt“ waren mehrere ihrer Mitglieder in den Untergrund gegangen, hatten dort eine geheime Widerstandsgruppe namens „Organisation Consul“ gegründet und eine Reihe Morde verübt, darunter den an Matthias Erzberger, einem prominenten Unterzeichner des Versailler Vertrages. Einer der Männer, die mit der logistischen Unterstützung des Rathenau-Attentats zu tun gehabt hatten, der 19-jährige Bankangestellte Ernst von Salomon, schrieb nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis im Jahr 1927 einen Erfolgsroman, der die Freikorps und die Organisation Consul rechtfertigte. Unter dem Titel Die Geächteten lieferte das Buch eine unverfrorene Verherrlichung des gewalttätigen und extremen Nationalismus, dem diese Männer anhingen.

Die Ermordung Rathenaus erschütterte die noch junge Weimarer Republik. In der nachfolgenden Reichstagsdebatte verursachte Reichskanzler Wirth einen wahren Tumult, als er die rechte Presse beschuldigte, zu dem Mord aufgehetzt zu haben, und auf die nationalistischen Bänke deutend erklärte: „Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. – Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: Dieser Feind steht rechts!“ Auf Anweisung der Regierung wurde an offiziellen Gebäuden auf Halbmast geflaggt, während die Gewerkschaften aus Protest gegen den Mord Massendemonstrationen veranstalteten und Reichspräsident Ebert zwei Tage nach dem Attentat, am 26. Juni 1922, eine Verordnung zum Schutz der Republik erließ, die in modifizierter Form durch ein am 21. Juli durch den Reichstag gebrachtes Gesetz bestätigt wurde. Dies war ein Schlüsselmoment in der Geschichte der Weimarer Republik. Er beendete eine lange Serie ähnlicher Attentatsversuche, darunter ein Säureanschlag auf den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann, dessen Proklamation von einem Balkon des Reichstags am 9. November 1918 die Geburtsstunde der Republik gewesen war (die Säure war verdünnt gewesen, und ohnehin traf der größte Teil seinen Bart), und ein Angriff mit einer Eisenstange auf den populären Enthüllungsjournalisten Maximilian Harden, einen Freund von Rathenau (der ebenfalls überlebte, aber nur knapp). In diesem Schlüsselmoment fand auch die kurze Existenz der Organisation Consul ein Ende.

Der Mord an Rathenau war ein zentrales Ereignis in der turbulenten Geschichte der Republik. Warum hatte der Außenminister solchen Hass erweckt, dass diese Leute ihn tot sehen wollten? Der unmittelbare Anlass war der von ihm ausgehandelte Vertrag von Rapallo, der am 16. April 1922 unterschrieben wurde. Darin sicherten sich die Sowjetunion und die Weimarer Republik, zwei jüngst gegründete, instabile und international geächtete Staaten, gegenseitigen die Normalisierung ihrer diplomatischen Beziehungen, den Verzicht auf territoriale Ansprüche und eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zu. Die Sowjets versprachen, keine Reparationszahlungen für Kriegsschäden zu verlangen. Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk, in dem die kaiserliche Reichsregierung die im Entstehen begriffene Sowjetregierung Anfang 1918 gezwungen hatte, riesige Gebiete an Deutschland abzutreten, wurde offiziell aufgehoben.

Auf paradoxe und für Weimar typische Weise hatte auch Reichskanzler Wirth die Vereinbarung von Rapallo nicht zuletzt deshalb unterstützt, weil die Vereinbarung versprach, die neuen Verbindungen zwischen der Roten Armee und der deutschen Reichswehr zu stärken, und somit die vom Versailler Vertrag auferlegten Beschränkungen bezüglich Waffen und Ausrüstung umging. So war beispielsweise der Bau von deutschen Kampfflugzeugen in einem in Fili bei Moskau ansässigen Junkerswerk durch den Rapallo-Vertrag gedeckt. Auch dass Polen das Opfer dieser deutsch-sowjetischen Annäherung sein sollte, dürfte Kanzler Wirth gefallen haben. „Polen muss erledigt werden. Auf dieses Ziel ist meine Politik eingestellt“, ließ er vertraulich vernehmen.

Dieser Hintergrund des Vertrages jedoch wurde vor den Ultrarechten der Organisation Consul verborgen, die in Rapallo einen Kompromiss mit dem Bolschewismus und einen feigen Verzicht auf Deutschlands Ziele im Ersten Weltkrieg sahen. Noch am Tag vor dem Mord an Rathenau hatte der rechte Nationalist Karl Helfferich Rapallo im Reichstag wutentbrannt angeprangert. Er machte den Außenminister persönlich für die Entspannungspolitik haftbar und warf ihm wegen seiner Weigerung, den Versailler Vertrag für null und nichtig zu erklären, mangelnden Patriotismus vor. Tatsächlich hatten die jungen Verschwörer ihre Pläne schon lange vorher geschmiedet, aber diese vehemente Verurteilung von Rapallo durch rechte Presse und rechte Politiker beeinflusste mit ziemlicher Sicherheit ihre Entscheidung, den deutschen Haupturheber ins Visier zu nehmen.

In ihren Zeugenaussagen und in der Darstellung des Mordkomplotts durch Ernst von Salomon erschien die Ideologie der jungen Verschwörer vage, unausgegoren und wirr. Über Rathenau sagt Kern beispielsweise in den Geächteten: „Möge er das treiben, was die Schwätzer Erfüllungspolitik nennen. Was geht das uns an, die wir um höhere Dinge fechten. Wir fechten nicht, damit das Volk glücklich werde. Wir fechten, um es in seine Schicksalslinie zu zwingen.“

Salomon behauptete bis ans Ende seiner Tage, dass Rathenau ermordet worden sei, weil er eine Politik der Verhandlung statt der Konfrontation mit der Sowjetunion verfolgt habe. Aber im Prozess hatten die Angeklagten vor allem den „Ausschluß von Juden“ von öffentlichen Ämtern durch „einen inneren Krieg […] auf gewaltsamem Wege“ gefordert. Antisemiten wie diese jungen Männer glaubten, dass Juden grundsätzlich Verräter an Deutschland seien – eine Ansicht, die unter anderem auch von der im Entstehen begriffenen NSDAP und ihrem Führer Adolf Hitler vertreten wurde. Zu dessen seit 1920 bestehendem parteieigenen Ordnungsdienst, der 1921 in „Sturmabteilungen“ (SA) umbenannt wurde, gehörten viele ehemalige Mitglieder der Brigade Ehrhardt. Solche Männer nahmen heftig Anstoß daran, dass der deutsche Außenminister Jude war, und sahen darin die Ursache für das, was sie als Verrat an der nationalen Sache betrachteten.

Rathenau selbst war stolz auf seine jüdische Identität, obwohl er sich schon mit relativ jungen Jahren offiziell aus der jüdischen Gemeinde in Berlin zurückzog. Er glaubte, dass Juden zwar nicht in einem törichten Streben nach Assimilation an die christliche Mehrheitsgesellschaft ihre Identität aufgeben, sich aber nichtsdestotrotz nach besten Kräften bemühen sollten, an der deutschen Kultur und an deutschen Institutionen teilzuhaben. Was er wollte, war keineswegs das vollständige Verschwinden einer jüdischen Identität in Deutschland, sondern das Verinnerlichen deutscher Kultur durch Deutschlands Juden, die ihren christlichen Mitbürgern auf Augenhöhe begegneten und dennoch durch und durch jüdisch blieben. Doch auch dies war unrealistisch. Im Deutschen Kaiserreich nahm Antisemitismus eher zu als ab und radikalisierte sich mehr und mehr zu einer Rassenideologie. Extreme Parteien entstanden, zwar zunächst noch an den Rändern der Gesellschaft, aber, wie die Weimarer Republik zeigen sollte, mit dem Potenzial, sich so weit zur gesellschaftlichen Mitte zu bewegen, bis auch diese schließlich der Meinung war, die 1871 gewährte staatsbürgerliche Gleichheit solle Juden wieder aberkannt werden.

Rathenaus Selbstverständnis als Jude, wie eigen es auch gewesen sein mag, war ein Grund unter vielen, warum er die Feindschaft der Antisemiten auf sich zog. Shulamit Volkov, Historikerin und bedeutendste israelische Forscherin zum deutschen Antisemitismus, befasst sich in seiner Studie Walther Rathenau: Weimar’s Fallen Statesman (dt. Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland 1867–1922, München 2012) eingehend mit Rathenaus jüdischer Identität. Volkov hat dafür unveröffentlichte Briefe und Schriften aus Rathenaus privaten Unterlagen nutzen können, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Spezialarchiv des KGB in Moskau entdeckt wurden. Daher ist seine Studie eine der bislang besten und differenziertesten Darstellungen von Rathenaus Leben.

Bei der Einschätzung von Rathenaus Judentum misst Volkov allerdings dem sozialen Zusammenhalt und der Isolation der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands in dieser Zeit zu große Bedeutung bei. In Wirklichkeit ging die jüdische Gemeinschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts allmählich in der umfassenderen Kultur Deutschlands auf. Der Prozess der Assimilierung beschleunigte sich weiter, und schon bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs kamen in Berlin auf jeweils 100 rein jüdische Eheschließungen 35 jüdisch-christliche Heiraten im Vergleich zu nur neun um 1880; in Hamburg waren es nicht weniger als 73 jüdisch-christliche Eheschließungen pro 100 rein jüdische. Zwischen 1880 und 1920 ließen sich 20.000 deutsche Juden taufen. In einer Gemeinde, die aus kaum mehr als einer halben Million Mitglieder bestand, waren diese Zahlen beträchtlich. Rathenaus 1897 niedergeschriebene ambivalente Gedanken über jüdische Identität waren daher ebenso eine Reaktion auf diese Veränderungen wie auf den Aufstieg des rassischen Antisemitismus.

Seine komplexe jüdische Identität war nur eine von mehreren Facetten der Persönlichkeit Rathenaus, die Zeitgenossen faszinierte und seitdem nicht aufgehört hat, Historiker zu beschäftigen. Viel wurde darüber spekuliert, warum er niemals heiratete. In einer ebenso einfühlsamen wie scharfsinnigen Analyse kommt Volkov zu dem Schluss, dass Rathenau, wenngleich er mit ziemlicher Sicherheit heterosexuell war und sich im Laufe seines Lebens in mindestens drei Frauen verliebte, emotional verklemmt und im Umgang linkisch und hölzern war und dass es ihm schwerfiel, Vertraulichkeit herzustellen. Außerdem war er ein ziemlicher Schwerarbeiter und das auf mehr als einem Felde.

Zu einiger Bekanntheit brachte es Rathenau zuerst als Autor. Die Aufmerksamkeit zeitgenössischer Intellektueller erregte er nicht zuletzt, weil Maximilian Harden, dessen Zeitschrift Die Zukunft seine frühen Essays veröffentlichte, ihn ins intellektuelle und künstlerische Milieu Berlins einführte, wo er literarische Salons besuchte und Männer wie Hugo von Hofmannsthal, Frank Wedekind und Stefan Zweig kennenlernte. Geboren im Jahr 1867, war Rathenau bis zum Ersten Weltkrieg ein namhafter Autor geworden, der bereits zwei Bände mit Essays zu Themen veröffentlicht hatte, die von der Nationalökonomie bis zur Ethik reichten. In Artikeln über moderne Kunst lehnte er ab, was er für eine inakzeptable Moderne der französischen Impressionisten hielt, und plädierte für die Wiederbelebung einer Kunst, in welcher die grundlegenden Charakteristika der deutschen Seele zum Ausdruck kämen. Solche Ansichten, die er verschiedentlich in pseudo-nietzscheanischen Aphorismen ausdrückte, was auf den heutigen Leser lediglich prätentiös wirkt, bescherten ihm eine breite Leserschaft unter der damaligen deutschen Intelligenz, wenngleich sie auch den Zorn Hofmannsthals erregten, der ihre „Mischung von Pedanterie, Prätension, Snobism und […] abgestandener und wiederaufgekochter ‚Deutschheit‘“ verurteilte, die, wie er sagte, so oft von Juden „reproduciert“ werde.

Was viele Menschen jedoch an Rathenau faszinierte, war die Tatsache, dass er nicht nur ein Autor und Ästhet war, sondern, im Gegenteil, den größten Teil seiner Zeit als erfolgreicher Geschäftsmann verbrachte. Sein Vater war Emil Rathenau, der Gründer der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG), eines der größten Unternehmen Deutschlands und ein wichtiger Stromlieferant. Walther Rathenau stieg in das väterliche Unternehmen ein, wo er den Weg für technische Innovationen bereitete und in der AEG-Hierarchie rasch aufstieg. Seit 1904 im Aufsichtsrat, steuerte er die Firma durch eine Reihe von Fusionen und Übernahmen, überstand aufreibende Rivalitäten mit anderen Industriellen, wie etwa Hugo Stinnes, und übernahm im Vorfeld des Ersten Weltkriegs als Aufsichtsratsvorsitzender eine führende Rolle in der Firma.

Rathenaus Wohlstand hatte ihm mittlerweile ermöglicht, in Freienwalde ein kleines preußisches Königsschloss aus dem 18. Jahrhundert zu erwerben und in Berlin eine neoklassizistische Villa nach eigenen Entwürfen bauen zu lassen. Graf Harry Kessler, ein enger Bekannter, fand die Villa geschmacklos und snobistisch, eine „Fassade an toter ‚Bildung‘, an kleinlicher Sentimentalität und an verkümmerter Erotik“. Im Gegensatz dazu merkte der Romancier Joseph Roth über Rathenau an: „Er hat wunderbar gelebt, unter edlen Büchern und seltenen Gegenständen, zwischen schönen Farben und Bildern.“ In Verruf geriet Rathenau hingegen wegen seiner kargen Abendessen, bei denen man, wie der österreichische Schriftsteller und Literaturkritiker Franz Blei sich beschwerte, nicht mehr erwarten konnte als „Flunder, Hammelkotelett und zitternde[n] Eistich“, ein „Spitzglas Champagner, das der Diener nicht mehr nachfüllte“ und „unerschöpfliche Kannen schwarzer Kaffee, die Gäste wachzuhalten bis in den frühen Morgen für die Gespräche“. Währenddessen monopolisierte Rathenau die Konversation, indem er Reden hielt „wie ein Pastor oder Rabbiner, nie unter einer Viertelstunde“, klagte wiederum Kessler. Die Leute fanden ihn aufgeblasen und rechthaberisch. Er sei, spotteten Kritiker später, ein „Prophet im Smoking“, ein „Jesus im Frack“, ein „Jehova am Kaffeetisch“ gewesen. Er zerstritt sich mit einem Freund nach dem anderen, brach mit Harden wegen dessen wütender öffentlicher Verurteilung des Kaisers samt Entourage und wegen seines eigenen, wahrscheinlich niemals vollzogenen Verhältnisses mit der verheirateten Lily Deutsch. Er befremdete Kessler mit für dessen Empfinden wichtigtuerischen Monologen und überzogenen gesellschaftlichen Ambitionen.

In die Politik brachte ihn der liberale jüdische Bankier Bernhard Dernburg, selbst nach dem Skandal um den deutschen Völkermord an den Herero in Deutsch-Südwestafrika zum Staatssekretär im Reichskolonialamt ernannt, indem er Rathenau zu einer Informationsreise durch Deutschlands afrikanische Kolonien einlud. Dieser verurteilte den Völkermord freiheraus als „die größte Atrozität, die jemals durch deutsche Waffenpolitik hervorgerufen wurde“. Diese Äußerung brachte ihm den Respekt von Reichskanzler Bülow ein, der selbst das Verhalten der deutschen Armee in Südwestafrika heftig kritisiert hatte. Rathenau widmete sich in seinen Aufsätzen von nun an politischen Themen, wobei er eine gemäßigt liberale Haltung einnahm, etwa in der Frage der Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts. Er attackierte die Beherrschung der preußischen Politik durch den Land- und Amtsadel, den er für den Ausschluss der Juden von Spitzenpositionen in Armee und Staat verantwortlich machte. Er verfocht hingegen den sozialen Aufstieg der industriellen und finanziellen Mittelschicht, wo Vorurteile gegen Juden, wie er glaubte, keine Rolle spielten. Erst dann könne Deutschland vollkommen modern werden. Im Jahr 1912 unter dem Titel Zur Kritik der Zeit veröffentlicht, erlebten diese Essays im ersten Jahr sieben Auflagen und machten Rathenau ebenso zu einer politischen wie zu einer literarischen Sensation.

Doch den Sprung in das wirklich politische Geschäft wagte er zunächst nicht. Er zog es vor, sich weiter seinem Unternehmen zu widmen und sich als Autor zu betätigen. Zu seinen weiteren Schriften gehörten eine nebulöse und wenig gelesene philosophische Abhandlung Zur Mechanik des Geistes, eine Reihe patriotischer Gedichte, ein weiterer Angriff auf die Rückständigkeit des preußischen Staates und ein Plädoyer für die wirtschaftliche Einheit Europas. Erst der Kriegsausbruch 1914 bescherte ihm eine aktive politische Rolle: Nachdem die alliierte Blockade Deutschland von seinen ausländischen Bezugsquellen abgeschnitten hatte, übertrug man Rathenau die Leitung der neu geschaffenen Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium. Rathenau stürzte sich in diese Aufgabe und war erstaunlich erfolgreich, wenngleich er privat dem preußischen Staat, der von „Abenteurer[n], Narren und Pedanten“ geleitet werde, weiterhin kritisch gegenüberstand und hinsichtlich der Vorteile, die der Krieg Deutschland bringen könnte, skeptisch blieb: „Nie wird der Augenblick kommen, wo der Kaiser, als Sieger der Welt, mit seinen Paladinen auf weißen Rossen durchs Brandenburger Tor zieht. An diesem Tag hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren“, schrieb er. Im Jahr 1919 veröffentlicht, wurde der Aphorismus von Rathenaus Feinden weithin als Beleg für seinen Defätismus herangezogen. Doch gleichzeitig kurbelte Rathenau die Flugzeug- und Munitionsproduktion der AEG, wo sein Einfluss nach dem Tod seines Vaters 1915 noch weiter gestiegen war, so weit an, bis sie 45 Prozent des Gesamtumsatzes der Firma ausmachte.

Aus der Kriegsrohstoffabteilung war Rathenau jedoch mittlerweile ausgeschieden, weil er auf eine höhere politische Position hoffte. Diese aber sollte ihm versagt bleiben, zumindest vorläufig. Seine Erfahrungen im Kriegsbeschaffungsamt hatten ihn zu der Überzeugung geführt, dass die Wirtschaft zentral gelenkt werden müsse. Aus diesem Grund unterstützte er das Hindenburg-Programm, mit dem – erfolglos – versucht wurde, dieses Ziel zu erreichen. Rathenau glaubte, dass der Sieg über Großbritannien für Deutschland höchste Priorität habe, und unterstützte die Zwangsrekrutierung belgischer Arbeiter und ihre Verbringung nach Deutschland als Aushilfen in der Kriegsproduktion, ein Vorgehen, das völlig unvereinbar war mit internationalem Recht. Den uneingeschränkten U-Boot-Krieg lehnte er allerdings ab, und er wollte einen Frieden ohne Annexionen. Folglich sah er sich zunehmend an den Rand gedrängt, als die politische Situation in Deutschland sich polarisierte.

Die unter deutschen Konservativen zunehmend fanatische antisemitische Stimmung veranlasste Rathenau, sich sehr viel eindeutiger als bisher mit der jüdischen Mehrheitsmeinung in Deutschland zu identifizieren und Antisemiten zu verurteilen, weil ihnen der wahre christliche Geist fehle. „Ich sehe den Beginn schwerster innerer Kämpfe, in dem Augenblick, wo die äußeren sich beenden“, schrieb er 1917 prophetisch. In Ermangelung politischer Verpflichtungen widmete er sich wieder dem Schreiben. In seinem Erfolgsbuch Von kommenden Dingen (1917) plädierte er für einen wirtschaftlich zentralisierten, aber auf geistigen Werten beruhenden modernen Staat in der kommenden Nachkriegszeit. Vielen stieß der Kontrast zwischen seinem eigenen großen persönlichen Reichtum und seiner Verurteilung des Materialismus unangenehm auf. Sein Beharren auf der Notwendigkeit strenger staatlicher Kontrollen über die Industrie, eine Forderung, die er in einem weiteren Erfolgsbuch, Die neue Wirtschaft (1918), wiederholte, verstimmte seine Unternehmerkollegen, wie etwa den einflussreichen Stinnes. Und sein Eintreten für eine begrenzte und vorsichtige parlamentarische Reform wurde von den Ereignissen überholt, als der Krieg verloren war, der Kaiser gezwungen war abzudanken und die Sozialisten an die Macht kamen.

Rathenau war einer der vielen Deutschen, die über die Bedingungen des Waffenstillstands von 1918 und des Versailler Vertrages empört waren. Als Deutschlands militärischer Führer Erich Ludendorff eine Feuerpause verlangte, drängte Rathenau die Menschen anfangs sogar, sich zu erheben und weiterzukämpfen, bis bessere Friedensbedingungen erreicht wären. Inzwischen hatte er sich Feinde auf allen Seiten gemacht: Die Linke, die Rechte, Geschäftsleute, die Arbeiterschaft, Juden, Antisemiten, alle waren sie gegen ihn. Als er 1919 die schmale Abhandlung Der Kaiser veröffentlichte, brachte er nicht nur auch noch Anhänger des abgesetzten Monarchen gegen sich auf, sondern ebenso die politischen Wortführer des Adels und des Bürgertums, denen er die Schuld an den Katastrophen während der Herrschaft des Kaisers gab. Es dauerte noch einige Zeit, bis er sich Hardens Ansicht zu eigen machte, dass zuerst die Friedensbedingungen erfüllt sein müssten, um Deutschland das internationale Vertrauen zu bescheren, das für eine einmütige Revision erforderlich sei.

Obwohl ihn die Leitung der AEG im inflationären wirtschaftlichen Klima der Nachkriegszeit stark beanspruchte, veröffentlichte Rathenau weiterhin eine Flut politischer Schriften, in denen er auf eine neue, verantwortungsbewusstere politische Kultur drängte anstelle der heftig polarisierenden Extrempositionen der Linken und Rechten, welche die Gründungsphase der Weimarer Republik kennzeichneten. Dies rückte ihn in die Nähe der gemäßigten Liberalen in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), und er fand allmählich ein neues Betätigungsfeld als „leidenschaftlich [er], ja charismatisch [er]“ politischer Redner, wie Volkov feststellt. So geschah es, dass Rathenau schließlich nach dem Scheitern des Kapp-Putsches (13. bis 16. März 1920) in die Zweite Sozialisierungskommission berufen wurde und anschließend als Berater der deutschen Delegation an den Reparationsverhandlungen mit den Alliierten in Spa teilnahm. Hier geriet er abermals mit Stinnes aneinander, der entschlossen war, Forderungen nach staatlicher Kontrolle der Industrie zurückzuweisen und die Kohlelieferungen an die Franzosen auf ein Minimum zu reduzieren.

Rathenaus Einsicht, dass es vielmehr notwendig sei, das Vertrauen der Franzosen zu gewinnen, brachte ihn Joseph Wirth näher, dem damaligen Finanzminister, der sich bald darauf verließ, dass Rathenau ihm helfen werde, Deutschland durch das wirtschaftliche Minenfeld der Reparationsverhandlungen zu steuern. Als Wirth im Mai 1921 Reichskanzler wurde, berief er ihn sofort als Wiederaufbauminister in sein Kabinett. Als Rathenau am 2. Juni 1921 im Reichstag sprach, verkündete er offiziell, die Regierung habe sich zu einer Politik der „Erfüllung“ des Versailler Vertrages verpflichtet, einschließlich der Reparationszahlungen in Geld wie auch in Naturalien. Seine Gespräche mit Briten und Franzosen führten zu einer Reihe vernünftiger Kompromisse und zu merklich verbesserten Beziehungen. Selbstsicher, gut vorbereitet, geschickt, redegewandt und zunehmend einflussreich in Politik und Diplomatie, war Rathenau, wie Volkov feststellt, „in bester Form“.

Am 21. Januar 1922 berief Wirth, bis dahin sein eigener Außenminister, daher Rathenau auf diesen Posten. Doch dieser war mittlerweile zunehmend enttäuscht von der „Erfüllungspolitik“ und begann nach einer anderen Lösung zu suchen. Das Ergebnis dieser Suche war Rapallo. Seine Ziele bei der Aushandlung des Vertrags waren im Grunde sehr begrenzt: Beunruhigt durch Anzeichen einer Annäherung zwischen den Westalliierten und den Sowjets, drängte er auf eine Vereinbarung mit Moskau, nicht zuletzt, um jede Möglichkeit auszuschließen, dass Lenins Regierung sich den anglo-französischen Reparationsansprüchen mit eigenen Forderungen anschlösse. Aber der durch den Vertrag vermittelte Eindruck steigerte nur die Verbitterung seiner Feinde. Als die Angriffe auf ihn schärfer wurden, fürchtete er zusehends die Möglichkeit eines Mordanschlags. „Wenn mein toter Körper“, bemerkte er, „einen Stein in der Brücke zur Verständigung mit Frankreich bildet, war mein Leben nicht umsonst gelebt.“ Es sollte anders kommen.

Auch wenn die Ermordung Rathenaus die Verteidiger der Republik für kurze Zeit vereinte, so nötigte sie – entgegen Volkovs Behauptung – den Republikfeinden keine gemäßigtere Vorgehensweise auf. Tatsächlich waren die Folgen des Attentats sehr viel ambivalenter. Zwei Tage nach dem Anschlag, am 26. Juni 1922, schufen zunächst die von Ebert verkündete „Verordnung zum Schutz der Republik“ und später das „Gesetz zum Schutze der Republik“ gefährliche Präzedenzfälle, die später von den Nationalsozialisten ausgenutzt wurden. Das Gesetz sah die Todesstrafe für jeden vor, der verurteilt wurde, sich zur Tötung eines Mitglieds der Regierung verschworen zu haben, und bestimmte die Errichtung eines speziellen „Strafgerichtshofes“ zur Verhandlung solcher Fälle, besetzt mit regierungsfreundlichen Richtern, die vom Reichspräsidenten persönlich ernannt wurden. All dies sollte später seinen Niederschlag im berüchtigten Volksgerichtshof der NS-Zeit finden.

Nach Eberts Tod und der Wahl des konservativen Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten übernahmen reaktionäre, deutschnationale Richter den Staatsgerichtshof und dominierten fortan die Rechtsprechung der Republik. Sie behandelten politische Verbrechen, die im Namen Deutschlands begangen wurden, zunehmend mit Nachsicht und untergruben damit öffentlich die Legitimität der Republik. Auf kürzere Sicht löste die Ermordung des Außenministers einen Ansturm auf die Mark aus und beschleunigte den Währungsverfall, der Deutschland bereits in den Würgegriff nahm. Er führte im folgenden Jahr zur Hyperinflation, zum Zusammenbruch der Wirtschaft, zum französischen Einmarsch ins Ruhrgebiet und zu Hitlers Putschversuch in Bayern. Der Putsch wurde niedergeschlagen, aber die paramilitärische Gewalt verschwand nicht mehr, sondern erreichte binnen weniger Jahre ein Ausmaß, das zu kontrollieren die Republik gänzlich außerstande war. Rathenaus „Erfüllungspolitik“ führte Gustav Stresemann zwar fort, durchaus erfolgreicher als ihr Urheber, aber auch nur vorrübergehend. Binnen acht Jahren nach Rathenaus Tod war die Weimarer Demokratie zunächst durch eine autoritäre Herrschaft, bis 1933 dann durch die NS-Diktatur ersetzt worden, in der viele, die Rathenaus Ermordung befürwortet hatten, ihre eigene Art von Erfüllung fanden.

Das Dritte Reich

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