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5. Berlin in den 1920ern

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Für deutsche Liberale und Linke hatte Berlin immer die dunkle Seite Deutschlands verkörpert, als Hauptstadt des preußischen Militärstaats wurde es zum pompösen Zentrum und Symbol des von Bismarck 1871 gegründeten Reiches: spießig, konservativ, langweilig, rückständig und dominiert von Staatsbeamten wie von Soldaten. Kein Wunder also, dass die siegreichen Liberalen und Sozialdemokraten sich symbolisch von der Reichshauptstadt zu distanzieren suchten, als sie nach Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg und nach dem Sturz des Kaisers eine demokratische Republik errichteten. Sie ließen die Nationalversammlung nicht in Berlin, sondern in der Provinzstadt Weimar zusammentreten, die für immer mit den Namen von Deutschlands bedeutendsten Dichtern und Schriftstellern, Goethe und Schiller, verbunden sein wird. Natürlich war Weimar vor allem weit entfernt von revolutionären Turbulenzen und Straßenkämpfen, wie sie etwa in den ersten Monaten des Jahres 1919 in der Hauptstadt wüteten, aber es war auch weit davon entfernt, mit einer Vergangenheit assoziiert zu werden, welche die Revolutionäre hinter sich lassen wollten.

Bis Berlin diese Assoziationen loswurde, dauerte es noch eine ganze Weile. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte die modernistische Kultur anderswo in Blüte gestanden, vor allem München. Hier bereiteten Künstler wie Wassily Kandinsky, Alexej von Jawlensky, Franz Marc und August Macke, Mitglieder in der Gruppe, die sie Der Blaue Reiter nannten, der abstrakten und halbabstrakten Malerei den Weg. In Schwabing, damals das Boheme-Viertel der Stadt und Münchens Pendant zur Pariser Rive Gauche, dem linken Seine-Ufer, hatten Klubs und Varietés, kleine sozialistische oder anarchistische Zeitschriften und linke Schriftsteller und Dramatiker großen Erfolg. Schwabings Linksradikale brachten es zu kurzzeitiger politischer Bekanntheit mit dem Zusammenbruch der bayerischen Monarchie bei Kriegsende, als der Journalist Kurt Eisner Regierungschef wurde. Mit seinem langen Rauschebart und dem breitkrempigen Schlapphut entsprach er haargenau dem Klischee des Bohemiens. Als Eisner von einem rechten Fanatiker ermordet wurde, bildete eine Gruppe von Personen aus dem ultralinken kulturellen Spektrum, darunter Ernst Toller, Erich Mühsam, Gustav Landauer und B. Traven (der spätere Autor von Der Schatz der Sierra Madre), kurzzeitig einen Revolutionären Arbeiterrat, der am 7. April 1919 zusammen mit dem Zentralrat der Bayerischen Republik die Räterepublik ausrief, in der bald kompromisslose Kommunisten dominierten.

Doch auch deren Regime währte nicht lange: Im Frühjahr 1919 zog die rechtmäßige sozialdemokratische Regierung, die München den Revolutionären überlassen hatte, schwer bewaffnete Freikorps-Verbände in großer Zahl zusammen, die auf die bayerische Hauptstadt marschierten und das kommunistische Regime in einem Blutbad niederwarfen. Ein Jahr später, am 13. März 1920, kam es zu einem ähnlichen Gegenschlag in Berlin, als die lokalen Freikorps sowie eine Gruppe rechter ehemaliger Militärs und Staatsbeamter des Kaisers im Kapp-Putsch (so genannt nach seinem Anführer, dem Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp) versuchten, die nationale Regierung abzusetzen und eine Militärdiktatur zu errichten. Aber das Ergebnis unterschied sich dramatisch von dem der Gegenrevolution in München. Arbeiter und Gewerkschafter legten Berlin mit einem Generalstreik lahm, die Putschisten verloren die Nerven, und die demokratische Herrschaft wurde wiederhergestellt. In München, wo die Stimmung weit konservativer war, wurde die sozialdemokratische Regierung unter Androhung militärischer Gewalt aus dem Amt gedrängt und machte einem rechten Kabinett Platz, an dessen Spitze Gustav Ritter von Kahr stand. Kahr wurde von der Münchner Polizei und der Armee unterstützt und genoss den stillschweigenden Rückhalt der Bayerischen Volkspartei, Hauptvertreterin des konservativen katholischen Milieus. Kahr verwandelte München in eine „Ordnungszelle“, die zum fruchtbaren Boden für rechte Gruppen wurde. Eine von ihnen war die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, geführt von Adolf Hitler, der Kahr diese Gefälligkeit damit dankte, dass er ihn in der „Nacht der langen Messer“ 1934 ermorden ließ.

Der durch das harte gegenrevolutionäre Durchgreifen aus München vertriebene kulturelle Radikalismus siedelte um nach Berlin. Während der gesamten 1920er-Jahre wurde die deutsche Hauptstadt zum Inbegriff für künstlerische Experimente, für Antiautoritarismus, Radikalismus und Hedonismus jeglicher Couleur. Sie wurde ein Magnet für Ausländer, die das urbane Abenteuer suchten, wurde gefeiert von Christopher Isherwood in seinen Romanen M[iste]r Norris steigt um und Leb wohl, Berlin, die literarischen Vorlagen für das später auch verfilmte Broadway-Musical Cabaret. Verbrechen, Mord und Gangstertum wurden in der Populärkultur gefeiert und in den Gemälden von George Grosz, dem Roman Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin und den Songs von Kurt Weill und Bertolt Brecht in der Dreigroschenoper zur Kunst. Die Cafékultur, Kabaretts und Varietés erlebten eine Blütezeit wie einst in Münchens Boheme-Viertel Schwabing vor dem Krieg. Jetzt war es Berlin, wo die satirischen Zeitschriften und pazifistischen Journale florierten, mit Autoren wie Erich Kästner, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky, die für die Berliner Weltbühne schrieben. Junge Frauen zelebrierten die Girlkultur, während Nacktrevuen und Prostitution auch als beliebte Sujets für (männliche) Künstler zeigten, wie sehr sexuelle Befreiung mit sexueller Ausbeutung einhergehen konnte. Von Bayerns „Ordnungszelle“ im nachrevolutionären München aus betrachtet, erschien Berlin nun als Gegenentwurf zum militärischen, konservativen, traditionellen Deutschland, nach dem die Nationalisten und Autoritätsliebhaber strebten.

Über diese umfassendere Kulturgeschichte der beiden Städte erfährt man nur wenig im letzten Buch des verstorbenen Stadthistorikers Thomas Friedrich, das sich auf Hitlers Beziehung zu Berlin bis zur NS-Machtergreifung 1933 konzentriert. Der Autor richtet in seinem Werk mit dem Titel Die missbrauchte Hauptstadt. Hitler und Berlin sein Augenmerk stattdessen auf Hitlers persönliche Perspektive, die jedoch nur in einem größeren historischen Kontext wirklich zu verstehen ist.

Wie Friedrich anmerkt, hatte die Pracht der deutschen Hauptstadt Hitler bei seinem ersten Besuch, auf Fronturlaub im Ersten Weltkrieg, schier überwältigt. In einem Brief an einen Kameraden seiner Einheit, an Ernst Schmidt, schrieb er: „Die Stadt ist großartig. So richtig eine Weltstadt.“ Im Jahr 1920 hoffte Hitler noch, sie könnte der Ausgangspunkt für den Sturz der Weimarer Demokratie und die Errichtung einer nationalistischen Diktatur sein. Er war Anfang 1920 mit den Initiatoren des Kapp-Putsches in Kontakt gewesen und nach Berlin geflogen, als es losging. Aber schon bei der Ankunft empfingen ihn streikende Arbeiter, die den Flugplatz besetzt hielten. Indem er sich hinter einem falschen Bart versteckte und sich, kaum zu glauben, als Buchhalter ausgab, gelang es Hitler, den Kontrollpunkt zu passieren, aber die offenkundige Vereitelung des Putsches noch vor seiner Ankunft bestärkte Hitler sicherlich in seiner Verachtung für die Hauptstadt. Enttäuscht wetterte er, „das friderizianische Berlin [sei] durch die Juden zum Saustall geworden“. München hingegen sei rein und „deutsch“, eine Stadt, in der solche Einflüsse gründlich ausgemerzt worden seien.

Im Jahr 1923 stürzte Deutschland ins Chaos, als die hochschnellende Geldinflation außer Kontrolle geriet, bis die taumelnde Wirtschaft am Rande des völligen Zusammenbruchs stand. Für die verbitterten nationalistischen Gegner der Weimarer Republik schien dies der rechte Moment zu sein, einen weiteren Putsch zu inszenieren. Diesmal wäre er bestimmt erfolgreich. Aber wegen des gescheiterten Versuchs von Wolfgang Kapp drei Jahre zuvor war Hitler zur Überzeugung gelangt, es sei falsch, in Berlin zu putschen, wo Kommunisten und Sozialdemokraten, die Parteien der Arbeiterschaft, die Szene beherrschten. Thomas Friedrich behauptet, nationalsozialistische Hitzköpfe hätten sich in Berlin zur Vorbereitung auf einen Putschversuch eingefunden, doch die Bedingungen dort waren ungünstig und die Beweise dafür, dass Hitler einen Staatsstreich in beiden Städten gleichzeitig im Sinne hatte, sind dürftig, spekulativ und nicht überzeugend.

Für Hitler war Berlin mittlerweile eine kranke, degenerierte Großstadt, die einer nationalistischen Revolution keinerlei Hoffnung bot. Ausgangspunkt für die Erneuerung Deutschlands sollte München sein. Sobald er dort die Macht ergriffen hätte, wollte er, ausgehend von der „Ordnungszelle“ in Bayern, die Weimarer Republik stürzen. Mussolinis vielfach angekündigter „Marsch auf Rom“ im voraufgegangenen Jahr mit der bloßen Drohung, seine paramilitärischen Milizen aus den von den Faschisten kontrollierten Städten des Nordens nach Süden zu verlegen und die italienische Hauptstadt gewaltsam zu übernehmen, war dabei ein Vorbild; ein anderes war die türkisch-nationalistische Revolution von Mustafa Kemal, der Konstantinopel aufgegeben hatte und eine neue, unbefleckte Hauptstadt im fernen Ankara gründete. „Sie sehen das an der Türkei“, erklärte Hitler bei seinem Hochverratsprozess nach dem Scheitern des Putsches im Bürgerbräukeller: „Nicht von der verfaulten Zentrale, von Konstantinopel aus konnte die Erlösung kommen. Diese Stadt war genau wie bei uns ohne Patriotismus, verseucht von demokratisch-pazifistischen, internationalisierten Menschen […]“, womit natürlich die Juden gemeint waren.

Friedrich sagt viel zu wenig über diese äußerst negative Phase in Hitlers Beziehung zu Berlin und zieht es vor, den gescheiterten Münchner Putsch rasch zu überspringen und sich dem Zeitraum von 1924 bis 1929 zuzuwenden, als Hitler anfing, die nationalsozialistische Bewegung wieder aufzubauen. Berlin erwies sich nach wie vor als unergiebiges Rekrutierungsfeld für Hitler und seine Anhänger, und Friedrich stellt fest: „Anderthalb Jahre nach Neugründung der Partei stand Hitler also, was die Berliner Ortsgruppe der NSDAP anging, vor einem Scherbenhaufen.“ Seine Lösung bestand darin, Joseph Goebbels, damals noch ein regionaler, ziemlich „linker“ NS-Führer im Rheinland, dafür zu bestimmen, die Partei in der Hauptstadt zu erneuern. Wie andere Nationalsozialisten empfand auch Goebbels Berlin als „Sündenbabel“ und „Asphaltwüste“. Aber obwohl Friedrich es zu leugnen versucht, ist klar, dass Goebbels’ Haltung prinzipiell viel positiver war als die Hitlers. „Berlin“, schrieb er, „ist doch die Zentrale. Auch für uns. Weltstadt.“

Goebbels gab sich recht schnell als talentierter Propagandist zu erkennen, der Märsche und Massenkundgebungen organisierte, bewaffnete SA-Braunhemden losschickte, um Veranstaltungen der Kommunistischen Partei zu sprengen, und eine Gewaltkampagne lostrat, die in einer offenen Schlacht mit kommunistischen Paramilitärs auf dem Bahnhof Berlin-Lichterfelde gipfelte. Auf dem Kurfürstendamm verprügelten Goebbels’ Schlägertypen jüdische Passanten. Hitler stellte unterdessen die salonfähige Seite der Nationalsozialisten zur Schau und hielt es nun für sicher genug, nach Berlin zurückzukehren und dort am Maifeiertag 1927 eine sorgfältig formulierte Rede zu halten. Nichts davon konnte die sozialdemokratischen Polizeibehörden in der Stadt täuschen, welche die Partei und ihre Ableger ein paar Tage später auflösten, „weil die Zwecke dieser Organisationen den Strafgesetzen zuwiderlaufen“.

Typisch für die Weimarer Republik, wurde dieses Verbot zuerst durch die Weigerung der ultrakonservativen nationalistischen Richterschaft durchkreuzt, weitreichende Urteile gegen SA-Männer zu fällen, die wegen Gewalttaten verhaftet worden waren, dann durch die polizeiliche Aufhebung des Verbots am 31. März 1928, um den Nationalsozialisten zu ermöglichen, sich am Wahlkampf für die Reichstagswahl zu beteiligen.

Aller propagandistischen Begabung von Goebbels zum Trotz schnitten die Nationalsozialisten bei dieser Wahl nicht gut ab und blieben reichsweit unter drei Prozent der Stimmen. Selbst in Berlin beschränkte sich ihre Anziehungskraft hauptsächlich auf Angehörige der unteren Mittelschicht, wie der führende Organisator der NSDAP, Gregor Strasser, einräumte. Der Wahlkampf in Berlin wurde überdies durch die erbitterte Rivalität zwischen Goebbels und Strasser sowie ein ständiges unzufriedenes Rumoren aus den Reihen der Sturmabteilungen unterlaufen. Dennoch gingen die Nationalsozialisten gestärkt aus der Wahl hervor, hatten sie doch rivalisierende extrem rechte Gruppen in den Hintergrund gedrängt. Und Goebbels’ im voraufgegangenen Sommer gegründete wöchentliche Lokalzeitung Der Angriff startete eine geschickte und demagogische Werbekampagne, welche die Partei entschieden öffentlich positionierte.

Weiteren Auftrieb brachte die Kampagne gegen den Youngplan, der die Modalitäten für Deutschlands Reparationszahlungen an die früheren Westalliierten aus dem Ersten Weltkrieg änderte, die Zahlungen aber nicht abschaffte. Bei dieser Kampagne konnten Hitler und Goebbels sich mit der sehr viel bekannteren Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) zusammentun und deren Organe nutzen, um sich neue Bekanntheit zu verschaffen und sich um die Anhänger dieser Partei zu bemühen, die schließlich fast alle zur nationalsozialistischen Seite überliefen. Was letztendlich jedoch das Geschick der NSDAP in Berlin und anderswo entscheidend änderte, war die Weltwirtschaftskrise, die Deutschland kurz nach dem New Yorker Börsenkrach 1929 erreichte. Als Banken- und Firmenpleiten und eine stark steigende Arbeitslosigkeit die massive Unzufriedenheit mit der Weimarer Republik und ihren Institutionen befeuerten, begannen die Menschen sich der NSDAP vor allem deshalb zuzuwenden, weil sie als jung und vital galt und einfache Wege aus der Krise versprach.

Am 17. November 1929 erhöhte sich bei den Berliner Stadt- und Bezirksverordnetenwahlen der Stimmenanteil der Partei um mehr als das Dreifache, wobei sie vor allem in den wohlhabenden Bezirken Zulauf fand. Kurz danach, Mitte Januar 1930, machten die Kommunisten Goebbels ein Propagandageschenk, indem sie mit Horst Wessel einen SA-Sturmführer niederschossen. Nachdem er ein paar Wochen später seinen Verletzungen erlegen war, verwandelte der NS-Propagandist die Beisetzung in eine gewaltige Feier der Bereitschaft junger Deutscher, sich zum Märtyrer zu machen, um ihr Land vor dem Kommunismus zu retten. Das Horst-Wessel-Lied wurde zur offiziellen Hymne der nationalsozialistischen Bewegung.

Es ist schade, dass Friedrich diesem überaus berühmten Ereignis, in das die NSDAP in der Hauptstadt noch vor der Machtergreifung verwickelt war, nicht mehr Aufmerksamkeit widmet, denn Wessels Ermordung sorgte auch dafür, dass Hitler Berlin mehrere Monate mied. Der NS-Führer fürchtete sich, diese Hochburg der kommunistischen Gegner zu betreten. Währenddessen löste er die internen Händel der dortigen NSDAP, indem er Gregor Strassers Bruder Otto vergraulte, weil der das „sozialistisch“ in „nationalsozialistisch“ mehr betonte als das „national“ und nicht, wie Gregor Strasser, der Parteilinie folgte. Während des Reichstagswahlkampfs 1930 erzielte Hitler mit einer großen öffentlichen Rede im Sportpalast einen beachtlichen Erfolg. Derweil wurde die Eröffnung des neu gewählten Reichstags, in dem die NSDAP mehr als 100 Sitze (107) gewonnen hatte, von Straßendemonstrationen begleitet, die von den Nationalsozialisten organisiert wurden und bei denen die Schaufenster zahlreicher jüdischer Geschäfte zu Bruch gingen. Bestrebt, potenzielle Wähler nicht zu verprellen, schoben die Nationalsozialisten solche Vorkommnisse kommunistischen Provokateuren in die Schuhe oder erklärten rundheraus, sie seien an den Gewalttätigkeiten überhaupt nicht beteiligt gewesen.

Unterdessen verfolgte die SA, die Mitglieder gewann und zunehmend selbstbewusster wurde, eine Zermürbungstaktik gegen die Kommunisten vor Ort. SA-Trupps, die sich in von ihnen selbst so genannten „Sturmlokalen“ trafen, attackierten kommunistische Versammlungen und trieben deren Teilnehmer mit Gewalt aus ihren Gastwirtschaften und Kneipen. Es wäre interessant, mehr über diesen Prozess zu erfahren, aber Friedrich wendet sich schnell anderen Themen zu. Trotz des Durchbruchs bei der Reichstagswahl vom September 1930, so schreibt er, habe Hitler weiterhin Schwierigkeiten gehabt, in der Hauptstadt Fortschritte zu machen. Besorgt vertraute Goebbels seinem Tagebuch an, dass der NS-Führer „sich für Berlin zu wenig Zeit“ nehme, und meinte, dass „er mehr als bisher sein persönliches Schwergewicht nach hier oben legen“ müsse. Doch der Propagandachef war gezwungen zuzugeben, dass Hitler „nicht recht heran will. Er haßt Berlin und liebt München. Das ist ein Kreuz. Er beruft sich auf Potsdam, Washington und Angora (Ankara). Aber warum gerade München?“ Als Rheinländer verstand Goebbels die Begeisterung seines Chefs für die bayerische Stadt nicht. Aber offenbar überlegte Hitler noch immer, die Hauptstadt in ein kleineres, reineres, weniger degeneriertes Zentrum als Berlin zu verlegen, nach München, eine Stadt, von der er möglicherweise meinte, dass sie der Hauptstadt der USA, Washington, oder Ankara in der Türkei oder der Residenz Friedrichs des Großen, Potsdam, ähnelte.

Also blieb die Parteizentrale der NSDAP, wo sie war, im „Braunen Haus“ in München, wo Hitler eine Wohnung hatte, obwohl all die anderen nationalen politischen Parteien ihre Zentralen in Berlin hatten. Wenn Hitler sich in der deutschen Hauptstadt aufhielt, stieg er in einem Hotel ab und schimpfte über die Zustände dort. Einem italienischen Diplomaten erzählte er 1931, dass es eine Stadt ohne Traditionen sei, halb amerikanisiert, halb kulturlos und nicht in der Lage, ihm den Frieden und die Ruhe zu bieten, die er zum Arbeiten brauche. Schon in Mein Kampf und in einigen seiner frühen Reden hatte er sich über die „verrohte“ Mentalität der Großstadt, ihren Kommerz, kurz, über das, was er für das Jüdische an ihr hielt, ausgelassen; am 12. September 1931 brach sich diese Feindseligkeit brutal Bahn in einer Reihe gezielter körperlicher Angriffe von etwa eintausend SA-Männern auf Gottesdienstbesucher beim Verlassen einer Synagoge in der Nähe des Kurfürstendamms. Es kam zu einigen Anklagen, aber die konservativen Richter fällten äußerst milde Urteile gegen die Täter.

Die SA-Bewegung wurde unterdessen rasch stärker, und gegen Ende des Jahres 1931 verdreifachte sie sich zahlenmäßig binnen weniger Monate. Die Gewalt auf den Straßen und auf politischen Versammlungen wurde heftiger, und am 13. April 1932 verbot Reichspräsident Hindenburg auf Drängen von Reichskanzler Brüning und Reichswehrminister Groener, der seit Oktober 1931 auch Innenminister war, per Notverordnung die SA. Ihre Räumlichkeiten wurden durchsucht und ihre Ausrüstung beschlagnahmt. Aber Hitler war vorgewarnt worden, und die Sturmabteilungen machten, getarnt als Sportvereine, weiter. Nationalsozialistische Sympathisanten bei der Polizei sorgten dafür, dass das Verbot nicht streng durchgesetzt wurde. Brüning wurde in der Zwischenzeit von einem anderen, radikaleren Konservativen, Franz von Papen, beiseitegestoßen, der Chef einer Regierung wurde, die von Reichspräsident Hindenburg den Auftrag erhielt, die Nationalsozialisten auf ihre Seite zu ziehen, um sich des Rückhalts der Massen für seine reaktionären Pläne zur Abänderung der Weimarer Verfassung in eine autoritäre Richtung und zur Erweiterung der Streitkräfte unter Missachtung des Versailler Vertrags sicher sein zu können.

Papen hob das SA-Verbot auf, und die Gewalt auf den Straßen erreichte einen neuerlichen Siedepunkt. Im Laufe der Jahre 1931 und 1932 wurden Hunderte getötet. Die nationalsozialistische Gewalt richtete sich nicht nur gegen die Kommunisten, sondern auch gegen die Sozialdemokraten, welche die demokratischen Institutionen der Weimarer Republik von Anfang an am verlässlichsten gestützt hatten. Am 25. Juni 1932 etwa griff ein SA-Trupp die Büros der Partei im Bezirk Kreuzberg an, was zu einem Feuergefecht führte, bei dem drei Männer schwer verletzt wurden. „Auf den Straßen knallen Schüsse. Täglich werden Verletzte als Opfer der Unruhestifter in die Spitale gebracht, sind Tote zu beklagen“, schrieb die renommierte Vossische Zeitung. Die Situation werde unerträglich.

Doch obwohl Gewalt und Gewaltandrohung stets seinen Umgang mit dem politischen Gegner bestimmten, hatte Hitler nach dem Scheitern des Putsches im Bürgerbräukeller 1923 beschlossen, parallel dazu den Weg an die Macht über Wahlen zu beschreiten. Und 1932 boten sich jede Menge Gelegenheiten, angefangen mit einer Reichspräsidentenwahl, bei der er Zweiter hinter Hindenburg wurde. In dieser massiven Propagandaschlacht brachten es die Nationalsozialisten auf einen Schlag zu nationaler Bekanntheit. Im Juli gewannen sie bei der Reichstagswahl 37,4 Prozent der Stimmen und wurden zur stärksten Partei im Lande. Wie Friedrich betont, widersetzte sich die Stadt Berlin bis zu einem gewissen Grad diesem Trend. Der kommunistische Kandidat Ernst Thälmann erhielt dort in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 23,6 Prozent der Stimmen im Vergleich zu lediglich 13,2 Prozent landesweit, und in der zweiten Runde 20,7 Prozent, verglichen mit 10,2 Prozent in ganz Deutschland. Bei der Reichstagswahl im Juli stieg der Stimmenanteil der Nationalsozialisten in Berlin zwar dramatisch, trotzdem kamen sie nur auf 28,7 Prozent. Die vereinte Unterstützung für Kommunisten und Sozialdemokraten in der Hauptstadt war fast doppelt so hoch wie die für die Nationalsozialisten. Damit unterstrich Berlin seinen Ruf als Hochburg der Linken. Einmal mehr bietet Friedrich viel zu wenige Details zur sozialen Geografie dieser Wahlen, sodass die Kräfte, welche die Nationalsozialisten bei den Abstimmungen in Berlin unterstützten, unklar bleiben.

Als sich die Verhandlungen über die Einbindung der Nationalsozialisten in eine neue Regierung in die Länge zogen, behindert durch Hitlers Beharren darauf, dass dies nur geschehen könne, wenn er zum Regierungschef ernannt würde, gingen den Nationalsozialisten allmählich das Geld und die Luft aus. Bei der Reichstagswahl im November 1932 verlor die Partei zwei Millionen Stimmen, und in Berlin schrumpfte ihre Unterstützung auf 721.000 Stimmen, während die Kommunisten ihren Rückhalt auf 861.000 steigerten und die Sozialdemokraten mit 647.000 Stimmen zur starken dritten Kraft wurden. Der Kreis um den Reichspräsidenten ergriff die Gelegenheit, die sich durch die vermeintliche Schwäche der Nationalsozialisten bot, und trat erneut in Verhandlungen mit ihnen ein. Angesichts der durch die randalierenden Sturmabteilungen heraufbeschworenen Gefahr eines Bürgerkriegs gelang es Hitler, am 30. Januar 1933 zum Chef einer Koalitionsregierung ernannt zu werden, in welcher die Konservativen, darunter Papen, in der Mehrheit waren und hofften, Hitler kontrollieren zu können.

Weniger als einen Monat später, am 28. Februar, lieferte das Niederbrennen des Reichstagsgebäudes, für das sie einen einzelnen, verwirrten holländischen Anarchisten verantwortlich machte, der Regierung den Vorwand, Kommunisten zu beschuldigen, bürgerliche Freiheiten außer Kraft zu setzen und mit der massenhaften Verhaftung ihrer Gegner zu beginnen. Doch die im März 1933 abgehaltene Reichstagswahl lieferte den Nationalsozialisten noch immer keine absolute Mehrheit; um die 50-Prozent-Hürde zu nehmen, waren sie auf die Stimmen ihrer konservativen Partner angewiesen.

In Berlin schafften es die Kommunisten trotz des von den Nationalsozialisten entfesselten Massenterrors, ein Viertel der Stimmen zu erringen. Doch nun begann der nationalsozialistische Angriff auf die Metropole erst richtig. Binnen Kurzem waren in der Hauptstadt etwa zweihundert provisorische „wilde Konzentrationslager“ eingerichtet, viele davon kaum mehr als Keller oder Lagerhäuser, in denen Hunderte von Kommunisten und Sozialdemokraten gefoltert und ermordet wurden. Massengewalt untermauerte die NS-Machtergreifung auf jeder Ebene, und bis zum Sommer 1933 waren die anderen politischen Parteien aufgelöst, die Konservativen beiseitegeschoben und alle wichtigen Institutionen unter nationalsozialistische Kontrolle gebracht.

Jetzt konnte Hitler Berlin nach seiner eigenen Vorstellung von einer großartigen Welthauptstadt umgestalten. Neben einem Angriff auf „entartete Kunst“, satirisches Kabarett, Jazz und all die anderen Dinge, die ihn in den 1920er-Jahren so abgestoßen hatten, entwickelte er nun, wie sein Sekretär Rudolf Heß berichtete, Pläne zum „Ausbau Berlins zur großen Metropole des neuen deutschen Reiches“, angefangen mit dem Bau eines riesigen neuen Sportkomplexes, verfügbar für die Olympischen Spiele 1936. Dann plante er neue Prachtstraßen, welche die Stadt von Nord nach Süd und von Ost nach West durchzogen. Eine davon existiert noch heute, allerdings umbenannt in „Straße des 17. Juni“, nach dem Volksaufstand gegen die kommunistische Herrschaft in der DDR. Ein gewaltiger Triumphbogen sollte gebaut werden, zusammen mit einer riesigen Großen Halle und dem Ausbau des Flughafens Tempelhof. Massive Abriss- und Räumungsmaßnahmen schufen nach und nach Platz für diese Projekte. Nur wenige wurden fertiggestellt, und vieles von dem, was fertig wurde, wie das Gebäude der Neuen Reichskanzlei, wurde durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs zerstört.

Hitlers fortdauernde Abneigung gegen Berlin zeigte sich noch in seinem größenwahnsinnigen Vorhaben, es zur neuen Welthauptstadt zu machen. Denn diese umgestaltete Stadt sollte dann nicht mehr „Berlin“, sondern „Germania“ heißen. Sämtliche Spuren dessen, was der NS-Führer an ihr in den 1920er-Jahren so verachtet hatte, sollten beseitigt werden. Friedrich erwähnt diese Absichten, verkennt aber ihre Bedeutung für Hitlers Verhältnis zu Berlin. Leider erfahren wir von ihm auch nur sehr wenig über die dortige soziale und politische Geografie. Es ist bezeichnend, dass Die missbrauchte Hauptstadt nicht einen einzigen Stadtplan enthält. Dies ist weniger ein Buch über Hitler und Berlin als eine Erzählung vom Aufstieg des Nationalsozialismus, wie er sich in der deutschen Hauptstadt vollzog. Dabei stützt sich der Autor nicht auf lokale Quellen, sondern auf altbekannte Dokumente wie Goebbels’ Tagebücher und Hitlers Reden. Friedrich war Museumskurator in der Stadt, kein professioneller Historiker, und obwohl er einer breiteren Leserschaft erfolgreich allseits bekannte Fakten präsentierte, zeigt dieses Buch, bedauerlicherweise, dass ihm das Handwerkszeug für originäre oder innovative Forschung fehlte. Die Geschichte der deutschen Hauptstadt während der Weimarer Republik und Hitlers Verhältnis zu ihr bleibt daher noch zu erzählen.

Das Dritte Reich

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