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6. Gesellschaftliche Außenseiter I

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Heute existiert eine umfangreiche Literatur zu gesellschaftlichen Außenseitern im „Dritten Reich“. Dies ist vor allem eine Folge der Erkenntnis, dass der Nationalsozialismus viele „vergessene Opfer“ hatte, deren Schicksal lange Zeit von Historikern kaum erforscht worden ist. Obwohl sich ohne Zweifel die Hasspolitik der Nationalsozialisten und ihre Programme zur Vernichtung menschlichen Lebens auf Juden konzentrierten, litten auch zahlreiche andere Gruppen. Zu ihnen gehörten Sinti und Roma, Homosexuelle, geistig und körperlich Behinderte, „Gewohnheitsverbrecher“, „Asoziale“, „Arbeitsscheue“, Wohnungslose und Vagabunden sowie Slawen und Angehörige anderer unterworfener Völker im Kerngebiet des Deutschen Reiches, wohin sie als Zwangsarbeiter verschleppt wurden, wie auch in den besetzten Gebieten. Vertreter all dieser Gruppen litten in unterschiedlichem Ausmaß, wurden verhaftet, einsperrt, in Konzentrationslagern brutal misshandelt, sterilisiert und ermordet.1

Das spezifische Erkenntnisinteresse und die Motivation hinter der neueren historischen Forschung zu verschiedenen Opfergruppen hatten unweigerlich eine fasst ausschließliche Beschäftigung mit den Jahren von 1933 bis 1945 zur Folge. Natürlich haben viele Autoren einige der Wurzeln der NS-Vernichtungspolitik zurückverfolgt bis zum sozialen Denken und zur sozialen Praxis der Weimarer Republik oder zu rassischen und eugenischen Theorien, wie sie in den 1890er-Jahren aufkamen. Aber in deutlichem Gegensatz zur unübersehbaren Literatur über den deutschen Antisemitismus, welche die sozialen, wirtschaftlichen, ideologischen, kulturellen und politischen Ursprünge der Judenverfolgung vom Mittelalter an erschöpfend behandelt, gibt es so gut wie nichts zum langfristigen historischen Hintergrund der Verfolgung anderer Minderheiten in der deutschen Gesellschaft durch die Nationalsozialisten. Gut dokumentiert sind deutsche Einstellungen gegenüber Slawen sowie die Geschichte ausländischer Arbeitskräfte im Deutschland des 19. Jahrhunderts.2 Erhielt die historische Forschung zu diesen Themen doch durch zwei große Probleme der westdeutschen Politik in den 1970er- und 1980er-Jahren Auftrieb, nämlich durch die Situation von Millionen entrechteter Gastarbeiter in der Bundesrepublik und durch die allgegenwärtige Herausforderung einer friedlichen Koexistenz mit der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt. Mit der langfristigen Geschichte anderer Minderheiten im heutigen Deutschland hat die Forschung sich hingegen kaum auseinandergesetzt.

Dabei ist es auf den ersten Blick überraschend, dass Historiker bislang in diesem Forschungsfeld nicht dieselbe Art von Fragen gestellt haben wie in Bezug auf die Geschichte der deutschen Juden und des Antisemitismus: Spielten gesellschaftliche Außenseiter vom Mittelalter an eine besonders wichtige Rolle in der deutschen Gesellschaft? Standen die Deutschen ihnen besonders feindselig gegenüber? Verbesserte oder verschlechterte sich ihre Situation im Laufe der Zeit? Haben wir Belege dafür, dass sie in Krisenzeiten zu Sündenböcken gemacht wurden? Wurden sie im Laufe der Industrialisierung stärker oder weniger stark in die deutsche Gesellschaft integriert? Engagierten sich deutsche Liberale während der politischen Kämpfe des 19. Jahrhunderts für ihre Emanzipation? Welchen Unterschied machte das Aufkommen der Weimarer Demokratie für ihren Status und ihre Stellung? Alle diese und viele ähnliche Überlegungen, die einem in den Sinn kommen, kulminieren in der einen Frage danach, ob die deutsche Gesellschaft, wie einige Kultur- und Ideenhistoriker vermutet haben, besonders konformistisch, reglementiert und außenseiterfeindlich war. Mit anderen Worten, traf die nationalsozialistische Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter auf Zustimmung weiter Teile der deutschen Bevölkerung, weil Letztere sich gesellschaftlichen Außenseitern gegenüber schon immer in einem Ausmaß feindselig verhalten hatte, das für andere Länder vielleicht ungewöhnlich gewesen wäre?

Das Dritte Reich

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