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Kapitel 2: Das Rätsel

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1

Es war im Sommer letzten Jahres gewesen, kurz vor den Sommerferien, dass Mister Welling sagte, er erwarte von jedem seiner Schüler eine Hausarbeit, die während der Ferien geschrieben werden sollte, und die er in der ersten Schulwoche nach den Ferien benoten würde. Das Thema sollte ein geschichtliches sein und nicht mehr als fünfundzwanzig Seiten umfassen. Abgesehen davon gab es bei der Wahl des Themas keine Einschränkungen. Man sollte nur nicht soweit abschweifen, dass der Bezug zum Unterricht verlorenginge.

Mister Welling entließ seine Schüler aus dem Unterricht und hinein in die quälende Aufgabe, ein passendes Thema zu finden, das man leicht in der letzten Ferienwoche abarbeiten konnte, ohne sich den Spaß an den Ferien zu nehmen. Dabei war Cassandra eine der Wenigen gewesen, die sofort gewusst hatten, worüber sie schreiben würden.

Später lasen viele Jungs ihre Aufsätze über die Historie ihres liebsten Fußballvereins vor und kassierten, abgesehen von einem Kopfschütteln von Mister Welling, eine Menge D- und E-Noten. Am Thema vorbei stand unter diesen Noten.

Und auch einige weibliche Klassenkameraden brachten Mister Welling dazu, sich an den Kopf zu greifen. Die Geschichte (meiner Lieblingsfernsehserie) im sozial-historischen Kontext war nur ein Thema, das, mit Ausnahme des Wortes "Geschichte", keinen Bezug zum Unterricht hatte, egal wie sehr sich Mister Welling Mühe gab, wohlwollend zu urteilen.

Sehr zu Cassandras Leidwesen war Die Geschichte der Brickrow Grammar School ein weiteres dieser Themen gewesen. Zwar traf sie den Kern der Aufgabe genauer als ihre unglückseligen Klassenkameraden, aber es hatte ganz offenbar nicht zu Mister Wellings Zufriedenheit gereicht. Er hatte Folgendes unter den Aufsatz geschrieben: Ich verstehe deinen Ansatz, aber für eine A-Note hätte ich mir mehr geschichtlichen Hintergrund gewünscht. Welche politischen und sozialen Zustände herrschten zu dieser Zeit? Und wer war dieser Künstler? Unter dieser kryptischen Frage stand ein rotes C.

Cassandra hätte diese Frage gerne in ihrem Aufsatz beantwortet, aber die Wahrheit war, dass sie die Antwort nicht hatte herausfinden können. Wie so viele andere Fragen, würde auch diese erst sehr viel später beantwortet werden. Und nicht von Cassandra.

Zu dem Zeitpunkt, als sie das rote C vor Augen hatte, forschte sie in ihrem Inneren nach einer Emotion. Sie konnte sich bei bestem Willen nicht daran erinnern, jemals eine so schlechte schriftliche Note bekommen zu haben, und fragte sich, ob sie jetzt wohl ausrasten würde. Hatte Mister Welling denn nicht gefühlt wie wichtig ihr dieser Aufsatz war? Wie konnte er sie dermaßen schlecht benoten, wenn noch nicht einmal ihr Herzblut auf den Seiten getrocknet war? Wieso kassierte sie A-Noten für Aufsätze, die sie nicht im Mindesten berührten, aber ein C für ihr Lebenswerk?

Cassandra strengte sich an, eine bestimmte Emotion aus der ganzen Verwirrung herauszukristallisieren, und das, was am Ende herauskam war...

Gleichgültigkeit.

Ist das alles? Mehr fühlst du nicht?

Nein, da war noch etwas. Ein Gefühl, das nicht mit der Note zusammenhing, sondern mit der Arbeit am Aufsatz. Ein lauerndes Gefühl. Bedrohlich.

Die Wahrheit war, dass es Cassandra nicht im Mindesten interessierte, was Mister Welling von ihrem Aufsatz hielt, weil sie zu diesem Zeitpunkt bereits andere Sorgen hatte. Cassandra Moon hatte Angst. Nicht um ihr Leben oder ihre Seele (beides würde später kommen), sondern um die Realität an sich. Um die Welt wie sie sie kannte.

In Wahrheit begann es viel früher, aber der Tag, an dem Cassandra den großen Hügel hinaufstieg, um ein Luftfoto der Schule zu schießen, ist ein guter Einstieg in diese Geschichte.

2

An dem Tag ihrer “Klettertour” den großen Hügel hinauf, befand sich auch ihr emotionaler Kern auf einer Klettertour auf den sonnigen Hügel der Glückseligkeit. Das bedeutet, dass wir das Mädchen namens Cassandra Moon von Neuem kennenlernen müssen.

Mit der Minolta ihres Vaters bewaffnet kletterte Cassandra durch dichtes Gestrüpp auf den Hügel, der den einfallslosen Namen Brickrow Hill trug. Von den Schülern einfach Prick Hill genannt. Die Sonne brannte so heiß herab, dass Cassandra sich Sorgen um den Film in der Kamera machte.

Fliegen und Mücken umschwärmten sie, und dornige Büsche hinderten sie am Vorankommen, aber Cassandra war das alles egal. Nein, nicht egal. Ganz im Gegenteil genoss sie diese Klettertour in vollen Zügen. Sie schwitzte, schlug nach Insekten und zog an Dornenranken, die sich an ihr verhakt hatten, aber das alles gehörte nun mal dazu, zum großen Abenteuer. Es wäre viel zu langweilig gewesen, einfach auf diesen Hügel zu steigen, ein Foto zu schießen und wieder zu gehen. Darum brachte sie lieber eine gewisse Würze mit ein, indem sie sich vorstellte, sie kämpfte sich durch undurchdringlichen Dschungel, vorbei an Treibsand und Teergruben, immer ihrem geheimen und (wie sich herausstellen würde) nur halb imaginären Schatz entgegen. In ihrer Fantasie verfluchte sie nur den Umstand, dass sie keine Machete hatte, um dieses kratzende Gestrüpp kurz und klein zu schlagen.

Sie dachte an ihren Glücksbringer, den sie hätte bei sich tragen sollen, aber der lag zu Hause in einer Schublade zwischen ihrer Unterwäsche. Cassandra hatte in ihrer ungewohnten Sommerkleidung nicht genug Taschen gehabt, den Glücksbringer - ein nicht gerade kleines Klappmesser - mitzunehmen. In ihrem leichten braunen Rock und der ärmellosen Weste hätte sie höchstens eine Streichholzschachtel unterbringen können, und das hatte sie dazu verleitet, ausnahmsweise von ihrer Gewohnheit, das Messer bei sich zu führen, abzuweichen. Aber jetzt, in diesem Augenblick, schwor sie sich, ihr Versprechen kein weiteres Mal zu brechen.

Verdammtes Gestrüpp!

Völlig zerkratzt und mit baumelndem Fotoapparat hielt Cassandra an und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seit etwa vier Jahren trug sie Schweißbänder an beiden Handgelenken, wenn sie Kleidung mit kurzen Ärmeln anhatte. Niemand außer ihr wusste, weshalb sie das tat, und über die Gründe dafür sprach sie nicht.

Ein schwacher Wind ließ den Schweiß auf ihrer Haut trocknen, aber er verschaffte ihr keine rechte Kühlung. Dieses Wetter war so vollkommen untypisch für den Süden Englands, dass in Cassandras Kopf bereits das Schreckgespenst der Klimakatastrophe umherschwirrte. Wie konnte der Wetterbericht nur so falsch liegen? Er hatte sechsundzwanzig Grad vorhergesagt.

Die Kuppe des Hügels war nicht mehr weit - zum Greifen nahe - aber jeder Schritt brachte Cassandra der brennenden Sonne näher.

Jetzt nicht schlappmachen, Comtessa. Nur noch ein paar Schritte.

Comtessa war der Name, mit dem sich Cassandra im Geiste selbst ansprach. Wie sie als Kind auf diesen Namen gekommen war, daran erinnerte sie sich nicht mehr, aber ihr war bewusst, dass sie eigentlich schon zu alt war, um diese innere Stimme so deutlich zu hören. Es half nichts, sich selbst zu belügen, darum hatte Cassandra inzwischen akzeptiert, dass diese Stimme wohl eine Art zynischen Gegenpol zu ihrem Intellekt bildete, der sie daran hinderte, die schwarze Teergrube in ihrer Seele jemals vollständig zu vergessen. Cassandra benutzte das Wort depressiv nicht gerne, aber sie stigmatisierte es auch nicht. Sie wusste, dass sie milde verstimmt war, aber sie kannte sich selbst nicht anders. Und ein stummer Verstand war etwas, das sie sich nicht vorstellen konnte.

Langsam, antwortete sie der Stimme. Ich weiß nicht, ob man mit siebzehn einen Herzinfarkt bekommen kann, aber ich will es heute auch nicht austesten.

Da die Stimme keinen Einspruch erhob, wartete Cassandra noch ein paar Minuten, bis sie das Gefühl hatte, auch den Rest des Weges bewältigen zu können. Sie atmete tief durch und machte sich schließlich daran, das letzte Stück des Hügels zu erklimmen. Als sie dann den höchsten Punkt des Hügels erreichte, lief ihr der Schweiß über das Gesicht und verwischte ihren Lidschatten.

Wahnsinn. Vermutlich siehst du aus wie eine Hexe, die im letzten Moment vom Scheiterhaufen gesprungen ist. Schade, dass du Ferien hast. Diesen Anblick würden die Idioten aus der Schule sicher niemals vergessen.

Cassandra wischte sich über die Stirn. Einen Moment lang stand sie nur da und reckte das Gesicht der Sonne entgegen. Auch wenn sie ein düsterer Mensch war, hegte sie dem Sonnenlicht gegenüber keine Abneigung. Sie konnte durchaus auf einem grünen Hügel stehen und sich von der Sommersonne das Gesicht bräunen lassen, ohne gleich in eine Existenzkrise zu fallen. Auf ihre Weise integrierte Cassandra dieses Erlebnis in ihre allgegenwärtige Melancholie. Dabei würde kaum jemand erahnen, welche scharfen Dornen sich in ihre Seele bohrten.

Sie dachte: Die Augen vor dem hellen Licht der Sonne geschlossen, stand die unbezwingbare Kassandra auf dem Hügel. Wind bauschte ihren Rock, machte sie zur Heldin einer vergessenen Revolution.

Hey, aufwachen, Comtessa. Willst du dir einen Sonnenstich holen? Die fiese, kleine Stimme in ihrem Inneren riss sie aus dem Träumen. Hör mit dieser Selbstbeweihräucherung auf und mach dich an die Arbeit.

Von sich selbst genervt raffte Cassandra ihr Haar zusammen und warf es über die Schulter. Dann riss sie sich von ihrer Selbstbetrachtung los und betrachtete stattdessen das Landschaftsmotiv, wegen dem sie gekommen war.

Sie musste feststellen, dass die Landschaft weitaus atemberaubender war, als sie erwartet hatte. Vom Brickrow Hill aus gesehen lag das Schulgebäude etwa dreihundert Meter talabwärts inmitten mehrerer dutzend kreisförmig angelegter Bäume. Weiter nördlich gingen die gepflanzten Bäume in ein kleines, wildwachsendes Stück Wald über. Das Schulgebäude selbst war ein graugrüner Punkt in einem dunkelgrünen Baumwirbel, der wiederum in der weiten grasgrünen Ebene lag, wie ein kleiner Tornado in einem grünen Meer.

Meine Güte, das musst du festhalten. Das wird ein Traum von einem Foto.

Aber Cassandra schoss noch nicht. Sie nahm sich die Zeit, noch mehr Einzelheiten zu finden, denn die Landschaft bot noch mehr hervorragende Motive. Etwa zwei Kilometer weiter rechts lag das eigentliche Brickrow, die kleine rote Ziegelsteinstadt. In ihr lebten knapp neuntausend Menschen, und entsprechend überschaubar lag sie da zwischen den saftigen Hügeln wie eine rostbraune Warze inmitten gesunder grüner Haut. Aus dieser Entfernung erkannte Cassandra mühelos die stillgelegten Fabrikschornsteine am Stadtrand. An einem der Schornsteine hing seitlich die Funkantenne eines Mobilfunknetzes.

Heutzutage waren die Schornsteine nicht mehr als große Denkmale, die an die späte industrielle Revolution erinnerten. Die Fabrikgebäude wurden schon lange nicht mehr genutzt und boten niemandem mehr einen Arbeitsplatz. Die meisten Menschen, die in Brickrow lebten, fuhren mit dem Auto nach Plymouth oder mit dem Bus nach Princetown zur Arbeit. Nur wenige waren noch in Brickrow selbst beschäftigt, und zumeist nur in den kleinen Geschäften und Touristenherbergen der Stadt.

In unmittelbarer Nähe der Schornsteine lagen zwei weitere alte Textilfabriken, die während der letzten fünfzig Jahre pleitegegangen waren. Die Gebäude waren später von der Stadt gekauft worden. Eines wurde an die lokale Zeitung vermietet und das andere wurde als neues Stadtarchiv genutzt. Dort würde Cassandra später noch recherchieren.

Sie richtete den Fotoapparat auf den Westteil der Stadt und zoomte ihn heran. Sie fand auf Anhieb die neue Kirche der Church of England, und schoss ein Foto. Ihr fiel auf, dass sie gar nicht so genau wusste, wie viele Kirchen Brickrow hatte, darum suchte sie nach weiteren Glockentürmen, die zwischen den Dächern aufragten. Dadurch, dass sie in einem sehr flachen Winkel zur Stadt schaute, (der Brickrow Hill war nicht sehr hoch) waren die meisten Dächer verdeckt. Dennoch bekam sie eine weitere Kirche in den Sucher. Sie war alt, schwer zu entdecken zwischen den ziegelroten Wohnhäusern, und Cassandra kannte ihren Namen nicht. Nur die blauweiße Spitze des Glockenturms ragte hervor, aber Cassandra knipste sie trotzdem. Man konnte nie wissen, ob sich das Foto später als nützlich erweisen würde. Danach senkte sie die Kamera und wandte den Blick nach links, weg von Brickrow.

Viel weiter links von der Schule, lag eine weitere Stadt. Sie war viel kleiner als Brickrow, nicht mehr als ein Dorf, und hieß schlicht und einfach Hillside. Dort lebte Cassandra mit etwa eintausend anderen Menschen. Dort stieg sie jeden Morgen in den Schulbus und fuhr fünf Kilometer zur Schule. Offiziell galt Hillside als ein Stadtteil von Brickrow, da es in Wirklichkeit nicht mehr war, als eine ausgelagerte Wohnsiedlung mit wenigen Geschäften und Einkaufskiosken. Cassandra wusste aus dem Geschichtsunterricht, dass Hillside im Laufe des letzten Jahrhunderts entstanden war, als einige wohlhabende Einwohner Brickrows den Gestank der Textilfärbemittel und der Papierindustrie nicht mehr ertrugen und ihre Wohnsitze nach außerhalb der Stadt verlegten. Zu dieser Zeit hatten der Bürgermeister und das Stadtbauamt kaum eine andere Wahl gehabt, als dieses Vorgehen abzusegnen, und bis heute bauten die Menschen, die es sich leisten konnten, ihre Häuser ins idyllische Hillside, wenn ihnen das backsteinerne Brickrow zu erdrückend war. Cassandras Eltern, Paul und Marie Moon, hatten ihr Haus allerdings geerbt.

Cassandra konnte sich dunkel an den Umzug von Brickrow nach Hillside erinnern. Als Kind war ihr die Autofahrt endlos vorgekommen. Sie erinnerte sich, wie sie durch das neue, vom Alter und ihren Großeltern muffig riechende Haus gerannt war, um ein Gefühl für die Räume zu bekommen. Und aus Spaß natürlich. Wenn sie eine Wand erreicht hatte, hatte sie mit beiden Händchen dagegen geklatscht und war weitergerannt zur nächsten Wand. So hatte sie überall ihre Duftmarke gesetzt. Damals war sie begeistert gewesen von der altmodischen, verschnörkelten Tapete, die wohl eine Art von außerirdischen Blumen hatte darstellen sollen, und es hatte ihr das Herz gebrochen, als ihre Eltern alle Zimmer rein weiß tapeziert hatten. Cassandras kleinkindliche Trauer war so schlimm gewesen, dass sie sich einen schwarzen Filzstift genommen und versucht hatte, die alten Muster auf die neue Tapete zu malen.

Die nostalgische Erinnerung war so deutlich, dass Cassandra ein leiser Schmerz in die Pobacken stach. Geistesabwesend rieb sie sich den Hintern. Ihre Eltern waren damals sehr wütend gewesen. Eine ganze Weile war es der kleinen Cassandra unmöglich gewesen, an einen Stift zu kommen - ziemlich genau bis zu ihrer Einschulung, aber das wusste Cassandra nicht mehr.

Wie so oft, wurde Nostalgie zu Schmerz, und Cassandra verdrängte die alten Erinnerungen, um sich wieder ihrer Aufgabe zu widmen. Sie musste noch ein brauchbares Foto für ihren Aufsatz schießen. Sie hob den Fotoapparat und knipste zwei Fotos in schneller Folge. Leider besaß sie keine Digitalkamera, so dass sie nicht gleich vor Ort sehen konnte, ob aus den Fotos etwas wurde. Sie musste sich allein auf ihr Auge verlassen und schoss deshalb lieber noch ein paar zusätzliche Bilder von der Schule. Mindestens ein gutes musste am Ende herauskommen. Sie drehte sich zur Seite und schoss auch ein paar Bilder von Brickrow und Hillside, nur so zur Sicherheit. Als sie die Kamera zum zweiten Mal senkte, geschah es.

Was im Endeffekt genau passierte, würde sie wohl niemals erfahren, auch wenn später, als es Cassandra kaum noch interessierte, vieles klarer werden sollte.

Sie senkte den Fotoapparat und schaute sich die Landschaft an, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass sich alles veränderte. Es geschah nicht, während sie wegsah, nein, es geschah direkt vor ihren Augen. Das breite grasgrüne Band oberhalb der Brickrow School, die weite hügelige Landschaft, erstarrte in grobem Relief. Es dauerte einige Sekunden, bevor Cassandra überhaupt verstand, was sie da sah.

Die Graslandschaft wurde zuerst flüssig und dann schlagartig fest. Sie erinnerte an die groben Pinselstriche eines Malers, der zu viel Ölfarbe auf die Leinwand gelegt hatte. Der strahlend blaue Himmel über Cassandra bekam Wirbel und Wogen und erstarrte ebenfalls zu einem See aus Malerfarbe.

Die Schule wurde zu einem grauen und erhabenen Klecks inmitten von rotierendem Blattgrün und Rindenbraun. Brickrow trocknete zu einem aufgeplatzten Muster, wie ziegelroter Wüstenboden, und Hillside wurde zu einer Ansammlung gelber und beiger Quadrate, von einem quadratischen Pinsel in die Landschaft getupft.

Ungläubig öffnete Cassandra den Mund. Die eben noch strahlende Sonne war nur noch eine Spirale aus gelber Farbe.

Willkommen in der Welt der Sonnenstiche, Comtessa. Habe ich dich nicht gewarnt?

"Was... zum...?”, keuchte Cassandra. Das alles konnte doch nicht sein. Sie wusste noch nicht einmal mehr, was sie denken sollte.

Hallo, aufwachen, Comtessa. Zeit, die Sachen zu packen und ins Krankenhaus zu fahren. Wenn das kein Sonnenstich ist, dann hast du dir gerade einen Schlaganfall eingehandelt.

Aber es war kein Schlaganfall. Ein Sonnenstich war es auch nicht. Cassandra starb nicht, oder fiel, oder fühlte sich schlecht. Nichts dergleichen. Sie stand einfach da und staunte. So verrückt es auch war, aber das siebzehnjährige Mädchen namens Cassandra Moon stand in einem waschechten Gemälde und betrachtete die Pinselführung eines ihr unbekannten Künstlers.

In Anbetracht eines solchen Realitätsverlustes übernahm Cassandras Unterbewusstsein die Kontrolle über den Körper. Ihre Lungen holten tief Luft, und sie stieß ein lautes "Ach du heilige Scheeeiiiiße!" aus. Sie rief so laut sie konnte, nur um dieses hilflose Staunen aus sich herauszuschreien.

In einem panischen Augenblick fiel ihr ein, dass sie ebenfalls gemalt sein könnte. Sie hob schnell die Hände vor das Gesicht und... seufzte erleichtert. Sie war normal. Auch die Kamera und ihre Kleidung waren normal, nicht gemalt. Aber alles andere, wirklich alles, war... nun...

Cassandra kniete sich ins gemalte Gras und befühlte die Oberfläche. Es war eindeutig getrocknete Farbe. Sie kratzte daran und schaffte es sogar, eine kleine Schicht abzutragen. Unter ihren Fingernägeln sammelten sich grüne Farbsplitter.

Was ist hier los? Bin ich verrückt geworden?

Ratlos stand sie auf und schaute sich um. Auf jeder Seite des Hügels, rundherum bis zum Horizont, grüßte sie die Landschaft in bunten Farben. Für einen einzigen irrwitzigen Augenblick sah Cassandra den Wind durch die blaue Masse des Himmels wirbeln, wie einen unsichtbaren Pinsel, der durch die noch nicht ganz getrocknete Farbe gleitet und die Farbwirbel neu formt. Es hatte etwas Stop-Motion-Artiges an sich, wie dieser merkwürdige Wind den Himmel verwirbelte. Cassandra dachte, dass man in einem Knetgummi-Animationsfilm den Wind auf diese Weise darstellen würde, indem man den Knethimmel in jedem Einzelbild neu arrangierte.

Weiter unten auf dem Hügel klebten rote Klecksblumen auf dem grünen Haufen Farbe.

Die Dornensträucher waren schnell geschwungene, kreuz und quer verlaufende Striche, die aussahen, als hätte ein Kind versucht, eine piksende Kastanie zu malen.

Was mache ich jetzt? Als ein Kind der Neuzeit, gewöhnt an phantastische Filme und Bücher, war sie schwerer aus der Fassung zu bringen als zum Beispiel ein Mensch vor fünfzig Jahren, aber dennoch schrillte dumpfe Panik am Rande ihres Verstandes auf. Etwas im Fernsehen zu sehen ist nicht das gleiche, wie mitten drin zu stehen. Mit ihren siebzehn Jahren wurde Cassandra schlagartig bewusst, welche Dimension den Unterhaltungsmedien fehlte: Du musst dich jetzt entscheiden, was du als nächstes tust. Du musst dich mit dieser Situation auseinandersetzen.

Ruhig bleiben! Das wäre ein guter Anfang, einfach ruhig bleiben, dachte sie. Schließlich bist du nicht in Gefahr, oder? Schließlich laufen hier keine gemalten Löwen umher.

Aber Cassandra war sich nicht so sicher, dass hier keine Gefahren lauerten. Wenn sie ehrlich war, spürte sie eine bedrohliche Präsenz. Mehr als nur ihre Angst, angesichts dieser Situation. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie sogar fühlen aus welcher Richtung diese Bedrohung kam. Schnell sah sie zur Schule.

Irgendetwas ist dort.

Der eckige graue Klecks stand in der Landschaft wie ein Kiesel im Gras. Nichts rührte sich dort, aber Cassandra spürte, dass etwas dort lauerte. Sie strengte die Augen an, in dem Versuch zu erkennen, ob jemand sie aus diesen verwischten, nur leicht angedeuteten, Fenstern heraus beobachtete. Kleine schwarzweiße Schlieren bildeten die Fensterrahmen, aber so sehr Cassandra auch stierte, sie konnte niemanden sehen.

Nun, bei dieser groben Auflösung kannst du lange glotzen, Comtessa. Du würdest niemanden sehen, selbst wenn er dir aus einem der Fenster zuwinkt.

Das stimmte. Die Farbe war einfach zu dick aufgetragen. Keine Chance, Feinheiten zu erkennen.

Dann geh´ näher ran.

Cassandra lachte auf. Klar doch. Sonst noch was?

So sehr diese wahnwitzige Situation sie faszinierte, so überwog doch die Angst und der gesunde Menschenverstand. Sie würde auf keinen Fall zur Schule gehen. Ihr war vollkommen bewusst, dass sie in diesem Moment in einem riesigen Gemälde stand, und wie auch immer das möglich sein konnte, war sich Cassandra doch sicher, dass in der Welt der Kunst alles möglich war. Vielleicht lauerten dort unten sogar Monster. Zwar gemalt, aber dennoch gefährlich. Diese Vorstellung war so schlüssig, dass sich Cassandra nicht im Geringsten blöd vorkam, sie in Erwägung zu ziehen.

Nein, Süße, wir bleiben hier oben und betrachten alles schön aus der Ferne. Vom Hügel aus haben wir einen guten Überblick über alles, was sich nähert.

Nur was sollte sie tun, wenn die Welt so blieb? Wenn sie nicht mehr in den ursprünglichen Zustand zurücksprang? Cassandra konnte nicht ewig auf dem Hügel bleiben.

Oh Gott, was wenn die Nacht hereinbricht?

Dann malst du dir ein Feuer, haha.

Cassandra schauderte. Diese Schule. Was auch immer dort unten lauerte, seine böse Präsenz strahlte bis hinauf zu ihr. Und das war keine Metapher. Irgendetwas beobachtete Cassandra dermaßen intensiv, dass sie nicht anders konnte, als nach den Augen dieses Dings zu suchen. Dieser Blick war so eindringlich, dass Cassandra sogar Augen sah, wo keine waren. Sie bildete sich ein, am ganzen grauen Schulgebäude Augen zu sehen.

Du bist ganz dicht an einem hysterischen Anfall. Atme durch und schau nochmal hin.

Es waren keine Augen an dem Schulgebäude.

Der intensive Blick allerdings schon. Wie ein unsichtbarer Suchscheinwerfer.

Grauenvoll verzerrte Polizisten, die ihr unsichtbares Licht schwenken.

Cassandra stutzte. Wo kam das denn her? Einen blitzartigen Moment lang hatte sie etwas gesehen. Es war so kurz, dass ihr Verstand das Bild aus der eine Sekunde zuvor entstandenen Erinnerung holen musste. Sie strengte sich an, das Erinnerungsbild zu rekonstruieren, aber alles was sie sah war...schwarze Stiefel.

Schwarze Stiefel?

Und etwas wie brutale Polizeigewalt. Cassandra konnte es nicht genauer erfühlen. Autoritäre Gewalt in irgendeiner Form.

Das klingt langsam ernst. Denk darüber nach, wie wir aus dieser Sache wieder herauskommen.

Das tat sie. Sie dachte nach, und kam zu keinem befriedigenden Schluss. Dieser unsichtbare Blick machte sie nervös und nahm ihr die Konzentration. Und zudem tat er noch etwas anderes. So komisch es auch klang, das Ding in der Schule, das Cassandra mit seinen Blicken grillte, zog auch ihre Gedanken in eine bestimmte Richtung - hin zu einer Vorstellung, die noch nicht aus dem Nebel ihrer Verwirrung treten wollte.

Dieses Ding, ich glaube, es stellt mir eine Frage.

Na wunderbar, auch das noch.

Es hatte mit diesem Gemälde zu tun, soviel war Cassandra klar. Die Frage zielte auf ihre Situation ab. Und die Antwort auf diese Frage mochte die Lösung für ihr Problem sein. Das hoffte sie zumindest.

Wenn dem so war, dann hatte Cassandra einen Trumpf im Ärmel. Sie besaß nämlich Zugang zu ihrem Unterbewusstsein. Wenige würden auf die Idee kommen, dass ihre innere Stimme einen ganz praktischen Nutzen hatte.

Denk nach. Was siehst du?

Ein Gemälde?

Nein, ein Gemälde hat einen Rahmen und hängt in einem Museum. Was siehst du?

Cassandra war sich nicht sicher.

Du siehst die Realität in Form eines Gemäldes.

Okay? Und weiter?

Cassandra kam nicht weiter. Um die Antwort zu finden, musste sie zuerst die Frage erkennen.

Du bist doch gut in Kunst. Du kassierst doch nicht umsonst A-Noten. Also, welche Frage?

Was will uns der Künstler damit sagen?

Nicht ganz, aber fast. Denk nach.

Cassandra rieb sich die Schläfen. Das war einfach zu verrückt. Sie stand auf einem gemalten Hügel und führte geistige Selbstgespräche über ein stummes Rätsel.

Und wieso verschwindet diese Landschaft nicht? Hatte sie vielleicht wirklich einen Schlaganfall? Rollte sie in diesem Moment die Böschung hinunter, während sie fantasierte, sie stünde immer noch auf dem Hügel?

Der Künstler will uns nichts sagen, er stellt uns nur eine einfache Frage.

Welche? Was will uns der Künstler damit fragen?

Kunst oder Realität?

Sie war so dicht dran. Einzelne Fragmente des Rätsels wirbelten in ihrem Kopf umher.

Ist "Kunst" Bestandteil der Frage oder Bestandteil der Antwort? Frage: Kunst, Antwort: Realität? Oder: Frage: Realität, Antwort: Kunst?

Cassandra gab auf. Sie wusste es nicht. Es war unmöglich die Antwort auf eine Frage zu finden, die sie nicht kannte. Das war wie die Suche nach dem Kopf einer unsichtbaren Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Darüber nachzudenken brachte sie nicht weiter. Sie musste eine praktische Lösung für ihr Problem finden, auch wenn es bedeutete, den sicheren Hügel zu verlassen.

Aber bevor sie ging, würde sie noch den verdammten Film leerknipsen. Sollte sich die Welt wieder zurückverwandeln, dann musste Cassandra einfach Beweise für ihr Erlebnis haben. Nicht um sie Anderen zu zeigen, sondern nur für sich. Damit sie noch in vierzig Jahren wusste, dass sie nicht fantasiert hatte. Falls dieses Phänomen auf den Fotos sichtbar war.

Sie schoss den Film leer, alle sechsunddreißig Fotos, und machte sich sofort an den Abstieg, und zwar auf der Vorderseite des Hügels. Sie versuchte abzuschätzen, ob sie sich beim Abstieg verletzen könnte, aber wie sollte sie das wissen? Alles sah so weich und glatt aus. Würden die Dornensträucher stechen? Könnte sie sich an einem Maulwurfshügel den Fuß brechen? Sie beschloss, diese Fragen vorerst mit Ja zu beantworten und stieg mit größter Vorsicht hinab.

Sie bewältigte etwa ein Drittel des Abstiegs, als ihr etwas auffiel. Mit zunehmender Entfernung zur Hügelkuppe, schwand die feste Ölfarbe immer mehr aus der Natur und dem Himmel. Nach einiger Zeit, wirkte das Gras, als hätte jemand einfach nur eine große Menge Farbe darüber geschüttet. Kleine Farbbrocken lösten sich und gaben den Blick frei auf das darunterliegende Gras. Der Himmel wirkte, als hätte er hellblaue Lepra. Die Sonne strahlte durch gelben Schorf hindurch.

Grenzenlos erleichtert lief Cassandra weiter, und mit jedem abbröckelnden Farbbrocken wich auch ihre Sorge, nie wieder in die Realität zurückzufinden. Als sie schließlich den Hügel hinter sich ließ, war die Farbe aus der Welt gewichen. Zurück blieb die Realität. Gras war Gras, der Himmel war durchsichtig und die Sonne brannte.

Danke, Gott. Danke, dass du mich zurückgeholt hast.

Fassungslose Freude schwemmte Cassandras Angst hinfort. Alles war wieder gut. Sie wusste zwar nicht, was sie mit diesem Erlebnis anfangen sollte, aber darüber würde sie ein anderes Mal nachdenken. Jetzt wollte sie nur noch nach Hause und schlafen.

Um die Recherche für ihren Aufsatz würde sie sich morgen kümmern. Wenn überhaupt.

3

Nach dem Abstieg lief Cassandra mit dem klobigen Fotoapparat um den Hals zur Busstation Brickrow Grammar School und setzte sich auf die sonnenbeschienene Bank. Das graue Schulgebäude befand sich fünfzig Meter rechts von ihr, auf der anderen Straßenseite, beschattet von Bäumen und Alter.

Kein Mensch weit und breit. Insekten zirpten in den Grasbüscheln, die um die Sitzbank herum wuchsen. Die wabernde Mittagshitze war von dichter, beinahe schon stofflicher Präsenz, und wirkte auf Cassandra, als erdrückte eine große unsichtbare Nacktschnecke das ganze Land unter ihrem Gewicht. Sie machte sich Sorgen um den Film und die Mechanik des Fotoapparates, darum nahm sie den Apparat ab und versuchte, ihn möglichst in ihrem kaum vorhandenen Körperschatten zu halten, damit er der Sonne nicht direkt ausgesetzt war. Sie hoffte inständig, dass der Film im dunklen Inneren der Kamera sicher war. Ihr Verstand war immer noch wie gelähmt und weigerte sich, ihrem Erlebnis auf dem Hügel mehr Emotion entgegenzubringen als einem gewöhnlichen Traum (Ja, es war ganz außergewöhnlich da oben. Und was erwartest du jetzt von mir?). Darum brauchte Cassandra diese Bilder.

Nach einiger Zeit, sie wusste nicht wie viel genau vergangen war, fuhr der Bus Richtung Innenstadt vorbei. Es war kein Schulbus, es waren ja noch Ferien, sondern ein dezent pinkfarbener Linienbus. Die fuhren hier in halbstündigen Intervallen von Hillside, ihrer südwestlichen Endstation, bis nach Brickrow und von dort aus weiter nach Princetown, zur nordöstlichen Endstation. Cassandra würde nur eine Station weit fahren und wäre schon zu Hause, wenn dieser verdammte Bus endlich kommen würde.

Innerhalb Brickrows hielt der Bus an fünf Stationen. Die erste lag zwei Kilometer weiter rechts von ihrer Position am Stadtrand und hieß Brickrow West. Wenn man dort ausstieg und nicht in die Stadt hineinlief, sondern nach Süden über die Hügel, so gelangte man nach einiger Zeit in die nebligen Moore von Dartmoor. Brickrow war kein großartiges Touristenzentrum, aber es geschah doch zwei bis drei Mal im Jahr, dass Cody Barnes mit ein paar Helfern hinaus ins Moor musste, um Touristen aufzusammeln, die ohne Tourführer hineinspaziert waren. Tote oder Vermisste hatte es in den letzten Jahren nicht zu beklagen gegeben, dafür aber viele schmutzige Touristen. Und das war den alteingesessenen Bewohnern Brickrows immer wieder einen Lacher wert. Allerdings ahnte zu dieser Zeit noch niemand, dass in etwas mehr als einem Jahr ein großer Teil der Polizei von Devon und Cornwall in den Mooren nach einem jungen Mann namens Ron Hauser suchen würde, von dem eigentlich niemand glaubte, dass er sich tatsächlich dort verlaufen konnte.

Die zweite Station in Brickrow hieß Rathaus. Viel gab es da nicht zu sagen, außer dass man auf dem Rathausplatz die Messing- Statue von William Blake bewundern konnte, einem älteren Herrn mit fliehendem Haar, der eine Schreibfeder hochhielt. Am Sockel seiner Statue war ein breites Schild verschraubt mit den Worten: And did those feet in ancient time. Der Legende zufolge soll William Blake persönlich Brickrow besucht haben, um der Einweihung der Statue beizuwohnen. Allerdings nahm niemand, außer den wirklich alten Bewohnern Brickrows, diese Legende ernst. Und Cassandra war es eigentlich auch egal. Die Statue erfüllte einen rein praktischen Zweck. Sie war eine von zwei Touristenattraktionen der Stadt, und ohne die wäre Brickrow wohl in den nächsten zehn Jahren ausgestorben.

Fuhr man noch ein Stück weiter zur nächsten Station im Zentrum der Stadt, erreichte man eine kleine kopfsteingepflasterte Straße, die mit vielen kleinen Nahrungsmittelgeschäften und Souvenirläden gesäumt war. Diese Straße hieß genau wie die Busstation Ol´ Market. Neben den wenigen Touristen gingen hier auch die meisten Bewohner Brickrows einkaufen, aber nur die Touristen wunderten sich, wie viele dieser Geschäfte von alten Leuten geführt wurden, die eigentlich in den Ruhestand gehörten.

Und schließlich war da noch Westcott Manor, die vierte Station und gleichzeitig die zweite Sehenswürdigkeit in dieser verlassenen Gegend. Ganz am Rande von Brickrow an einer Talsenke, dort wo sonst keine Häuser standen, hatte man dieses viktorianische Anwesen errichtet, und zwar auf äußerst unsicherem Boden.

Heutzutage wusste niemand mehr genau wie es zu diesem Missgeschick kommen konnte, aber es hieß, dass der Erbauer dieses Hauses, ein gewisser Gregory Westcott, ein sehr exzentrischer und wütender Mann gewesen sein soll, der es sich wohl eines Tages im Jahre 1910 in den Kopf gesetzt hatte, seinen Wohnsitz an diese besondere Stelle zu verlegen. Wie die meisten reichen Bewohner Brickrows hatte er ursprünglich in einer der massiven ziegelsteinernen Bauten im Westviertel gelebt, bis er, wie viele andere, den Gestank der Textilfärbemittel nicht mehr ertragen hatte. Doch anders als den meisten Umzüglern, reichte es Gregory Westcott und seiner Frau Lilian nicht, einfach nach Hillside zu ziehen. Vielmehr bestanden sie selbstgerechterweise auf eine gewisse Abgeschiedenheit von den anderen Einwohnern, und beschlossen darum, einen Architekten zu Rate zu ziehen, der sich auch in der Kunst der Geomantie auskannte, um den spirituell besten Platz für die Errichtung eines neuen Hauses zu erfühlen. Die Stadt genehmigte den Bau, und Gregory Westcott und sein Architekt, dessen Name Cassandra nicht bekannt war, errichteten das beeindruckend schöne Haus auf einem Stück schwimmenden Bodens. Wobei es sich um einen stark säurehaltigen Ausläufer des Moores handelte, der den festen Boden Brickrows unterspült hatte, und auf diese Weise eine schwimmende Halbinsel hatte entstehen lassen, auf der das Haus nun ruhte.

Cassandra stellte sich vor, wie die Westcotts eines Morgens an den Frühstückstisch traten und voller Erstaunen mitansahen wie ihre Frühstückseier langsam den Küchentisch hinabrollten.

Natürlich war das Fundament des Hauses unterspült worden, und nach nur drei Jahren mussten die Westcotts wieder ausziehen. Im Jahre 1915 verließen sie Brickrow endgültig und kamen nicht wieder. Sie zogen nach Princetown und regelten ihre Geschäfte in Brickrow von dort aus. Das Haus überließen sie per Vertrag der Stadt. Cassandra bezweifelte, dass sie dafür Geld bekommen hatten.

Was seitdem mit dem Haus geschah, war Folgendes: Es versank jedes Jahr um etwa einen Zentimeter tiefer im Moor und zwar nicht gleichmäßig, sondern in einer rückwärtigen Schräglage, wie ein Riese, der sich in Zeitlupe schlafenlegt. Kurze Zeit nachdem die Westcotts Brickrow verlassen hatten, beschloss die Stadt, den sumpfartigen Boden zu stabilisieren, und hatte dafür lange Betonpfeiler im Boden versenkt, die ein weiteres Absinken verhinderten, aber das galt nur für die Häuser am Rande der Stadt selbst. Das alte Westcott Manor lag außerhalb der Stadt und sank weiterhin in den Boden, wenn auch nicht mehr ganz so schnell - und man nahm an, dass es sich langsam stabilisieren und bald zur Ruhe kommen würde. Dann würde letztendlich das vollkommen versunkene Erdgeschoß des Hauses das Fundament für die beiden darüberliegenden Stockwerke bilden. Danach wäre das Haus zumindest rein theoretisch sogar wieder bewohnbar, eine Tatsache, die sich wohl niemand mehr zunutze machen würde, denn es gab mehr als genug unvermietete Häuser in Brickrow.

Dass das Westcott Manor zwar nicht bewohnt, aber dennoch genutzt wurde, war hingegen ein Umstand, von dem nur sehr wenige Einwohner wussten. Dazu gehörte auch Cassandra, aber es würde noch eine Weile dauern, bis das für sie relevant wurde. In diesem Moment, während sie hier im prallen Sonnenschein auf den Bus wartete, wusste sie noch nicht einmal mehr, dass sie selbst schon in diesem Haus gewesen war. Dieselbe innere Stimme, die sie im Geiste Comtessa nannte, hinderte Cassandra auch daran, sich allzu schmerzhaften Erinnerungen zu stellen.

Und so ahnte Cassandra nicht, was da in ihren Erinnerungen brodelte, als endlich der Bus kam, und sie einstieg.

4

Die Fahrt dauerte zehn Minuten, dann war Cassandra in Hillside, und lief durch breite Alleen zwischen weißen Einfamilienhäusern nach Hause.

"Hallo?", rief sie, nachdem sie die Tür aufgeschlossen und die Sandalen abgelegt hatte. Heute war Donnerstag und Cassandras Eltern sollten der Erfahrung nach auf der Arbeit sein, aber Cassandra rief trotzdem immer nach ihnen, wenn sie das Haus betrat. Das gab ihr diese letzte Gewissheit, alleine in einem Haus zu sein, das sie nicht zur Gänze überblicken konnte.

Die Eingangstür führte direkt in das große Wohnzimmer. Cassandra lauschte, ob sich jemand im ersten Stock bewegte. Doch sie spürte nichts, abgesehen von dem Ticken der Uhren und der hohlen Spannung, die nur das eigene verlassene Heim an sich hat.

Sie schloss die Tür und nahm sofort den Film aus der Kamera. Sie verschloss ihn in einem kleinen Plastikbehälter und stellte diesen auf den Wohnzimmertisch. Gleich morgen früh würde sie nach Brickrow fahren und ihn zur Entwicklung geben. Dann würde sie sehen, ob sie ihr persönliches Wunder auf Film gebannt hatte.

Geduld ist eine Tugend, sagte Cassandras Mutter oft.

Vorfreude muss reifen, dachte dafür Cassandra.

Ihr war klar, dass sie ihr heutiges Erlebnis noch nicht wirklich verarbeitet hatte. Im Moment fühlte sie die freudige Erregung eines exotischen Abenteuers, wie ein Kind, das zum ersten Mal alleine so tief in den Wald vordringt, dass es nicht sicher ist, ob es den Weg zurückfindet. Aber Cassandra wusste, dass ihr Verstand ihr sinnlich verklärtes Abenteuer bald niederwalzen würde, so wie er manchmal falsche Hoffnung niederzuwalzen pflegte. Ihr Verstand würde ihr bald melden: Wach auf, du Baby, das alles ist wirklich passiert! Du hast weder geträumt, noch halluziniert. Du standest wirklich und wahrhaftig in einem Gemälde! Du hast mit eigenen Augen gesehen, wie sich die Landschaft verwandelt und genauso wieder zurückverwandelt hat. DAS ALLES WAR ECHT!

Aber soweit war ihr Verstand noch nicht. In diesem Augenblick war Cassandra nur müde und bereit für einen Mittagsschlaf.

Das Haus, in dem sie und (manchmal) ihre Eltern lebten, besaß zwei Badezimmer. Das untere wurde für gewöhnlich von Paul und Marie genutzt, während Cassandra ihr eigenes Bad direkt neben ihrem Zimmer hatte. Barfuß lief sie die teppichgedämpfte Treppe hinauf, nach rechts an ihrem Zimmer vorbei und hinein ins Bad. Dort warf sie ihre Kleidung in den Wäschekorb, bevor sie die Dusche aufdrehte.

Quälend langsam pendelte sich die Wassertemperatur auf ein Niveau ein, das nur knapp oberhalb von Cassandras Schreigrenze lag. Sie setzte vorsichtig einen bleichen Fuß in das flache Becken und wartete auf die eine Sekunde, die das Nervensignal brauchte, um das Gehirn zu erreichen. Als ihre Zehen keinen Alarm auslösten, trat sie unter die Dusche. Sofort spürte sie, wie das Wasser zwei verschiedene Temperaturen annahm. Auf den Armen und Beinen fühlte es sich eiskalt an, während es auf den Schultern bis hinab zum Rücken warm war. Sie duschte schnell und wusch sich die Haare, was die meiste Zeit in Anspruch nahm. Eine viertel Shampooflasche später stieg sie aus der Dusche.

Sie nahm sich ein Handtuch, das sie sich um den Kopf wickelte, und zog einen Bademantel an. Dann ging sie in ihr Zimmer.

Anders als einige ihrer Mitschüler vielleicht erwartet hätten, besaß Cassandra ein recht gewöhnliches Zimmer. Die Wände waren nicht schwarz gestrichen und es hingen auch keine Poster von bemalten Sängern oder Horrorfilmcharakteren an den Wänden. Abgesehen von dem gusseisernen Bett und ihrer verstreuten Kleidung, kam die Farbe Schwarz in Cassandras Zimmer nicht vor. Denn sie war definitiv kein Mensch, der in einem Sarg leben wollte.

Worum es ihr ging, als sie ihr Kinderzimmer das erste Mal selbstständig umdekorierte, war ein Gefühl des Refugiums gewesen. Sie wollte ein Zimmer, in dem sie das Gefühl hatte, in ihrer eigenen idyllischen Welt zu leben. In etwas wie einem versteckten Irrgarten im Hinterhof eines barocken Schlosses. Oder einer verzauberten Lichtung im Herzen des üppigsten Waldes. Etwas in dieser Richtung. Viele Landschaftsbilder und weiche Pastellfarben. Rosa und mintgrün.

Dann lass es uns so machen, hatte Lara damals gesagt. Keine Kinderkacke, wir machen es richtig! Wir kaufen Farbe und Bilder und... hast du Geld?

Ein glühender Stich in Cassandras Brust unterbrach ihre Erinnerung. Ihre Miene wurde grimmig und sie zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung. Geh schlafen, Comtessa. Mach ein Nickerchen, ich sorge dafür, dass du an diese Dinge nicht mehr denken musst.

Eingehüllt in den Bademantel legte sie sich ins Bett. Die Augen geschlossen, tastete ihr Verstand noch eine ganze Weile nach schmerzhaften Erinnerungen, wie nach einer Wunde, die man vorsichtig umtastete, weil man nicht wusste, wie sehr sie wohl schmerzen würde, wenn man direkt hineingriff.

Als sie einschlief, merkte sie es nicht einmal.

5

Zwei Stunden später stach ein einzelner Gedanke aus dem grauen Sumpf.

Es sah aus wie ein Auge!

Sofort war Cassandra hellwach. Puppenartig klappten ihre Augenlider auf, aber das, was sie sah, war nicht die Decke ihres Zimmers... Vor ihrem inneren Auge stand das Gemälde der Brickrow Grammar School, wie sie es heute Morgen vom Hügel aus betrachtet hatte. Innerhalb dieser Erinnerung konnte Cassandra die Augen auf jedes Detail richten. Dies war ein angeborenes Talent, das sie zu einer hervorragenden Zeichnerin machte.

Mit Schwung verließ sie das Bett und setzte sich an ihren Schreibtisch, bevor ihr das Blut aus dem Kopf weichen konnte. Der späte Nachmittag war angebrochen, und gelbe Lichtbahnen fielen durch das Fenster auf die Tischplatte, die Cassandra stets aufgeräumt hielt. Sie nahm sich einen Kugelschreiber aus dem Stifthalter und ein Blatt Papier und begann zu zeichnen. Es dauerte nicht lange, und ihr eiliges Gekritzel führte zu einem ansehnlichen Ergebnis.

Sie hatte in die Mitte des leeren Blattes eine kleine Schule gezeichnet. Sie war nur münzgroß, aber dennoch detailliert. Um diese Schule herum hatte sie, in der Form einer elliptischen Spirale, mehrere Baumkronen hinzugefügt. Die Landschaft drum herum hatte sie angedeutet, indem sie den Kugelschreiber nur ganz leicht angedrückt über das Papier hatte gleiten lassen. Weißblaue Schlieren (wallende Hügel) umgaben die spiralig angelegten Bäume, wobei sie der vorgegebenen elliptischen Wirbelform folgten. Der ganze Rest, Brickrow, Hillside, die Landstraße, waren unwichtig. Cassandra hatte sie weggelassen.

Schulgebäude, Bäume und Hügel waren die Dinge die sie gezeichnet hatte, aber das, was sie sah, als sie das Blatt hob und von Weitem betrachtete, war etwas völlig anderes.

Es war ein Auge.

Daran gab es keinen Zweifel. Cassandra hatte es aus der Erinnerung rekonstruiert. Die kleine, schraffierte Schule bildete die Pupille. Die helleren Baumkronen drum herum bildeten die Iris. Und die Hügel und die Bodenwellen? Sie bildeten Augenlider und Falten. Wenn sie die oberen Baumreihen mehr schattierte, bekam das Auge sogar Wimpern. Der kleine Wald im Norden verlieh dem Ganzen noch einen gewissen Lidschatten.

Diese ganzen Landschaftswirbel mit der Schule im Zentrum bildeten ein einziges großes Auge.

Cassandra staunte. Hatte das wirklich so ausgesehen? Oder hatte sie das Bild absichtlich so gezeichnet? Weil sie Mysterien liebte und die ganze Sache so noch plausibler wurde?

Nein, sie war sich sicher. Sie hatte das Bild so genau wie es ihr möglich war aus dem Gedächtnis nachgezeichnet. Die Schule und das ganze Gemälde drum herum hatten sie angesehen. Daran bestand kein Zweifel.

Das Gemälde hatte ihr eine Frage gestellt.

Cassandra beugte sich über den Schreibtisch und pinnte ihre Zeichnung an die Korkwand. Das gezeichnete Auge war sehr gelungen, und sie hatte beinahe das Gefühl, es würde ihr dieselbe Frage stellen wie zuvor auf dem Hügel. Aber welche?

Das Auge war unheimlich. Es hatte eine rechteckige Pupille, die sich daraus ergab, dass das Schulgebäude breiter war als hoch und somit eine rechteckige Front besaß.

Dieses Auge war das einer Ziege.

Oder vielleicht das eines Tintenfisches.

Zumindest das eines sehr psychotischen Tieres. Eine leichte Klaustrophobie breitete sich in ihrer Brust aus, als sie sich fragte, wie der Verstand eines Wesens aussehen mochte, das mit solchen Augen in die Welt blickte.

Dem Blick dieses Wesens konnte man nicht lange standhalten, denn es löste eine deutliche Fluchtpanik aus. Darum beschloss Cassandra, nach unten zu gehen und sich etwas zu essen zu machen, bevor sie wieder hochkam, um sich das Bild aus der Distanz anzusehen. Am besten von der Tür aus.

Etwas übereilt tauschte sie den Bademantel gegen ihr leichtes, braunes Sommerkleid aus. Dann trat sie zur Tür hinaus und konnte sich nicht davon abhalten, noch einen Blick zurück zu werfen.

Das Auge blinzelte nicht.

Gut, dachte Cassandra und schloss die Tür.

6

Cassandras Eltern arbeiteten in Plymouth. Paul Moon war Messtechniker im Heizkraftwerk, das über Fernleitungen Brickrow mit Wärme versorgte. Marie Moon war Büroangestellte im selben Unternehmen. Sie hatten sich bei der jährlichen Unternehmensrevision kennengelernt, als sie sich das erste Mal zusammengesetzt hatten, um die Daten des Jahresausstoßes zu vergleichen. Zwei Jahre später waren sie verheiratet.

Als Cassandra geboren wurde, hatten sich ihre Eltern entschieden zusammenzuziehen. Marie hatte damals eine Ein-Zimmer-Wohnung in Plymouth bewohnt, während Paul in einer geräumigen brickrower Altbauwohnung mit weit niedrigerer Miete lebte. Daher fiel Marie die Wahl nicht schwer, auf absehbare Zeit bei Paul einzuziehen. Sie würde für zwei oder drei Jahre die Mutter spielen, bevor Cassandra alt genug für die Kinderkrippe war. Danach würden sie dauerhaft nach Plymouth ziehen und das anstrengende Pendlerleben hinter sich lassen.

Dann starb Pauls Vater und hinterließ ihm das Einfamilienhaus in Hillside.

Und dieses Haus war ein regelrechter Anker. Unmöglich es zu einem halbwegs vernünftigen Preis zu verkaufen, und zu modern, um es einfach verwahrlosen zu lassen, hing es an der Familie Moon wie eine eiserne Kugel am Bein eines Sträflings.

Mit der Zeit hätte Marie vielleicht sogar eine Möglichkeit gefunden, das Haus loszuwerden, aber Paul vereitelte ihr Vorhaben dadurch, dass er tatsächlich Vorteile an einem Leben in Hillside fand.

“Durch die Einsparung der Miete, abzüglich der fälligen Steuer, kommen wir auf eine Ersparnis von...”

“Beachte doch einmal die Nutzfläche! Wenn wir einer Person fünfzig Quadratmeter Lebensraum zugestehen, haben wir noch Platz für zwei weitere Kinder.”

“Wir haben auf der Ostseite und der Nordseite einen erhöhten Lichteinfall. Auf vierundzwanzig Stunden gerechnet ergibt das...”

Blablabla.

Was Paul nicht bedenken wollte, war die Tatsache, dass es in Hillside keine einzige Kindertagesstätte gab. Sollten sie wirklich dauerhaft nach Hillside ziehen, mussten sie die kleine Cassandra jeden Morgen zuerst in die entgegengesetzte Richtung nach Brickrow fahren, bevor sie umkehren und zur Arbeit nach Plymouth fahren konnten.

“Als Einzelposten mag das einen höheren Zeit- und Spritaufwand bedeuten, aber in der Gesamtkalkulation...” Blablabla.

Pauls Kurzsichtigkeit hatte Marie rasend gemacht. Als aus Argumenten schließlich Vorwürfe wurden, die sie sich gegenseitig an den Kopf warfen, sagte sie ihm, seine Trauer um den Vater wäre erstaunlich schnell der Freude um das Haus gewichen. Dieser Vorwurf brachte der Familie Moon den Streit des Jahrhunderts ein, an dessen Ende für Paul die Sache erledigt war. Sein Entschluss stand fest. Sie blieben in Hillside. Schluss. Aus. Ende.

Doch sollten die morgendlichen Autofahrten nach Brickrow für Cassandra nur ein kurzer Spaß werden. Bereits ab der zweiten Woche nach Cassandras Einschulung, entschied Marie, dass Cassandra den Schulbus nehmen sollte. Und, oh Wunder, Paul hatte nichts dagegen.

Etwa zu diesem Zeitpunkt zeigten sich die ersten Anzeichen von Cassandras Korrosion, wenn auch nicht in einem Maße, dass es jemandem aufgefallen wäre. Cassandra drängte immer weiter ins Leben, während ihre Eltern sehr langsam Abstand von ihr nahmen.

Als Cassandra vierzehn war, sagten ihr ihre Eltern, dass sie mit dem Gedanken spielten, ein kleines Zimmer in Plymouth anzumieten, in dem sie übernachten konnten, wenn einer von ihnen länger arbeiten musste. Es würden nur ein oder zwei Tage in der Woche sein.

Als schließlich die Bequemlichkeit in Paul und Marie Moons Lebens zog, wurden aus den ein oder zwei Tagen immer häufiger drei oder vier Tage.

Mit der Zeit begann Cassandras Beziehung zu ihren Eltern in einem Maße auszubleichen, dass Cassandra nur noch eine dumpfe Trauer empfand, wenn sie ihre Eltern sah. Eine schmerzhafte Nostalgie ergriff dann ihr Herz. Auf einer unterschwelligen Ebene ahnte Cassandra bereits, dass sie bald alleine in diesem Haus in Hillside leben würde. Und sie behielt recht.

Mit achtzehn, kurz vor ihrem Schulabschluss und kurz bevor Ron Hauser verschwand, war Cassandra die erste Schülerin der Brickrow Grammar School, die alleine in einem Einfamilienhaus lebte.

Andere Schüler hätten vielleicht vor Freude den Verstand verloren, wenn ihre Eltern ihnen praktisch ein Haus geschenkt hätten. Aber andere Schüler hatten Freunde, die sie zu sich nach Hause einladen konnten. Andere Schüler würden Partys feiern, bis die Polizei kam oder ihre Eltern ihnen das Haus wieder wegnahmen. Andere Schüler vielleicht, aber nicht Cassandra. Cassandra litt stumm.

Am späten Nachmittag nach Cassandras Ausflug auf den gemalten Brickrow Hill, stand sie in der Küche und betrachtete den Inhalt des großen Kühlschranks. Er war randvoll gefüllt mit Lebensmitteln. Ihre Eltern mochten sich von ihr distanzieren, aber verhungern lassen würden sie Cassandra nicht. Möglicherweise war das ihr Versuch, Schuldgefühle zu kompensieren, indem sie tonnenweise Nahrungsmittel für sie bunkerten. Möglicherweise wollten sie auch nur verhindern, dass Cassandra sich beklagte.

Wie auch immer, es war eines der wenigen Überbleibsel einer emotionalen Bindung zwischen Eltern und Tochter. Cassandra glaubte inzwischen zu wissen, wieso die Beziehung zu ihren Eltern erstarb, aber sie war nicht in der Lage es auch zu verstehen. Dafür war sie in dieses Gefühlschaos zu sehr involviert. Hätte sie die Möglichkeit gehabt, die ganze Sache objektiv zu betrachten (vielleicht durch einen Einwegspiegel in einem Forschungslabor), dann würde ihr dämmern, dass ihre Eltern keine andere Möglichkeit mehr kannten, ihrer Tochter Emotionen entgegenzubringen. Ihre Liebe zu Cassandra hatte mit den Jahren abgenommen, aber was blieb, war das Gewicht ihrer Gefühle, das sie inzwischen in so etwas wie... nun... grimmige Brutpflege legten.

Wieso die Liebe erstarb?

Nun, du bist korrosiv, Cassandra.

Mehr als ein Jahr später, zu der Zeit, als Cassandra auf dem steinernen Geländer der Schule saß, und die halbe Stadt nach Ron Hauser suchte, würde sie sogar die Streitereien mit ihren Eltern vermissen.

Ohne Eile wählte sie ihr Abendessen, damit sie die wallende Kälte des offenen Kühlschranks länger genießen konnte.

Auf den Tisch kam, wie beinahe jeden Abend, Cassandras Spezialität. Sie bestand darin, dass sie alles vorhandene Gemüse hervorholte, in Stücke schnitt und sie dann in einer Pfanne briet. Ob das Gemüse zusammenpasste, war ihr dabei egal. Manchmal warf sie auch Obst mit hinein. Das war Cassandras Form von Fastfood. Wie viele Jugendliche, hatte auch sie keine Geduld, lange in der Küche zu stehen und zu kochen.

Heute würde es gebratene Tomaten, Gurken, Zucchini, Salat und Karotten geben. Nach kurzem Zögern griff sie auch ein paar Radieschen heraus. Was pflanzliche Nahrungsmittel anging, hatte Cassandra so gut wie keine Ekelgrenze. Sie konnte alles essen, in jeder beliebigen Kombination.

Sie zerhackte alles zu Würfeln und gab es in eine große Schwenkpfanne. Zehn Minuten später saß sie mit dem Teller auf dem Schoß im Wohnzimmer und zappte durch die Fernsehkanäle.

Cassandra sah selten fern, aber wenn sie es tat, suchte sie nach Horrorfilmen oder nach Naturdokumentationen. Auch historische Dokus und alles, was ungewöhnlich war, stand bei ihr hoch im Kurs. Am späten Nachmittag würden keine Horrorfilme laufen, daher blieb sie bei einer Doku, deren Thema sich ihr nicht sofort erschloss. Ein wolkenverhangener Himmel flimmerte über den Bildschirm, dann ein leerer Acker. Weiße Birken, die im Zeitraffer im Wind zappelten.

So verbrachte Cassandra den Nachmittag und den Abend. Die leere Gemüseschüssel vor sich auf dem Wohnzimmertisch gestellt, das Licht ausgeschaltet, lag sie auf der Couch. Blaues Fernsehgewitter beflackerte ihren Körper. Später lief noch ein alter Gruselfilm, und Cassandra war glücklich.

Irgendwann schlief sie ein.

Auf diese Weise verbrachte sie den Großteil ihrer Sommerferien.

Der Traum des Stiers

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